Ein Traum wie ein Leben - Jeannette Kauric - E-Book

Ein Traum wie ein Leben E-Book

Jeannette Kauric

4,4

Beschreibung

Michael ist beruflich erfolgreich, ledig und genießt sein Leben in vollen Zügen: mit seinem schicken Mercedes, teurer Designerkleidung und in der Gesellschaft wechselnder Frauen. Doch dann wird ihm eine Wette mit seinem Kumpel zum Verhängnis. Die Herausforderung: er muss die bodenständige Lisa, Tochter eines Düsseldorfer Modeunternehmers, kennen lernen und um den Finger wickeln. Leider passt Lisa so gar nicht in sein Beuteschema. Doch dann reißt ein plötzlicher Unfall Michael heraus aus seiner Großstadtwelt in eine gänzlich andere, in der Geld und Einfluss nichts wert sind. Hier wird er mit seiner Vergangenheit konfrontiert ... Wo endet die Realität und wo beginnen Träume?

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Seitenzahl: 346

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Die Autorin

Jeannette Kauric ist 1990 in der schönen Kleinstadt Velbert in NRW geboren und dort aufgewachsen. Nach ihrem Abitur schnupperte sie zunächst etwas Medienluft bei einem Radiosender in Mettmann, bevor es sie an die Ruhr-Universität Bochum zog, wo sie 2013 ihr Bachelor-Studium in Geschichte und Literaturwissenschaften beendete. Ein Traum wie ein Leben ist ihr Debütroman.

Besuche Jeannette online:

Homepage: www.autorin-jeannette-kauric.com

Facebook: https://www.facebook.com/AutorinJeannetteKauric

Instagram: www.instagram.com/autorin_jeannette_kauric

Für all jene, die mich auf dem Weg zur Veröffentlichung dieses Romans begleitet und unterstützt haben. Insbesondere für Michi, meine erste Leserin, für Denise, die mit mir jedes Detail durchgegangen ist, für Anne, die noch den letzten inhaltlichen Fehler entdeckt hat, und für Tanja, meine Komparatisten-Lektorin, die ihren Job gewissenhaft wahrgenommen hat. Für jeden, der mit mir über das Manuskript sprach oder mich inspirierte. Für meine Familie und für George, der immer für mich da ist.

Ich danke euch.

Und vor allem danke ich dir,

lieber Leser,

dass du diesen Roman gekauft hast.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Prolog

Lautes, verzweifeltes Geschrei. Stimmen von allen Seiten rufen durcheinander. Menschen laufen hin und her, kauern auf dem Boden neben Verletzten. Überall Staub und Funken. Aus der Ferne hört sie, wie jemand etwas durch das Walkie-Talkie des Rettungswagens mitteilt. Wenn doch nur die Blutung der Frau neben ihr endlich stoppen würde! Der provisorisch angelegte Verband zeigt keine Wirkung. Der Kopf der Frau ist zur Seite gefallen, sie ist bereits ohnmächtig geworden. Als die Frau sie auf eine Trage legen und zum Wagen transportieren will, knickt sie mit dem rechten Fuß um. Ein jäher Schmerzensschrei entweicht ihrem Mund, dann verstummt sie und reibt sich den Knöchel. An ihrem Handgelenk blitzt ein goldenes Armband unter der Arbeitskleidung hervor. Ihr Kollege bedeutet ihr sitzen zu bleiben, dann greift er sich mit jemandem die Trage, um die andere Frau zum Rettungswagen zu bringen. Die Frau stützt sich auf ihre Hände und steht auf. Humpelnd bewegt sie sich hinter den beiden Männern her, weiter zum Wagen. Sie hört entsetzte Schreie, vor Schmerzen und vor Schock. Durch den beißenden Rauch in der Luft brennen ihre Augen. Vielleicht auch wegen der Müdigkeit. Sie ist schon lange auf den Beinen heute. Nur noch bis zum Wagen, sagt sie sich. Dann ruhst du dich aus. Hinter ihr vernimmt sie ein lautes Motorengeräusch. Der kleine, grüne VW fährt ungebremst auf sie zu und landet mit voller Wucht im Schrottberg wenige Meter neben ihr, wo sie vorhin noch gestanden hat und die Frau auf der Trage versorgte. Mit weit aufgerissenen Augen blickt sie auf die Fahrbahn. Sie ist unfähig, sich zu bewegen und sinkt zu Boden. Drei weitere Autos nähern sich ihr in rasender Geschwindigkeit. Dann wird ihr schwarz vor Augen, einen kurzen Augenblick bevor die gesamte Autobahn von einer ohrenbetäubenden Explosion heimgesucht wird.

1. Kapitel

Verführerisch fuhr sich der Mann mit dem Handrücken über seine Wangen, zwinkerte und zeigte ein strahlendes Lächeln. Mit makellos weißen Zähnen, versteht sich. Michael schmunzelte. Werbung für einen neuen Rasierer, natürlich. Was sollte auch sonst im Fernsehen laufen, kurz vor dem Finale der Champions-League? Ein Blick auf seine goldene Armbanduhr verriet, dass es nicht mehr lange dauern würde bis zum Anpfiff.

»Mensch, Michael – sieh dir die an!« Die Stimme seines Freundes Lukas riss Michael aus seinen Gedanken. Er folgte seinem Blick zurück zur Leinwand, auf der nun eine hübsche Blondine ein Interview gab.

»Die wär doch was für dich!«, stimmte auch Markus zu. Die drei waren gemeinsam mit Matthias, einem weiteren Freund, in einer Bar, um sich gemeinsam das Spiel anzusehen. Michael grinste. Ja, das wäre eine Tussi für ihn. Das Bild wechselte vom Porträt zur Gesamtaufnahme, ihre gute Figur kam zum Vorschein.

»Das ist diese Lisa Becker«, meldete sich nun Matthias zu Wort.

»Lisa Becker? Wer soll denn das sein?«

»Na, diese Tochter von dem Modeguru, diesem Gregor Becker... ich merk schon, ihr habt alle keine Freundin«, fügte er angesichts der verständnislosen Blicke seiner Freunde hinzu. »Die haben sich hier in der Düsseldorfer Modewelt schon lange einen Namen gemacht. Diese Lisa ist aber eher so ein Naturfreak. Arbeitet im Zoo oder so und sammelt Spenden für Tiere.«

»Rettet die Wale!«, fiel Markus ein.

»Ein ganz schön scharfer Wal«, sagte Michael lachend.

