Zusammenleben statt Zusammenrotten - Katja Johanna Eichler - E-Book

Zusammenleben statt Zusammenrotten E-Book

Katja Johanna Eichler

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Beschreibung

Dass kollektive Identitäten Konstrukte sind, wurde oft beschrieben. Auch dass diese verheerende Auswirkungen haben können, ist allzu bekannt. Und dennoch sind es meist abgegrenzte Gruppen, die uns ein Leben lang begleiten – von der Kita bis zum Job. Wir lernen so, dass es gut und wichtig ist, dazuzugehören, und üben die ständige Unterscheidung zwischen ›Wir‹ und ›Die‹ ein. Katja Johanna Eichlers Essay »Zusammenleben statt Zusammenrotten« ist die Einladung, ein zentrales Element sozialer Organisation kritisch zu betrachten und immer weiter »Warum?« zu fragen: Warum haben Gruppen eine so hohe Anziehungskraft? Warum identifizieren wir uns so gerne mit der Vorstellung homogener Kollektive? Als studierte Ethnologin macht sie sich auf die Suche danach, welche Kompetenzen wir heute fördern müssten, um morgen zu einer neuen Logik des Zusammenlebens in einer heterogenen Welt zu gelangen.

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Katja Johanna Eichler

Zusammenleben statt Zusammenrotten

Warum wir Gruppe und Identität neu denken sollten – eine Intervention

ISBN (Print) 978-3-96317-284-7

ISBN (ePDF) 978-3-96317-825-2

ISBN (ePUB) 978-3-96317-826-9

Copyright © 2022 Büchner-Verlag eG, Marburg

Coverillustration: Christina S. Zhu

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

Misfit – warum wir nicht mehr zu unserer Welt passenWhat a Difference a Human Makes …Identität – das ewige KarussellRecycling oder Upcycling – was tun mit dem Identitätsbegriff?»Lob dem Unreinen« – welchem »Unreinen«, Frau Emcke?Wir leben so, wie wir denken, und wir denken, wie wir sortierenMein Haus, mein Auto, mein Pool, meine OrdnungHygienevorschriften en vogue – die Covid-19-Pandemie und die soziale OrdnungWelche Ordnung überhaupt?Wie Menschen den Kosmos beziehenVon der Bären- und Fischegruppe über Gryffindor und Ravenclaw zu Baratheon und Lennister – die alte, uralte Leier und ihre neuen MythenForschende GroupiesGruppen – manchmal praktisch, meistens psychoMy Group is My Castle, My Holy Grail – von der Gruppe zum imaginären RaumExkurs: Instagram und Avicii – von Identitätspornografie und SakralitätFlatten the Groups – die (ungenutzte) Chance des LockdownsFür ein besseres ›Fit‹ – Konnektivitätsbewusstsein und SelbstverortungskompetenzSchluss: Wider das ZusammenrottenQuellenEndnoten

Misfit – warum wir nicht mehr zu unserer Welt passen

Einkaufen, Informieren, Reisen, Studieren, Essen, im Internet surfen und Musik hören? Gerne ohne Schranken! We walk this world … Sich identifizieren? Unbedingt in Grenzen! My group is my castle … Das passt nicht zusammen? Richtig! Und damit willkommen an ›Bord‹ dieses Essays.

Der Mensch möchte differenzieren, trennen und sich selber und andere über die so geschaffenen Zugehörigkeiten identifizieren. Nein, er möchte nicht, er muss. Sehr offensichtlich, denn nichts auf der Welt scheint das menschliche Zusammenleben seit jeher stärker zu prägen als die Identifikation über ein Gefühl der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit. So stark sich die Welt auch verändert – dieser Modus der menschlichen Selbstwahrnehmung und Sozialordnung scheint konstant zu sein und als etwas Gegebenes allgemein akzeptiert zu werden. Der vorliegende Essay macht sich auf den Weg, um diesem scheinbaren menschlichen Grundbedürfnis auf den Grund zu gehen und seine Zukunftsfähigkeit zu hinterfragen. Man kann diese Ordnung nach Zugehörigkeiten als einen »Mechanismus des ›Wir‹« bezeichnen, wie Tristan Garcia (2018) das tut, oder wie George Orwell (1945) von einem »Nationalismus im erweiterten Sinne« sprechen. Verbindend scheint zu sein, dass das Phänomen, von dem hier die Rede ist, mit »Gruppenhaftigkeit« in Verbindung gesehen werden muss, also mit sozialen Phänomenen, die durch Abgrenzung nach außen und eine innere Vernetzung charakterisiert sind.1, 2

