Zurückgeträumt - Jeannette Kauric - E-Book

Zurückgeträumt E-Book

Jeannette Kauric

4,9

Beschreibung

Kann es die große Liebe geben - gleich zweimal? Emily hat sich endlich ihren Traum vom eigenen Lesecafé in der Langenberger Altstadt verwirklicht, die Hochzeit mit ihrem Verlobten Tom steht kurz bevor und auch die Babyplanung ist bereits in vollem Gange: Eigentlich läuft es in ihrem Leben gerade ganz gut. Wäre da nicht dieser merkwürdige Traum von ihrem Ex Chris, der sich so erstaunlich echt anfühlt und längst vergessene Gefühle wieder aufleben lässt. Um sich davon zu überzeugen, dass dieses plötzliche Kribbeln im Bauch nicht mehr als bloße Einbildung ist, fährt Emily zu Chris nach München. Doch der Kurztrip verläuft anders als geplant und als bei ihrer Rückkehr schockierende Neuigkeiten auf sie warten, wird Emily in einen Strudel der Gefühle gezogen... Was, wenn das Schicksal dir einen Strich durch die Rechnung macht und dein Leben aus den Fugen gerät?

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Seitenzahl: 425

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Die Autorin

Foto: Janine Stindt

Jeannette Kauric wurde 1990 in der schönen Stadt Velbert in NRW geboren und wuchs dort auf. Nach ihrem Abitur schnupperte sie zunächst etwas Medienluft bei einem Radiosender in Mettmann, bevor es sie an die Ruhr-Universität Bochum zog, wo sie 2013 ihr Bachelor-Studium in Geschichte und Literaturwissenschaften beendete.

Ihren Debütroman Ein Traum wie ein Leben veröffentlichte Jeannette Kauric 2017. Zurückgeträumt ist ihr zweiter Roman.

Weitere Bücher der Autorin:

Ein Traum wie ein Leben (2017), ISBN: 9783740727437

Als Print & E-Book

Besuche Jeannette online:

Homepage:

www.autorin-jeannette-kauric.com

Facebook:

www.facebook.com/AutorinJeannetteKauric

Instagram:

www.instagram.com/autorin_jeannette_kauric

Persönliches Feedback gerne auch per E-Mail an [email protected]. Jede Nachricht wird beantwortet!

Für dich.

Für all jene, die mich unterstützen und mich dazu

ermutigen, meinen Traum zu verwirklichen.

Für jeden, der meine Bücher kauft und liest.

Für alle Buchliebhaber, Katzenmenschen und

Konzertgänger da draußen.

Und für Emily, die mir beim Schreiben sehr ans Herz

gewachsen ist.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel – einige Wochen zuvor

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog – Neun Monate später

Prolog

Der lange, schmale Sekundenzeiger der Wanduhr ratterte unaufhörlich.

Tick, tack.

Schon fünf nach neun. Sie hätte bereits um neun Uhr da sein sollen. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, sah ich mich ein wenig in dem Raum um. Es war kein schönes Büro, fand ich, wenngleich ich einen Ort wie diesen noch nie betreten hatte und kaum einen Vergleich ziehen konnte. Vielleicht sahen die ja immer so aus?

Tick, tack.

Mein Blick wanderte von dem hellgrauen Schreibtisch, auf dem sich kaum mehr befand als ein Computer, ein Terminkalender und ein Kuli, über das hohe Regal daneben, das unzählige Ordner enthielt – die sich nur durch ihre Beschriftung unterschieden – bis hin zu dem Fenster mir gegenüber. Die Aussicht war phantastisch: Hinter dem Glas erstreckten sich Felder, so weit das Auge reichte.

Tick, tack.

Allerdings fiel wenig Licht in den spärlich möblierten Raum, sodass dieser zusätzlich mit einer grellweißen Leuchte erhellt werden musste.

Ich wollte gerade die Ordner in dem Regal näher inspizieren, als ich hörte, wie sich Schritte der Tür näherten und jemand sie öffnete. Mit einem lauten Klacken ihrer Absätze stürmte eine Frau energisch hinein und streckte mir gleich ihre Hand entgegen.

»Frau Krämer, guten Morgen! Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Bitte setzen Sie sich«, fügte die Frau hinzu und deutete mit einer einladenden Geste auf den schweren, mit dunkelgrünem Stoff bezogenen Stuhl, auf dem ich bis vor Kurzem noch gesessen hatte. Als sie den Raum betreten hatte, muss ich aufgestanden sein.

Ich tat wie mir geheißen und nahm wieder Platz. Allmählich spürte ich einen Anflug von Nervosität. Mein Gegenüber bemerkte es. Meine Güte, Emily, reiß dich zusammen!

»Ganz ruhig, Frau Krämer. Ihnen passiert nichts. Fangen wir mal mit etwas Einfachem an. Die Formalitäten haben Sie ja bereits mit meinen Kollegen geklärt. Also, was ist passiert? Woran können Sie sich erinnern?«

Ich musste schlucken, doch ich zwang mich dazu, der Frau freundlich in die Augen zu sehen und zu lächeln. Dann erzählte ich ihr, was passiert war.

Tick, tack.

1. Kapitel – einige Wochen zuvor

Der Kellner hat gerade die Getränke gebracht, da steuert Timo, mein Bruder, unseren Tisch an.

»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin!«, sagt er und setzt seinen Mitleidsblick auf. Als hätte ich ihn nach all den Jahren nicht längst durchschaut. Mit einem gespielten Grummeln verdrehe ich die Augen und stehe dann auf, um ihn zur Begrüßung zu umarmen. Dann quetscht Timo sich an mir vorbei zu Tom.

»Die Getränke gehen heute also auf dich«, sagt Tom augenzwinkernd, schlägt meinem Bruder freundschaftlich auf die Schulter und macht ihm Platz, damit er auch alle anderen begrüßen kann. Danach lässt Timo sich mir schräg gegenüber auf der Holzbank nieder.

»Typisch Timo, nie kann er mal pünktlich sein«, raune ich meiner besten Freundin Valentina über den Tisch zu. Ihre Mundwinkel zucken kurz und sie setzt zu einer Antwort an, als der Kellner zurückkommt und den Neuankömmling um seine Bestellung bittet.

»Ein Wiener Schnitzel mit Pommes und eine große Cola, bitte.«

Die Bedienung notiert seinen Wunsch und lässt unsere Gruppe dann wieder allein.

»Also, jetzt erzähl mal, Em! Hast du schon ein Kleid ausgesucht?«, fragt Val mich neugierig und streicht mit einer eleganten Handbewegung ihr tiefschwarzes, langes Haar nach hinten. Sie ist unglaublich hübsch.

»Noch habe ich keins gefunden, das mir hundertprozentig gefällt«, antworte ich schulterzuckend. »Ich wollte bald mal einen Termin in dieser kleinen Boutique machen, die letztes Jahr neu eröffnet hat…«

»Wir kommen auf jeden Fall mit«, beschließt Val und deutet mit den Fingern auf sich und Jana, die neben ihr sitzt und heftig nickt.

»Und dann ziehst du jedes Einzelne an, während wir uns wie in den Filmen mit Champagner betrinken und dich professionell bei der Auswahl beraten«, kichert Val. »Das wird so toll!«

»Oh, oh, Tom«, sage ich gespielt schockiert und stoße meinem Verlobten mit dem Ellbogen leicht in die Seite.

»Val will mir mein Hochzeitskleid aussuchen. Wenn du mir nicht hilfst, werde ich als pompöse Glitzerkugel zum Altar rollen!«

Schnell sieht Tom von Timo und Martin, Janas Freund, zu mir rüber.

»Was?«, fragt er entsetzt und spielt mit. »Das kommt nicht infrage. Models mögen ja vielleicht so heiraten, aber Buchhändlerinnen tragen normale Kleider!«, sagt er an Val gewandt und hält warnend seinen Zeigefinger hoch.

