Zusammen ist der schönste Ort - Judith Knigge - E-Book

Zusammen ist der schönste Ort E-Book

Judith Knigge

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Beschreibung

Wer glücklich sein will braucht Mut – denn manchmal können Veränderungen wunderbar sein!

Nach dem Tod ihres Mannes zieht es Dagmar den Boden unter den Füßen weg – noch dazu muss sie erfahren, dass Heinrich ihr nur Schulden hinterlassen hat. Das große Haus muss verkauft werden, doch Dagmar will nicht so schnell aufgeben. Voller Tatendrang entschließt sie sich, einzelne Zimmer unter zu vermieten. Heraus kommt eine bunt gemischte WG von Personen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Für Dagmar und ihre neuen Mitbewohner ergeben sich damit nicht nur neue Herausforderungen, sondern vor allem ganz neue Lebenswege. Und das Schicksal einer ganz besonderen Bewohnerin schweißt sie alle enger zusammen, als sie jemals geahnt hätten ...

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Buch

Als ihr Mann Heinrich unerwartet stirbt, bricht für Dagmar eine Welt zusammen. Plötzlich sitzt sie ganz allein in dem großen Anwesen am Plöner See – und noch dazu auf einem riesigen Berg an Schulden. Denn Heinrich hat all ihr Geld verloren und das Haus als Pfand eingesetzt. Dagmar wird dringend geraten, das Anwesen zu verkaufen und sich somit zumindest ihren Lebensabend zu sichern, doch die Achtundvierzigjährige will ihr Zuhause unter keinen Umständen verlieren. Kurz entschlossen schreibt sie die Zimmer ihres Hauses zur Vermietung aus und bekommt überraschend viele Zuschriften: von einer schwangeren Frau, einer älteren Dame, einem gebeutelten Musiker, einem alleinstehenden Herrn und schließlich von einem jungen türkischen Mann. Dagmar nimmt sie alle bei sich auf, doch das Zusammenleben in dieser bunten Wohngemeinschaft erweist sich als schwierig – bis das Schicksal sie auf ungeahnte Weise zusammenschweißt …

Autorin

Judith Knigge hat bereits erfolgreich exotische Sagas und unter anderem Namen historische Familiengeschichten veröffentlicht. Mit Zusammen ist der schönste Ort erfüllt sie sich den Wunsch, einen emotionalen Gegenwartsroman zu schreiben. Einfühlsam erzählt sie von Freundschaft, Zusammenhalt und dem Mut, etwas Neues zu wagen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und ihren Pferden in Norddeutschland.

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

JUDITHKNIGGE

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. AuflageCopyright © 2018 by Judith Knigge

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: iStock.com/CSA-Archive

DN · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-22255-0V002www.blanvalet.de

Es kommt immer anders, als man denkt.

Prolog

Teneriffa, 2012

Dagmar streckte sich auf ihrer Sonnenliege und sah zu Heinrich. Ihr Mann stand am anderen Ende der Terrasse, hielt sich das Mobiltelefon ans Ohr und fuchtelte mit der freien Hand in der Luft herum.

»Dann soll Marc halt den großen Lkw nehmen. – Nein. – Doch, natürlich. Der Kühler muss morgen nach Hamburg …«

Dagmar schüttelte den Kopf und sah wieder hinab auf die Bucht der Playa de las Teresitas. Der breite Strand leuchtete in der Sonne, und die Palmen wiegten sich gleichmäßig im Meereswind. Sie hatte Heinrich ewig in den Ohren gelegen wegen eines gemeinsamen Urlaubs. Natürlich war ihr bewusst gewesen, dass er seine Firma nicht aus dem Kopf bekommen würde, aber dass er jeden Tag mehrmals zu seinem Telefon griff, nervte sie schon etwas. Sie seufzte. Das war wohl die Bürde, die man zu tragen hatte, wenn man ein eigenes Unternehmen besaß, so wie Heinrich. Dagmar schloss die Augen und hielt das Gesicht der Sonne entgegen.

Als es still wurde, blinzelte sie wieder zu ihrem Mann. Heinrich stand nun ganz am Rand der Terrasse, sah nach unten auf das Meer und schien nachzudenken.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte sie.

Er zuckte kaum merklich zusammen, drehte sich zu ihr und nickte dann. »Ja doch, alles gut. Aber es ist echt nicht einfach, die Leute ein paar Tage allein zu lassen. Die machen sofort nur Unsinn.«

Dagmar lächelte milde. »Ach komm, die schaffen das schon, und vor allem schaffen sie das auch mal ohne dich.« Sie deutete mit einer Hand auf die Liege neben sich.

Heinrich kam zu ihr. Anstatt sich hinzulegen, setzte er sich nur auf das Fußende der Liege. »Ist schon schön hier.« Er holte tief Luft.

Sie lebten am Plöner See, an einem Ort, wo andere durchaus gern Urlaub machten. Doch das norddeutsche Wetter war bekanntlich nicht immer das beste. Dagmar hatte sich so nach Sonne und warmem Meeresklima gesehnt, dass sie fast einen Luftsprung gemacht hatte, als Heinrich eines Tages nach Hause gekommen war und mit den Flugtickets gewunken hatte.

»Du arbeitest einfach zu viel, Liebling.« Dagmar setzte sich auf und tätschelte ihm die Schulter. Er war grau geworden in den letzten Jahren. Gut – sie war auch nicht jünger geworden. Aber im Gegensatz zu ihrem Mann verlief ihr Leben recht stressfrei. Sie hatte oft ein schlechtes Gewissen, wenn sie merkte, wie sich in seinem Kopf alles nur um die Firma drehte, doch hielt er sie ganz bewusst davon fern. Das Transportgewerbe war nun auch nicht gerade ihr Fachgebiet, aber schließlich ernährte es sie nicht nur, sondern ermöglichte ihnen darüber hinaus ein recht angenehmes Leben. Die Zeiten wurden nicht einfacher, und anstatt ein wenig zur Ruhe zu kommen, musste Heinrich mit jedem Jahr mehr kämpfen. Um einen Urlaub zu bitten, war Dagmar da im Grunde fehl am Platz vorgekommen, doch musste Heinrich auch einfach einmal raus und den Kopf frei bekommen, das hatte sie gespürt. Sie strich ihm über die grauen Haare.