Die Frage, worin dieses Phänomen wurzelt und welche Folgen es hat, damit werde ich mich hier beschäftigen und dabei von zwei Grundannahmen ausgehen: zum einen von der These, dass die Betonung von bzw. das »Sprechen über Gruppen« seit dem 19. Jahrhundert Gruppen als »Weltbewältigungsinstrument« etabliert hat (Etzemüller 2019/2020: 27). Will heißen, dass diese Strategie der Identifizierung über Zugehörigkeiten allgemein gesellschaftlich befördert und verstärkt wurde und noch immer wird. Dazu gehört auch »der moderne Aufstieg der Identität«, wie von Anthony Appiah (2019:13) diagnostiziert und von vielen Autor*innen beschrieben, so beispielsweise bereits 1991 in »Modernity and Ambivalence«3 von Zygmunt Bauman. Zum anderen ist das die sicher nicht unbegründete Annahme, dass die Globalisierung aufgrund zunehmender weltumspannender Vernetzung, Reise- und Migrationsbewegungen sowie der Digitalisierung weiter voranschreiten wird. Auf die Frage, ob Nationalstaaten politisch an Bedeutung verlieren werden oder nicht, gehe ich zwar nicht explizit ein, habe aber dennoch keinen Zweifel, dass deren Einfluss für das individuelle Handeln abnehmen wird – wobei sie in der Wahrnehmung von Menschen natürlich trotzdem eine anhaltende Bedeutung haben können.

Ich gehe also von der Annahme aus, dass der Mensch sich weiter und auch zunehmend grenzüberschreitend informieren, kommunizieren, lernen, konsumieren und bewegen wird. Aus diesen beiden angenommenen Bedingungen ergibt sich meines Erachtens ein enormes Spannungsfeld, das den Ausgangspunkt für meine Überlegungen darstellt. Dessen Ursprung liegt in einer Inkompatibilität der menschlichen Identitätsbildung über gruppen- und damit stark grenzbezogene Zugehörigkeiten und der Globalisierung der Lebenswelten: der Kauf einer Jeans, eines Handys oder einer Mango, die Nutzung von Google, Facebook, Twitter, die direkte oder indirekte Inanspruchnahme von Handwerker*innen, Erntehelfer*innen und Putzkräften aus einem anderen EU-Land, die Rezeption von Corona-Infektionszahlen aus der gesamten Welt, das Live-Mitverfolgen der US-Wahl oder des Hurricanes vor den Philippinen oder die Buchung eines Urlaubs auf den Seychellen: Während Menschen durch ihr alltägliches, verstärkt grenzüberschreitendes Handeln eine neue globale und damit eine immer heterogenere Lebenswelt befördern, stecken sie selbst noch immer in archaischen Fremd- und Selbstwahrnehmungssystemen bzw. Identifizierungsmustern fest. Diese können jedoch nicht länger funktionieren, denn die »über das globale Mediennetz vermittelte neue Vielfalt ermöglicht es, ja zwingt geradezu dazu, die eigene Selbst- und Weltdeutung vor dem Hintergrund vieler anderer Deutungen zu spiegeln und zu relativieren« (Eickelpasch, Rademacher 2013: 8). Darüber hinaus intensiviert sich die analog erlebbare Vielfalt, die durch Flucht und Migration entsteht, globale Bewegungen, die auch keine Pandemie aufhält. Und diese bringt ›den Fremden‹ – zu dieser Kategorie unten mehr – in unseren Alltag, der, so Bauman, »den Einklang zwischen physischer und psychischer Distanz [stört]: Er ist physisch nahe, während er geistig fern bleibt. Er bringt die Art von Differenz und Andersheit in den inneren Kreis der Nähe« (2016: 89, Hervorh. im Original). Und das ist hart, denn es wirft uns auf die grundlegenden Wahrheiten und Fragen der Menschheit zurück. Diesen auszuweichen, mag zwar kurzfristig betrachtet ein Einfaches sein: Mit Shopping, Reisen, Medienkonsum lassen sich sehr effektiv unbequeme Gedanken fernhalten, gesellschaftlich jedoch geschieht dies auch durch ein übertriebenes Festhalten an Traditionen und Ismen – wobei hier der Nationalismus oder ein bürgerlicher Konservatismus ebenso gemeint sein kann wie ein übertrieben nach außen getragener weltmännischer Kosmopolitismus. Auch wenn es im Blick auf die Auswirkungen in der Gesellschaft natürlich nicht egal ist, in welche Richtung die Ablenkungsmanöver streben – es eint sie dennoch ein Wunsch nach »konturierten Verhältnissen« (Reuter 2002: 237), der seinen Ursprung eben nicht in der »Fragwürdigkeit des Anderen«, sondern in dem »problematisch gewordenen Eigenen« hat (ebd.).