»Meine Braut braucht kein Kleid, um aufzufallen. Ihre natürliche Schönheit erledigt das ganz von allein«, sagt Tom mit einem Grinsen und wendet mir sein Gesicht zu, um mir einen Kuss auf die Wange zu hauchen.

»Du wirst wunderschön aussehen«, flüstert er mir ins Ohr.

»Dann halte Val auf!«, kontere ich und freue mich insgeheim trotzdem über sein süßes Kompliment. Obwohl ich eine recht schlanke Statur habe und mit meinen braunen Haaren, die ich immer zum lockeren Dutt hochstecke, ganz zufrieden bin, so ertappe ich mich doch manchmal dabei, wie ich meine beste Freundin um ihr Äußeres beneide. Da sind Toms Worte wirklich Musik in meinen Ohren.

Ich gebe ihm einen zärtlichen Kuss, den er nur zu gern erwidert, bis uns das Gebrüll unserer Freunde wieder voneinander trennt.

»Ist ja widerlich, müsst ihr hier so rumknutschen? In aller Öffentlichkeit? Ihr seid noch nicht verheiratet…«, tadelt Jana uns grinsend.

»Außerdem sind jetzt die Salate da, die können Sie sich vielleicht zunächst einmal schmecken lassen«, kommentiert der Kellner lachend, während er den letzten Teller gekonnt auf den Tisch bugsiert. Tom und ich fahren auseinander und greifen rasch zum Salatbesteck. Zum Knutschen haben wir später noch genug Zeit.

* * *

Das Essen schmeckt köstlich und nach dem Hauptgang genehmigen wir uns alle noch einen Nachtisch. Es ist bald schon zehn Uhr und doch ist es noch warm hier draußen im Biergarten. Man merkt, dass der Sommer langsam kommt. Ein paar der anderen gönnen sich einige Gläser Bier und Wein, aber ich bleibe lieber bei meiner Apfelschorle. Sicher ist sicher.

Val und Jana fragen mich weiter nach den Hochzeitsplänen aus. Natürlich werden sich die beiden um mein Styling kümmern, schließlich betreiben die zwei in der Nachbarstadt einen Kosmetik- und Friseursalon. Was sollte Val, das Hobby-Model, auch sonst tun? Allerdings entspricht Jana weniger dem Klischee einer Kosmetikerin. Sie ist – besonders im Vergleich zu Val – recht klein und trägt einen kurzen, schwarzen Bob. Ohnehin ist das Meiste an ihr schwarz: der Kajal um die Augen, der Schmuck, die Kleidung. Sogar ihre Schuhe.

Jana passt optisch hervorragend zu ihrem Freund Martin, der heute ein dunkles AC/DC-Shirt trägt. Außerdem stets unverkennbar »Martin«: sein schwarzer Ziegenbart. Ich selbst habe nicht viel übrig für diesen Look, vor allem nicht in Kombination mit Martins langen Locken, die das schmale Gesicht einrahmen. Trotzdem sind er und Jana ein echtes Traumpaar für mich. Abgesehen von Tom und mir, natürlich.

Tom sieht Martin überhaupt nicht ähnlich. Mein Verlobter ist ein bisschen größer als ich, hat kurze, braune Haare und einen Dreitagebart. Gott sei Dank keinen Ziegenbart! Außerdem trägt Tom eine Brille, was ihn etwas wie ein Nerd aussehen lässt. Während ich ihn mustere, denke ich, dass ich wirklich Glück habe mit ihm. Tom bemerkt meinen Blick und wirft mir ein verschmitztes Grinsen zu.

»Alles klar, Schatz?«, fragt er und sieht mich mit strahlenden Augen an. Ich nicke schnell und klinke mich wieder in das Gespräch zwischen Jana und Val ein.

Nach wenigen Minuten schweifen meine Gedanken jedoch erneut ab. Ich habe den Eindruck, dass Timo mir ständig einen flüchtigen Blick zuwirft und wegsieht. Hat er wieder etwas ausgefressen? Bei Timo weiß man das nie. Obwohl er inzwischen 25 Jahre alt ist und endlich einen festen Job als Maler hat, habe ich noch häufig das Gefühl, ihn beschützen zu müssen.

Eigentlich sieht Timo ganz gut aus, nur leider macht er nicht viel aus sich. Ein schmuddeliges Shirt zur schlichten Jeans ist das Maximum dessen, was man erwarten kann. Dass er nicht gleich seine Radler-Klamotten anlässt, ist ein Wunder. Timo ist nämlich fast ausnahmslos mit dem Rad unterwegs, was man seinem muskulösen Körper auch ansieht. Normalerweise ist mein unternehmungslustiger Bruder die Gelassenheit in Person, heute jedoch wirkt er unkonzentriert und … ja, nervös. Hoffentlich erwische ich ihn gleich noch für ein Gespräch unter vier Augen. Ob er wieder Geldprobleme hat?

»Deine Eltern kommen doch sicher auch zur Hochzeit?«, fragt Jana und reißt mich aus meinen Gedanken.

»Ja, klar. Mein Vater ist zwar immer noch nicht richtig fit, aber die frische Luft im Norden scheint ihm gut zu tun. Es wird sicher reichen, um für ein paar Tage nach NRW zu reisen.«

»Wir drücken die Daumen«, sagt Jana mit einem aufmunternden Lächeln auf den Lippen.

»Sie waren schon lange nicht mehr hier. Dafür, dass sie jahrzehntelang in Langenberg gelebt haben, scheinen sie unser beschauliches Städtchen nicht zu vermissen…«, kommentiert Val trocken.

Sie weiß, dass meine Eltern nicht nur wegen der Gesundheit meines Vaters weggezogen sind. Meine Mutter wollte schon immer an der Nordsee wohnen und hatte davon geträumt, morgens am Strand ihre Staffelei aufzubauen und zu malen. Vor ein paar Jahren haben sie es dann endlich umgesetzt und sind mit Sack und Pack nach Cuxhaven gezogen. Seitdem haben Timo und ich die zwei nur selten zu Gesicht bekommen.

Ehrlich gesagt war ich ein wenig überrascht, als ich ihre Zusage für die Hochzeit in den Händen hielt. Unser Verhältnis zueinander war nie sonderlich gut gewesen. Meine Mutter hatte nie vor gehabt, Kinder zu bekommen, und ließ uns das gerne deutlich spüren. Mein Vater hingegen hatte wahrscheinlich immer insgeheim gehofft, dass meine Mutter sich eines Tages umentscheidet. Sicherlich jubilierte er innerlich und machte im Geiste Luftsprünge, als er von »Unfall« eins und zwei erfahren hatte. Trotzdem würde es ihm nie in den Sinn kommen, meiner Mutter zu widersprechen oder gar etwas gegen ihren Willen zu tun. Er liebt sie abgöttisch.

»Ist ja jetzt auch egal«, beendet Tom das Thema, denn er weiß, dass ich nicht gerne darüber rede. »Erzähl du mal lieber von deiner neuen Freundin«, sagt er dann und sieht zu Timo. Der verschluckt sich fast an seiner Cola und stellt das Glas rasch zurück auf den Tisch.

»Freundin? Wie kommst du denn darauf? Ich habe keine Freundin«, antwortet Timo schließlich, doch man sieht ihm an, dass er lügt. Das ist es also! Jetzt ergibt alles einen Sinn.

»Du solltest sie zur Hochzeit mitbringen!«, ruft Jana begeistert.

»Es sei denn, sie ist so ätzend wie Sarah«, bemerkt Martin und erntet zustimmende Blicke aus der Runde.

»Lasst Timo das doch selbst entscheiden«, rettet dann ausgerechnet Val meinen Bruder vor unseren Kommentaren.

»Er wird sie uns schon noch vorstellen, oder nicht?«, fragt sie ihn dann auffordernd.

