Zwei mit Fernweh - Judith Knigge - E-Book

Zwei mit Fernweh E-Book

Judith Knigge

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Beschreibung

Manchmal musst du im Leben nochmal von vorne beginnen, um wieder vorwärts zu kommen!

Was passiert, wenn dein Leben plötzlich Kopf steht? Wenn dich die Liebe deines Lebens verlässt und die Kinder einen ganz anderen Weg einschlagen, als du dir vorgestellt hast? Wenn dir bewusst wird, dass der Rest deines Lebens nicht so verlaufen wird, wie du immer gedacht hast? Genau das passiert der 52-jährigen Heike. Und es haut sie erst mal um. Doch mit Hilfe ihrer Freundin Gabi kommt sie bald wieder auf die Beine, oder besser: auf die Räder. Denn Gabi leiht Heike ihr geliebtes Wohnmobil Möppi und schickt sie auf eine ganz besondere Reise. Dabei lernt Heike sich nicht nur selbst völlig neu kennen, sondern muss auch ungeahnte Wege gehen. Und als sie die 30-jährige Anja trifft, ahnt sie nicht, dass diese Begegnung nicht nur zu einem unvergesslichen Sommer führt, sondern Heikes Leben für immer verändern wird …

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Buch

Was passiert, wenn dein Leben plötzlich Kopf steht? Wenn dich die Liebe deines Lebens verlässt und die Kinder einen ganz anderen Weg einschlagen, als du dir vorgestellt hast? Wenn dir bewusst wird, dass der Rest deines Lebens nicht so verlaufen wird, wie du immer gedacht hast? Genau das passiert der 52-jährigen Heike. Und es haut sie erst mal um. Doch mit Hilfe ihrer Freundin Gabi kommt sie bald wieder auf die Beine, oder besser: auf die Räder. Denn Gabi leiht Heike ihr geliebtes Wohnmobil Möppi und schickt sie auf eine ganz besondere Reise. Dabei lernt Heike sich nicht nur selbst völlig neu kennen, sondern muss auch ungeahnte Wege gehen. Und als sie die 30-jährige Anja trifft, ahnt sie nicht, dass diese Begegnung nicht nur zu einem unvergesslichen Sommer führt, sondern Heikes Leben für immer verändern wird …

Autorin

Judith Knigge hat bereits erfolgreich exotische Sagas und unter anderem Namen historische Familiengeschichten veröffentlicht. Mit »Zusammen ist der schönste Ort« erfüllte sie sich den Wunsch, einen emotionalen Gegenwartsroman zu schreiben. Einfühlsam erzählt sie von Freundschaft, Zusammenhalt und dem Mut, etwas Neues zu wagen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und ihren Pferden in Norddeutschland. »Zwei mit Fernweh« ist ihr zweiter Gegenwartsroman bei Blanvalet.

Von Judith Knigge bereits erschienen

Zusammen ist der schönste Ort

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

JUDITH KNIGGE

Zwei mit

Fernweh

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Judith Knigge

Erschienen im Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: plainpicture/Narratives/Wayne Kirk;

www.buerosued.de

JF · Herstellung: sam

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-24661-7V003

www.blanvalet.de

Einmal im Jahr solltest du einen Ort besuchen,

an dem du noch nie warst.

DALAI LAMA

Prolog

Hamburg, im Juni 2016

Kaum hatte ihre Tochter Jenny das hölzerne Gartentor aufgestoßen, wackelte Heikes Enkelsohn Finn schon auf seinen kurzen Beinchen auf sie zu.

»Oh-mah, Oh-mah«, er streckte die Arme aus und strahlte über das ganze Gesicht.

»Hallo, mein Großer!« Heike hockte sich hin und breitete die Arme aus. Ihr ging jedes Mal das Herz auf bei Finns Anblick. »Komm her, Oma hat schon auf euch gewartet.«

Ihr Enkel lief ihr in die Arme und quietschte vergnügt, als sie ihn emporhob. »Sag mal, bist du schon wieder schwerer geworden?« Sie küsste dem kleinen blonden Jungen die dicken Pausbacken und drückte ihn an sich.

»Hi, Ma.« Jenny lächelte müde, stellte die große Tasche, in der sie immer alles mit herumtrug, was Finn so brauchte, auf der Terrasse ab und ließ sich dann in einen der Gartenstühle plumpsen. »Mensch, bin ich müde. Dieses Kind braucht momentan irgendwie keinen Schlaf, was man von mir nicht behaupten kann.« Sie wischte sich mit den Händen über das Gesicht.

»Och, magst du nicht schlafen, Finn?« Heike schuckelte ihren Enkelsohn hin und her. »Vielleicht kriegen wir dich ja heute etwas müde.« Dann sah sie mitleidig zu ihrer Tochter. »Das hat er sicher nicht von dir, du hast in dem Alter mehr geschlafen als alles andere.«

Jenny zog eine Grimasse. »Könnte ich heute noch, wenn meine Männer mich ließen. Finn wird abends immer richtig fit, will stundenlang Bilderbücher gucken und wehe, wenn nicht. Und immer wenn er dann gerade ruhig wird und ihm langsam die Augen zufallen, kommt Felix nach Hause, und zack!, ist er wieder hellwach.« Sie rieb sich die Augen. »Felix macht gerade jede Menge Überstunden, in der Klinik ist die halbe Belegschaft krank. Wenn er sich dann todmüde ins Bett fallen lässt, sehe ich zu, das Finn erst mal wieder beschäftigt ist, bis auch er dann endlich einschläft. Ich bin so froh, wenn alles ruhiger wird, wenn wir erst mal in …« Sie brach den Satz ab.

Heike schwieg einen Augenblick und beobachtete ihren Enkel, der von ihrem Arm aus ganz gebannt in das Blätterdach des Kirschbaumes sah. Die Blätter tanzten leicht im Wind, dazwischen glitzerten die Sonnenstrahlen, und hier und da versteckten sich die noch grünen Kirschen. Wie schnell die Zeit verging. Wenige Monate, und der Baum würde schon wieder die Blätter verlieren … Heike verspürte einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Im Oktober würde ihre Tochter mit Felix und Finn nach Schweden umziehen. Einerseits konnte sie die Entscheidung verstehen. Felix war Arzt, und sein Job in der Zentralen Notaufnahme am Klinikum St. Georg mehr als aufreibend und wenig familienfreundlich. Als Finn noch nicht auf der Welt gewesen war, hatten Jenny und er schon daran zu knabbern gehabt, dass sie sich kaum sahen. Da hatte Jenny aber auch noch in der Personalabteilung des Klinikums gearbeitet. Finn hatte das Leben seiner Eltern komplett umgekrempelt, und schnell waren sie sich einig geworden, dass es so nicht weitergehen konnte. Felix hatte schließlich von seinem Onkel den Tipp bekommen, dass in Schweden Ärzte gesucht würden. Dieser war selbst vor einigen Jahren nach Schweden ausgewandert und führte eine orthopädische Praxis in Jönköping. Zunächst war Felix skeptisch gewesen, doch als er und Jenny etwas recherchiert hatten, hatte es geradezu verlockend geklungen. Wenig später hatten alle den Onkel besucht und waren so begeistert, dass Felix gleich Kontakt zu einer kleinen örtlichen Klinik aufgenommen hatte. Geregelte Arbeitszeiten, ein gutes Gehalt, beste Sozialleistungen und sogar ein Haus für die Familie würde gestellt.