»Gehen wir nachher in San Andrés etwas essen?«

»Ja, das machen wir«, sagte er lächelnd und lehnte sich auf der Liege zurück. »Wenn ich mal alt bin, könnte ich es hier auf der Insel wohl aushalten.«

Dagmar prustete. »Na, so ganz jung bist du ja auch nicht mehr.«

»Hey!« Er boxte sie sanft in die Seite. »Du aber auch nicht. Pass gut auf, sonst geh ich zum Strand und such mir so ein Bikinigirl.«

Dagmar lachte und knuffte ihn zurück. Dabei erwischte er ihre Hand und hielt sie fest. Sie spürte seinen liebevollen Händedruck, und ihr wurde ganz warm. Sie liebte ihn nach all den Jahren immer noch wie am ersten Tag.

Sein Mobiltelefon brummte los.

»Nein!«, sagte sie leise, aber bestimmt.

Heinrich seufzte. »Nein … jetzt nicht.«

Winter

Kapitel 1

Dagmar stand an der Terrassentür und blickte in den Park. Der Frost hatte die Pflanzen noch fest eingehüllt, und der Plöner See am Ende des Grundstücks lag unter einer eisigen Schicht verborgen. So wie der Frost die Natur lähmte, fühlte sich auch Dagmar: gelähmt, starr und nicht in der Lage, sich zu bewegen. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Ihre Gedanken schweiften zu einem ebenso frostigen Januarmorgen vor sechs Wochen, als zwei Polizeibeamte an ihrer Tür klingelten …

Dagmar hatte die Uniformen durch das Glas der Haustür erspäht, und ihr erster Gedanke war, dass es wohl wieder Einbrüche in den Häusern rund um den See gegeben hatte.

Nach dem Öffnen der Tür und einem Blick in die bitterernsten Gesichter der Beamten schrillten tief in ihrem Innern die Alarmglocken. An alles, was danach kam, konnte sie sich nur schemenhaft erinnern.

Es tut uns sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, Frau Gröning, dass Ihr Mann … Ein Lkw … Die Straße war spiegelglatt …

Irgendwie gelangte sie ins Wohnzimmer. Plötzlich war ihre beste Freundin Helga da, ein scharfer Schnaps brannte in ihrer Kehle, und die Beamten riefen Daniel an, ihren Sohn.

Heinrich hatte sich an diesem Tag, wie schon viele Hundert Mal zuvor, früh am Morgen auf den Weg nach Lübeck gemacht. Dagmar hatte mit ihm noch einen schnellen Kaffee in der Küche getrunken, und dann war er auch schon fort gewesen. Für immer …

Erst Tage danach gelang es ihr, die Geschehnisse dieses Morgens zu rekonstruieren. Ein Lkw war auf der vereisten Autobahn ins Schlingern geraten. Heinrich war recht schnell gefahren und hatte nicht rechtzeitig abbremsen können. Sein Wagen hatte sich fast gänzlich unter den Lkw geschoben. Er war wohl sofort tot gewesen.

Um Dagmar herum hatte sich eine Maschinerie in Gang gesetzt, die sie wie im Zeitraffer zwar beobachten konnte, aber deren Teil sie nicht wirklich war. Daniel und seine Frau Sabine kamen aus Hamburg, Helga kümmerte sich um sie und informierte ihre engen Freunde Christoph und Barbara. Nachbarn schauten vorbei, um ihr Beileid zu bekunden. Die Möllemanns und die Blochs, Dagmar konnte sich nicht genau daran erinnern, wer noch alles. Das Telefon klingelte unablässig, doch Dagmar bekam nicht mit, was um sie herum vor sich ging.

Selbst als der Bestatter kam, um mit ihr und Daniel die Einzelheiten der Beerdigung zu besprechen, war sie noch nicht wieder sie selbst. Heinrich war erst zweiundsechzig Jahre alt gewesen. Das war kein Alter zum Sterben. Sie war fünfzehn Jahre jünger als er und erinnerte sich gut an das Unken ihrer Mutter über diesen alten Mann, damals vor fast dreißig Jahren, als Dagmar verkündet hatte, sie würde Heinrich heiraten. Doch eben gerade hatten sie noch mitten im Leben gestanden. Zu Silvester waren sie an der Ostsee gewesen, und Heinrich hatte ihr fest versprochen, dass er im neuen Jahr etwas kürzertreten würde, damit sie mehr Zeit für sich hätten. Jetzt saß sie da und fand keine Worte. Der Faden ihres Lebens war einfach so durchgeschnitten worden.

Sie hatte keine Ahnung, wie Heinrich sich seine Beerdigung vorgestellt hatte, darüber hatten sie nie gesprochen. Nicht mal über seinen Ruhestand oder die Rente hatte er laut nachgedacht. Dagmar schon gar nicht.

Und so starrte sie auf den dicken Katalog mit Särgen und Urnen vor ihr auf dem Couchtisch und zuckte nur mit den Achseln.

Daniel, der die pragmatische Art seines Vaters an sich hatte, bestimmte kurzerhand alles von der Urne bis zu den Blumen. Hier und da nickte Dagmar, ja – so in der Art hätte Heinrich wohl auch entschieden. Sabine stellte einen netten Text für eine Traueranzeige zusammen, auch diesen segnete Dagmar mit einem Kopfnicken ab. Sie hatte sich in den letzten Jahren von ihrem Sohn ein Stück weit entfernt. Aus dem kleinen blonden Jungen war ein recht eigenwilliger junger Mann geworden. Wichtiges besprach Daniel nur mit seinem Vater, und seit es Sabine in seinem Leben gab, war er Dagmar gegenüber zunehmend distanziert. Aber das musste wohl so sein. Sie war dankbar, dass die beiden gekommen waren, um sie zu unterstützen, und dennoch war die Stimmung nicht gerade herzlich. Dagmar wurde mit einem Mal bewusst, wie fremd sie sich wirklich geworden waren. Es war seltsam, welche Empfindungen und Gedanken man in der bodenlosen Trauer plötzlich hegte. Um sie herum drehte sich das Leben einfach weiter, und sie selbst besah sich und ihr Leben wie durch ein Schaufenster.