»Ja, klar. Ähm, das ist alles noch so frisch, deshalb … ihr wisst schon. Wartet’s ab!«, sagt der peinlich berührte Timo schnell und wechselt dann das Thema, indem er den neuesten Fußball-Transfer eines Top-Spielers in der Bundesliga zur Diskussion stellt. Die Männer steigen sofort darauf ein, während Jana, Val und ich uns wieder mit meinem Hochzeitsstyling befassen.

Eine Freundin also. Tom hat bei so etwas oft einen guten Riecher und obwohl er sicher nur gemutmaßt hat, traf er voll ins Schwarze. Timo und eine neue Freundin. Er erzählt mir doch sonst alles? Jetzt bin ich umso neugieriger, wer es ist. Schlimmer als Sarah kann sie doch kaum sein?

* * *

Tom fährt gerade mit unserem roten Clio auf die Autobahn auf, als er mir seine Hand auf den Oberschenkel legt.

»Hey, Schatz. Woran denkst du?«, fragt er mich und schaut kurz zu mir rüber. Inzwischen ist es stockduster draußen und nur die Scheinwerfer unseres Wagens erleuchten den Weg.

Obwohl wir uns meistens in der Langenberger Altstadt treffen, haben wir heute mal ein neues Restaurant in Essen ausprobiert, von dem Jana schon länger schwärmt. Ich muss gestehen: Sie hat nicht übertrieben. Trotzdem wäre es mir gerade lieber, wir hätten jetzt nicht noch die Heimfahrt im Auto vor uns. Ich werde allmählich etwas müde und schlinge mir fröstelnd den Cardigan enger um den Körper.

»Ich hab mich an den Tag erinnert, an dem ich dich kennengelernt habe«, gebe ich zu.

Tom lächelt.

»Du meinst, als ich Idiot die falsche Bahn genommen habe und viel zu früh in Langenberg war? Wie ich dann irgendwie die Zeit herumkriegen musste und dann mit meinem Laptop in deinem Lesecafé gesessen habe?«

Unwillkürlich muss ich lachen.

»Meine Kunden haben dich angesehen wie einen Alien. Niemand geht in ein Lesecafé und arbeitet dann an seinem Laptop.«

»Das Schild war halt so schlecht angebracht! Ich konnte bei dem Hundewetter nur einen kurzen Blick wagen, bevor ich wieder unter den Regenschirm musste. Und was ich da sah, war das Wort Café.«

»Und trotzdem bist du nicht gegangen, als du deinen Fehler bemerkt hast und alle dich anstarrten«, antworte ich.

»Natürlich nicht. Da hat mich diese super heiße Ladenbesitzerin auch schon angelächelt und da war’s um mich geschehen.«

Wieder muss ich lachen. Ich habe diesen Tag noch genau vor Augen. Tom ist geschäftlich in Wuppertal unterwegs gewesen und als ein neuer Kunde ihn um die Gestaltung seiner Webseite gebeten hatte, schlug er kurzerhand ein persönliches Treffen vor. Also fuhr Tom nach Langenberg. Dass es sich bei besagtem Kunden um Timo, Martin und ihren Freund Leo handelte, die zusammen eine Band gegründet hatten, wusste ich damals natürlich noch nicht.

Langsam spricht Tom weiter. »Ich hätte nie geahnt, wo das alles hinführen würde…«

»…und wie glücklich wir sein würden! Vor fünf Jahren war ich noch ein ganz anderer Mensch und bald… bald werden wir eine Familie sein!«, sage ich und seufze leise.

»Hoffentlich«, kommentiert Tom trocken.

»Ja, natürlich. Ich weiß.«

»Martin und Jana versuchen es nun schon seit einem Jahr und es hat noch nicht geklappt. Wir müssen Geduld haben.«

»Ich weiß, Tom. Aber mit dir ist das Warten schön. Wir schaffen das alles. Da bin ich mir sicher.«

»Ich mir auch. Ich liebe dich, Emily.«

»Ich liebe dich auch, Tom«, antworte ich und drücke seine Hand, während mir ein wohliger Schauer über den Rücken fährt.

Wenige Minuten später parkt Tom unseren Wagen in einer Seitenstraße. Eine sanfte Brise umweht mein Haar und ich hake mich bei Tom unter, während wir die letzten Meter durch die Altstadt zu unserem schönen Heim laufen. Die Straße liegt in tiefer Dunkelheit und nur wenige Laternen werfen ein schummriges Licht auf uns. Die Lampe an der Eingangstür ist seit einigen Tagen defekt, aber Tom könnte das Schloss auch blind öffnen. Es ist unser Zuhause. Leise betreten wir das düstere Café und schleichen uns durch den Verkaufsraum an das andere Ende des Ladens. Bloß keine Katze wecken! Auf Zehenspitzen tapsen wir die schmale Treppe hinauf zu unserer Wohnung, die gleich über dem Lesecafé liegt.

»Komm her«, raunt mir Tom ins Ohr und schlingt seine Arme von hinten um mich, als wir im Schlafzimmer sind. Er steht so nah bei mir, dass ich sein Parfüm riechen kann. Ich atme tief ein und sauge den Duft auf. Dann küsst Tom mich sanft in den Nacken. Ein warmes Gefühl durchströmt mich und ich schließe die Augen, während seine Lippen weiter über meinen Körper wandern. Das Leben ist so wunderschön.

2. Kapitel

Am nächsten Morgen liege ich lange mit geschlossenen Augen im Bett und hänge noch im Halbschlaf diesem wunderschönen Traum nach. Wir liefen durch eine zauberhafte Winterlandschaft, der Schnee knirschte unter unseren Schuhen. Mir wurde allmählich kalt und ich begann zu zittern, doch er nahm mich nur noch fester in seine Arme. Behaglichkeit ergriff Besitz von meinem durchgefrorenen Körper und das Zittern wandelte sich in ein angenehmes Kribbeln.

»Da vorn ist eine Hütte«, sagte er und deutete zum Waldrand. »Ich mache uns im Kamin ein schönes Feuer, damit wir uns aufwärmen können.«

Ich musste lächeln. Er war unfassbar fürsorglich. Nie zuvor habe ich ihn so sehr geliebt wie in diesem Augenblick. Er führte mich zu der Hütte und ließ mich eintreten. Die Umgebung war herrlich romantisch. Dunkle Holzmöbel, ein urbequemes, helles Sofa und ein flauschiger Teppich gleich davor. Kannte er diesen Ort? Woher konnte er wissen, dass mich die Atmosphäre derartig in ihren Bann ziehen würde? Ich sah mich zu ihm um und blickte in sein schönes Gesicht. Sein langes, dunkelblondes Haar rahmte es mit tropfnassen Strähnen ein. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm in die strahlend blauen Augen zu sehen.

»Ich liebe dich, Em«, sagte er zärtlich mit sanfter, aber tiefer Stimme. Es klang so vertraut.

»Ich liebe dich auch, Chris.«

* * *

Mit einem markerschütternden Schrei wache ich endgültig auf und sitze plötzlich kerzengerade in meinem Bett. Entsetzt blicke ich neben mich und betrachte den schlafenden Mann. Sein kurzes, braunes Haar. Es ist Tom. Beruhigt atme ich tief durch. Natürlich ist es Tom. Es war nur ein Traum. Nichts weiter.

Tom scheint von meinem kleinen Nervenzusammenbruch nichts mitbekommen zu haben, jedenfalls schläft er seelenruhig weiter. Erstaunlich. Ich wäre vermutlich sofort aufgeschreckt, doch Tom zuckt nicht einmal mit der Wimper. Rasch klaube ich mir ein paar Sachen aus dem Kleiderschrank zusammen und mache mich auf den Weg ins Bad.