Felix war überzeugt, dass sie es nicht besser treffen könnten. Jenny konnte seither gar nicht aufhören, von der schönen Landschaft und den lauschigen Dörfern rund um die Stadt Jönköping zu schwärmen. Sie wohnten in Hamburg-Barmbek in einer kleinen Wohnung in der vierten Etage. Sich in Hamburg ein Häuschen in einem der grünen Stadtteile leisten zu können war utopisch, dazu hätte es zwei Vollverdiener gebraucht. Mindestens. Zudem bekam Felix einen Sprachkurs finanziert, und für Jenny wurde auch ein Job in Aussicht gestellt, wenn Finn dann alt genug für die klinikeigene Kita wäre.

Alles in allem war das ein durchaus reizvolles Gesamtpaket, das sah auch Heike ein. Aber ihre Tochter und ihr Enkel wären dann Hunderte Kilometer weit entfernt. Natürlich hatte sie gleich heimlich auf einer Karte nachgesehen, wo dieses Jönköping überhaupt lag, und erst mal schwer geschluckt. Auch wenn sie sich mehrmals im Jahr besuchen würden, so war ihr klar, dass sie viele schöne Momente in Finns Entwicklung schlichtweg verpassen würde. Den ersten ganzen Satz, den er sprechen konnte, das erste Lied, das er sang, Dreiradfahren, Fußball spielen … all die Kleinigkeiten, auf die sie sich so gefreut hatte. Wie sie es auch drehte und wendete – sie würde ihn nicht aufwachsen sehen, seinen Alltag nicht kennen, nicht mitbekommen, wie er die Welt Tag für Tag neu eroberte. Dabei hatte sie sich so sehr darauf gefreut! Bei diesem Gedanken drückte sie auch jetzt ihren Enkel fest an sich, was dieser allerdings mit einem ungeduldigen Gezappel quittierte.

Jenny schien Heikes aufkeimende Traurigkeit nicht entgangen zu sein. »Ach, Mama, das wird schon alles nicht so schlimm, wir sind ja nicht aus der Welt. Und Schweden ist so schön. Wenn ihr uns dann besuchen kommt … Wo ist Papa eigentlich? Es ist doch schon fast sechs Uhr?«

»Der muss momentan immer so lange arbeiten, aber er kommt sicher bald.« Heike ließ Finn sanft hinab auf den Rasen. Er stapfte sofort in Richtung seiner Sandkiste, die sich unter dem großen Kirschbaum befand. Heike setzte sich neben ihre Tochter und tätschelte Jenny kurz den Arm. »Ist schon gut, ich werde damit klarkommen. Aber ich werde euch vermissen, das weißt du. Möchtest du was trinken?« Heike wartete die Antwort nicht ab, sondern schenkte Jenny ein Glas Zitronenwasser ein.

»Danke. Hast du was von Kai gehört?«

»Dein Bruder hat sich gut eingelebt in der WG, sagt er. Und ansonsten … na, du kennst ihn ja. Er ist froh, weit weg zu sein.« Heike entfuhr unvermittelt ein Seufzer.

Jenny musste lachen. »Ach, Mama, wir sind jetzt halt erwachsen.«

»Da bin ich auch froh drüber.« Heike lächelte etwas schief. »Aber dass es euch beide gleich in die große, weite Welt ziehen muss …«

»Mama, Kai ist in Köln, das ist nicht New York oder Australien. Außerdem gibt es Telefon, wir können per Video chatten, und ihr könnt uns jederzeit besuchen. Also Felix, Finn und mich … Was Kai angeht, weiß ich das nicht so genau.« Sie lachte. »Kann sein, dass er erst mal nicht so wild auf Familienbesuche ist.«

»Der hat mit seinem Studium sicher genug zu tun.« Heike goss sich auch ein Glas Wasser ein und beobachtete dabei ihren Enkel, der konzentriert mit den Händen im Sand buddelte. Jetzt hatte er die rote Schaufel entdeckt. Doch statt damit zu graben, steckte er sie sich in den Mund. »Nein, Finn, das ist bah!«

»Bah, bähhhh, bah«, schallte es fröhlich aus der Sandkiste zurück.

Vor dem Haus parkte ein Wagen, die Autotür schlug zu. »Ich glaube, Papa kommt«, meinte Jenny und wandte sich zur Terrassentür um.

»Oh, dann ist er heute ja richtig früh dran.«

Kurz darauf trat Jochen Berger vom Wohnzimmer aus auf die Terrasse. »Na du, mein Schatz.« Er küsste Jenny die Stirn. Heike legte er kurz die Hand auf die Schulter. »Mensch, war das heiß heute, im Büro bin ich fast geschmolzen.« Er zog sich das Jackett aus und warf es über die Lehne eines unbesetzten Gartenstuhls. »Bringst du mir ein Bier?«, fragte er, an Heike gewandt.

Sie nickte, stand auf und verschwand kurz im Haus. Jochen schien der Umzug ihrer Tochter weniger auszumachen, jedenfalls redete er nicht davon. Seufzend öffnete sie den Kühlschrank, holte eine Flasche heraus und ging wieder nach draußen.

Jochen nahm das Bier entgegen und setzte sich neben seine Tochter. »Ah, ist das schön kühl. Das ist jetzt genau das Richtige.«

Jochens Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Finn kletterte über den Rand der Sandkiste und tappte über den Rasen. »Ohmah! Ohhhhmahhh!« Plötzlich hielt der kleine Kerl inne, zog auf putzige Weise die Augenbrauen zusammen und fixierte Jochen. »Ooohhhpah!«

Heike beugte sich vor und klatschte in die Hände. »Hast du gerade Oooopaaa gesagt? Jochen – er hat Opa gesagt!«

Finn reckte die Arme und lief auf Jochen zu. »Oooopah!«

»Ja, ich würde definitiv sagen, er hat gerade Opa gesagt.« Jenny lachte. Finn konnte zwar schon viele Worte, aber ein deutliches Opa war bisher noch nie dabei gewesen. Jochen hatte stattdessen »Schhh, schhh« geheißen, da dieser immer und immer wieder Eisenbahn mit Finn auf seinen Knien spielte.

»Na, komm her, du Räuber.« Jochen schnappte sich seinen Enkel und hob ihn auf seinen Schoß. »Was hast du gerade gesagt?«

»Ohpah« Finn quietschte und lachte.