Erst in den Tagen nach der Beerdigung hatte Dagmar wieder zu sich selbst gefunden. Es war ruhiger geworden um sie herum, Daniel und Sabine waren zurück nach Hamburg gefahren, und auch das Telefon gab inzwischen Ruhe. Nur Helga huschte hier und da wie ein guter Geist durch das Haus. Dagmar hatte jedes Zeitgefühl verloren. Die meisten Stunden stand sie, wie auch jetzt gerade, am Fenster und blickte auf den Plöner See hinaus. Früher war sie auch meist den Tag über allein gewesen, doch jetzt war es anders. Das Alleinsein hatte sich in eine stille Leere verwandelt. Es gab noch so viele Dinge, die erledigt werden mussten, aber Dagmar fand nicht die Energie, damit anzufangen. Wenn sie einfach nur dastand und versuchte, an nichts zu denken, tat es nicht ganz so weh.

Ihr Leben war bis hierher so gradlinig und vorhersehbar verlaufen. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, als sie Heinrich kennengelernt hatte … Er besaß ein aufstrebendes Transportunternehmen und wollte seine Geschäftsräume etwas schöner gestaltet haben. Dagmar war damals gerade zwanzig Jahre alt und arbeitete im zweiten Jahr als Innendekorateurin. Ihr Chef hatte sich auf Büros spezialisiert, schließlich gehörte eine angenehme Atmosphäre zur Kundengewinnung. Er schickte Dagmar von Hannover nach Lübeck, damit sie sich von den Räumen des Kunden einen Überblick verschaffen und Fotos machen konnte. Sie war aufgeregt und nervös, denn sie hoffte, dass ihr Chef sie auch mit der Gestaltung der Räume beauftragen würde, ihr erster alleiniger Auftrag vielleicht.

Heinrich, damals Mitte dreißig, war ausnehmend höflich, aber auch sehr direkt. Er hatte sehr genaue Vorstellungen, in die sich Dagmar schnell einfinden konnte. Sie verbrachten einen anregenden und kreativen Nachmittag, der mit einem Essen in einem kleinen italienischen Restaurant endete.

Nachdem die Räume nach einigen Wochen ausgeplant und eingerichtet waren, musste Dagmar sich eingestehen, dass sie heillos verliebt war. Auch Heinrich hatte wohl ähnliche Empfindungen, denn er hörte nicht auf, sie anzurufen. Wenige Monate später packte Dagmar kurzerhand ihre Sachen und zog nach Lübeck. Trotz ihres Altersunterschiedes waren sie von Anfang an ein gutes Team. Sie heirateten ein Jahr später, und schon im Jahr darauf wurde Daniel geboren.

Heinrichs Geschäft lief sehr gut. Bald suchten sie für ihre kleine Familie das passende Nest. Etwas außerhalb, in der Natur sollte es sein, mit viel Platz und Grün drum herum. Eigentlich besichtigten sie damals das Haus am Plöner See eher zum Spaß. Es war viel zu groß, auch ein bisschen zu teuer und wahrlich nicht das, was junge Paare zur damaligen Zeit haben wollten. Dagmar hatte sich einen modernen, großzügig geschnittenen Bungalow gewünscht – aber das hier war eine alte Villa mit zwei Eingangstreppen, die von hohen Gartenlaternen geziert wurden. Doch als sie genau dort standen, wo Dagmar heute stand, an der Terrassentür mit dem überwältigenden Ausblick bis hinunter zum See, da nahm Heinrich Dagmar in den Arm, gab Daniel einen Kuss auf die Babystirn und meinte: »Warum nicht?« So waren sie in den Besitz dieses Hauses gekommen. Nach einigen Umbauarbeiten in Küche, Wohnzimmer und den oberen Stockwerken wirkte es im Innern hell und offen, wobei das Gefühl von Weite durch den angrenzenden Park noch verstärkt wurde.

Heinrich war immer viel unterwegs, zu der Filiale in Lübeck war bald noch eine weitere in Kiel gekommen. Dagmar kümmerte sich um Daniel, das Haus und den Park. Manchmal vermisste sie in jenen Jahren eine richtige Arbeit, doch Heinrich wollte immer, dass sie ganz für ihren Sohn da sein konnte. Durchaus ein Luxus, den sie zu schätzen wusste. Langweilig wurde ihr nie, Dagmar brachte sich erst im Kindergarten und später in der Schulzeit ein, bekam später Kontakte durch Daniels Sportverein, und irgendwie war immer etwas los – obwohl die Gegend am westlichen Ufer des Sees, zwischen Dersau und Sepel, ziemlich ländlich war. Daniels Freunde und auch deren Eltern waren gern gesehene Gäste im Haus, ebenso kamen oft Geschäftspartner von Heinrich zu Besuch. Oft auch übers Wochenende, denn das Haus bot genug Zimmer.

Dagmar wandte den Blick vom Garten ab und drehte sich um. Rechts an der Wohnzimmerwand hing ein großes Familienporträt. Sie waren extra nach Kiel zu einer Fotografin gefahren. Daniel hatte mit seinen sechzehn Jahren mächtig protestiert, er wäre zu alt für so etwas. Dennoch war das Bild gelungen. Heinrich stand hinter ihnen – hochgewachsen, die Haare damals noch dunkel und ohne graue Strähnen. Gut ausgesehen hatte er immer. Ein leiser Seufzer entfuhr Dagmar. Er hielt sie liebevoll im linken Arm. Sie hatte zu der Zeit noch etwas längere Haare gehabt, heute trug sie sie modisch kurz und etwas dunkler; auch sie wurde langsam grau, was ihre Friseurin aber immer noch gekonnt überdeckte. Daniel saß vor ihnen, seine blauen Augen funkelten in die Kamera, und trotz des vorangegangenen Streits machte er ein nettes Gesicht. Heinrich hatte die rechte Hand auf die linke Schulter seines Sohnes gelegt. Es war damals eine nahezu perfekte Zeit gewesen, bis auf die Tatsache, dass Daniel langsam seine rebellische Phase bekam, die er leider bis heute nicht ganz abgelegt hatte.

Dagmar verzog das Gesicht. Sie liebte ihren Sohn, aber er war … schwierig, und zwar in vielen Dingen. Ehrgeizig und selbstbewusst wie sein Vater, ließ er sich von niemandem etwas sagen und ging rigoros seinen eigenen Weg.