Die Welt leidet unter dem Status quo der selbst geschaffenen Lebensbedingungen und das zeigt sich auch an der Haltung zur Globalisierung: Yes, we can – no, we can’t! Wir wollen sie, wir leben sie, aber wir können sie nicht aushalten. Zu den verheerenden Folgen dieser Unvereinbarkeit gehören die global aufblühenden Nationalismen und die zunehmenden Trennlinien, die innerhalb von Gesellschaften gezogen werden, sowie damit natürlich auch der aufblühende Rassismus. Diese Überlegung ist keinesfalls neu und wurde in Zusammenhang mit dem Nationalismus bereits von Adorno formuliert: »Das Klima […], das am meisten solche Auferstehung fördert, ist der wiedererwachende Nationalismus. Er ist deshalb so böse, weil er im Zeitalter der internationalen Kommunikation und der übernationalen Blöcke sich selbst gar nicht mehr so recht glauben kann und sich ins Maßlose übertreiben muss, um sich und anderen einzureden, er wäre noch substantiell«. Theodor W. Adorno hat diesen Satz in seinem sorgenvollen Aufsatz »Erziehung nach Auschwitz« im Jahr 1966 formuliert (2003: 5), aber er entbehrt auch heute nicht der Aktualität, wenn auch nicht in Bezug auf eine Blockbildung, sondern vor dem Hintergrund der Globalisierung – beides Prozesse, die aus kleinteiligen politischen Einheiten bzw. im Fall der Globalisierung aus begrenzten Handlungs- und Wahrnehmungseinheiten größere machen.

Ein weiterer Fingerzeig, dass dieser ›Misfit‹ zwischen menschlichen Fähigkeiten und Lebenswelt deutlich gespürt wird, ist die aktuelle Debatte um Identität und Identitätspolitik. Auch dieser aufgeregte und harsche Diskurs ist Ausdruck von Sorge. So eint die scheinbaren Kontrahenten im Grunde allesamt die verzweifelte Beobachtung der aktuellen Entwicklungen: der gesellschaftliche Zerfall durch neu geschärfte Trennlinien, eine »Fragilität« und »Zerbrechlichkeit«. Eine Analyse dieser Situation und was sie für Deutschlands »gesellschaftliche Mitte« bedeutet, findet man beispielsweise in der Studie »Verlorene Mitte, Feindselige Zustände« (Zick, Küpper, Berghan 2019). Die große Sorge, die Angst sowie die damit einhergehende Aufgeregtheit, Angespanntheit und insbesondere Ziellosigkeit der aktuellen Debatten schließlich werden im Folgenden auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt: Es gibt im Moment keine Vision davon, wie eine an die neuen globalen Rahmenbedingungen angepasste Gesellschaft funktionieren könnte, und vor allem nicht davon, welche Voraussetzungen der einzelne Mensch an sich in einer zunehmend entgrenzten Welt ausbilden müsste. Es existiert eine gesellschaftliche Wahrnehmung, dass in der Welt alles irgendwie nicht zueinanderpasst, aber es gibt keine Vorstellung davon, wie die Kompatibilität von Mensch und Welt verbessert werden könnte. Sehr stark diskutiert werden gemeinhin gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wenig bis gar nicht werden hingegen die menschlichen Voraussetzungen und Bedingungen beleuchtet, die scheinbar als ›gegeben‹ betrachtet werden. Eine grundlegende Debatte der diesbezüglichen Ursachen, quasi der menschlichen ›Software‹, fehlt. Dazu unten mehr.