»Opa, ja genau. Ich bin – Opa.«

Kapitel 1

Hamburg, im Mai 2019

»Berger, Heike, zweiundfünfzig Jahre alt, Schwächeanfall mit Ohnmacht.«

Heike hörte eine fremde Stimme neben sich. Sie klang, als wenn jemand in ein Rohr spräche, verzerrt und viel tiefer vom Ton als normal. Sie wollte die rechte Hand heben, bemerkte aber, dass diese ihr nicht gehorchte, wie auch der Rest ihres Körpers. Panik stieg in ihr auf, sie atmete schneller und spürte sogleich wieder den massiven Schwindel in ihrem Kopf, der sie zu Boden gestreckt hatte. Was war dann passiert? Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern. Man hatte sie in einen Krankenwagen geschoben, ein Sanitäter hatte sich über sie gebeugt. Sie hatte etwas sagen wollen, doch es war nicht gegangen. Sie war nicht Herr über sich selbst.

»Frau Berger. Alles gut. Sie sind im Krankenhaus, wir kümmern uns jetzt ums Sie.« Eine Hand berührte kurz ihre Schulter. »Macht bitte Blutdruck und EKG!«

Heike spürte, wie ihr wieder eine Maske auf das Gesicht gedrückt wurde. Verschwommen nahm sie eine junge Frau im weißen Kittel wahr. »Das wird Ihnen helfen. Atmen Sie ganz tief ein und aus.«

Die junge Frau behielt recht. Kaum füllte der Sauerstoff Heikes Lunge, begann auch ihr Kopf wieder zu funktionieren. Verdammt. Jetzt, da ihre Gedanken wieder klarer wurden, wurde ihr auch bewusst, was passiert war. »Ich werde gehen«, hatte Jochen gesagt. Im nächsten Moment war sie gefallen und weg gewesen

Sie spürte, wie ihr die Krankenschwester etwas Kaltes auf ihrer Haut verteilte, was sie noch ein Stück mehr in die Wirklichkeit zurückholte. Dann befestigte sie mit routinierten Griffen die EKG-Elektroden. Gleich darauf erklang ein gleichmäßiges Piepen. Als Nächstes schob sie ihr die Blutdruckmanschette über den Arm und pumpte sie auf.

»Hundertvierzig zu fünfundneunzig« hörte sie die Frauenstimme sagen.

»Das sieht schon mal ganz gut aus.« Ein weiteres Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf. Augenscheinlich der Arzt. »Frau Berger, Ihr Blutdruck ist ein wenig hoch, aber stabil, Puls und Atmung sind normal, das EKG unauffällig. Hatten Sie so etwas schon öfter?«

Heike schüttelte den Kopf.

»Gut. Haben Sie irgendwelche anderen Erkrankungen?«

»Nein.« Heike hörte, wie heiser sich ihre Stimme anhörte.

»Nehmen Sie Medikamente?«

»Nein.«

»Haben Sie Kopfschmerzen?«

»Nein.«

»Schmerzen in der Brust oder im Rücken?«

»Nein.«

»Sie bekommen jetzt erst mal noch ein bisschen Sauerstoff und bleiben an der Überwachung. Ich komme später wieder zu Ihnen.« Der Arzt nickte kurz und verschwand dann. Die Krankenschwester legte Heike die Hand auf die Schulter. »Ich bin gleich nebenan. Okay?«

Heike nickte. Der Sauerstoff hatte ihren Kopf wieder auf Touren gebracht. Sie versuchte, gleichmäßig und tief zu atmen.

Ich werde gehen. Dieser Satz aus Jochens Mund war die Spitze eines Berges, der sich über einige Jahre aufgetürmt hatte. Aber anstatt ihren Mann zu fragen, wie er sich das überhaupt vorstelle – mit dem Haus, mit den Kindern, mit ihr –, hatte es Heike blitzschnell in einen tiefen dunklen Abgrund gerissen. Das Gefühl, das sie überkommen hatte, als Jochen diese drei Worte ausgesprochen hatte, war schlichtweg grausam gewesen. Ich werde gehen – das ließ keinen Zweifel und auch keinen Spielraum zu, das hatte sein Tonfall mehr als deutlich gemacht. Heike hatte wie vom Donner gerührt dagestanden, eine Plastikdose mit Nudelsalat in der Hand. Dann waren wie in einem dieser Horrorfilme plötzlich die Wände ihres Hauses in sich zusammengefallen, und ein schwarzer Abgrund hatte sich um sie herum aufgetan. Jetzt lag sie da und atmete durch eine Maske. Einige schmerzende Stellen an ihrem Körper sagten ihr zudem, dass sie ziemlich unsanft auf dem Küchenboden aufgeschlagen sein musste.

»Mist!«

»Bitte?« Der Kopf der Schwester tauchte im Türrahmen auf ihr auf. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, es geht so langsam wieder«, hörte Heike sich mit heiserer Stimme sagen. Doch das war eine Lüge. Gar nichts war in Ordnung. Obendrein hatte sie den Augenblick verpasst, ihrem Mann gehörig die Meinung zu sagen. Wie konnte er nur! Nach all den Ehejahren hatte sie doch zumindest eine Erklärung verdient. Ach was, er hätte längst mit ihr darüber sprechen sollen, was ihn unzufrieden machte, statt hinter ihrem Rücken Pläne für seine Zukunft zu schmieden. Eine Zukunft ohne sie. Am liebsten wäre sie zurückgekehrt in die schwarze Stille, in der sie versunken war, denn dort war es ruhig und friedlich, im Gegensatz zu dem, was sie als Nächstes im Leben erwarten würde.

Passenderweise deutete die junge Schwester in Richtung Tür. »Ihr Mann wartet draußen … soll ich?«

»Nein!« Heikes Antwort war wohl etwas heftig ausgefallen, denn die Schwester sah sie erschrocken an, und das EKG-Gerät gab ein lautes Piepen von sich.

Heike hob matt eine Hand und schüttelte den Kopf. »Nein, ich hätte gerne noch einen Augenblick für mich.«

»Natürlich. Er hat nur schon mehrmals nach Ihnen gefragt.« Sie trat näher. »Ich messe noch Ihren Blutzucker. Setzen Sie sich bitte auf. Geht es?«

Heike versuchte, sich auf der Behandlungsliege hinzusetzen. Im nächsten Moment kam der Arzt auch schon wieder hinzu. Heikes Kopf wehrte sich einen Herzschlag lang gegen die aufrechte Haltung, aber nachdem sie mehrmals tief durchgeatmet hatte, legte sich der Schwindel.

»Ja, so ist gut.« Der Arzt nickte ihr wohlwollend zu. »Bleiben Sie einfach noch einen Augenblick so sitzen. Die Schwester misst jetzt Ihren Blutzucker. Haben Sie vielleicht zu wenig gegessen heute?« Er leuchtete ihr mit einer kleinen Lampe in die Augen.