»Ja, die würde dir wohl gefallen, Michael. Aber du wirst es nie hinkriegen, dass sie sich mit jemandem wie dir in der Öffentlichkeit zeigt«, sagte Lukas.

»Und wie sie das tun würde! Das ist mir ein Leichtes – diese Lisa kriege ich schon rum!«, erwiderte Michael. Er atmete tief ein, roch den Duft seines frischen Bieres und nahm einen kräftigen Schluck.

»Na, dann wetten wir doch!«

Lukas war für seine Wettleidenschaft bekannt. Wahrscheinlich brauchte er in jedem Lebensbereich Action, schließlich war er von Beruf Stuntman. Als sie noch gemeinsam auf der Gesamtschule gewesen waren, hätte Michael nicht geglaubt, dass sein bester Freund einmal einen so coolen Job haben würde.

»Top, die Wette gilt!«

Lukas grinste. »So einfach kommst du mir nicht davon, Michael. Du musst sie dazu bringen, dass sie dich zu so einer Wohltätigkeitsveranstaltung mitnimmt und dich da dann als deinen Freund präsentiert. Wenn du das schaffst, wasche ich einen Monat lang deinen Mercedes – wenn nicht, flickst du einen Monat lang meine Arbeitskleidung!«

»Verena hat mir erzählt, dass diese Lisa zweimal im Jahr so eine Spendengala organisiert. Bestimmt ist bald wieder eine. Ich guck mal schnell nach«, sagte Matthias und zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Wenige Klicks später stand es fest: Lisa Becker war Veranstalterin eines Balls, der sich dem Tierschutz verschrieben hatte und der tatsächlich bald wieder stattfinden sollte – in weniger als zwei Monaten, am 14. Mai. Wenngleich Michael sich mit Unbehagen an seine letzte verlorene Wette erinnerte, nach welcher er etliche Abende mit Nadel und Faden an Lukas' Stuntkleidung verbracht hatte, willigte er in die Abmachung ein. Wettschulden waren schließlich Ehrenschulden und schlimmstenfalls würde Michael seine Nähkünste perfektionieren. Außerdem war diese Lisa schon eine echt heiße Frau. Jetzt musste er sie nur noch kennenlernen und um den Finger wickeln.

»Oh, und wenn du sie dann klar gemacht hast, springt doch sicher eine ihrer Freundinnen für mich raus?«, fragte Lukas lachend.

»Klar, wenn die alle so gut aussehen wie sie!«, versprach Michael.

»Hey, was habt ihr denn überhaupt gegen Verenas Freundinnen?«, warf Matthias nun ein.

»Die... na, die haben alle 2, 3 Kleidergrößen mehr! Verena ist schon die Schärfste von denen – und da dürfen wir ja nicht ran!«, beschwerte sich Markus lachend.

Matthias wollte gerade etwas entgegnen, da unterbrach ihn lautes Gebrüll in der Bar. Das Finale begann bald, die Spieler kamen bereits aufs Feld. Schnell rückte Michael seinen Stuhl zurecht, um einen besseren Blick auf die Leinwand zu haben, leerte sein Bier und freute sich auf ein siegreiches Spiel – und eine hoffentlich genauso erfolgreiche Wette.

Nachdem die zweite Halbzeit abgepfiffen wurde, löste sich die Menge in der Bar allmählich auf. Glücklicherweise hatte die deutsche Bundesligamannschaft gegen die spanische gewonnen, die meisten Leute gingen das jetzt richtig feiern. Michael und seine Jungs jedoch würden sich allmählich auf den Heimweg machen. Es war ein Mittwochabend und morgen musste Michael wieder zur Arbeit. Außerdem wartete Verena, Matthias' Verlobte, bereits auf Matthias und würde ihn bestimmt bald anrufen um zu fragen, wo er denn bliebe. Michael hätte sich zwar gern den morgigen Tag frei genommen, aber da Markus als Autohändler einige Stunden bis nach Frankfurt zu einer Messe fahren musste und Lukas für einen Dreh in München bereits um fünf Uhr morgens am Düsseldorfer Flughafen einchecken musste, blieb Michael nur der Weg nach Hause. Er rief die Kellnerin, um zu zahlen.

»Das macht dann 10,90 Euro, bitte«, sagte sie höflich und lächelte ihn an. Michael legte elf Euro auf den Tresen, sagte »stimmt so« und verließ gemeinsam mit seinen Freunden die Bar.

Als Michael seine Wohnungstür aufschloss, fiel ihm sogleich der frische Geruch auf. Roswitha, seine Haushälterin, war heute wieder da gewesen, hatte Ordnung in seine vier Wände gebracht und einen Hauch Zitrusduft hinterlassen. Sie kam dreimal in der Woche in Michaels Eigentumswohnung, meistens während seiner Arbeitszeiten. Wenn er Roswitha darum bat, kochte sie ihm sogar etwas. Auch heute hatte er ihr eine SMS geschickt, in der er sie um eine süße Abendmahlzeit gebeten hatte. Ein Blick in den Kühlschrank verriet ihm, dass heute Apfelpfannkuchen auf dem Speiseplan standen. Rasch erwärmte Michael diese in der Mikrowelle und schaltete seine neue Dolby Surround Musikanlage an. Er musste sich eine Strategie überlegen, wie er an Lisa herankam.

Nach dem Essen setzte er sich mit seinem Laptop in den bequemen Ledersessel und versuchte, so viele Informationen wie möglich über Lisa Becker zusammenzutragen. Kurz darauf wusste er: mit 27 Jahren war Lisa zwei Jahre älter als er, arbeitete tatsächlich im städtischen Zoo und hatte aus Liebe zu ihren Tieren sogar ein Delfintattoo am Handgelenk. Geschmackssache, dachte Michael, wenngleich er selbst das Motiv für ziemlich kitschig hielt. Hoffentlich konnte er sie dazu bringen, die nächsten Wochen ein Armband zu tragen, um den Delfin zu kaschieren. Sonst würde es später heißen, er sei mit einer Delfintussi ausgegangen.