Eines ist klar: Schnelle und einfache Antworten kann es nicht geben, sie darf es auch nicht geben. Vorschläge wie zum Beispiel den von Francis Fukuyama, »nationale Bekenntnisidentitäten auf den Gründungsideen der modernen liberalen Demokratie zu errichten« (2019: 195), oder die Aufforderung, Identität als Konzept einfach abzuschaffen, wie Rebekka Reinhard und Thomas Vašek in der Zeit fordern (Die Zeit 07/2019), sind Antworten, die aus der bereits geschilderten und gut nachvollziehbaren Sorge oder auch aus einer gewissen Genervtheit ob der lauten Debatten erwachsen. So richtig weiterhelfen tun sie nicht, denn wie die vielen anderen Beiträge in der Debatte vermitteln sie keine Idee, wie sich die Zukunft der menschlichen Identitätssozialisation alternativ gestalten könnte. Sie beschäftigen sich viel zu wenig mit dem Menschen an sich, dessen sozialen und mentalen Fähigkeiten, die ja die primären Bedingungen stellen bzw. Potenziale und Grenzen beschreiben, wie menschliches Leben in einer entgrenzten und undifferenzierten Welt friedvoll zu entfalten wäre. Es muss hierbei einen Schritt geben, der uns endlich von den Konzepten der Multikulturalität oder Interkulturalität wegführt, die retrospektiv betrachtet nicht anders denn als notwendige historische Übergangsmodelle zu bewerten sind. Sie können auch gar nichts anderes sein, da sie sich von der Vorstellung getrennter gruppenbezogener Identitäten nähren. Jede theoretische und praktische Arbeit, die auf diesen Konzepten basiert, trägt zu ebendiesen Trennlinien bei bzw. stärkt diese Denkart.

Wenn wir darüber hinauswollen, dann bewegen wir uns auf einem Terrain, von dem wir uns im Moment nicht vorstellen können, wie es sich gestaltet, wie es aussieht, wie es sich anfühlt. Wenn Fukuyama behauptet, dass wir uns nicht von Identität und Identitätspolitik lösen können (ebd.: 192), dann ist das erstens sehr kurzfristig gedacht, will heißen, es ist richtig, dass wir, so wie wir heute auf dem Planeten Erde leben, das vermutlich nicht mehr umsetzen können; und es ist zweitens bequem, weil wir uns ersparen, einen zentralen, Sicherheit versprechenden Faktor unseres Unterbewusstseins hinterfragen zu müssen. Es ist immer unbequem, Gewohntes loszulassen, kann in diesem Fall aber einen echten Mehrwert entwickeln. Insbesondere wenn man Appiahs These einbezieht, dass Identitäten ohnehin nichts weiter als Fiktionen darstellen, dass es »letztlich Lügen seien, die uns verbinden« (2019: 18). Schwierig ist es, weil diese »Lügen«, diese Bilder von Zugehörigkeiten fest in unserer Wahrnehmung ›verbaut‹ sind. Um es mit Welzers Worten zu sagen: Wir müssen unsere »mentalen Infrastrukturen umbauen« (2013: 64). Und das bedeutet eben, dass wir uns auf unbekanntes Terrain vorwagen müssen, um eine Perspektive zu entwickeln, die möglicherweise zukünftige Generationen weiterführen bzw. umsetzen werden. Garcia beschreibt diesen Prozess am Ende seiner Ausführungen über die Logik des »Wir« als eines trennenden Identitätselements so: »Die Erzählung bewegt sich hingegen voran. Schon wenn wir uns selbst erzählen, wie wir es bisher in diesem ganzen Buch getan haben, haben wir uns verändert. Wir haben die Vorstellung von uns selbst vorangebracht und sind nicht mehr für die reaktionären, modernen oder postmodernen Modelle unserer Identitäten aufnahmefähig. Nun bemühen wir uns schon um den nächsten Schritt. Was wäre normaler? Das politische Denken besteht im Bemühen um den nächsten Schritt, nicht in der Konzeption einer messianischen Gestalt des allerletzten Endes.« (2018: 286) Ulrich Kattmann wiederum stellt die Frage nach einer Überwindung von Rassismus und kommt zu dem Ergebnis, dass »die Frage der Menschen nach Identität und Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht gänzlich als ungebührlich abzuweisen« sei und dass es darum gehen müsse, »ein selbstbewusstes und selbstsicheres Verständnis von der eigenen Gruppe zu entwickeln«, um dem Bedarf nach feindlicher Abgrenzung entgegenzuwirken (2015: 6). Das ist sicherlich eine gute Herangehensweise für den Moment. Es kann jedoch nicht die Vision der Zukunft sein, denn gruppenbezogene Identität wird immer eine abgrenzende sein und deren Trennschärfe immer eine gefährliche Gratwanderung. Heißt: Es muss von Grund auf neu gedacht werden und dies sogar vom tiefsten Grund auf – man betrachte nur einmal die gängige, unhinterfragte Annahme, dass Menschen eben Gruppenwesen seien. Diese Hinnahme findet sich auch bei Appiah, der sich – vielleicht auch nur resignativ – auf die »Ansicht von Evolutionspsychologen« bezieht, die auf evolutionäre Anpassungsprozesse verweisen, bei denen sich Gruppen vermutlich als hilfreich zur Sicherung des Überlebens erwiesen (2019: 58).