»Kaffee, ich hatte einen Kaffee heute Morgen.«

»Na, das ist ja nicht viel – vielleicht haben wir das Problem damit auch schon gefunden. Frau Lohman, gleich kommt noch ein Autounfall rein, und der Dachdecker in der Fünf muss zum Eingipsen.« Er sah wieder zu Heike. »Frau Berger, wir können Sie gerne zur Überwachung auf die Station überweisen und noch einige Tests machen.«

Heike strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich – ich würde gerne nach Hause. Ich fühle mich wieder ganz gut. Ich glaube, das war eine einmalige Sache.«

Der Arzt sah sie abschätzend an. »Nun gut. Ihre Werte sind alle im Normalbereich, den leicht erhöhten Blutdruck sollten Sie bitte mit dem Hausarzt abklären. Sollte Ihnen aber übel oder schwindelig werden, suchen Sie bitte umgehend einen Arzt auf.«

Heike nickte. »Danke, das werde ich.« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich hatte sehr viel Stress heute.«

Der Arzt nickte verständnisvoll. »Ihr Blutzucker ist etwas niedrig. Vielleicht gehen Sie einfach vorne in die Cafeteria und trinken eine Cola und essen einen Happen. Gute Besserung!« Damit eilte er zum nächsten Patienten.

Die Schwester pflückte ihr die Elektroden vom Körper und reichte ihr ein Tuch. Heikes Blick fiel auf die Abdrücke auf ihrer Haut, sie wischte die Reste vom Gel ab.

»Heike?« Jochen steckte den Kopf durch die Tür, er schien nicht mehr warten zu wollen. »Kann ich reinkommen?«

Bevor Heike etwas sagen konnte, hatte die Schwester auch schon genickt, und Jochen stand neben der Liege.

»Alles gut? Mann, hast du mir einen Schrecken eingejagt.« Er legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter.

»Lass das.« Heike wand sich unter seiner Hand weg.

Die Schwester ließ den Blick zwischen ihnen hin und her schnellen. »Herr Berger, Ihre Frau möchte auf eigenen Willen entlassen werden. Sollten irgendwelche Probleme auftreten, kommen Sie bitte umgehend wieder her oder wählen den Notruf.«

Jochen zog die Stirn in Falten und sah Heike an. »Denkst du nicht, es wäre besser, wenn du noch hierbleibst?«

Heike ignorierte ihn. Sie knöpfte sich die Bluse zu, stand auf und straffte sich. Kein Schwindel, das war schon mal gut. Rasch bedankte sie sich bei der Schwester und wandte sich zum Gehen.

Jochen eilte ihr hinterher und bot ihr den Arm als Stütze.

»Geht schon«, sagte sie. »Der Arzt hat gemeint, ich soll eine Cola trinken und einen Happen essen. Ich gehe erst mal in die Cafeteria.« Heike behagte der Gedanke nicht, mit Jochen allein in ihrem Haus in Buckhorn zu stehen. Sie brauchte noch etwas Zeit, sich zu sammeln.

Im Gang der Notaufnahme stauten sich die Rettungsliegen, Schwestern wuselten um die Patienten herum und kümmerten sich um sie. Heike fühlte sich in Anbetracht dessen ziemlich fehl am Platz mit ihrem kurzen, wenn auch heftigen Schwächeanfall. Obwohl ihr in Jochens Gegenwart gleich wieder etwas wackelig zumute war, wollte sie hier auf keinen Fall irgendeinen Platz belegen, der dringender gebraucht wurde. Also folgte sie den Hinweisschildern zur Cafeteria.

Wenige Minuten später saß sie auf einem harten Holzstuhl an einem weißen Kantinentisch, um sie herum Patienten, von denen einige Infusionsständer vor sich her schoben, und Besucher. Der Geräuschpegel war recht laut. Jochen hatte ihr eine große Cola geholt und vor ihr abgestellt. Beinahe zögerlich nahm er nun ihr gegenüber Platz. Heike griff mit der einen Hand nach dem Cola-Glas, mit der anderen rieb sie sich die Schläfe. Sie bekam ihre Gedanken einfach nicht sortiert. Tausend Dinge rauschten ihr durch den Kopf.

Wie stellte Jochen sich das nur vor?

»Tut dir sonst irgendwas weh?«, fragte er besorgt. »Ich meine … die müssen dich vielleicht röntgen … oder du hast eine Gehirnerschütterung? Oder …«

Heike sah ihn bitterböse an. »Nein, Jochen. Bis auf die Tatsache, dass mein Mann mir vorhin mitgeteilt hat, mich nach fast achtundzwanzig Jahren Ehe einfach so mir nichts, dir nichts zu verlassen – alles gut.«

»Heike … lass uns bitte ganz in Ruhe darüber sprechen. Es tut mir leid, wenn ich dich damit überfallen habe.« Er bekam einen hilflosen Gesichtsausdruck. »Aber ich dachte … ich meine … wir haben uns in den letzten Jahren so auseinandergelebt … Du bist immer noch meine beste Freundin und Vertraute … aber … Und ich will auch keinen Streit.«

Heike hob die Hand. »Lass uns das bitte zu Hause besprechen, nicht hier.« Sie horchte zaghaft in sich hinein. Anstelle des schwarzen Nichts, das sich vorhin aufgetan hatte, fühlte sie sich recht ruhig und gefasst.

»Gut. Ich … ich hol dann mal den Wagen. Vorhin war alles zugeparkt, ich stehe ein ganzes Stück entfernt. Warte hier auf mich, ja?« Er machte Anstalten aufzustehen.

»Ja, mach das.«

Heike sah ihm nach und trank einen Schluck von der Cola. Jochen trug eine helle Baumwollhose, ein hellblaues Hemd und einen dunkelblauen Pullover um die Schultern. Er sah recht sportlich aus, fiel ihr mit einem Mal auf. Früher war er eher der gediegene, unauffällige Ehemann gewesen, jetzt hatte er einen kurzen Vollbart, trug anstelle von T-Shirts bunte Polohemden, auf denen meist irgendein schnörkeliger Schriftzug stand, der Wörter wie »Surf«, »Sail« oder »Race« beinhaltete und an deren Knopfleiste zu allem Überfluss von März bis Oktober auch noch eine Sonnenbrille baumelte. Er hatte seinen praktischen Familienkombi vor einem Jahr gegen einen sportlichen Zweisitzer ausgetauscht und ging allen Ernstes inzwischen gerne und oft auf Partys. Sie wohnten noch im selben Haus und schliefen nebeneinander im Ehebett. Das war aber auch das Einzige, was von der ehemaligen Familie Berger übrig war. Heike hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war, der in ihrem Haus lebte. Aber der Jochen, in den sie sich einst verliebt und den sie geheiratet hatte, war es nicht. Heike musste sich die Hand auf den Mund pressen, um jetzt hier in der Cafeteria des Krankenhauses nicht laut zu schluchzen. Es hatte vor gut drei Jahren angefangen, dass Jochen sich so verändert hatte. Heike wusste nicht, was der Auslöser gewesen war, und sie hatte auch nicht danach gefragt. All die Zeit hatte sie versucht, wieder einen Draht zu Jochen zu bekommen. Hatte für ihn gekocht, hatte ihn ermuntert, doch mal etwas mit ihr gemeinsam zu unternehmen. Aber wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie sich eingestehen, dass sie einfach nicht mehr an ihn herangekommen war.