Jedenfalls wusste er ziemlich schnell, dass er bei Lisa nicht mit seinen üblichen Strategien landen konnte – als Tochter des Modeunternehmers Gregor Becker wohnte sie gemeinsam mit ihrem Vater auf einem schicken Anwesen etwas außerhalb der Stadt; ihre Mutter hatte sich von ihrem Vater getrennt und lebte nun in München. Geld hatte Lisa bei ihren Familienverhältnissen also genug – da halfen auch Michaels Designerkleidung und das schicke Auto nicht weiter. Als Google ihm jedoch einen Blick auf die Ex-Freunde seines Objekts der Begierde erlaubte, wurde Michael gleich klar: das waren allesamt keine Schönheiten. Er würde Lisa mit seinem muskulösen Auftreten und seinem charmanten Lächeln einwickeln; schließlich war er eindeutig eine bessere Partie als ihre bisherigen Lover. Vielleicht sollte er sich vorher noch die Zähne bleichen lassen, so wie der Schauspieler in der Rasierer-Werbung. Damit konnte dem Sieg der Wette doch wohl nichts mehr im Wege stehen!

Am kommenden Samstag machte sich Michael gegen Mittag auf den Weg in den Zoo. Eigentlich wollte er seinen Arbeitskollegen darum bitten, ihm für einige Stunden seinen Sohn quasi auszuleihen, doch dieser war auf einer Geburtstagsfeier eingeladen. So musste Michael allein in den Zoo gehen – das war einfach lächerlich und vor allem wäre es sicher gut bei Lisa angekommen, wenn er ihr erzählte, er passe auf den Sohn eines Freundes auf. Frauen standen einfach auf so etwas, das wusste er längst. Als er sich seinen Weg durch den Zoo bahnte, verstärkte sich sein schlechtes Gefühl. Es war wenig los an dem Tag, schließlich hatte es eben erst wieder angefangen zu regnen. Der Duft von nassem Stroh und Heu lag in der Luft und die Tiere flohen unter ihre Verdecke. Nur wenige Unternehmungslustige waren heute hier und das waren dann auch nur Familien, wie sie im Buche stehen – Vater, Mutter, Kind. Genervt sah Michael sich um. Wo sollte er sie suchen? Bestimmt war sie bei ihren Delfinen. Rasch nahm er einen Mann, der einen Pulli mit dem Logo des Zoos trug, beiseite und fragte ihn nach dem Weg zu dem Delfinbecken.

»Da müssen Sie gleich hier rechts, an den Giraffen vorbei und weiter geradeaus bis zum Affengehege. Dann biegen Sie links ab und laufen geradewegs darauf zu. Sie können es nicht verfehlen!«, antwortete er freundlich.

Michael nickte nur und machte sich auf in die ihm gewiesene Richtung. Wenige Minuten später lief er am Affengehege vorbei und konnte auf die Entfernung bereits eine Frau mit blondem Haar sehen. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und betrachtete das Becken. So, jetzt war der Moment gekommen. Er sah zwar nicht mehr so gut aus wie beim Verlassen seiner Wohnung, doch das regennasse Haar machte sein sonst so schickes Auftreten etwas verwegener. Langsam näherte er sich der Frau, bis er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war. Normalerweise fiel es ihm nicht schwer, Frauen anzusprechen, doch hier ging es um mehr – er hatte eine Wette zu gewinnen. Ihr langes blondes Haar wurde von einem Regenschirm geschützt und der Wind trug einen Hauch ihres Parfüms zu Michael hinüber. Es duftete lieblich, brachte ihn beinahe durcheinander. Schnell sammelte er sich; sie hatte ihn noch nicht gehört. Er ging einen weiteren Schritt auf sie zu, räusperte sich und wollte gerade etwas sagen –

»Nadine, hier bist du also! Komm doch lieber ins Gebäude rein, hier ist es viel zu kalt und nass!«

Die Frau drehte sich um, wunderte sich kurz über Michaels Anwesenheit, beachtete ihn jedoch nicht weiter und lief auf einen Mann zu, der am Seiteneingang des Affengeheges stand und ihr die Tür aufhielt. Ein Blick in ihr Gesicht bestätigte Michael, dass es sich gar nicht um Lisa handelte. Wie peinlich hätte das ausgehen können!

»Heute fällt die Delfinshow aus«, sagte eine Stimme hinter ihm und er nahm an, die Frau rede mit ihrem Begleiter.

»Es gibt keine Show heute!«, sagte die Stimme nun etwas lauter und Michael sah sich um. Da stand sie: Lisa Becker. Natürlich, dachte Michael. Sie arbeitete hier und war nicht zu Besuch da. Die Frau der Begierde roch nicht nach Parfüm, sondern nach Fisch und hatte keinen Regenschirm in der Hand, sondern einen Futtereimer; ihr Haar lag nicht glatt auf den Schultern, sondern wurde von einem Haarband zusammengehalten und konnte sich nur mühsam dem Wind zur Wehr setzen. Eine gelbe Regenjacke mit dem Logo des Zoos krönte ihre Erscheinung. Michael trat einen Schritt näher.

»Oh, das ist schade. Ich hätte sie mir gern angesehen«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab.

»Nun, Sie können nächste Woche wieder kommen. Der Regen soll in einigen Tagen nachlassen und dann sind sicherlich wieder genug Gäste da, die die Show sehen wollen...«

Er nickte, unfähig, etwas zu sagen. So weit hatte er gar nicht gedacht. Sein Plan war es, sie durch sein Aussehen zu erobern – wie sollte er das anstellen, gänzlich verdeckt durch Anzug und Schal? Er konnte sie wohl kaum sofort zum Schwimmen einladen. Lisa riss ihn aus seinen Gedanken.

»Sie können aber gern mit zu den Seehunden kommen. Ein Teil des Beckens ist überdacht und ich werde sie jetzt füttern.« Sie wies auf den Eimer in ihrer Hand, in dem Michael jetzt tote Fische erkannte. Daher also der Fischgestank.

»Gern«, sagte Michael bloß und mahnte sich innerlich, sich zusammenzureißen. So konnte das ja sonst nichts werden. Schweigsam gingen sie in Richtung des Gebäudes, von dem sie gesprochen hatte. Der Regen hinterließ ein monotones, aber leises Prasseln. Nachdem die Tür hinter ihnen zugefallen war, fühlte sich Michael wieder bereit, die Wette anzugehen.

»Ich bin übrigens Michael«, sagte er und hielt Lisa die Hand hin. Er sprach seinen Namen absichtlich englisch aus, weil er es hasste, wenn ihn jemand mit dem deutschen Namen »Michael« ansprach. Seine Adoptivmutter war Amerikanerin gewesen und da konnte er sich durchaus von anderen deutschen Michaels durch seinen Namen abheben. Vor allem auch deshalb, weil seine leibliche Mutter ihn bei seiner Geburt mit dem Zweitnamen Johannes gestraft hatte.