In den vergangenen Jahren war es stiller im Haus geworden. Daniel war nach dem Abitur nach Hamburg gezogen, um zu studieren, auch waren die Besuche von Freunden und Geschäftspartnern weniger geworden. Doch Heinrich und sie hatten die Ruhe durchaus genossen. Die Abende im Winter vor dem Kamin oder im Sommer auf der Terrasse, das war ihre Zeit gewesen. Dagmar hatte sich tagsüber nach wie vor um das Haus und den Park gekümmert, sie liebte das Gärtnern und war stolz auf die gepflegte Anlage rund um das Haus. Nebenbei hatte sie begonnen, in dem Blumenladen ihrer Freundin Helga auszuhelfen, was zusätzlich etwas Abwechslung geschaffen hatte. Einmal hatte sie laut darüber nachgedacht, sich wieder eine Arbeit zu suchen, doch Heinrich hatte sie kopfschüttelnd in den Arm genommen und gemeint: »Schatz, das brauchst du doch nicht. Genieß dein Leben, ich kümmere mich schon.«

Dies hatte er auch getan, bis genau vor sechs Wochen. Dagmar umschlang ihren Oberkörper mit den Armen. Da stand sie nun: achtundvierzig Jahre alt und Witwe.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihrer Lethargie. Es lag auf dem Wohnzimmertisch und begann sich durch den Vibrationsalarm leicht hin und her zu bewegen. Dagmar gab sich einen Ruck, ging zum Tisch und nahm das Telefon zur Hand. Auf dem Display las sie den Namen des Anrufers: Christoph Schmal. Er war seit vielen Jahren Heinrichs Steuerberater und ein guter Freund. Sie nahm ab.

»Hallo.«

»Daggi? Christoph hier. Störe ich?«

»Nein, tust du nicht.«

»Es tut mir wirklich leid, aber du müsstest jetzt zeitnah herkommen. Wir haben einiges zu besprechen, das kann nicht mehr warten. Morgen um zehn? Wäre das okay?«

»Ja, das geht.«

»Gut, dann sehen wir uns morgen früh. Schönen Gruß von Barbara.«

»Danke. Grüß zurück.«

»Bis morgen.«

»Bis morgen.« Dagmar legte auf. Das Gespräch mit Christoph war eines der Dinge, die zu erledigen waren und die sich nicht länger aufschieben ließen. Auch wenn es sich nicht so anfühlte – ihr Leben ging schließlich weiter.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen saß Dagmar pünktlich um zehn Uhr in Christophs Büro, das sich in der unteren Etage des Hauses befand, in dem er mit seiner Frau Barbara wohnte. Dagmar starrte auf eine kleine Buchsbaumhecke vor dem bodentiefen Fenster, während Christoph in seinen Unterlagen herumsuchte. Barbara schnitt diese Hecke immer ganz akkurat und mit viel Hingabe. Die strenge Form des Gartenbeetes vor dem Fenster stand in stechendem Gegensatz zu der unübertrefflichen Unordnung in Christophs Büro. Heinrich hatte einmal geunkt, dass es bei Steuerberatern wohl immer so aussehen müsste. Dagmar aber hatte sich im Stillen gefragt, wie man bei den ganzen Papierstapeln, die sich links und rechts des Schreibtisches auftürmten, überhaupt etwas wiederfand.

»Wie geht es dir? Möchtest du einen Kaffee?«

Dagmar zuckte erschrocken zusammen und versuchte ihren Geist wieder in das Hier und Jetzt zu befördern. Christoph sah sie über den Schreibtisch hinweg an. Auch er war nicht mehr der Jüngste, wie Dagmar jetzt bemerkte. Sein Haar war lichter geworden und seine Haut faltiger. Er war zwei Jahre älter, als Heinrich es gewesen war.

»Danke, geht schon wieder. Ja, bitte mit Milch und Zucker.«

Christoph langte nach einer Kaffeekanne, die immer links von ihm auf einem kleinen Abstelltisch parat stand, goss ihr eine Tasse Kaffee ein, legte ein Zuckertütchen und eine kleine Plastikmilchdose auf die Untertasse und reichte ihr das Ganze über den Tisch. Dagmar bemerkte, wie ihre Hand zitterte, als sie den Kaffee entgegennahm.

Während sie Milch und Zucker in die Tasse gab, faltete Christoph die Hände ineinander und beobachtete sie geduldig.

»Daggi, Barbara und ich sind immer für dich da.«

»Ich weiß, danke.« Dagmar rührte etwas verlegen in ihrem Kaffee. Es war ihr unangenehm, dass sie die vergangenen Wochen so in Schockstarre verbracht hatte. »Ihr habt mir sehr geholfen in der letzten Zeit.« Sie bemühte sich um ein Lächeln. Was die beiden wirklich hinterrücks getan hatten, wusste sie nicht mal so recht, aber sie erinnerte sich daran, dass Christoph einige Male bei ihr im Haus gewesen war und sich mit Daniel unterhalten hatte. Und er hatte mit Heinrichs Vater gesprochen. Etwas, worüber sie sehr dankbar gewesen war. Heinrichs Mutter war vor einigen Jahren gestorben, und sein Vater lebte in einem Seniorenstift bei Kiel. Er war »nicht mehr gut beieinander«, wie Heinrich es immer betitelt hatte. Die Nachricht, dass sein Sohn gestorben war, war für ihn ein schwerer Schock gewesen. Dagmar hätte gar nicht gewusst, wie sie es ihm hätte beibringen sollen. Ihren eigenen Eltern hingegen hatte Daniel es mitgeteilt. Die liebten ihren Enkelsohn, auch wenn sie ihn nur noch selten sahen. Dennoch hatte Daniel einen besseren Draht zu Greta und Franz, als Dagmar selbst je gehabt hatte. Sie waren zur Beerdigung aus Hannover gekommen, doch viel Trost war es für Dagmar nicht gewesen. Ihre Eltern waren ihr in den letzten Jahrzehnten fremd geworden. Wie Daniel lebten auch sie ihr eigenes Leben. Der einzige Mensch, dem sie sich wirklich nahe gefühlt hatte, war nun nicht mehr da.