Heike hatte zunächst nicht wahrhaben wollen, dass sich ihr Leben veränderte. Dass die Kinder aus dem Haus waren und ihre eigenen Wege gingen, war schon schwer genug gewesen. Als dann aber die Veränderungen bei Jochen einfach zu offensichtlich geworden waren, hatte Heike sich doch Sorgen gemacht. Er war ein guter Familienvater gewesen, und sie war davon ausgegangen, dass es nicht anders werden würde, wenn sie Großeltern waren. Doch während Heike die Stille im Haus betrauerte und sich nach ihrem Enkel sehnte, nahm Jochen die Gelegenheit beim Schopf und konstruierte sich ein neues Ich und gleich auch noch eine ganz neue Lebensart dazu. Dass sie beide sich dabei immer mehr voneinander entfernt hatten, hatte ihn nicht gestört. Sie hatten nie gestritten – aber so richtig Liebe war das auch nicht mehr zwischen ihnen.

Jochen kam zurück und strich sich kurz über die schwarzen Haare. Deutlich zu schwarz für sein Alter, dachte Heike. Im Gegensatz zu ihr ließ er sich seine grauen Haare regelmäßig färben. Noch so etwas, was sie nicht verstand. Es war doch keine Schande, älter zu werden.

»Der Wagen steht draußen im Halteverbot«, sagte Jochen und half ihr auf.

Heike seufzte in sich hinein. Sie würde sich dem, was nun kam, sowieso stellen müssen. »Gut – fahren wir.«

Kapitel 2

Auf dem Rückweg starrte Heike aus dem Autofenster. Sie hatten es nicht weit von Wandsbek über Sasel nach Buckhorn. Die Häuser aus rotem Klinker zogen an ihr vorbei. Hier und da erblickte sie die Beine von Passanten und ab und an auch mal einen Hund an der Leine – mehr konnte sie aus dem flachen Sportwagen heraus kaum erkennen. Heike wusste nicht, was Jochen an dem Ding fand, es war unbequem und unpraktisch. Sie selbst fuhr einen Kombi, da passte alles rein, man saß bequem und fühlte sich nicht wie in einer Sardinenbüchse. Mit einem schnellen Blick sah sie zu Jochen, dieser starrte beharrlich geradeaus.

Es war inzwischen Abend geworden, die Straßen, die aus Hamburg hinausführten, wie üblich verstopft. Heike war vor einunddreißig Jahren hierhergezogen. Jung und glücklich, dem beschaulichen Leben in dem kleinen Dorf bei Lüneburg, wo sie aufgewachsen war, zu entkommen. Damals studierte sie Betriebswirtschaft und lernte in ihrem zweiten Jahr in der Großstadt auf einer Party Jochen kennen. Schnell verliebten sie sich ineinander, er war so charmant und gleichzeitig auch bodenständig. Schon bald nach ihrem ersten Kennenlernen verbrachten sie jede freie Minute miteinander, besuchten Kneipen und Konzerte, kochten und lachten zusammen. Jochen zeigte Heike jede Ecke von Hamburg, ob Elbstrand oder Hagenbecks Tierpark. Er hatte eine kleine Wohnung in Volksdorf, und Heike zog aus ihrer Studenten-WG zu ihm. Drei Jahre später heirateten sie. Jochen arbeitete schon damals bei Elbequell, einem kleinen, aber produktionsfreudigen Spirituosenhersteller. Oft neckten ihre Freundinnen sie, dass Jochen deswegen wohl so ein lustiger Geselle war. Auf Partys stand er gerne im Mittelpunkt und sorgte auch meist dafür, dass die Bar nie leer wurde. Aber zu Hause war er überhaupt kein Draufgänger. Da saß er gemütlich mit ihr auf dem Sofa, sah mit ihr Filme an, oder sie kochten zusammen.

Aus seiner Arbeit bei Elbequell wurde mit den Jahren sein Leben. Er arbeitete sich hoch und war seit mehr als einem Jahrzehnt die rechte Hand von Gustav Hollenberger, seinem Chef. Natürlich war Heike immer froh darüber, dass Jochen einen so guten Job hatte. Das hatte ihnen viel ermöglicht – nicht zuletzt die Freiheit, dass sie zu Hause bleiben konnte, als die Kinder kamen.

Heike lehnte den Kopf gegen die kühle Autoscheibe. Wann hatte ihr Leben wohl einen Knick bekommen? Sie wusste es nicht. Irgendwann, als die Kinder größer geworden waren, hatte sie durchaus bemerkt, dass Jochen und sie sich nicht mehr so nah waren wie noch als junges Ehepaar. Als die Kinder dann aus dem Haus gegangen waren, hatte sie oft mit ihrer Einsamkeit gekämpft, sich aber eingeredet, das sei normal. Vielen Frauen ging es so, wenn das Nest sich leerte. Aber war es das – normal? Hätte ihr Mann ihr in jener Zeit nicht vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit schenken müssen? Oder sie ihm?

Der Motor des Sportwagens heulte auf, als Jochen Gas gab. Die Straße vor ihnen wurde nun freier. Heike fühlte sich plötzlich müde und unendlich alt.

Wenig später erreichten sie ihr Ziel. Das Haus in der beschaulichen Siedlung in Buckhorn, im grünen Speckgürtel der Stadt, hatten sie nach der Hochzeit bauen lassen. Damals war Heike bereits mit Jenny schwanger gewesen. Inzwischen war das Haus alles andere als modern. Aber die Bäume neben den Parkbuchten, die vor dreißig Jahren noch von dicken Pfählen hatten gestützt werden müssen und von denen Heike damals einen aus Versehen mit ihrem Kleinwagen umgefahren hatte, waren hoch und kräftig und ließen jeden Herbst unendlich viel Laub auf den Gehweg und in den Vorgarten fallen. Das einst rote Dach ihres Hauses hatte mit der Zeit eine grüne Patina bekommen, und auch der weiße Klinker zeigte hier und da Altersflecken. Dennoch war es ihr Zuhause.

Jochen parkte den Wagen unter dem Carport neben Heikes Kombi. Es war inzwischen fast dunkel, und die Straßenbeleuchtung war an.

»Soll ich dir helfen?«

Heike hatte schon die Tür aufgemacht und wand sich aus dem Fahrzeug. »Nein, geht schon«, sagte sie knapp, obwohl sie sich mit einem Mal ziemlich erschöpft fühlte. Sie wollte keine Hilfe von Jochen, nicht jetzt und vielleicht auch nie wieder.