»Lisa«, antwortete sie mit einem Lächeln und reichte ihm auch ihre Hand.

»Freut mich, Lisa. Dann bin ich mal gespannt, wie es so ist, bei einer echten Raubtierfütterung dabei zu sein.«

»Ach, so wild sind sie nun auch nicht. Die meisten kenne ich ja auch schon seit Jahren und sie sind allesamt liebe Tiere...«

Mit einer gekonnten Handbewegung beförderte Lisa die ersten Fische in die hungrigen Mäuler der Seehunde. Die Nachricht, dass Fütterungszeit war, schien sich herumzusprechen; von allen Seiten näherten sich die Tiere. Im Nu war der Raum vom gierigen Jauchzen der Seehunde erfüllt und Lisa versuchte, die Fische weitestgehend gerecht aufzuteilen.

»Magst du auch einmal?«, fragte sie Michael und hielt ihm den Eimer hin.

In dem Moment erhaschte er einen Blick auf ihr Tattoo, das unter dem Arbeitspulli hervorlugte. Tatsächlich, ein Delfin – er war sogar recht groß und farblich schattiert. Michael bezweifelte, dass das Motiv leicht zu verstecken wäre am Abend der Spendengala.

»Gern, wenn ich darf. Worauf muss ich achten?«

Lisa zeigte ihm einmal ganz langsam die Handbewegung, mit der sie den Fisch ins Maul eines Seehundes bugsierte und Michael versuchte es ihr gleich zu tun. Der erste Fisch landete im Wasser neben der künstlichen Sandbank, weil er sich nicht traute, dem Tier allzu nahe zu treten. Das war aber nicht weiter schlimm – schnell sprang es hinein, tauchte unter und schnappte nach dem Fisch. Beim zweiten Mal ließ er sich von Lisa helfen und so fütterten sie erfolgreich auch den Rest der Tiere.

»Hast du noch etwas, wobei ich dir behilflich sein kann?«, fragte Michael sie dann höflich.

»Es tut mir leid, als Nächstes steht das Ausmisten der Ställe auf dem Plan. Meine Kollegin hat heute frei und deshalb kümmere ich mich auch um ihre Tiere.«

Ställe ausmisten war nicht unbedingt eine effektive Methode, das Herz der Delfinfrau zu erobern.

»Wie wäre es denn, wenn du mir an einem anderen Ort etwas von deinen Tieren erzählst? Vielleicht bei einem Abendessen? Dann kannst du mir auch berichten, wie du zu dem Tattoo gekommen bist.«

Lisa lächelte verlegen. »Du hast es also gesehen? Es ist süß, nicht wahr? Aber gern, Casanova, das können wir machen.«

Michael überging ihre Anspielung. »Perfekt. Wie sieht es aus mit nächstem Samstag?«, fragte er.

»Da ich heute arbeiten bin, habe ich nächste Woche Samstag frei. Das passt mir sehr gut!«

Michael grinste. »Wenn du mir deine Handynummer gibst, melde ich mich in den nächsten Tagen und sage dir, wo ich einen Tisch reserviert habe. In Ordnung?«

Lisa nickte, nannte ihm die Nummer und verabschiedete sich rasch von ihm. Während sie fortging, blickte sie sich einmal schmunzelnd zu ihm um und er fragte sich, was er sich bitte dabei gedacht hatte, eine im Zoo arbeitende Tiernärrin verführen zu wollen.

Zu Hause angekommen ging Michael gleich unter die Dusche, um den Fischgeruch von seinem Körper zu waschen. Solche Tiere gehörten auf den Teller in einem Restaurant und nicht roh auf seine Handflächen! Angewidert roch er kurz an seiner linken Hand und stellte fest, dass der Geruch immer noch nicht verflogen war. Er wollte sich wohl für immer dort festsetzen. Michael schrubbte noch kräftiger und nahm etwas mehr Duschgel als sonst.

Nach der Dusche machte er sich zurecht, rasierte sich, legte Parfüm auf und suchte nach dem passenden Anzug für den Abend. Er entschied sich für ein Designerstück, das er letzten Monat erstanden hatte und das aufgrund seines groben Stoffes freizeittauglich war. Heute Abend wollten Lukas, Markus und Matthias in eine Bar gehen und anschließend vielleicht noch in eine Disco weiterziehen. Dort rochen die Frauen bestimmt nicht nach Fisch.

»Respekt, Michael, Respekt!«, rief Markus und klopfte seinem Freund anerkennend auf die Schulter, als dieser ihm von seinem Zoobesuch erzählte.

»Das ist aber noch nicht einmal die halbe Miete«, entgegnete Lukas und versetzte Michael damit einen kleinen Dämpfer. Er und seine Freunde saßen in ihrer Stammkneipe und genehmigten sich ein Bier. Matthias kam gerade mit einer neuen Runde von der Bar zurück und wurde sogleich von Markus auf den neusten Stand in Sachen Lisa gebracht. Anders als seine Freunde hatte Matthias ein Lächeln auf den Lippen, als er die Neuigkeiten erfuhr.

»Dann können Verena und ich ja bald ein Doppeldate mit euch vereinbaren. Spieleabend und so. Das wird sicher lustig! Verena sucht schon seit langem nach einem befreundeten Paar.«

Michael schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall – der Deal war es, sie auf die Spendengala zu begleiten und die ist am 14. Mai. Danach bin ich wieder ein freier Mann!«

Markus brach in schallendes Gelächter aus und klatschte in die Hände. »So ist es richtig, Mann! Wir können uns ja heute schon mal nach einer Nachfolgerin umsehen!«

Lukas nickte zustimmend. »Ich hab mir auch schon eine neue Wette überlegt...«, setzte er an und holte gerade tief Luft, da unterbrach ihn Michael bereits.

»Nein, Lukas, vergiss es! Erst einmal muss ich die laufende gewinnen... Mein Adrenalinspiegel lässt nicht immer so viel zu wünschen übrig wie deiner... à propos, wie war der Dreh letztens?«

»War mal wieder eine Autocrash-Szene«, antwortete Lukas. »Habe mir auch ein paar Schrammen und eine etwas größere Wunde am Oberarm zugezogen. Die dürften mir heute Abend aber zugutekommen – die Frauen stehen auf so etwas. Allein das ist schon ein Grund für mich, diesen Job zu machen!«

Als hätte Lukas damit das Stichwort gegeben, so begann nun eine Diskussion um den Schauplatz für den restlichen Abend. Markus schlug gleich eine Nobeldisco vor, die Lukas jedoch ablehnte. Anders als Markus war er der Meinung, dass potentielle Opfer für die Nacht eher in heruntergekommenen Spelunken zu finden seien. Michael mischte sich auch ins Gespräch ein, wohingegen Matthias sich allmählich von der Runde verabschiedete, weil er noch mit Verena fürs Kino verabredet war.