Christoph räusperte sich. »Dagmar, es tut mir wirklich leid, aber ich muss dich so langsam über einige Dinge informieren.«

Dagmar sah ihn fragend an. Ihr war bewusst, dass sicherlich einiges wegen Heinrichs Geschäft geregelt werden musste. Auch sie selbst sollte sich um ihre private Finanzlage kümmern. Christoph Schmal war zwanzig Jahre Heinrichs Steuerberater gewesen und in genau diesen Dingen ihr erster Ansprechpartner. Nach Heinrichs Tod war ihr bewusst geworden, dass sie von sämtlichen Geldangelegenheiten keinen Schimmer hatte. Darum hatte Heinrich sich gekümmert. Sie solle sich mal keine Sorgen machen, hatte er immer nur gesagt.

»Ja, ich habe auch noch einige Fragen – aber du zuerst, bitte.« Sie nickte Christoph zu und bemühte sich um Konzentration.

»Um es kurz zu machen, die Gröning GmbH wird in die Insolvenz gehen müssen. Ich habe diesbezüglich schon alles veranlasst.«

Dagmars Aufmerksamkeit war mit einem Schlag voll da. »Wie? Was sagst du da? Ging es der Firma denn so schlecht? Aber was … was ist denn mit den beiden Büros? Den Angestellten?«

Christoph verzog kurz das Gesicht. »Ich habe mit Heinrich in den letzten zwei Jahren wirklich um die Firma gekämpft, aber es lief einfach nicht mehr so wie früher. Hat er denn nie etwas gesagt?«

Die Frage war wohl eher rhetorischer Natur, denn Dagmar war klar, dass Christoph wusste, welch ein Einzelkämpfer Heinrich in Geschäftsdingen gewesen war. »Nein, hat er nicht. Er hat immer gesagt, dass alles läuft.«

»Ja, leider war das so seine Art, ich weiß.« Christoph schüttelte den Kopf. »Auf jeden Fall lohnt es sich nicht, die Firma zu erhalten. Die wird keiner so übernehmen wollen, und nach der Insolvenz werden durch den Abverkauf der Fahrzeuge wenigstens die angelaufenen Schulden getilgt werden können. Auch werden die Angestellten noch ihre letzten Gehälter bekommen. Somit wird das ein sauberes Ende geben.«

»Ein sauberes Ende«, wiederholte Dagmar leise.

»Keine Sorge. Du bist davon nicht betroffen, dein Name hing nie in der Firma mit drin, insofern war Heinrich wenigstens vorsichtig. Aber …«

»Aber?«

»Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir mit eurem Kredit umgehen. Ich möchte dir nur helfen, Daggi, aber ich sage dir gleich, dass ich nicht weiß, ob wir das Haus retten können.«

»Wie? Was für ein Kredit? Das Haus?« Dagmar sah Christoph ungläubig an.

Christoph seufzte ergeben und machte ein betrübtes Gesicht. »Es tut mir wirklich leid. Hat Heinrich dir denn davon auch nichts erzählt?«

»Das Haus? Es ist doch meins! Er hat es schon vor Jahren auf mich überschrieben.«

»Nun ja, das ist etwas komplizierter.« Christoph lehnte sich zurück. »Heinrich hat es zwar auf dich überschreiben lassen, hat aber vor gut fünf Jahren einen Kredit aufgenommen und das Haus dafür als Sicherheit an die Bank übertragen.«

»Davon weiß ich gar nichts.« Dagmar merkte, wie es ihr die Luft abschnürte. Es kam ihr plötzlich fürchterlich warm und stickig in dem Büro vor.

»Nun, du wirst es irgendwann wohl unterschrieben haben. Leider sind es damit auch deine Schulden. Und mit denen müssen wir jetzt irgendwie umgehen.«

»Ich … Kann sein … Christoph, du weißt, dass Heinrich mich so manches hat unterschreiben lassen, aber ich habe da nie genau nachgefragt … Ich dachte immer, es wäre alles in Ordnung.«

»Wäre es auch gewesen, wenn er nicht so plötzlich … Es tut mir leid, Daggi.« Christoph holte tief Luft. »Du hast, fürchte ich, leider nicht viele Möglichkeiten.«

Dagmar wurde ganz kalt.

»Über welche Summe sprechen wir denn überhaupt? Ich … ich habe ja auch noch das Geld von der Lebensversicherung.« So weit hatte Heinrich wenigstens vorgesorgt. Christoph hatte die Police bereits herausgesucht und alles in die Wege geleitet, das hatte Dagmar mitbekommen.

»Der Kredit belief sich auf fünfhunderttausend Euro.«

Dagmar schluckte. »So viel?«

»Davon ist über ein Drittel abbezahlt, soweit ich das sehe. Durch die neuen Wagen, die er mit dem Geld angeschafft hatte, lief es für die Firma ja eine Weile wieder ganz gut. Wenn du das Geld der Versicherung nimmst, wären insgesamt zwei Drittel getilgt. Aber den Rest müsstest du dann irgendwie finanzieren.«

»Was, denkst du, käme da an monatlicher Belastung auf mich zu?«

»Das kommt auf die Laufzeit und die Zinsen an. Ich schätze so um die eintausend Euro, und das auf fünfzehn Jahre. Ich habe bereits mit der Bank gesprochen. Aufgrund der Lage haben sie uns einen dreimonatigen Aufschub gewährt, aber dann … Dagmar, das ist wirklich ernst. Wenn der Kredit nicht bedient wird, kann die Bank die Zwangsversteigerung des Hauses anberaumen. Es auf die Art und Weise zu verlieren wäre fatal, und unter Umständen würde für dich nichts übrig bleiben, denn die Bank will ja ihr Geld zurück. Verstehst du das?«

Dagmar sog scharf die Luft ein. »Oh Mann, das kann doch nicht wahr sein. Wofür hat er diesen monströsen Kredit denn gebraucht?«

Christoph zuckte mit den Achseln. »Damit hat er die Firma über Wasser gehalten … und euch.«

»Uns?« Dagmar wurde ganz schlecht. Sie sackte in sich zusammen. »Warum hat er denn nie etwas gesagt? Wir … wir hätten doch …« Natürlich war es mit der Firma bergauf und bergab gegangen. Einmal hatte Heinrich ihr zögerlich davon berichtet, dass es gerade nicht so gut aussähe. Aber danach hatte sich alles wieder beruhigt. Vor fünf Jahren war das gewesen, da waren sie im Sommer auf Teneriffa gewesen. Einer der seltenen und lang ersehnten gemeinsamen Urlaube. Dabei war die Firma damals wohl gar nicht besser gelaufen. Nur wegen des Kredits hatte er plötzlich Geld für den Urlaub gehabt …