Mit einem Klicken sprangen die Bewegungsmelder vor dem Haus an und spendeten Licht auf dem Weg zur Haustür. In der Küche brannte noch die Lampe über dem Herd, auf dem Fußboden vor der Arbeitsplatte lag die Plastikdose und daneben ein trauriges Häuflein Nudelsalat. Sie hatte, wie jeden Nachmittag, das Essen vorbereitet. Im Gegensatz zu Jochen arbeitete sie bloß vormittags und dies auch nur drei Tage in der Woche. Jochen hatte immer betont, dass sie dies nicht müsse, wenn sie nicht wolle, doch als Jenny und Kai in die Schule gekommen waren, war Heike zu Hause schnell die Decke auf den Kopf gefallen. Ihre Tätigkeit bei Behrs Autohandel war nicht besonders anspruchsvoll, sie kümmerte sich um die Buchhaltung, doch sie fühlte sich gebraucht und hatte zwei nette Kolleginnen. Dreizehn Jahre war sie schon da, und als sie nun in der Küche vor dem Nudelsalat stand, fiel ihr ein, dass sie dort gleich noch anrufen musste, um sich krankzumelden. So wohl, dass sie morgen arbeiten gehen könnte, fühlte sie sich nun doch nicht. Ganz in Gedanken versunken, riss sie ein paar Blatt von der Küchenrolle, bückte sich und wischte den Nudelsalat auf. Hier hatte sie vorhin gestanden, als …

»Hast du eine andere?«, entfuhr es ihr plötzlich. Mit den Küchentüchern in der Hand richtete sie sich wieder auf und drehte sich zu Jochen um, der etwas verloren in der Tür zur Küche stand.

»Nein!«, widersprach er heftig. »Nein, Heike, so ist das nicht. Lass uns … Lass uns bitte in Ruhe darüber sprechen. Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so überfallen habe, aber … aber ich musste es einfach loswerden.«

»Loswerden?« Heike stopfte die Papiertücher in den Mülleimer und steckte die Plastikdose in den Geschirrspüler. Nach Abendessen war ihr nicht mehr. Stattdessen nahm sie ein Glas aus dem Schrank und eine angebrochene Flasche Rotwein aus dem Kühlschrank. »Gut, reden wir.« Diesmal würde sie nicht in Ohnmacht fallen … Gott – was wohl die Nachbarn gedacht hatten, als vorhin der Krankenwagen angerauscht gekommen war? Hastig goss sie sich im Stehen ein Glas ein und leerte es in einem Zug.

»Denkst du, das ist gut jetzt?« Jochen sah sie besorgt an.

Heike hob nur die freie Hand und hielt sie abwehrend vor sich. »Spiel mal nicht den besorgten Ehemann.«

»Aber ich bin besorgt! Du bist vorhin umgefallen wie ein Baum. Ich habe mich zu Tode erschrocken … hätte ja was Schlimmes sein können.« Er hob die Hände.

»Schlimmer als ›Ich verlasse dich‹?«

»Das habe ich so nicht gesagt!«

»Ach, komm – so habe ich das aber sehr wohl verstanden.«

»Lass uns bitte wie zwei erwachsene Menschen darüber reden.« Er deutete in Richtung der Sofas.

Heike zuckte die Achseln und ging mit ihrem Glas und der Weinflasche in das Wohnzimmer, das nur durch den Essbereich von der Küche getrennt wurde. Dort setzte sie sich auf das helle Sofa, von dem aus sie einen Blick in den Garten hatte. Jochen nahm ihr gegenüber Platz, stützte die Ellenbogen auf die Knie und knetete nervös die Hände.

»Wenn dir komisch wird … dann sag Bescheid … Wir … wir müssen das jetzt nicht …«

Heike winkte ab. »Doch, doch … wir müssen, genau hier und jetzt. Also, was um Himmels willen ist in dich gefahren?« Auffordernd sah sie Jochen an. Er war ihr plötzlich so fremd, obwohl sie sich doch so gut kannten.

»Bernd will seinen Posten aufgeben, und ich habe mich dazu entschieden, ihn zu übernehmen.«

Bernd Krause arbeitete seit zehn Jahren auf Mallorca, selbstredend eines der absatzstärksten Gebiete für einen Hersteller alkoholhaltiger Getränke. Daher unterhielt Jochens Arbeitgeber seit jeher einen festen Posten für Marketing und Verkauf auf der Insel. Aber nie – nie! – hatte Jochen angedeutet, dass dies ein Job wäre, den er gern hätte. Und jetzt wollte er plötzlich nach Mallorca auswandern? Ein neues Leben beginnen? Ohne sie?

Als Heike schwieg, verzog Jochen kurz die Mundwinkel. »Hollenberger, na ja, der hat mir den Job angeboten. Er braucht einen fähigen Mann vor Ort, die Konkurrenz schläft nicht.«

»Und das möchtest zukünftig du sein?« Heike nahm einen tiefen Schluck von ihrem Wein.

Jochen wand sich. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … aber guck doch mal. Wir leben hier total festgefahren.«

»Bisher hat dich das aber nicht gestört?«

»Doch, hat es, schon seit einiger Zeit. Das Haus, die Kinder, ja, das war ein wichtiger Abschnitt unseres Lebens. Aber jetzt … Jenny ist in Schweden, Kai in Köln, und wir … wir dümpeln hier so vor uns hin.«

Heike schnaufte. »Na, ganz alleine bin ich da aber nicht dran schuld!«

Jochen hob abwehrend die Hände. »Das sage ich doch auch gar nicht. Aber denkst du nie daran, was noch alles auf einen wartet? Was man verpasst hat? Noch erleben könnte? Ich meine … das kann doch jetzt nicht alles gewesen sein?« Seine Stimme bekam einen leicht verzweifelten Unterton.

Heike hob die Schultern. »Ich dachte, du wärst glücklich, so wie es ist.«

»Glücklich? Ich bin zufrieden, ja. Aber … hast du nie das Gefühl, dass irgendetwas fehlt?«

»Die Kinder?« Heike goss sich Wein nach. Ja, die Kinder fehlten ihr. Aber sonst? Sie sehnte sich nicht nach Veränderungen und Abenteuer, sie war zufrieden mit dem, was sie hatte. Zufrieden … das war Jochen auch. Aber glücklich? Finn hatte sie glücklich gemacht, ihr Enkel.

»Nein«, meinte Jochen in ihre Gedanken hinein. »Mir geht es nicht um die Kinder. Ich meine, natürlich fehlen sie mir. Aber sie sind inzwischen alt genug und müssen ihren eigenen Weg gehen. Ich meinte, dass bei uns irgendwas fehlt …«

»Sex?«

»Heike!«

»Ich weiß nicht, was dir fehlt, Jochen. Bis heute Nachmittag habe ich noch gedacht, unser Leben wäre so weit in Ordnung.« Heike stand auf und wanderte ein paar Schritte im Wohnzimmer hin und her, bemüht, ihre Stimme nicht zu laut werden zu lassen. »Dann kommst du nach Hause und eröffnest mir, dass du mich verlassen wirst. Um nach Mallorca zu gehen. Ohne mich. Oder habe ich da jetzt etwas falsch verstanden?«

Jochen senkte den Blick, schwieg und schüttelte den Kopf.

»Also. Entschuldige, dass mich das aus den Socken gehauen hat.«

»Ich möchte einfach nicht so weitermachen.« Seine Stimme klang jetzt kleinlaut. »Ich bin doch erst vierundfünfzig. Wie ich schon sagte … Das kann doch jetzt nicht alles gewesen sein. Arbeiten, Rasen mähen, Fernsehen gucken …«

»Das ist doch Schwachsinn. Du mähst keinen Rasen, und abends kommst du so spät nach Hause, dass du fürs Fernsehgucken viel zu müde bist …« Heike setzte sich wieder hin.