»So ein armer Kerl. Wie konnte der nur bei einer Frau kleben bleiben?«, gab Markus zu bedenken.

»Bemitleidenswert«, pflichtete ihm Lukas bei. »Und das wird Michael bald auch sein – für ganze zwei Monate!«

Michael grinste abwesend und ließ seinen Blick durch die Bar schweifen. Als er eine vollbusige Brünette entdeckte, die er Monate zuvor in einer anderen Bar kennengelernt und nach der gemeinsamen Nacht hatte sitzen lassen, schlug er einen raschen Aufbruch vor und die Männer machten sich auf den Weg zu der Disco, auf die sich Lukas und Markus inzwischen geeinigt hatten.

Am nächsten Tag rief Michael Lisa an. Da sie nicht an ihr Handy ging, sprach er ihr eine Nachricht auf die Mailbox und teilte ihr den Namen des Restaurants mit sowie die Uhrzeit, wann er sie zuhause abholen würde. Glücklicherweise verriet ihm das Internet die Adresse seines prominenten Dates, sodass sie das Angebot nicht ablehnen konnte und sicher von seinem Auftritt beeindruckt wäre.

Zuversichtlich blickte Michael dem nächsten Samstag entgegen. Die Tatsache, dass Lisa sich am Abend per SMS bei ihm meldete, um die Uhrzeit zu bestätigen und ihm mitzuteilen, dass sie sich auf das Treffen freue, hob seine Laune schließlich umso mehr.

2. Kapitel

Um genau achtzehn Uhr passierte Michael mit seinem Mercedes die zwei mit Löwenfiguren bestückten Säulen, die ihm den Weg zu dem Privatgelände der Beckers ebneten, und fuhr vor dem imposanten Haus vor. Lisa hatte das Auto bereits gehört und eilte gleich die Steintreppen hinunter. Ihr Anblick beeindruckte Michael. Sie sah ganz anders aus als letzte Woche bei der Arbeit. Die Haare lagen glatt auf ihren Schultern, einige Strähnen umspielten ihr Gesicht. Sie hatte Jeans und Regenjacke durch ein eng anliegendes Abendkleid ersetzt, das ihre Figur erst richtig zur Geltung brachte. Auch auf die Entfernung erkannte Michael, dass sie Make-up aufgelegt hatte und ihre Lippen schimmerten. Die winzige Handtasche passte in ihrem dunklen Rotton perfekt zu dem Kleid. Als Michael sich ihr näherte, um sie mit einem Kuss auf die Wange zu begrüßen, wandte Lisa zwar verlegen den Kopf zur Seite, doch sie ließ ihn gewähren. Dabei bemerkte er, dass sie den Fischgeruch heute durch einen frischen Duft ersetzt hatte. War es Chanel? Michael war sich nicht sicher. Er hielt Lisa die Tür auf und setzte sich dann gleich selbst wieder hinter das Steuer.

»Du siehst umwerfend aus!«, gab er zu und startete den Motor.

»Vielen Dank, aber das kann ich nur zurückgeben«, antwortete Lisa und ihre Wangen röteten sich leicht.

»Wie war deine Woche so?«, fragte Michael, als er den Wagen wendete und auf die Zufahrtsstraße zurückkehrte.

»Es lief besser. Wie zu erwarten hat der Regen aufgehört und es kamen wieder mehr Besucher. Den Winterschlaf scheinen also nicht nur die meisten Tiere beendet zu haben. Vorgestern konnte die Delfinshow wieder stattfinden, es war ein voller Erfolg!«

»Mit den Delfinen arbeitest du also am liebsten? Daher auch das Tattoo?«

Lisa nickte und blickte aus dem Fenster. »Ja, ich liebe die Delfine. Das Tattoo habe ich mit sechzehn bekommen. Schon damals wusste ich, dass ich für immer mit diesen Tieren arbeiten möchte. Auch meine Mutter liebte sie und nahm mich alle paar Wochen mit zur Delfinshow. Sie hat mir das Tattoo glaube ich nur erlaubt, weil es ein Delfinmotiv war. Es tat damals kaum weh, es stechen zu lassen.«

Michael nickte und versuchte mit seinem Blick Interesse zu heucheln. »Und, bereust du es jetzt? Oder magst du es immer noch?«

Lisa ließ sich Zeit mit der Antwort. »Nun ja, Delfine liebe ich nach wie vor. Leider hat sich meine Mutter vor einigen Jahren von meinem Vater getrennt und hat uns sitzen lassen. Sie ist zu ihrem Neuen nach München gezogen. Seitdem muss ich immer an sie denken, wenn ich das Tattoo sehe...« Lisa hielt inne. Kurz verfiel auch Michael in eine melancholische Stimmung, dachte an seine Familie und seine Mutter – seine Mütter. Er wollte gerade etwas erwidern, da fiel ihm Lisa ins Wort.

»Aber das ist nicht ganz das richtige Thema für ein erstes Date... Also – wir fahren heute ins Luigi's?«

Der Moment war vorbei, jetzt würde er ihr nicht davon erzählen. Er ging auf ihren Themenwechsel ein und bestätigte, beim edelsten Italiener Düsseldorfs einen Tisch reserviert zu haben. Sogar an der Glasfensterfront mit Blick über den Fluss, dachte er bei sich, sagte es aber nicht. Lisa würde den Ausblick noch früh genug sehen und davon hingerissen sein. Den Rest der Autofahrt unterhielten sie sich über ihr Lieblingsessen und kurze Zeit später fuhr Michael auf den Parkplatz des Restaurants.

Lisa entsprach absolut dem Klischee einer Frau. Auch wenn sie eigentlich wusste, was sie am liebsten aß, las sie sich doch die ganze Speisekarte durch, nur um dann zwischen einem neuen und dem altbewährten Gericht zu überlegen und sich schließlich für das traditionelle zu entscheiden. Michael hingegen aß oft hier und vertraute auf das Urteil des Kellners, der ihm das Gericht des Tages empfahl. Während sie auf die Vorspeise warteten, stießen sie bereits mit dem ersten Glas Wein an.