»Daggi, im Grunde kannst du froh sein – somit hat er wenigstens keine privaten Schulden, die nun noch im Rahmen des Erbes auf dich zurückfallen würden. Nur dieser Kredit. Ich hab ihm damals davon abgeraten, aber er hat gelacht und gesagt, das würde er schon schaffen.«

»Aber wo soll ich denn so viel Geld hernehmen jeden Monat? Du weißt, dass ich ab und an bei Helga im Blumenladen aushelfe. Aber das reicht niemals. Ich müsste mir einen Job suchen … und …«

»Ja, ich sagte ja, das wird nicht einfach. Wenn ich dir etwas raten darf – gib der Bank das Geld aus der Lebensversicherung, das baut den Kredit schon mal ab. Dann verkaufe das Haus, tilge damit den Kredit – und mit dem restlichen Geld kannst du dir erst mal deinen Lebensunterhalt sichern. Da wird bestimmt genug übrig bleiben, das Haus ist ja top in Schuss.«

»Das Haus ist aber das Einzige, was ich noch habe.« Dagmar war den Tränen nahe. »Du meinst wirklich, ich soll es verkaufen? Wegziehen?«

»Ich glaube nicht, dass du es retten kannst. Ich kenne da einen guten Makler, wenn du möchtest, rufe ich den an.«

Dagmar hob die Hand. »Ich muss erst mal darüber nachdenken.«

Christoph nickte. »Das verstehe ich, aber du darfst jetzt nicht zu viel Zeit verlieren.«

»Weiß … weiß Daniel davon?«

»Nein, ich habe ihm nichts davon erzählt. Er …«, nun verzog sich Christophs Gesicht, »er hat mich neulich, als ich bei euch war, gefragt, ob er denn mit einem Erbteil rechnen könnte beziehungsweise wie es um die Firmen stünde. Ich habe gesagt, dass ich erst mal gucken muss, wie das bei euch alles geregelt ist.«

Dagmar schnaubte. »Typisch.« Daniel hatte nicht nur die pragmatische Art seines Vaters geerbt, er war auch recht geschäftstüchtig. Überall dort, wo es nach Gewinn roch, steckte er seine Nase hinein. Heinrich hatte das immer gefördert, hatte gesagt, der Junge müsse sein Potenzial entwickeln. Dagmar hingegen war dieser Charakterzug fremd. Daniel hatte Betriebswirtschaftslehre studiert mit dem Schwerpunkt Spedition, Transport und Logistik. Danach hatte er in Hamburg eine gute Stelle bei einer großen Transportfirma bekommen. Heinrich und Daniel hatten sich sicher mehr über Geschäftliches ausgetauscht, als sie es je mit ihrem Mann getan hatte. Allerdings hatte sie Heinrich durchaus einmal gefragt, ob er daran dachte, seinen Sohn eines Tages in seine Firma mit aufzunehmen. Etwas, das bei Familienunternehmen wie der Gröning GmbH durchaus gang und gäbe war. Heinrich war dieser Frage damals ausgewichen und hatte gemeint, dass Daniel erst mal Erfahrungen anderswo sammeln sollte. Dagmar runzelte die Stirn. Vielleicht hätte sie da schon hellhörig werden sollen?

Christoph lehnte sich wieder etwas nach vorn und legte die Hände auf den Schreibtisch. »Er wird sicher nicht erfreut sein, wenn er hört, dass die Firma hinüber ist. Und auch sonst gibt’s für ihn ja nichts zu erben. Heinrich hatte im Grunde kein eigenes Privatvermögen, euch gehörte alles gemeinsam, und jetzt gehört es dir. Ihr hattet nur ein einfaches Berliner Testament aufgesetzt damals nach der Hochzeit. Dadurch ist Daniel mit Heinrichs Tod quasi enterbt worden und könnte nur seinen Pflichtteil einfordern.«

Dagmar fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Du meinst also, dass Daniel versuchen wird, etwas abzubekommen?«

Christoph zuckte mit den Achseln. »Daggi, tut mir leid, wenn ich dir das so mitteilen muss, aber dein Sohn hat wortwörtlich zu mir gesagt: ›Meine Mutter hat doch keine Ahnung von dem ganzen Kram‹ – ich solle ihm bitte sämtliche Unterlagen bezüglich der Firmen und des Privatvermögens zukommen lassen, er würde dann schon alles regeln.«

»Ja, natürlich und selbstredend nur zu meinen Gunsten.« Dagmar schüttelte den Kopf. »Aber das hast du nicht getan, oder?«

»Nein, natürlich nicht, Daggi. Ich wollte erst mit dir sprechen und dich über den Stand der Dinge informieren. Wenn du jetzt sagst, ich soll alles an Daniel weitergeben …«, Christoph hob die Hände, »… dann mache ich das natürlich. Aber ich glaube, das wäre keine gute Idee.«

Dagmar lachte kurz auf. »Nein, wahrlich nicht. Mein lieber Herr Sohn würde mich vermutlich noch um mein letztes Hemd bringen. Da kümmere ich mich lieber erst mal selbst drum. Du … du hilfst mir doch?«

»Natürlich, soweit es mir möglich ist, stehe ich dir mit Rat und Tat zur Seite.«

»Danke, Christoph.«

Kapitel 3

Auf der Rückfahrt arbeitete Dagmars Kopf auf Hochtouren. Das Haus verkaufen, das Haus verkaufen, hämmerte es immer wieder in ihren Gedanken. Sie konnte dieses Haus nicht verkaufen. Es war ihre Insel – der Ort, an dem sie viele glückliche Jahre verbracht hatte. Dass es um Heinrichs Firma so schlecht stand, hatte sie ja nicht geahnt. Hätte er doch nur mit ihr darüber geredet! Sie hätten sicher gemeinsam eine Lösung gefunden. Mit ihm zusammen wäre sie auch bereit gewesen, woanders noch mal neu anzufangen. Ein kleines Haus, weniger Kosten … Ihre Hände krallten sich um das Lenkrad ihres Wagens. Es jetzt abzugeben fühlte sich an, als würde sie den Ast absägen, auf dem sie saß.