Die erste Schlüsselfrage, die zu diesem neuen unerschlossenen Gebiet, einer neuen Logik führt, ist diejenige nach einer menschlichen Identität, die nicht in der Vorstellung von Zugehörigkeiten gründet. Damit müssen auch Grundlagen der sozialen Ordnung an sich infrage gestellt werden. Und ja: Sogar das Prinzip der Ordnung selbst muss unbedingt kritisch betrachtet werden. Das allein mag bereits befremdlich klingen, da man sich damit scheinbar gegen die menschliche Natur wendet, gegen ein menschliches Grundbedürfnis eben. Gemäß Zygmunt Baumans Auffassung stemmt sich ein solches Projekt insbesondere gegen das Streben des Menschen seit der Moderne, »Ambivalenz auszulöschen« – ein Versuch, der in einen ständigen Prozess der Konstruktion von Ordnung mittels Klassifizierungen und dem Setzen von Grenzen mündet (vgl. Bauman 2016: 15). Dabei ist eines klar: Jedes Ordnen und Klassifizieren produziert »Überbleibsel« (ebd.: 54). In einer Welt, die bald größtenteils aus Heterogenität, also insgesamt aus nicht zuzuordnenden »Überbleibseln« bestehen wird, ist das ein Problem. Können wir wirklich nicht anders? Oder müssen wir versuchen, unseren inneren Drang nach gruppenorientierter Zugehörigkeit besser zu verstehen? Ich meine: Ja, und zwar dringend. Mein Essay möchte zu einer Hinwendung zu dieser Zukunftsfrage motivieren.

Bauman betrachtet das »Ordnen« als »wesentlich eine rationale Aktivität, die mit den Prinzipien moderner Wissenschaft und, allgemeiner, dem Geist der Moderne in Übereinstimmung steht« (2016: 54) und beleuchtet auch deren dunkle Seiten. Ich möchte Baumans Perspektive ergänzen durch Aspekte, die von der Warte einer rein kognitiven oder rationalen Betrachtung nur schwer begreifbar sind.

Ein erster Schritt hin zu einem solchen tieferen Verständnis ist das Eingeständnis, dass der Mensch – auch die heutige moderne Spezies – nicht ausschließlich von rationalen, konkreten Bedürfnissen geleitet wird. Vielmehr bewegen sich diese auch im Rahmen von abstrakten Dimensionen, die in ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ordnungssystemen betrachtet werden müssen. Hierbei geht es um subtile bzw. unserem Handeln unbewusst zugrunde liegende Strukturen und Muster. In diesem Zusammenhang können ethnologische Grundlagentexte weiterhelfen. Insbesondere ist es lohnenswert, Arbeiten der Ethnologin Mary Douglas zu der sozialen Relevanz von Ordnungsvorstellungen und der Dichotomie Rein-Unrein wiederzuentdecken. Auch Gedanken zur Struktur von ›heiligen Räumen‹ des (umstrittenen) Religionsphilosophen Mircea Eliade werden hierfür zu einem vertieften Verständnis hinzugezogen.