»Auf einen wunderschönen Abend«, sagte Michael sanft. Lisa stimmte ihm zu und trank einen Schluck. Während sie sich in dem gut gefüllten Lokal umsah, bemerkte Michael eine auffällige Angewohnheit an Lisa, die ihm zuvor entgangen war. Sie klimperte unaufhörlich mit den Augenlidern, es erinnerte ihn an eine Kinderpuppe. Michael versuchte, es zu ignorieren, doch gelang es ihm nur schwerlich.

»Es ist schön hier«, sagte Lisa. »Ich war viel zu lange nicht mehr hier essen.«

»Dann führt dein Vater seine reizende Tochter nicht so oft aus?«

»Oh doch, mein Vater schon. Er bevorzugt allerdings die asiatische Küche, weshalb wir nur selten hier sind. Meine Exfreunde hingegen konnten es sich nie leisten, in solch einem Lokal zu essen und einladen lassen wollte sich auch keiner... Immer dieses Geld. Wieso muss es nur eine so große Rolle spielen?«

Weil es glücklich macht, dachte Michael bei sich. »Also hast du noch nicht den Richtigen gefunden?«, fragte er stattdessen und konnte selbst kaum glauben, dass eine solche Frage aus seinem Mund kam.

»Hmm... Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich hätte ihn gefunden. Mein letzter Exfreund und ich, wir waren vier Jahre lang ein Paar. Mein Vater freute sich wohl bereits auf seine Enkel, doch Julien bekam kalte Füße. Er meinte, er sei nicht gut genug für mich und müsse mir erst einmal etwas bieten können. Er verließ mich letzten Sommer. Aber lass uns besser nicht darüber reden – auch das ist kein Thema fürs erste Date.«

Lisa schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Wein. »Du scheinst anders zu sein. Erzähl mir was über dich«, forderte sie ihn auf und klimperte erneut mit ihren Lidern. Michael nervte dieses kindliche Getue bereits. Lisa hingegen schien es gar nicht zu bemerken – oder sie hatte Gefallen an dieser Art gefunden. Michael riss sich zusammen, blickte ihr weiterhin freundlich in die Augen und antwortete dann auf ihre Frage.

»Nun, also Geld spielt für mich keine Rolle«, sagte er. Solange ich es habe, ergänzte er in Gedanken. »Was noch? Ich mag Tiere... ach was, ich liebe Tiere! Ich bin mit einem Haufen Tiere aufgewachsen und möchte es nicht missen.« Das stimmte nicht ganz. Zwar hatte das Waisenhaus weitläufige Gehege mit vielen Tieren gehabt und es hatte immer Hunde gegeben, mit denen sie spielen konnten, weil gleich nebenan das Tierheim lag, doch hatte sich Michael nie viel aus den Tieren gemacht und lieber zu viel als zu wenig Abstand zu ihnen gehalten. Seine Aussage traf Lisa jedoch wie sie es sollte.

»Das ist wunderbar! Es gibt nichts Schöneres und Aufrichtigeres auf der Welt als die Liebe eines Tieres!« Ihre Augen glänzten. »Zu Hause habe ich momentan nur noch einen Hund – einen Golden Retriever. Er heißt Charly und ist mein Ein und Alles. Ich habe ihn vor vielen Jahren bekommen, deshalb ist er leider schon sehr alt...«

Michael nickte. »Ich hoffe, ich kann Charly einmal kennenlernen!« Lisa versprach ihm, die beiden einander vorzustellen und erzählte Michael, wie sie ihre Eltern damals überzeugt hatte, Charly aufzunehmen. Abwesend lächelte Michael vor sich hin und nickte ein paar Mal, während er eigentlich der Live-Musik im Hintergrund lauschte. Nicht nur das Essen war ein Grund dafür, hierher zu kommen, sondern auch die Band, die moderne Songs in ein Klassikgewand packte und mit Saxophon und Co. auf die Bühne brachte. Mit einigen Frauen hatte Michael schon zu dieser Musik getanzt, aber heute war er nicht in der Stimmung dazu, Lisa nach dem Essen dazu aufzufordern. Allerdings musste er zugeben, dass sein Tanzkurs, den er Jahre zuvor gemeinsam mit Matthias belegt hatte, sich inzwischen bezahlt gemacht hatte. Frauen liebten Männer, die tanzen konnten. Während Lisa weiter von ihrem Charly schwärmte, brachte der Kellner die Suppe. Wohlriechender Dampf stieg von ihr in Michaels Nase und er bekam langsam Appetit. Appetit auf mehr. Ein Blick auf seine Gesprächspartnerin ließ ihn erleichtert seufzen. Er hätte es schlechter treffen können bei seiner Wette.

»Es war ein schöner Abend, Michael!«, sagte Lisa, als er vor ihrem Haus vorfuhr. »Dankeschön dafür!«

Michael legte ihr leicht seine rechte Hand aufs Knie und sah ihr tief in die Augen. Zum Glück hatten sich ihre Lider für einen Moment beruhigt und sie blinzelte nur einmal ganz kurz. »Nicht dafür, Lisa.« Er war selbst überrascht davon, wie sanft seine Stimme klang. Einen Moment lang sahen sie sich an; die Stille im Auto schien bereits unerträglich zu werden. Michael überlegte gerade, wie heute wohl die Chancen stehen würden, einen Nachtisch zu bekommen, da unterbrach Lisa seine Gedanken, gab ihm einen Kuss auf die Wange, stieg aus dem Wagen und hinterließ einen süßlichen Duft.

»Ruf mich an«, sagte sie lächelnd und ging zum Haus. Michael blieb regungslos sitzen und blickte auf den wohlgeformten Körper der Frau, die es noch zu erobern galt, und fuhr erst los, als die hübschen Beine im Haus verschwunden waren.

Die kommende Arbeitswoche ging gut vorüber, weil Michaels Lichtblick der nächste Samstag war, an dem er mit Lisa gemeinsam ins Kino gehen wollte. Normalerweise hatte er mit einer Frau nur wenige Dates und diese zumeist kurz nacheinander – wozu sollte man es auch hinauszögern? Die Frauen kamen und gingen und er verschwendete seine Gedanken nicht lange an sie. Diesmal war es anders, er musste überlegt handeln und Lisa langsam dazu bringen, sich in ihn zu verlieben. Außerdem musste sie beim Charity-Event immer noch in ihn verliebt sein und darin lag die Herausforderung. Täglich kreisten Michaels Gedanken um Lisa und ihr bisheriges Date. Er sah wieder die attraktive Frau vor sich; mit ihrer distanzierten Art, die auf ihn sowohl kühl als auch anziehend wirkte. Und doch schob sich gelegentlich auch ihre kindische Art vor sein geistiges Auge. Hastig verdrängte Michael dann den Gedanken daran, mit einer Frau auszugehen, die sich zwischendurch wie eine kleine Schwester verhielt.