Unter der Dusche versuche ich, einen klaren Kopf zu bekommen. Das warme Wasser fließt über meinen Körper und ich wünsche mir, ich könnte diesen Traum einfach von mir abwaschen wie das Peeling, mit dem ich mich einreibe. Doch es hilft alles nichts. Immer wieder sehe ich Chris vor mir. Seine Augen. Seine Lippen. Spüre sie fast schon auf meiner Haut. Das kann doch nicht wahr sein! Ich schüttele den Kopf, als könnte ich meine Gedanken damit vertreiben. Schließlich gebe ich die Hoffnung auf und stelle das Wasser ab. Ich wickle mir die nassen Haare in einen Turban ein und husche dann kurz nach unten ins Café, um mir einen leckeren Cappuccino mit dem Vollautomaten zuzubereiten. Anschließend mache ich es mir im Jogginganzug auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem.

Heute ist – anders als gestern – ein trüber Tag. Durch das große Fenster fällt nur wenig Licht, obwohl es schon bald Mittag ist. Dunkle Wolken verhängen den Himmel und immer wieder regnet es. Die Straße vor unserem Haus glänzt bereits nass und ein kleines Bächlein aus Regenwasser zieht seine Bahnen zwischen den Pflastersteinen bergab durch die Altstadt.

Ich nippe an dem heißen Getränk, stelle es dann aber beiseite, da ich mir fast die Zunge daran verbrenne. Mein kleiner Kater Rocco liegt langgestreckt auf dem dunkelgrünen Sessel neben dem Sofa und ist tief in seinen Schlaf versunken. Wie gerne würde ich jetzt auch wieder entspannt schlummern! Dann träumte ich vielleicht etwas anderes, was meine Gedanken an Chris verscheuchen könnte.

Meine Katze Molly, eine europäische Kurzhaarkatze wie Rocco auch, allerdings schon gute zehn Jahre alt, streckt sich auf ihrem Kratzbaum und gähnt gemütlich, bevor sie mit einem lauten Rums auf den Boden springt. Molly ist kugelrund und flauschig, was zwar überaus niedlich aussieht, aber keineswegs eine grazile Katzendame aus ihr macht. Schlaftrunken tapst das getigerte Fellknäuel zu mir hinüber und springt mit einem Satz auf das Sofa.

Die dritte im Bunde, die grau-weiße Ragdollkatze Lola, bleibt derweil unverändert in ihrer Höhle auf dem Kratzbaum eingekuschelt. Sie muss etwa so alt wie Molly sein und ist mir vor gut zwei Jahren zugelaufen. Glücklicherweise hatte Lola sich super mit Molly und dem damals frisch eingezogenen Rocco verstanden, sodass das Dreiergespann seitdem zumeist streitfrei zusammenlebt und ein fester Bestandteil des Lesecafés geworden ist. Ich würde fast schon behaupten, einige Leser kommen eher wegen der Katzen als wegen der Bücher her.

Da ich den Sonntag jedoch zum Ruhetag im Café erklärt habe und das Wetter draußen derart ungemütlich ist, halten sich die drei heute lieber in unserer Wohnung auf. Molly hat es sich inzwischen auf meinem Schoß bequem gemacht, sodass ich mich erst einmal zurücklehne, die Augen schließe und ihr mit den Händen über das weiche Fell streiche. Wie auf Kommando ertönt ein wohliges Schnurren. Molly rollt sich auf den Rücken und hält mir auffordernd ihren Bauch hin. Los, streichel mich!

Sanft kraule ich sie hinter den Ohren und am Bäuchlein, während ich den Traum der vergangenen Nacht Revue passieren lasse. Ja, es war nur ein Traum. Und doch wirkte er erstaunlich echt! Es hätte wirklich so geschehen können. Die Hütte, der Kamin… Chris. Was natürlich nicht möglich ist, denn Chris und ich waren nie zusammen im Skiurlaub. Außerdem ist das Ganze schon so viele Jahre her! Wie kommt mein Unterbewusstsein überhaupt auf Chris? Bei dem Gedanken an den noch immer schlafenden Tom fühle ich mich hundeelend. Sind wir nicht überglücklich zusammen? Seit Langem habe ich nicht mal mehr an Chris gedacht und jetzt träume ich plötzlich von einem romantischen Treffen mit ihm? Was stimmt denn nicht mit mir? Wie bereits zuvor schüttele ich ungläubig den Kopf.

Ein leichter Pfotenhieb Mollys reißt mich aus meinen Gedanken. Abwesend muss ich aufgehört haben, sie zu streicheln. Schnell bessere ich mich und verwöhne die kleine Katze erneut.

Komisch, dass der Traum immer noch in meinem Kopf herumspukt. Normalerweise kann ich mich nach dem Aufwachen kaum noch daran erinnern, was ich geträumt habe. Spätestens nach ein paar Minuten ist der Traum dann gänzlich vergessen. Wie kommt es also, dass ich mich noch an jedes Detail erinnere? Dass ich sogar noch fühle, was ich während des Schlafens zu fühlen glaubte? Dass ich denke, Chris wieder zu lieben. Nach dieser langen Zeit.

Aargh, ich mache mich doch selbst nur verrückt hier! Entschlossen nehme ich den letzten Schluck aus der Kaffeetasse, der nun zwar kalt ist, aber dennoch schmeckt, und strecke mich mit einer Hand nach dem Laptop, der auf dem Couchtisch steht. Molly öffnet ihre Augen warnend einen kleinen Spalt, schließt sie aber sofort wieder, als sie merkt, dass ich sitzen bleibe und weiter mit ihr kuschele.

Ich weiß nicht, was genau mich dazu treibt, doch sobald der Laptop hochgefahren ist, öffne ich den Internet-Browser und gebe Chris' Namen in die Suchmaschine ein. Das Ergebnis ist recht zufriedenstellend. Neben ein paar verlinkten Profilen auf Facebook und Co. scheint er auch auf einer Kanzlei-Homepage Erwähnung zu finden.

Infolge meiner grenzenlosen Neugier klicke ich sofort auf die Facebook-Verlinkung, doch zu meiner Enttäuschung hat Chris seine Profile in den sozialen Medien gut gesichert. Ohne mit ihm »befreundet« zu sein, kann ich also bloß sein Profilbild anklicken, das jedoch nur seine Gitarre zeigt. Also zurück zu Google und ab auf die Kanzleiseite.

Der Browser öffnet eine ansehnliche Internetpräsenz. Zunächst werden drei ältere Herren in einem Slider gezeigt. Wie ich den Infotexten daneben entnehmen kann, sind sie die Namensgeber der Kanzlei. Trotzdem muss Chris auf der Seite zu finden sein, sonst hätte die Suchmaschine das Ergebnis nicht ausgespuckt. Eilig klicke ich auf den Reiter »Team«. Eine schier endlose Seite öffnet sich, die eine Vielzahl von jungen und älteren Anwälten alphabetisch sortiert auflistet.

Mit der Maus klicke ich andauernd auf den Pfeil nach unten, um weiter zu scrollen. E, F, G… . H! Da ist es. Unter diesem Buchstaben sind nur vier Anwälte gelistet. Als der Computer das Bild des zweiten Anwalts lädt, schlage ich die Hand vor meinen Mund.

Es ist Chris. Er sieht unverschämt gut aus. So, wie ich ihn in Erinnerung habe. Langes, blondes Haar. Nicht strubbelig, wie früher, sondern brav zurückgekämmt für das Foto. Außerdem trägt er einen schicken, schwarzen Anzug, wie es sich für Anwälte gehört. Trotzdem leuchten seine Augen auf dem Bild geradezu. Unwillkürlich beginnt mein Herz zu klopfen und ich spüre, wie mein Atem schneller und flacher geht. Ein nervöses Kribbeln durchfährt meinen Körper. Was, verdammt, ist nur los mit mir? Der Text neben Chris' Bild gibt mir Aufschluss über seine Karriere – und die kann sich sehen lassen!

Jurastudium und Rechtsreferendariat in München. Abschluss mit einer Spitzennote. Seit gut zwei Jahren in der Kanzlei Werner – Mayskofen – Arndter tätig. Aber was habe ich auch anderes erwartet? Chris ist schon in der Schule ehrgeizig gewesen. Ob er immer noch in München lebt?