Eine Antwort auf die hier gestellten Fragen kann man nicht einfach aufschreiben oder schnell und laut herausrufen. Man wird sie weder in Form von Kurznachrichten oder Tweets bearbeiten können. Diese Antwort wird in einem fordernden, gemeinsamen Prozess vieler Beteiligter mit unterschiedlichen Perspektiven und aus diversen Fachrichtungen entwickelt werden müssen. Er sollte gekennzeichnet sein von dem Versuch, neu zu denken, und von einem respektvollen Umgang. Jeder Beitrag kann ein Mosaik für ein gänzlich neues Bild sein – es gibt für diesen Schritt kein Richtig oder Falsch. Dieser Text versteht sich als ein Impuls in diese Richtung. Es braucht einen entspannten und visionären Diskurs ohne Abgrenzungs- und Differenzierungsreflexe, die sich normalerweise in medialen, wissenschaftlichen und journalistischen Debatten wiederfinden. In diesem Sinne und vor diesem Hintergrund möchte ich aus einer kulturanthropologisch geprägten sozialwissenschaftlichen Perspektive heraus verstehen, warum sich die Identitätsbildung hauptsächlich über Zugehörigkeiten gestaltet. Was macht diesen Mechanismus für den Menschen so überaus attraktiv, dass er als ein unhinterfragtes Moment gelebt, akzeptiert und durch Sozialisationsprozesse befördert wird? Den Spuren meines Interesses folgend werde ich am Ende auch zu denjenigen menschlichen Fähigkeiten und Kompetenzen gelangen, die eine Identitätsentwicklung unterstützen würden, aber eben nicht auf Zugehörigkeiten gerichtet sind und sie als »Konnektivitätsbewusstsein« (Bielefeld 2016) und ›Selbstverortungskompetenz‹ bezeichnen.

Ein Essay, der sich mit der heiklen Unterscheidung zwischen ›Wir‹ und ›Die‹ beschäftigt, kommt nicht umhin, an dieser Stelle selbst etwas Transparenz zu schaffen: Allein in diesem kurzen Textabschnitt habe ich mehrfach ein noch unhinterfragtes ›Wir‹ verwendet. Welche gruppenbezogenen Grenzlinien wurden hiermit angewandt? Klar ist: Hier schreibt eine Europäerin, eine Deutsche ohne Migrationshintergrund, mittleren Alters, Akademikerin, vermutlich der Mittelschicht zuzuschreiben. Damit gehört die Autorin, rein statistisch gesehen, zu einer stark repräsentierten und repräsentierenden Gruppe in unserer Gesellschaft, zwar nicht Babyboomerin und auch nicht Mann, aber dennoch Teil der gesellschaftlichen Mehrheit und eine, global betrachtet, per se mit reichlich Privilegien ausgestattete Person. Diese Beschreibung stellt indes keine Selbstzuschreibung dar (die würde sich vermutlich ganz anders gestalten), sondern spiegelt, was typische Fremdzuschreibungen sein könnten. Ich habe kein Bedürfnis, für eine dieser genannten Gruppen zu sprechen und schon gar nicht besitze ich die Autorität, dies zu tun, denn gemäß Appiah muss das »Privileg, eine Gruppe zu repräsentieren, verliehen oder erworben werden« (2019: 42). Vielmehr möchte ich hier verdeutlichen, dass diese Identität eine Menge perspektivische Problematiken mit sich bringt, sieht man sie im Kontext eines globalen Machtsystems. Dies wiederum muss mit den hartnäckig nachwirkenden Aspekten der europäischen und auch deutschen kolonialen Vergangenheit sowie der spezifisch deutschen Geschichte in Zusammenhang betrachtet werden. Mit der eigenen Begrenztheit, der eigenen kontextuellen Gefangenheit kann man sich beschäftigen, man kann sie sich anlesen, studieren, wissen und auch reflektieren. Am Ende ist sie aber dennoch nicht gänzlich abstreifbar – zumindest nicht diejenigen Dimensionen, die Teil unserer »mentalen Infrastrukturen« geworden sind und die uns durch gesellschaftliche Sozialisationsprozesse zu eigen gemacht wurden. Der Ansatz der »critical whiteness« deutet auf diese Problematik hin. Eine Veränderung dieser Infrastrukturen kann nur in einzelnen Schritten vollzogen werden, nie auf einmal im Hier und Jetzt – und wohl auch kaum im Laufe eines Menschenlebens.