Jochen schüttelte den Kopf. »Heike, wir leben hier in einer schmalen Einbahnstraße. Es ist doch inzwischen jeden Tag der gleiche Trott.«

»Du bist doch ständig unterwegs – reicht dir das nicht als Abwechslung?« Sie beobachtete seine Reaktion genau, doch wie zuvor wirkte er nicht so, als wollte er etwas verheimlichen. Es wäre wohl zu einfach gewesen, wenn er eine andere gehabt hätte.

»Ich bin halt gerne unter Leuten. Dass das nicht so deins ist, dafür kann ich ja nichts.«

»Jochen, du treibst dich auf Partys mit schräger Musik rum wie … wie … ein Hipster oder so. Wir sind über fünfzig, da geht man doch nicht mehr auf solche Partys! Außer man holt eins seiner Kinder ab oder … Ach was weiß ich.«

»Und wer sagt, dass man mit über fünfzig keinen Spaß mehr haben darf?«, begehrte Jochen auf. »Wenn du lieber zu Hause hockst, nun gut. Aber ich mag das, ich tanze auch noch gerne.«

Heike prustete. »Du und tanzen.«

Jochen verzog das Gesicht, offenbar hatte sie ihn verletzt. »Ist ja auch egal«, meinte er. »Aber hier in der Gegend ist doch nichts los. Ich habe keinen Bock auf Skatspielen mit Krämers.« Er deutete mit der Hand vage in Richtung Nachbarhaus.

Krämers wohnten dort fast ebenso lange wie sie, waren allerdings gut zehn Jahre älter. Nette, ruhige und hilfsbereite Nachbarn. Heike konnte nichts Schlechtes über sie berichten, und ja – sie ging gerne einmal im Monat rüber zu Doris und Ralf zum Skat. Es machte ihr Spaß.

Jetzt schlug Jochen sich mit den Händen auf die Knie. »Es ist letztendlich auch egal. Heike – ich tue das für uns beide. Ich werde nach Mallorca gehen, und du … du solltest deinem Leben auch wieder etwas mehr Sinn geben.«

»Mein Leben hatte bis vorhin noch Sinn«, murmelte sie und starrte niedergeschlagen in ihr leeres Glas.

»Ich mache das wirklich für uns. Ich will einfach nicht, dass wir so enden wie …« Er schluckte den Rest des Satzes hinunter.

»Wie wer?« Heike sah ihn misstrauisch an.

»Du weißt ›wie wer‹!«

»Meine Eltern sind Rentner!«, gab Heike zurück. »Was soll das?! Die beiden haben nun wirklich nichts mit deiner Entscheidung zu tun.«

»Acht Uhr Frühstück, danach die Tageszeitung bis neun Uhr dreißig. Zehn Uhr irgendein Arzttermin, Fußpflege oder Friseur. Dreizehn Uhr Mittagessen. Vierzehn Uhr Mittagsschlaf. Sechzehn Uhr Kaffee und ein Törtchen. Achtzehn Uhr Abendbrot. Zwanzig Uhr fünfzehn Fernsehen. Zweiundzwanzig Uhr Licht aus.« Er schlug die Hände auf seine Schenkel und richtete sich auf. »Merkst du was? Die machen das jetzt seit fünfzehn Jahren so. Seit damals hängen sie zu Hause rum und schlagen die Zeit tot. Wobei, nein, ich korrigiere: Einmal im Jahr machen sie für zehn Tage Urlaub auf Usedom. Bevorzugt vom fünfzehnten bis fünfundzwanzigsten August.« Er sah sie vorwurfsvoll an. »So will ich auf keinen Fall enden.« Jetzt stand Jochen auf und strich sich über die Haare. »Heike – wie ich vorhin schon sagte, ich will keinen Streit, und du bist auch immer noch meine beste Freundin, ich liebe dich auch noch irgendwie … Es ist nur einfach nicht mehr so wie früher, und wenn wir jetzt nichts an unser beider Leben ändern, dann werden wir in einem ähnlichen Gleichmut alt und grau werden wie deine Eltern und … nein.«

»Pfff, das hört sich ja glatt so an, als wolltest du mir einen Gefallen tun.«

»Vielleicht tue ich das sogar. Wer weiß. Ich jedenfalls gehe hier ein, wenn wir so weitermachen.«

»Aber …« Sie sah Jochen hoffnungsvoll an. »Hast du nicht vielleicht mal überlegt, wie wir das gemeinsam schaffen könnten?«

Jochen schwieg einen Moment. In Sekundenschnelle ging Heike die Möglichkeiten durch. Sah sich selbst auf Mallorca das neue Haus einrichten, im Garten arbeiten … Aber das war doch gar nicht, was sie wollte … Und was Jochen anging, so ging der ihr sowieso aus dem Weg. Heike wusste somit, wie seine Antwort ausfallen würde.

»Nein. Ich glaube, seit die Kinder aus dem Haus sind, gibt es bei uns kein ›wir‹ mehr. Sieh uns doch an. Wir leben zwei unterschiedliche Leben, zwar unter demselben Dach, aber … einfach nicht mehr auf der gleichen Wellenlänge.«

Heike sah ihn jetzt unverhohlen an. Wenn sie ehrlich war, hatte sie das ein oder andere Mal in den letzten Jahren durchaus die Befürchtung beschlichen, dass ihre Ehe den Bach runterging. Aber dass es so enden würde, so sang- und klanglos …

Sie spürte in sich hinein und staunte im nächsten Moment über sich selbst. Gut, sie hatte fast eine ganze Flasche Wein intus, jetzt irgendwie tat es gar nicht mehr so weh. Sie hatte ihren Jochen mal geliebt – aber wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hatte sie dem Polohemden-Mann mit seinem Sportwagen nichts abgewinnen können. Wenn er also meinte, sein Leben komplett umkrempeln zu müssen.

»… wenn du dir also sicher bist, deine Familie verlassen zu müssen, dann bitte.«

»Familie … Wach auf, Heike, guck dich mal um. Unsere Kinder kommen längst ganz gut ohne uns aus. Deine Eltern leben ihr Leben in Lüneburg, und was meine Eltern angeht …« Er stockte kurz. »Wir sind hier alleine, Heike – und das bedeutet, es wäre jetzt mal an der Zeit, sich um sich selbst zu kümmern.«

Jochens Eltern waren beide vor Erreichen des Rentenalters gestorben. Wehte vielleicht daher der Wind?

War seine Sorge, irgendetwas im Leben zu verpassen, inzwischen übermächtig, weil er in Wahrheit Angst hatte, nicht so alt zu werden, wie die Statistik besagte? Heike fühlte sich plötzlich unermesslich leer.