Ein Blick ins Impressum verrät mir, dass sich die Kanzlei unweit des Karlsplatzes in München befindet. Ich war noch nie in der Stadt, deswegen sagt mir die Angabe nichts, aber laut Homepage sei der Hauptbahnhof ebenfalls nicht weit entfernt. Außerdem bestätigt die Angabe meine Vermutung, dass Chris auch nach dem Studium in Bayern geblieben ist.

Seufzend klappe ich den Laptop zusammen und schiebe ihn zurück auf den Couchtisch. Molly streckt sich einmal lang aus und gähnt, dann rollt sie sich zu einem runden Fellknäuel zusammen, seufzt ebenfalls und schläft weiter.

Chris wohnt also noch in München, na und? Was hätte es geändert, wenn er wieder hier wäre? Warum denke ich überhaupt darüber nach? Es war nur ein bescheuerter Traum. Außerdem ist es Tom gegenüber nicht fair, diese Gedanken zu haben. Es fühlt sich fast so an, als würde ich ihn betrügen.

Mein Handy klingelt und zeigt eine Nachricht an. Molly und ich schrecken kurz zusammen und ich greife rasch nach dem Telefon. Eine Mitteilung von Val.

Hey Em, ich wollte nur mal nachfragen, wie es dir geht? Du weißt, ich bin immer für dich da. Kann aber verstehen, wenn du deine Ruhe haben möchtest. Ich will nur sichergehen, dass alles okay ist. Timo sagt, du hättest seine Anrufe nicht angenommen. Melde dich mal. Val

Sie ist »immer für mich da«? Wie kommt sie darauf? Es klingt, als wüsste sie, wie ich mich gerade fühle. Dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Aber wieso hat mein Bruder versucht, mich zu erreichen? Schnell klicke ich mich durch das Menü und entdecke vier unbeantwortete Anrufe. Er muss es versucht haben, als ich unter der Dusche stand und das Klingeln nicht hören konnte. Steckt Timo doch in Schwierigkeiten? Wieso sollte er sonst so häufig anrufen? Außerdem hat er doch heute einen Auftritt mit Martin und Leo, seiner Band The Rocking Burgers? Schnell antworte ich Val, dass alles in Ordnung sei und bei ihr hoffentlich auch. Dann schreibe ich Timo.

Hey Bruderherz, habe deine Anrufe gerade erst gesehen. Alles okay? Meld dich, wenn ich was für dich tun kann. Emi

Prompt kommt schon seine Antwort, zeitgleich mit Vals. Ich lese erst Timos.

Alles gut bei mir, große Schwester. Ich wollte nur nach dem Rechten sehen bei dir. Ich könnte jederzeit vorbei kommen, falls was ist. Denk mal nur an dich selbst und sag Bescheid, wenn du uns doch bei dir haben möchtest. Ich hab dich lieb, Schwesterchen.

Was soll das denn bitte bedeuten? Schnell lese ich auch Vals Nachricht, aber die klingt ähnlich. Warum haben die beiden heute diesen guten Riecher, dass etwas nicht stimmt? Mollys Bewegungen auf meinem Schoß reißen mich aus den Gedanken. Sie setzt sich aufrecht hin und streckt sich, um mir mit ihrer Nase ein kleines Küsschen auf meine zu geben. Ich liebe es, wenn Molly das tut. Ich streiche ihr kurz über ihr kleines Köpfchen, bevor sie vom Sofa hüpft und in Richtung Fressnapf schleicht, dann lege ich mein Handy beiseite und nehme mir vor, dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Keine Gedanken mehr an Chris, das ist jetzt tabu! Vielleicht ist Tom schon wach? Er könnte mir sicher Ablenkung verschaffen.

* * *

Als ich durch den Flur laufe, um nach Tom zu sehen, laufen wir uns geradewegs in die Arme und können einen Zusammenstoß nur knapp verhindern.

»Guten Morgen, mein Schatz«, sagt er und gibt mir lächelnd einen Kuss. Ich erwidere ihn, kann aber nicht umhin, mich für meinen Traum zu schämen. Ob alle Bräute kurz vor der Hochzeit so etwas durch machen? Überraschende Gefühle für den Ex haben?

»Guten Morgen, Tom. Soll ich uns ein spätes Frühstück machen? Oder lieber Mittagessen?«

»Weder noch. Ich springe nur kurz unter die Dusche, dann muss ich rüber ins Büro.«

»Heute? Wieso das denn?«, frage ich und kann die Enttäuschung in meiner Stimme nicht verbergen.

»Ich habe doch diesen neuen Kunden und ich habe ihm versprochen, die Webseite in der kommenden Woche fertig zu stellen. Da muss ich mich jetzt ranhalten, wenn ich das schaffen will.«

Ich rolle mit den Augen und lasse Tom an mir vorbei in Richtung Bad gehen. Hat ja super geklappt mit der Ablenkung. Widerwillig laufe ich in die Küche und setze Wasser für ein paar Frühstückseier auf. Während diese vor sich hin kochen, backe ich ein paar Tiefkühlbrötchen im Ofen auf und stelle Marmelade und Aufstrich bereit. Dann frühstücke ich halt alleine!

Tom duscht zügig, zieht sich rasch etwas über und rauscht dann aus der Wohnung. Immerhin kommt er noch kurz bei mir vorbei, um mir einen Abschiedskuss auf die Wange zu hauchen. Gedankenversunken kaue ich schließlich an meinem Brötchen, habe aber nicht wirklich Appetit. Immer wieder sehe ich Chris vor mir. Und Tom. Diese merkwürdige Hütte in den Bergen. Was hat es mit diesem Traum auf sich?

Ich schaue auf die Uhr. Gleich eins. Vor dem Abendessen wird Tom nicht zurück sein. Sein »Büro«, wie er es liebevoll nennt, liegt nur ein paar Straßen weiter. Er hatte sich die Wohnung damals gemietet, als er neu in die Stadt gezogen ist. Da wir auf Anhieb gut miteinander auskamen und wir wegen des Lesecafés und der Katzen ausschließlich in meiner Wohnung übernachteten, wollte Tom seine vier Wände eigentlich schon wieder räumen. Als er jedoch seinen Schreibtisch und die Aktenordner in meiner schmalen Dachgeschosswohnung zu verstauen versuchte, wurde uns klar, dass mein schnuckeliges Heim keinen Platz für seine Arbeit bot. Zwar reicht es für uns zwei und die Katzen, allerdings habe ich kein Arbeitszimmer. Meine Buchhaltung ist unten ins Lesecafé ausgelagert, daher quetschte ich beim Einzug nur das Nötigste in die darüber liegende Wohnung hinein: Küche, Bett, Sofa, Kratzbaum. Selbst das Badezimmer ist winzig. Aber die paar Quadratmeter Wohnfläche reichen mir, ich brauche nicht mehr Platz.

Tom hingegen schon. Als Webdesigner erledigt er das Meiste von seinem Computer aus. Nicht mit einem kleinen, klappbaren Laptop, sondern mit einem riesigen Rechner und Monitor. Mit separat angeschlossenen Boxen und einer Maus. Einen großen High-Tech-Drucker nicht zu vergessen. Außerdem achtet er – was mich immer wieder beeindruckt! – auf eine penible Sortierung seiner Unterlagen. Für alles hat er einen eigenen Ordner. Wird mir die Selbstständigkeit manchmal etwas zu viel und wächst mir über den Kopf, so hat Tom immer alles tiptop geordnet und hat regelrechte Freude daran. Ich werde es wohl nie verstehen.

Meine Ordner im Lesecafé sind eher kunterbunt gemischt und wenn ich eine schlechte Monatsbilanz befürchte und kaum weiß, wie ich die Mitarbeiter bezahlen soll, mache ich tagelang einen großen Bogen um den Schreibtisch. Nicht sonderlich clever, ich weiß. Davon lösen sich meine Geldprobleme auch nicht in Luft auf. Trotzdem würde ich mir dann nur noch mehr Sorgen machen als zuvor schon und das schlägt mir immer auf den Magen. Wie ich Tom und seine Disziplin bewundere! Er ist genauso zielstrebig wie Chris. Chris! Meine Gedanken drehen sich im Kreis.