Heinrich hatte all die Jahre immer nur betont, wie wichtig es ihm sei, dass Dagmar in dem Haus glücklich war. Ein schmerzlicher Gedanke durchfuhr sie. War sie letztendlich gar schuld an der Misere? Hatte er krampfhaft das Haus halten wollen, um es ihr recht zu machen? Jetzt hatte sie auch noch ein schlechtes Gewissen. Dabei kam ihr noch ein ganz anderer Gedanke.

»Verdammt!«, fluchte sie. Es war ja nicht nur das Haus an sich. Sie hatte noch viel mehr Kosten am Hals als nur diesen ominösen Kredit. Die Nebenkosten wollten bezahlt werden, ihr Auto und der Sprit, die Versicherungen … Lebensmittel. Sie und Heinrich hatten ein gemeinsames Konto gehabt. Der Zufluss an Geld war all die Jahre nur von Heinrichs Seite gekommen. Damit war abrupt Schluss. Sie musste sich unbedingt einen Überblick verschaffen, wie es tatsächlich um die Kosten bestellt war. Sie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. All die Jahre hatte sie es sich leicht gemacht, ja, das hatte sie. Und jetzt bekam sie die Quittung dafür.

Als sie in die Hofeinfahrt abbog, bremste sie abrupt. Das Haus stand dort vom frostigen Garten umrahmt, als wäre nichts passiert. Anders als die typischen Bungalows in der Nachbarschaft handelte es sich um eine Gründerzeitvilla mit verzierter Fassade und zwei Eingangstreppen, deren geschwungene steinerne Geländer sich den Besuchern einladend entgegenstreckten. Die Villa hatte ihren Charme all die Jahre über bewahrt. Es war kein Haus, es war ein Heim. Ein Ort, an dem man lebte, liebte und lachte und zwischen dessen Mauern man immer sicher war, egal, was das Leben einem gerade vor die Füße warf.

Langsam fuhr sie ihren Wagen unter den breiten Carport; auch dieser sah ohne Heinrichs Auto ganz verlassen aus. Dagmar fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt.

Sie stieg aus, nahm die linke Treppe und schloss die zweiflügelige Tür auf. Von der breiten Diele führte mittig ein Flur mit Gäste-WC, Garderobe und Treppen zu dem offenen Küchen- und Essbereich auf der linken Seite des Hauses. Von dort ging es drei langgezogene Stufen hinab ins Wohnzimmer. Rechts vom Wohnzimmer lagen die Kinder- und Gästezimmer. Die Größe wie auch die Anzahl der Räume hatten Dagmar anfangs abgeschreckt. Das Haus war einst als schickes Seehotel erbaut worden; ganze fünf Wohneinheiten mit je zwei kleinen Zimmern befanden sich im Erdgeschoss des Hauses, dazu ein großes Bad. Heinrich hatte damals halb ernst, halb im Scherz gemeint, es wären somit noch reichlich Kinderzimmer vorhanden. Doch sie hatten sich nie für ein weiteres Kind entscheiden können, geschweige denn gleich vier. Die ersten Jahre hatten sie die Zimmer dennoch viel benutzt und den ganzen Platz durchaus genossen. Daniel hatte ein großes Kinder- und Spielzimmer gehabt, Dagmars Eltern waren oft zu Besuch gekommen und anfangs, als es deren Gesundheit noch zuließ, auch Heinrichs Eltern. Vor einigen Jahren dann, als der Trubel im Haus nachgelassen hatte und auch Daniel ausgezogen war, hatte Dagmar die große, zweiflügelige Verbindungstür zu diesem Trakt einfach geschlossen gehalten. Natürlich musste man im Winter dort heizen und im Sommer auch lüften, aber ansonsten machten die ganzen Zimmer nicht viel Arbeit. Ihr Lebensmittelpunkt waren immer der große Wohnbereich gewesen sowie die eigenen, großzügigen Zimmer im ersten Stock.

Im Haus war es kalt. Dagmar warf ihren Schlüssel und die Handtasche auf den langen hölzernen Esstisch, ging in das Wohnzimmer hinab und legte einige Holzscheite in den großen Kamin zwischen den Terrassentüren. Das entfachte Feuer eroberte knisternd das trockene Holz; es würde nicht lange dauern, bis zumindest im Wohnzimmer eine angenehme Temperatur herrschte. Dagmar blieb noch einen Augenblick vor dem Feuer stehen. Sie hätte auch die Heizung aufdrehen können, doch sie hatte reichlich Brennholz im Garten, und wie es im Gegenzug um das Heizöl im Keller stand, wusste sie nicht. Ein weiterer Kostenfaktor. Auch darum hatte Heinrich sich gekümmert. Sie seufzte und verspürte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Helga!

Dagmar ging zum Esstisch und kramte ihr Handy aus der Handtasche. Eilig tippte sie eine SMS ein: Kommst du heute Abend zu mir? Wir müssen mal reden.

Es dauerte nicht lange, bis ein Ton erklang und Helgas Antwort auf dem Display erschien. Bin um sechs da. Soll ich was zu essen mitbringen?

Dagmar schmunzelte. Ja! 7 und die 26. Ihre Freundin würde schon Bescheid wissen, was sie damit meinte. Sie schmunzelte in sich hinein. Es tat gut zu wissen, dass es Helga gab.

Helga besaß direkt in Plön, an der langen Straße unweit der Nikolaikirche, einen kleinen Blumenladen. Dagmar war oft und gern Kundin in diesem Laden gewesen, und irgendwann war zwischen den beiden Frauen eine Freundschaft erwachsen. Wenn Bedarf gewesen war, hatte Dagmar gern ausgeholfen, hatte Vasen besteckt und Sträuße gebunden.