»Und was passiert mit alldem hier? Den Kindern? Dem Haus? Mir?«

»Ich finde das Haus sowieso zu groß für uns allein. Wir sollten es verkaufen. Ich kann die Wohnung vom Bernd auf Mallorca übernehmen, und du … du könntest dir was schickes Kleines suchen. Natürlich bekommst du Geld, wenn wir das Haus verkaufen, und falls wir … na ja …«

»… uns scheiden lassen?«

Jochen atmete hörbar aus. »Falls es dazu kommt, teilen wir natürlich gerecht, und dir wird es an nichts fehlen. Ich … ich will dich auch nicht rauswerfen. Nur – würdest du hier allein weiterleben wollen?«

»Aber was, wenn Jenny oder Kai zurückkommen? Oder wenn du doch …« Sein Blick ließ sie den Rest des Satzes hinunterschlucken. Jochen hatte sich längst entschieden.

»Von den Kindern will doch keines mehr hier einziehen. Heike, das ist genau das, was ich meine. Du klammerst dich zu sehr an vergangene Zeiten. Die Kinder sind längst groß, und wir – wir sind frei. Es ist nicht unsere Aufgabe, bis an unser Lebensende ein Bett für die beiden bereitzuhalten. Und außerdem sind wir ja nicht aus der Welt. Sie können mich jederzeit besuchen kommen. Und du natürlich auch. Ich werde immer ihr Papa bleiben und auch Finns … Opa.«

Obwohl Heike bis ins Mark erschöpft war und der Wein sein Übriges tat, wurde ihr plötzlich schlagartig klar, wann Jochens Veränderung angefangen hatte. Die Art, wie er dieses Wort aussprach, öffnete ihr die Augen. Es war an dem Tag gewesen, an dem Finn das erste Mal Opa gesagt hatte. Tags darauf war Jochen zum Friseur gegangen und hatte sich die Haare färben lassen. Es gab nichts mehr zu sagen.

»Ich muss noch bei Behrs anrufen, dass ich morgen nicht komme.« Heike ging in die Küche und suchte ihr Handy.

Kapitel 3

»Midlife-Crisis. Klarer Fall von Midlife-Crisis, Heike. Da musst du dir gar nichts vorwerfen. Das ist sein Ding, und da wirst du ihn auch nicht zurückhalten können.« Gabi goss einen Schuss Cognac in Heikes Kaffee. »Männer kriegen den zweiten Frühling, Frauen hingegen werden leider oft depressiv.«

Heike saß an Gabis kleinem Küchentisch. Die Wohnung ihrer Freundin lag im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses in Volksdorf. Sechzig Quadratmeter verteilt auf drei Zimmer, Küche, Bad. Quadratisch, praktisch, gut, sagte Gabi gerne. Die Küche war gerade eben groß genug, dass man zwischen dem Tisch mit beiden Stühlen und dem Herd durchpasste.

Vom Fenster sah man auf eine Hauptstraße. Gabi dekorierte gerne und opulent, und so fanden sich auf der Fensterbank neben pflegeleichten Grünpflanzen auch allerlei kleine Figuren. Elfen? Zwerge? Heike wusste es nicht genau, was die kleinen Wesen mit ihren Zipfelmützen darstellen sollten, die inmitten von Stoffblüten saßen oder unter Papierblumen standen. Manchmal erwischte Heike Gabi dabei, wie diese die winzigen Figuren ganz liebevoll hin und her rückte und ihnen zaghaft mit dem Finger über die Mützchen strich. Dann wurde Heike immer etwas schwer ums Herz. Gabi war keine eigene Familie vergönnt gewesen. Nach außen hin tat sie so, als würde ihr das nichts ausmachen, aber insgeheim war es wohl doch anders, zumindest an so manchem Tag.

Der Rest der Wohnung war eine bunte Mischung aus Reiseerinnerungen. An diesen hielt Gabi sich gerne fest und wurde nicht müde, ihre Sammlung Jahr für Jahr zu erweitern. Auch ihre Kleidung spiegelte ihre Routen wieder: bunte Kleider aus Spanien und Portugal, Wollpullover aus Norwegen und Sommerblusen aus Italien.

Gabi war ihre älteste und, wie sich Heike gerade in den letzten Wochen hatte eingestehen müssen, ihre einzige Freundin. Sie sahen sich heute allerdings zum ersten Mal nach dem verhängnisvollen Tag X, denn Gabi hatte genau drei Tage vor Jochens Eröffnung ein neues Kniegelenk bekommen und war vom Krankenhaus aus gleich in die Reha gegangen. Jetzt war sie wieder da, und Heike war erleichtert, sich endlich alles von der Seele reden zu können. Sie hatte ihrer Freundin zwar am Telefon einen kurzen Abriss der Geschehnisse gegeben, aber es war viel besser, sich Auge in Auge mit ihr zu unterhalten. Heike hatte die vergangenen Tage und Wochen damit verbracht, irgendwie zu funktionieren, hatte ihren Kummer abends gern mit einem großen Glas Wein betäubt und war am nächsten Morgen immer noch genauso ratlos gewesen, wie es mit ihr weitergehen sollte. Auf der Arbeit hatte sie sich krankgemeldet.

Jetzt hatte sie Gabi ihr Herz ausgeschüttet und fühlte sich wenigstens ein bisschen besser.

Allerdings machte Gabi gar nicht so ein Drama aus der ganzen Sache. Sie hatte eine ziemlich ernüchternde Art, mit derartigen Wendungen im Leben umzugehen. Dies wiederum verlangte Heike einiges an Beherrschung und der Flasche den einen oder anderen Cognac ab.

Gabi plapperte ungerührt weiter. »Bei Männern kommt das öfter vor, als man denkt. Der Peter von der Klarinette, aus Oldesloe … Der hat auch so was gebracht. Zack, hat alles aufgegeben und ist dann erst mal in so in Indisches … wie heißt das, Arschram?«

»Ashram!«

»Egal – wir standen plötzlich ohne Klarinette da. Bekomm mal mitten in der Spielzeit Ersatz … Auf jeden Fall kam Peter nach einem halben Jahr wieder, in einem bunten Nachthemd und reichlich erleuchtet, und gibt jetzt Yogakurse.« Gabi gackerte los.

Heike musste unwillkürlich schmunzeln. Eine Unterhaltung mit Gabi war wie eine erfrischende Dusche. Ihre Freundin war nicht nur von ihrer Art her ganz anders als Heike, sondern auch einen Kopf kleiner als sie, weißblond, etwas pummelig, und sie liebte auffällig bunte Klamotten. Wahrscheinlich ergänzten die beiden Frauen sich deshalb so gut. Sie hatten sich vor zwanzig Jahren in der S-Bahn kennengelernt. Gabi hatte dort mit ihrem großen Cellokoffer gesessen, und Kai, der damals gerade fünf Jahre alt gewesen war, hatte fasziniert auf das seltsame Gepäckstück geschaut. So waren sie ins Gespräch gekommen.

Heike blickte in ihre Kaffeetasse, sie fühlte sich mit einem Mal niedergeschlagen. »Jochen packt schon. Er will ein paar Möbel in seine neue Wohnung schicken und … Ach, Gabi, das Haus ist mit einem Mal so still und leer.«