Ich muss endlich etwas unternehmen und stelle den Teller mit dem halb aufgegessenen Brötchen zurück in die Küche. Plötzlich überkommt mich ein Energie-Schub. Erst räume ich die Marmelade zurück in den Kühlschrank. Dabei fallen mir die vielen Krümel darin auf. Und der Geruch der Lasagne-Reste von Freitag. Ich werfe diesen Rest in den Müll und spüle die Schale dann aus. Anschließend widme ich mich dem verdreckten Kühlschrank. Einmal den Lappen in der Hand, wische ich schließlich über die Anrichte und räume die Backbleche aus dem Ofen, um sie ordentlich zu schrubben.

Ein regelrechter Putzwahn befällt mich. Nicht denken, einfach machen. Ich stelle das Radio laut an und nehme mir ein Zimmer nach dem anderen vor. Ed Sheerans »Shape of you« ertönt, bevor er durch einen anderen Song abgelöst wird. Ich putze weiter. Erst die Küche, dann das Bad. Alle Spiegel in der Wohnung. Auf die Fenster verzichte ich, denn es regnet immer noch in Strömen. Dann ist das Wohnzimmer dran. Der Kratzbaum wird mit der Fusselrolle sorgfältig enthaart, dann das Sofa. Zum Schluss beziehe ich das Bett noch mit frischer Bettwäsche und sauge einmal durch die komplette Wohnung, obwohl Tom das gestern schon gemacht hat.

Als ich mich letztendlich erschöpft auf das Sofa fallen lasse, fällt mein Blick auf die große Wanduhr im Wohnzimmer. Schon gleich halb sechs! Mein Magen beginnt zu knurren. Kein Wunder, außer dem halben Brötchen vor ein paar Stunden habe ich heute noch nichts gegessen. Ich werfe einen Blick in Vorratskammer und Kühlschrank. Ich könnte einen Kartoffelauflauf zubereiten, überlege ich. Schnell tippe ich eine Nachricht an Tom und frage ihn, ob er einverstanden ist oder lieber etwas anderes essen möchte.

Während ich auf seine Antwort warte, stelle ich den Katzen ihr Abendessen und frisches Wasser in den Näpfen hin. Molly schleicht als Erste um die Ecke und begutachtet kritisch die angebotene Mahlzeit. Zufrieden mit dem heutigen Tagesmenü schlingt sie nun das Futter herunter. Ich sollte sie demnächst mal auf Diät setzen, überlege ich, sonst wird sie noch richtig übergewichtig. Mein Handy klingelt. Eine Nachricht von Tom.

Schatz, es tut mir leid, aber ich schaffe es nicht rechtzeitig nach Hause. Ich bleibe noch so lange, bis das Grundgerüst der Seite steht, sonst kann ich mich heute Abend nicht entspannen. Iss ruhig schon mal. Ich wärme mir meine Portion dann später auf. Ich liebe dich! Tom

Na, wunderbar. Ich erwäge, den Auflauf nun doch nicht zuzubereiten, entscheide mich dann aber wieder um. Nein, nur weil Tom erst spät heimkommt, heißt das noch lange nicht, dass ich auch nichts Anständiges esse!

Zügig schäle ich die Kartoffeln und bereite den Auflauf vor, den ich kurz darauf in den Ofen schiebe und dann hungrig auf dem Sofa vor dem Fernseher verschlinge. Ich schnappe mir schließlich noch ein Buch, das schon lange auf meinem Nachttisch liegt und das ich bereits seit Ostern lesen möchte, und beginne mit den ersten Seiten. Leider kann ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Wie auch, wenn sich die Hauptfigur gerade in einen gut aussehenden, blonden Schönling verliebt? Vor meinem inneren Auge sieht er genauso aus wie Chris. Da kann ich dann schon verstehen, weshalb sie sich in ihn verliebt…

Es ärgert mich, dass ich die Gefühle für Chris, die der Traum wachgerufen hat, den ganzen Tag über nicht loswerde. Herrgott, wie kann ein Traum eine solche Wirkung auf mich haben? Das Herzflattern, das ich zwischenzeitlich bekomme, wird überdeckt von dem schlechten Gewissen, das ich wegen Tom habe. Was er wohl denken würde, wenn er von meinem Traum wüsste? Andererseits kann man ja nicht steuern, an was man beim Schlafen denkt. Glaube ich. Diese Erklärung ist mir jedenfalls lieber als irgendwelche unbewussten Gefühle für Chris, die jetzt – kurz vor der Hochzeit mit Tom – wieder aufkochen. Mein Leben ist nun mal kein Hollywoodfilm. Und Chris käme sicher nicht plötzlich in die Kirche gestürmt, um mich aus Toms Armen zu reißen und hinaus zu tragen.

Woran denke ich hier überhaupt? Ich liebe Tom. Chris ist schon seit Jahren kein Teil mehr meines Lebens. Bestimmt ist morgen nach dem Aufwachen wieder alles gut und der Traum vergessen. Ich sehe ein, dass das Lesen heute zwecklos ist und lege das Buch beiseite. Obwohl es noch früh am Abend ist, lege ich mich in mein Bett und schlafe bald darauf ein. Hoffentlich begegnet mir Chris nicht wieder!

3. Kapitel

Am nächsten Morgen klingelt mein Wecker pünktlich um sieben Uhr. Das Erste, was ich erblicke, als ich blinzelnd meine Augen öffne, ist Molly, die gleich vor meinem Gesicht auf dem Bett sitzt und mich mit ihren großen Kulleraugen anschaut.

»Miau«, beginnt sie ihr Konzert, das ich schleunigst unterbrechen muss. Ein Blick auf die andere Bettseite bestätigt mir, dass Tom noch schläft. Er muss spät in der Nacht nach Hause gekommen sein, jedenfalls habe ich da schon tief und fest geschlafen. Während ich die Füße aus dem Bett schwinge, entdecke ich den entspannt daliegenden Rocco, der sich sofort in Bewegung setzt, sobald er bemerkt, dass ich wach bin. Mauzend tapsen die beiden hungrigen Katzen in die Küche und warten auffordernd neben ihren Näpfen. Allmählich kommt auch Lola angetrottet, lässt aber lieber die anderen zwei die Arbeit erledigen und wartet ruhig in einer Ecke ab, was als Nächstes passiert.

Ich versorge die Fellknäuel rasch, dann gehe ich ins Bad, putze die Zähne und dusche. Während ich wie jeden Morgen nach dem Föhnen meine braunen Haare zu einem lockeren Dutt hochstecke, überkommt mich die Erinnerung an gestern. An den merkwürdigen Traum. An Chris. An meinen ungewöhnlichen Putzwahn, mit dem ich die Gedanken wegzuputzen versuchte. Erfolglos. Sie sind noch da. Ebenso die Gefühle für Chris. Und das Komische daran ist: War ich mir gestern über meine Gefühle nicht im Klaren und hatte mich der Traum zunächst irritiert zurückgelassen, so sehe ich nun alles deutlich vor mir. Mit den Traum-Gefühlen für Chris sind die Gefühle für Tom so gut wie verschwunden! Es ist, als wäre er ein guter Freund, den ich schon ewig kenne, aber nicht mehr. Er ist mir zwar nicht fremd, doch trotzdem kann ich mir heute kaum vorstellen, dass ich vorgestern an nichts anderes denken konnte, als diesen Mann zu heiraten und mit ihm ein Kind zu bekommen! Nichts liegt mir heute ferner. Kinder? Jetzt schon? Mit Tom? Vielleicht ging es doch alles zu schnell mit uns. Vielleicht bin ich noch gar nicht bereit dafür…

Meine Gefühle für Chris hingegen sind überwältigend. Ich fühle mich wieder wie ein Teenager und allein beim Gedanken an Chris beginnen die Schmetterlinge in meinem Bauch zu flattern. Ach was, zu tanzen! Sie veranstalten ein regelrechtes Fest da drin, und ich habe sie nicht einmal eingeladen!