Am Freitag gingen die meisten seiner Mitarbeiter recht früh nach Hause. Michael jedoch war als Leiter der Niederlassung dazu verpflichtet, alles Unerledigte zu bearbeiten, bevor er Feierabend machte. Die Firma, für die er arbeitete, lieferte Ökostrom in die Haushalte der Region – ein Geschäft, das nach wie vor boomte. Begonnen hatte alles mit einem kleinen Büroraum und bloß einer Hand voll Mitarbeiter, als Alexander McPherson – der Firmengründer – vom gängigen Weg eines Energiekonzerns abwich und sich auf das damals noch weitgehend unerforschte Gebiet der Ökoenergie wagte. Es wurde ein voller Erfolg und heute war die Niederlassung, die Michael leitete, nur eine von vielen in ganz Deutschland. Dennoch – so schön es auch war, einen wichtigen Posten innezuhaben, der ihm viel Geld und Ansehen einbrachte: an einem Freitagabend wie diesem wollte er um halb acht abends nicht mehr im Büro sein, sondern sich in einer Bar tummeln und nach Frischfleisch Ausschau halten.

Ermüdet vom bisherigen Arbeitstag goss Michael sich noch einen Kaffee ein, während er auf den Monitor seines Computers starrte. Der Kaffeedampf stieg ihm in die Nase, er sehnte sich nach dem ausgiebigen Frühstück, das zu einem Kaffee gehörte – auch, wenn es gerade bereits dämmerte. Völlig in Gedanken versunken bemerkte er nicht, dass die Tasse überlief und sich nach und nach feine Kaffeetropfen auf seiner Krawatte niederließen.

»Ah, so ein -«, fluchte er und wurde schlagartig wieder wach. Kleine braune Punkte auf einer cremefarbenen Krawatte! Michael erwägte, rasch in seiner Notfallschublade für Krawatten nachzusehen – gleich unter der Schublade mit den Post-its – und eine farblich passende herauszusuchen, da verwarf er den Gedanken wieder. Es war bestimmt niemand mehr im Büro und beim Verlassen des Gebäudes hätte die Dunkelheit Besitz ergriffen von der Welt da draußen. Kein Mensch würde den Fleck bemerken. Er starrte wieder auf den Bildschirm, als er ein leises Geräusch vernahm, welches das Surren seines Computers übertönte. Er schüttelte den Kopf. Es wurde wirklich Zeit, bald heimzugehen – er begann ja bereits, Gespenster zu sehen! Michael scrollte die Liste auf dem Bildschirm herunter, um zu sehen, was heute noch zu erledigen war. Plötzlich näherten sich Schritte seiner Bürotür, die Klinke wurde heruntergedrückt. Ein hochgewachsener Mann betrat das Büro. Er war etwas über fünfzig Jahre alt und sein ordentlich frisiertes schwarzes Haar ergraute allmählich.

»Michael? Was machst du denn noch hier?«

Schnell sprang Michael auf, strich sich die Kleider glatt und ging auf den Mann zu. »Oh, Alex! Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich habe nicht damit gerechnet, hier heute noch jemandem zu begegnen!«

Alex grinste. »Ich habe heute früh deine Sekretärin angerufen. Morgen habe ich einen wichtigen Termin in der Stadt und ich benötige noch einige Unterlagen dafür, die ich mir kurz abholen wollte. Aber wieso um alles in der Welt bist du noch hier?«

Michael deutete auf einen Aktenstapel, der sich neben seinem Computer befand. »Das muss noch vor dem Wochenende bearbeitet werden. Außerdem hatte ich für heute keine Pläne...«

Alex ging einen Schritt auf ihn zu und legte Michael die Hand auf die Schulter.

»Michael, so wichtig die Arbeit auch ist – du musst lernen, Prioritäten zu setzen. Gibt es immer noch keine Frau in deinem Leben? Lass dir eins gesagt sein: ich habe jeden Tag, den ich mit Überstunden verbracht habe, verflucht, als Mariah starb. So viele Tage, die ich nicht zum Abendessen kommen konnte. So viele Nächte, die sie allein verbrachte, während ich im Büro saß. So viel Zeit, die ich schon damals meinem Sohn hätte schenken müssen!«

Michael horchte auf. »Das ist nicht wahr! Du wusstest, wie wichtig dein Job ist und du hast das einzig Richtige getan. Man muss nun mal auf etwas verzichten, wenn man etwas erreichen will. Man kann nicht alles haben. Um ehrlich zu sein will ich auch nicht alles haben, mein Job reicht mir vollkommen.«

Ein Anflug von Trauer war in Alex' grünen Augen zu erkennen, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

»Michael, bitte. Versprich mir, dass du nicht denselben Fehler machst wie ich. Ich will doch nur, dass du glücklich wirst. Bevor es zu spät ist. Versprich es.«

Michael zwang sich zu einem Lächeln und nickte. »Ja, Dad.«

Der Besuch seines Vaters war eine angenehme Unterbrechung der Arbeit. Die beiden setzten sich noch einen Moment in die Kantine und tranken einen frischen Kaffee zusammen. Erst im beißend hellen Licht, das diesmal nicht von einem Computermonitor, sondern von den nüchternen Deckenleuchten ausging, erkannte Michael, wie blass sein Vater war. Außerdem hatte er tiefe Ringe unter den Augen und seine sonst so charismatischen Falten ließen ihn heute einfach nur alt wirken. Dennoch erschien er geistig hellwach, er redete erneut auf Michael ein und versuchte ihn davon zu überzeugen, wie wichtig eine Familie sei. Als hätte Michael das nicht schon mal gehört und sich bereits ein Urteil darüber gebildet. Familie – was bedeutete das schon noch in einer Welt wie heute? Er lebte ja schließlich nicht im 18. Jahrhundert. Trotzdem versprach er seinem Vater wie so oft, sich auch um sein privates Glück zu kümmern; anschließend redeten sie ein wenig über das Geschäft. Als Alex losging, um sich seine Unterlagen zu holen, stellte Michael mit einem Blick auf die Uhr fest, dass es bereits neun Uhr abends war. Nun gut, dann würde er morgen früh noch für einige Stunden im Büro vorbeischauen. Alex musste das ja nicht unbedingt erfahren. Dann fuhren die beiden Männer mit dem Aufzug in die Tiefgarage.