Helga war eine kleine, etwas pummelige Frau, die Dagmar immer schon mit ihrer quirligen und kreativen Art begeistert hatte. Sie war etwas älter als Dagmar, hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich und verwirklichte sich seitdem selbst mit ihrem Laden. Ihren Exmann hatte Dagmar nie kennengelernt, diese Episode von Helgas Leben war noch vor ihrer Zeit gewesen. Helga war fest überzeugt, ihr Leben nie wieder mit jemandem teilen zu wollen. In diesem Punkt unterschieden sich die Freundinnen grundlegend, denn Dagmar war es weder gewohnt, ohne Ehemann zu sein, noch konnte sie sich ein Leben als ewiger Single vorstellen. Zu dem sie nun aber ungewollt geworden war. Ihr Magen krampfte sich kurz zusammen. Daggi, nicht schwächeln! Du musst jetzt stark bleiben, herrschte sie sich im Stillen an und straffte sich. Entschlossen trat sie zu einer kleinen Kommode, öffnete die oberste Schublade und zog einen Notizblock hervor. Sie würde den Nachmittag nutzen und sich einen Überblick über die Gesamtsituation verschaffen. Sie hatte zwar oft die Ablage im Büro gemacht und Rechnungen und Kontoauszüge weggeheftet, dennoch konnte sie partout nicht sagen, wie hoch die Gesamtkosten ihrer Lebenshaltung waren.

Mit ihrem Notizblock ging sie die Treppe hinauf in das riesige Schlafzimmer mit dem Wohnbereich, dem Ankleide- und Bügelzimmer und dann die hölzerne Wendeltreppe hinauf zu Heinrichs privatem Büro auf der Galerie. Hier erinnerte alles an ihn. Dagmar stockte kurz. Ein ganz neues Gefühl überfiel sie … der Wunsch, sofort alles wegzuräumen. Da hing noch ein Pullover von ihm über dem Bürostuhl, dort lag eine Aktenmappe aus der Firma. Im ersten Stock, im Ankleidezimmer, war eine ganze Schrankwand voll mit seinen Sachen, im Schlafzimmer standen noch seine Puschen. Heute war der erste Tag, an dem sie diese Sachen förmlich ansprangen. Die letzten Wochen war sie mehr oder weniger mit Scheuklappen durch das Haus gewandert. Jetzt noch nicht.

Dagmar begab sich zu dem Regal mit den privaten Akten und zog den ersten Ordner heraus. Kurz überlegte sie, schaffte es aber nicht, sich in den Stuhl zu setzen, wo noch sein Pullover hing. Sie hatte Angst vor der Berührung, Angst, er könnte noch nach Heinrich riechen. Sie ging hinab und setzte sich auf das Sofa, welches an der Wand stand, legte ihren Block neben sich und nahm die Aktenmappe auf den Schoß.

Dagmar bemerkte erst, wie lange sie in den Unterlagen versunken war, als es so düster im Raum wurde, dass sie kaum noch eine Zahl erkennen konnte. Zu ihrer Rechten lag ein ganzer Berg Mappen. Heinrich war zum Glück immer sehr ordnungsliebend gewesen, daher hatte sie auch alle Papiere gefunden, die sie gesucht hatte. Zu ihrer Linken lagen inzwischen vier randvoll beschriebene Zettel. Dagmar klappte die letzte Akte zu, stand auf und streckte sich. Dann klaubte sie die Zettel zusammen und ging wieder nach unten ins Wohnzimmer, wobei sie ganz automatisch nach und nach alle Lichtschalter betätigte. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, in einem Häufchen weißer Asche glomm noch ein kleiner Holzrest. Sie nahm ein neues Scheit und legte es in die Glut, vielleicht reichte sie noch, um das Feuer erneut aufflammen zu lassen. Draußen war es inzwischen fast dunkel. Sie sehnte sich nach dem Frühjahr, wenn es endlich wieder länger hell sein würde, doch gleich stieg Angst in ihr auf, was bis dahin mit ihr sein würde. Ob sie wohl noch hier wäre? Die gruselige Vorstellung, dann vielleicht schon irgendwo in einer engen, beklemmenden Zweizimmerwohnung zu sitzen, schlich sich in ihre Gedanken. Die Zahlen, die sie über die letzten Stunden zusammengetragen hatte, sprachen eine recht deutliche Sprache.

Dagmar nahm ihr Handy und rief den Taschenrechner auf. Ziffer um Ziffer wuchs der monatliche Betrag, den sie aufbringen müsste. Zu guter Letzt tippte sie noch den Betrag ein, den Christoph ihr genannt hatte, bezüglich der Tilgung des Kredits. Dagmar schluckte und ließ das Telefon sinken. Auf dem Zettel machte sie unter ihrer letzten Notiz einen dicken Strich, darunter trug sie den ausgerechneten Betrag ein und machte darunter wiederum einen Doppelstrich. Dann legte sie das Telefon beiseite und starrte auf den Zettel.

Prima! Das ist ja mehr als hoffnungslos.

Mit Helga kam eine frostige Wolke kalter Luft durch die Tür.

»Ah verdammt, ich hoffe, das Essen ist noch warm.« Helga drückte Dagmar eine Plastiktüte in die Hand, stieß die Tür hinter sich zu und wickelte sich den langen Schal von Gesicht und Hals. »So langsam ist aber auch mal gut mit Winter. Die Heizung von meinem Auto muckt schon wieder. Ich bin halb erfroren.« Kurz hielt sie inne, legte den Kopf schief und sah Dagmar prüfend an. »Ist alles okay? Schön, dass du wieder Appetit hast.« Sie deutete auf die Plastiktüte. »Pack schnell aus, bevor es ganz kalt ist.«

Dagmar nahm die Tüte mit zum Esstisch, wo sie schon für zwei Personen eingedeckt hatte. Helga war in den vergangenen sechs Wochen so manchen Tag an ihrer Seite gewesen, hatte ihr liebevoll Taschentuch um Taschentuch gereicht, ihr Tee und etwas zu essen gekocht, abends das Licht ausgeschaltet und morgens die Post reingeholt. Helga war einfach für sie da gewesen. Um Dagmars Herz wurde es ganz warm.

»Helga … danke, dass du für mich da warst in letzter Zeit.« Dagmar sah liebevoll zu ihrer Freundin, die sich gerade an den Tisch setzte.

Helga winkte ab. »Das war doch selbstverständlich, Daggi. Allerdings freue ich mich, dass du langsam den Weg in ein normales Leben zurückfindest. So schrecklich das auch alles ist – ich muss mich auch mal wieder um meinen Laden kümmern.« Helga lächelte Dagmar an und tätschelte ihr über den Tisch hinweg kurz den Arm. »Komm – essen! Paolo hat die Pizza zwar doppelt eingepackt, aber ich befürchte, es sind gleich nur noch labbrige kalte Scheiben.«