Irgendwie hat der Traum meine Gefühlswelt auf den Stand von vor neun Jahren zurück katapultiert. Damals waren Chris und ich noch glücklich verliebt und Tom ein Teil der Zukunft. Ich kannte ihn nicht einmal.

Immer und immer wieder schüttele ich den Kopf. Das kann nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein! Ich muss das Ganze mal realistisch betrachten. Ich gehöre zu Tom. Chris ist Vergangenheit. Ich schiebe bestimmt nur Panik wegen der Hochzeit. Wann hat dieser Albtraum bloß ein Ende?

* * *

Um kurz vor neun Uhr laufe ich die Treppe runter in das Lesecafé. Lola hat mich auf meinem Weg begleitet, um durch die Katzenklappe den Laden zu verlassen und die Altstadt unsicher zu machen. Rocco und Molly haben gerade noch auf dem Kratzbaum getobt, werden mir aber sicher bald Gesellschaft leisten. Wie immer auf der Arbeit trage ich ein einfach zusammengestelltes Outfit – eine schlichte, dunkle Jeans und ein hellblaues T-Shirt. Für heute ist wieder besseres Wetter angekündigt und ich freue mich schon auf einen gemütlichen Spaziergang in der Mittagssonne.

Zunächst schließe ich den Laden auf und stelle die zwei Tischgruppen davor, die ich vor ein paar Monaten im Internet gebraucht erstanden habe. Sie sind noch in einem super Zustand und für den Preis ein echtes Schnäppchen. Gerade in den Sommermonaten haben mehrere Kunden nach einem Sitzplatz vor dem Laden gefragt und nun kann ich diesen endlich anbieten.

Noch ist die Langenberger Altstadt wie ausgestorben. Die meisten Geschäfte öffnen erst in einer guten halben Stunde, einige sogar noch später. Da ein paar meiner Stammkunden aber oft schon gegen halb zehn vorbei schauen, habe ich im vergangenen Jahr die Öffnungszeiten etwas ausgedehnt. Jetzt gerade scheint aber noch kein Kunde in der Nähe zu sein, also gehe ich zurück in den Laden und sortiere ein paar Bücher ein, die ich letzte Woche mit einer neuen Lieferung erhalten habe.

Das Sortiment in meinem Laden ist natürlich begrenzt, schließlich ist der Verkaufsraum recht klein. Im vorderen Bereich sind die Tische angeordnet, an denen meine Kunden es sich mit einer Tasse Kaffee oder Tee und mit einem guten Buch gemütlich machen können. Nachmittags bieten wir außerdem Kuchen an, denn meine Küchenkraft Simone, die ich vor einigen Jahren quasi mit dem Laden zusammen übernommen habe, ist eine Spitzenbäckerin. Vormittags unterstützt sie mich gelegentlich beim Service, während nachmittags eine Schülerin aushilft und die Bedienung übernimmt.

Beim Einsortieren entdecke ich eine Neuerscheinung, auf die ich bereits lange gewartet habe. Auf die Autorin bin ich vor zwei Jahren zufällig aufmerksam geworden, als eine Kundin nach ihrem Buch fragte. Da ich es nicht vorrätig hatte, musste ich es zwar bestellen, habe mir aber gleich ein Exemplar mitbestellt, denn der Klappentext klang vielversprechend. Kurzum: Ich war begeistert! Auf der Leipziger Buchmesse hatte ich dann das Glück, sie bei einer Signierstunde persönlich kennenzulernen. Umso erfreulicher, dass ihr neuer Roman nun erhältlich ist! Ich mache mir eine kurze Notiz, um ein weiteres Exemplar für meinen privaten Bedarf zu bestellen.

Die kleine Glocke am Ladeneingang bimmelt und kündigt den ersten Gast an. Es ist Erna, eine ältere Dame und jahrelange Stammkundin.

»Emily, mein Schätzchen, bist du schon da?«, ruft sie durchs Geschäft. Eilig laufe ich um den Kassentisch herum, um sie im Eingangsbereich zu begrüßen.

»Erna, schön Sie zu sehen! Das Übliche?«, frage ich sie, während wir uns kurz umarmen. Erna ist klein und vermutlich auch schon ziemlich alt, obwohl ich nicht genau weiß, wie alt. Sie hört leider schlecht und kann nur noch vernünftig sehen, wenn sie ihre Brille mit den dicken Gläsern trägt. Erna ist ein herzensguter Mensch, den ich in meinem Café jederzeit gerne empfange.

»Ja, Schätzchen, das wäre lieb. Ich setze mich da drüben an den Tisch, ja? Kannst du mir noch das Buch rüber bringen, das ich letzte Woche bei dir bestellt habe? Ich wollte gleich mit dem Lesen anfangen…«

Ich nicke. »Natürlich doch. Es liegt schon griffbereit ganz oben auf dem Stapel!«

Ich eile zurück zum Tresen und bringe Erna das gewünschte Buch. Es ist die Übersetzung eines älteren französischen Romans, der kürzlich in einer Neuauflage erschienen ist.

Anschließend stelle ich mich an unseren neuen Kaffeevollautomaten und drücke auf »Cappuccino«. Den Rest erledigt die Maschine von alleine – und es schmeckt immer köstlich. Das ist auch der Grund, weshalb ich in meiner eigenen Wohnung nur noch eine ausrangierte Filterkaffemaschine besitze. Für Kaffeespezialitäten jeder Art brauche ich nur eine Treppe nach unten zu laufen.

Sobald der Cappuccino durchgelaufen ist, piept der Automat einmal und zeigt mit blinkendem Licht an, dass der Kaffee fertig ist. Ich stelle die Tasse auf eine hübsche Untertasse und lege noch einen verpackten Keks dazu, dann bugsiere ich das Ganze halbwegs elegant an Ernas Tisch. Obwohl ich schon so lange in dem Café arbeite, wird mir das Kellnern wohl niemals liegen. Erna hat bereits zu lesen begonnen, lächelt mich kurz an, sagt »danke« und liest dann unbeirrt weiter.

Der Tisch, an dem Erna sitzt und an dessen Tischplatte sie nun ihren Gehstock gelehnt hat, ist genau der Ort, an dem ich Tom damals kennen gelernt habe. An einem verregneten Tag im Spätherbst. Ich hatte ein Jahr zuvor meine Ausbildung zur Buchhändlerin in dem Lesecafé abgeschlossen und es dann von den vorherigen Besitzern, Betti und Ludwig, übernommen. Nicht, ohne einen dicken Kredit bei der Bank aufzunehmen.

An besagtem Nachmittag, als ich Tom begegnete, war im Café viel los. Bei strömendem Regen kamen gerne viele Gäste zu uns und an diesem Tag war es besonders voll, weil ich einige Neuerscheinungen von der Frankfurter Buchmesse mitgebracht hatte, auf die sich die Kundschaft nun stürzte.

Ruckartig öffnete sich die Eingangstür, das Glöckchen bimmelte und ein tropfnasser junger Mann polterte in den Laden. Er trug einen Anzug unter dem schweren, dunklen Mantel und elegante, schwarze Schuhe, die vor Nässe glänzten. In der rechten Hand hielt er eine Laptoptasche, in der linken einen großen Regenschirm, den er beim Betreten unseres Cafés rasch zusammenzog und im Schirmständer verstaute. Irritiert blickte er nach links und rechts, während die Augen aller Anwesenden auf ihm ruhten. Einschließlich meiner.

Es kommt selten vor, dass ein Ortsfremder diesen Laden betritt. Langenberg ist ein kleines Städtchen, hier kennt jeder jeden. Zwar verirren sich gelegentlich auch ein paar Touristen hierher oder in die angrenzenden Stadtteile, doch bleiben diese meist unter sich und kommen erst gar nicht in das Lesecafé.