»Ich wünsche dir noch einen schönen Abend, Mr. McPherson junior«, sagte Alex mit einem Augenzwinkern.

»Danke, dir auch, Mr. McPherson«, antwortete Michael grinsend, umarmte seinen Vater kurz und stieg dann in seinen Mercedes.

Am kommenden Abend fuhr Michael wieder pünktlich bei Lisa vor. Der Abend hätte nicht besser beginnen können. Sie machten sich auf den Weg zum Kino, wo Michael Lisa den Film auswählen ließ. Eine romantische Komödie mit einem Hund als Nebendarsteller. Michael täuschte vor, an diesem Film ebenfalls interessiert zu sein und besorgte die Karten. Dann stellten sie sich an, um noch etwas zum Knabbern zu kaufen. Der frische Duft des Popcorns stieg ihnen in die Nasen und erweckte in Michael eine leichte Vorfreude. Das geschäftige Treiben in der Kinohalle blendete er aus; er konzentrierte sich nur noch auf seine Begleiterin. Auch heute sah sie wieder umwerfend aus, wenn auch weniger elegant gekleidet als beim letzten Mal. An ihren perfekt aufeinander abgestimmten Accessoires und der Farbkombination ihres Outfits erkannte Michael jedoch, dass sie sich für ihn zurecht gemacht hatte. Sie unterhielten sich ein wenig über die Arbeitswoche und darüber, welche Erwartungen sie an den Film hatten, dann betraten sie den Kinosaal und nahmen auf einem der breiteren Logenplätze im VIP-Bereich Platz. Michael dankte der Chefetage des Kinos für diese geniale Erfindung – solche Sitzplätze luden geradezu zum Kuscheln ein!

Die Voraussetzungen waren optimal. Der Film war viel schnulziger, als Michael erwartet hatte, und triefte nur so vor Romantik. All die Emotionen, die der Film in einer Frau hervorrief, versetzten Lisa wie erhofft in die richtige Stimmung, um heute Abend einen Schritt weiter zu gehen. Es lief perfekt – wäre da nicht der Anruf von Lisas Vater gewesen. Gleich nach dem Film sah Lisa auf ihrem Handy drei unbeantwortete Anrufe, allesamt von ihm. Auf dem Weg zum Parkplatz rief sie ihren Vater eilig zurück und erhielt die Nachricht, dass es Charly nicht gut ginge. Entsprechend aufgewühlt bat sie Michael darum, schnell zu ihr nach Hause zu fahren.

»Natürlich, ich beeile mich«, versprach er. Und das tat er auch, nahm einige Abkürzungen und überschritt das Tempolimit sicher das ein oder andere Mal.

»Kommst du noch mit rein?«, fragte Lisa ihn mit einem bittenden Blick, als Michael das Auto vor ihrem Haus parkte. Welche Ironie – wie gern hätte er diesen Satz gehört, aber doch nicht in Verbindung mit ihrem kranken Hund.

»Aber sicher doch. Ich bin für dich da!«, sagte Michael jedoch und wunderte sich über sich selbst. Dann folgte er ihr ins Haus, wo ihnen sogleich ein Mann entgegen kam, der Lisas Vater, Gregor Becker, sein musste. Er trug einen Anzug , was ihn Michael gleich sympathisch machte , und auch seine Brille verlieh seinem Auftreten etwas Seriöses. Jetzt gerade wirkte er allerdings etwas durcheinander.

»Guten Abend – Gregor Becker. Sie sind Michael, nehme ich an?«, fragte Lisas Vater höflich.

Michael nickte. »Ja, Herr Becker. Ich bin Michael McPherson.« Wie so häufig, wenn er sich mit vollem Namen vorstellte, runzelte sein Gegenüber die Stirn. Den Nachnamen hatte Michael von Mariah bekommen, als Alex und sie ihn adoptierten. Da Alex mit seinem deutschen Nachnamen Hilter häufig Probleme bekam und ein amerikanischer Name ihrem Unternehmen etwas Internationales verleihen sollte, hatte Alex mit Mariah bei ihrer Hochzeit beschlossen, dass er ihren Nachnamen annehmen würde. Doch für Erklärungen blieb jetzt keine Zeit. Michael und Gregor gaben sich die Hand, dann wies Lisas Vater ihnen den Weg zu Charly.

»Er liegt im Wohnzimmer. Der Tierarzt kümmert sich gerade um ihn.« Ohne zu zögern lief Lisa ins Wohnzimmer, wo sie rasch ihre Handtasche und den Mantel auf einen Stuhl legte. Dann ging sie langsam auf den Hund zu, der sich geschwächt im Körbchen neben dem Fernseher zusammenkauerte.

»Oh, Charly! Was stellst du nur an!«, seufzte Lisa und strich ihm behutsam über das Fell.

»Hallo, Lisa. Ich habe ihm gerade ein Beruhigungsmittel gespritzt und hoffe, dass er einen erholsamen Schlaf haben wird. Außerdem hat er Flüssignahrung bekommen, das sollte ihn stärken.« Ein Mann – vermutlich der Tierarzt – hockte in weißer Kleidung neben dem Golden Retriever und kraulte ihn hinter den Ohren. Michael, der Lisa in das Zimmer gefolgt war, sah sich interessiert um. Zwar waren Lisa und ihr Vater eher auf einem Ökotrip, doch schien sie das nicht davon abzuhalten, ihr Haus geschmackvoll mit Designermöbeln einzurichten. Kein Wunder, war Gregor doch Modeunternehmer. Im Wohnzimmer lag jedoch ein beißender Geruch, der wohl vom Hund ausging. Es roch nach Krankheit und Medikamenten. Michael konnte das nicht ertragen, es erinnerte ihn zu sehr an seine Mutter.

»Danke, Jochen. Können wir denn noch etwas für ihn tun?«, fragte Lisa den Tierarzt.

»Nein, erst einmal nicht. Jetzt heißt es abwarten. Er braucht viel Ruhe. Wenn es morgen noch nicht besser ist, ruf mich bitte an, ja?«