Jeder wusste auf Anhieb, dass dieser Mann nicht von hier war. Ich ebenfalls. Spätestens dann, als er aus der nassen Dunkelheit hineintrat in unsere helle, behagliche Stube. Hätte ich diesen gut aussehenden Mann hier schon einmal gesehen, dann hätte ich das sicher noch gewusst! Seine Brille beschlug aufgrund der warmen Luft im Laden und er nahm sie mit der nun freien linken Hand kurz ab. Um ihn aus seiner peinlichen Lage zu befreien, riss ich mich aus meiner Starre los und lief zum Eingang, um den Gast zu empfangen. Noch bevor ich vor ihm stand, entdeckte ich seine traumhaft schönen, haselnussbraunen Augen, die er zuvor noch hinter der Brille versteckt hatte. Die Kombination aus klitschnasser Kleidung und dem leichten Dreitagebart, den ich auf die kurze Entfernung erkennen konnte, verlieh seinem Auftreten etwas Verruchtes. Schon in diesem Moment war es um mich geschehen.

»Guten Tag. Sie… möchten einen Tisch?«, fragte ich ihn zögerlich mit Blick auf seine Laptoptasche.

Er sah sich im Raum um, betrachtete aufmerksam die Bücherregale, die vielen Menschen in den schmalen Gängen und schließlich die kleinen Tische auf der Erhöhung an der bodentiefen Fensterfront.

»Ähm… ja. Das wäre nett«, sagte er und mir entging nicht, wie jung seine Stimme klang. Er war sicher nicht viel älter als ich. Ich sah mich auffordernd im Laden um und meine Kunden verstanden den Wink. Sie wandten sich den Büchern in ihren Händen zu oder nahmen die Gespräche erneut auf. Als ich den Mann vor mir wieder ansah, erblickte ich ein dankbares Lächeln auf seinen Lippen.

»Bitte folgen Sie mir«, sagte ich freundlich und wies ihm den Weg zu einem kleinen Tisch in der Ecke. Der Tisch, an dem jetzt gerade Erna sitzt.

»Alles in Ordnung, Schätzchen?«, reißt Erna mich aus meinen Gedanken. Irritiert sehe ich zu der alten Dame, die immer noch an ihrem Platz sitzt, aber das Buch beiseite gelegt hat und mich nun mit schiefem Blick anschaut. Nein, leider ist nichts in Ordnung heute. Ich erinnere mich an Tom, an unser Kennenlernen und weiß noch genau, wie verliebt ich schon auf den ersten Blick gewesen war. Und doch ist es, als sei das nicht mir passiert, sondern jemand anderem. Oder als sei es eine Szene aus einem Film gewesen. Aber meine eigene Vergangenheit? Und Toms? So fühlt es sich überhaupt nicht an.

»Natürlich, Erna. Alles in Ordnung. Ich habe nur schlecht geschlafen.« Was ja auch stimmt.

»Sind Sie sicher? Sie sind heute so abwesend. Und Ihr Handy hat gerade geklingelt.«

Stirnrunzelnd ziehe ich das Smartphone aus meiner Schürzentasche und entdecke zwei Anrufe in Abwesenheit. Beide von Val.

»Oh, Sie haben recht, Erna. Das habe ich wohl überhört. Lesen Sie ruhig weiter, Sie brauchen sich nicht zu sorgen.«

Nicht gänzlich überzeugt nimmt Erna einen Schluck Cappuccino und greift dann wieder nach ihrem Buch.

»Ansonsten kommen Sie zu mir, ja, Schätzchen?«, sagt sie lächelnd, aber mit strengem Blick unter ihren Brillengläsern.

»Selbstverständlich. Ich danke Ihnen«, sage ich höflich und mache mich wieder ans Einräumen der Regale, nachdem ich den Handyklingelton ausgestellt habe. Bei Val kann ich mich später noch melden, sie muss jetzt genauso wie ich arbeiten.

* * *

Inzwischen sind alle Tische besetzt und ich muss mir einen Weg durch die Gänge bahnen, um das Tablett mit Kaffee und Kuchen sicher zu den Kunden zu balancieren. Ein fröhliches Geplapper füllt den Laden, obwohl ich das Gefühl habe, dass der ein oder andere mich zwischendurch mit einem eigenartigen Blick ansieht. Merkt man mir meine Verwirrung etwa an?

»Bitte sehr, der Latte macchiato«, sage ich zu einem Mann mittleren Alters, der erst seit Kurzem im Café vorbeischaut.

»Wir würden gerne zahlen«, sagt eine Kundin am Tisch hinter mir und deutet auf sich und ihre Freundin. Es ist Melli, eine junge Frau, die ich schon seit Jahren zu meinen Stammkunden zählen darf. »Und die Bücher hier nehmen wir auch mit«, ergänzt sie und hält zwei Exemplare aus dem Second-Hand-Regal hoch.

Ich nicke, nehme noch eine Bestellung ein paar Tische weiter auf und laufe dann Richtung Kasse, um die Quittung für Melli und ihre Freundin auszudrucken. Ich rufe Simone die neue Bestellung in die Küche und will mich gerade umdrehen, als ich fast mit einer jungen Frau zusammenstoße. Sie ist groß und schlank und hat ihr tiefschwarzes, glänzendes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Hallo, Frau Krämer!«, begrüßt sie mich zurückhaltend, aber wie üblich mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Elif – Gott sei Dank, du bist schon hier! Ich hatte dich nicht vor zwei Uhr erwartet.« Dankbar falle ich meiner Aushilfe um den Hals. Heute kann ich sie wirklich gut gebrauchen.

»Die letzten Stunden sind heute ausgefallen und Betti hat mich darum gebeten, wenn möglich früher zu kommen. Ich… geht es Ihnen gut?«, fragt Elif und sieht mich an, als hätte sie Angst vor der Antwort. Ich muss echt schlimm aussehen heute, anders kann ich mir das nicht erklären.

»Doch, doch. Alles gut. Es ist nur etwas stressig heute, also danke, dass du schon da bist. Kannst du bitte Tisch drei übernehmen?«, frage ich sie und reiche ihr eine Schürze aus dem Schrank.

»Na klar. Bin schon unterwegs«, antwortet Elif und schnappt sich das Tablett von der Theke, das Simone gerade dort hingestellt hat. Erleichtert atme ich durch. Mit Elif wird der Nachmittag nun etwas ruhiger. Ich kann mir also eine kurze Pause gönnen und setze mich mit einer Tasse Kaffee ins Büro. An eine richtige Mittagspause ist heute wohl nicht zu denken.

Mein Handy zeigt weitere Anrufe von Val an. Nachdem sie es aufgegeben hat, mich telefonisch zu erreichen, hat sie mir eine Nachricht geschrieben.

Süße, ich mache mir Sorgen um dich. Ich wollte in der Pause zu dir ins Café kommen, aber der Salon ist heute rappelvoll. Ich komme nach Feierabend rüber, okay? Meld dich. Kuss, Val

Ich verstehe es nicht. Woher kann Val wissen, dass etwas nicht stimmt? Ich habe seit Arbeitsbeginn jeden Gedanken an Chris erfolgreich verdrängen können, aber jetzt kann ich an nichts anderes denken als an den verrückten Traum. Vielleicht bin ich geschlafwandelt, während ich die Szene in der Berghütte träumte? Und habe Val dabei angerufen, sodass sie genau Bescheid weiß? Auch wenn ich seit Jahren nicht mehr geschlafwandelt bin, so wäre das wenigstens eine einleuchtende Erklärung. Ich schreibe Val rasch, dass ich mich auf ihren Besuch freue, aber alles in Ordnung sei, und lege das Handy beiseite. Dann schließe ich die Augen für einen Moment und stütze den Kopf in meine Hände.