Hier setzt mein Essay an und möchte einen Beitrag leisten, eine Einladung und ein kleiner Schritt ins Morgen sein. Seine zentralen Fragen werden sein: Zu welcher Art von Zusammenleben sind wir als Menschen eigentlich fähig? Können wir das Menschsein ohne Gruppe und Grenze überhaupt aushalten? Und: Könnten wir Fähigkeiten ausbilden, die uns zu einem anderen Zusammenleben befähigen? Ich meine: Ja. Und möchte motivieren, in diese Richtung weiterzudenken. Natürlich tue ich dies unweigerlich in einem engen Bezug zur eigenen Lebenswelt, die von bestimmten Trennlinien und Machtstrukturen geprägt ist und aus meiner eigenen privilegierten Position heraus. Wo immer ich im Verlauf des Textes gruppenbezogene Identifikationsprozesse kritisch reflektiere, wo immer ich über die notwendige Flexibilisierung von Gruppenstrukturen spreche, damit neue Sozialisationsprozesse möglich werden, geschieht dies aus dieser grundsätzlich privilegierten Position heraus, mit Blick auf ebendiese per se privilegierten Gruppen. Im Schlussteil des Essays wird es heißen, dass all das Beschriebene gerade hier – in Europa und in Deutschland – beginnen könnte. Das heißt im Umkehrschluss auch: Ich beschäftige mich gerade nicht mit den Gruppen und den gruppenbezogenen Identitäten der vermeintlich ›Anderen‹. Vielmehr adressiere ich die Gruppenbezogenheiten, die mir selbst gesellschaftlich zugeordnet sind – und die aus den oben genannten historischen Erfahrungen heraus äußerst problematisch sind.

Am Ende wird es darum gehen, die eigene Bezogenheit zu Gruppen – seien sie konkret oder imaginär – zu reflektieren. Und es wird deutlich werden, dass es die privilegierten, gegenwärtig machtvollen Gruppen sind, die ihrerseits nun in diesem gesellschaftlichen Reflexionsprozess ebenso einen Schritt nach vorne machen müssen! Gleichzeitig ist in unserer Gesellschaft aber auch bereits ein neues ›Wir‹ entstanden bzw. ist das »Wir« durch Zuwanderung, neue Lebensformen, Geschlechteridentitäten etc. in ständiger Bewegung. Und da dies unbedingt weiter das gemeinsame Ziel sein muss, ist es wichtig, solche Wege gemeinsam zu begehen und ein gemeinsames Nachdenken anzustoßen. Auch deshalb, weil dieser Essay Mary Douglas in ihrer Annahme folgen wird, dass es durchaus universale Mechanismen gibt, die soziale Ordnungen und Trennlinien bestimmen. Dieser Text ist daher eine Einladung an alle Interessierten: Durch das Lesen und gemeinsame Nachdenken über die hier aufgeworfenen Fragen kann überall ein neues, zukunftsfähiges Wir entstehen. Und trotzdem: Europa bzw. Deutschland waren in der Geschichte das Zentrum, von welchem aus Fremdheitskonstruktionen und Gruppendenken exportiert, auf die Spitze und in die dunkelste Ecke der Menschheit getrieben wurden. Einen Rückbau dieser Mechanismen sollten wir von hier aus anstoßen und aktiv mitgestalten!

What a Difference a Human Makes …

Die Erhebung zur Zeitverwendung 2012/2013 des Statistischen Bundesamtes (das seit Beginn diesen Jahres eine aktuelle Erhebung durchführt) erfasste seinerzeit 9 Haupt- und 48 Unterkategorien und mit diesen insgesamt 165 Aktivitäten (Theisen 2017: 14). Insgesamt wurde die Zeitverwendung von 5.040 Haushalten mit 11.371 Personen ab 10 Jahre an 33.842 sogenannten »Tagebuchtagen« erfasst (ebd.: 17). Vom sogenannten »Persönlichen Bereich/Physiologische Regeneration«, wozu zum Beispiel Aktivitäten wie Schlafen, Waschen, Essen und Trinken gehören, über die Kategorien »Erwerbstätigkeit«, »Bildung« und »Haushaltsführung und Betreuung der Familie« bis hin zu »Ehrenamt«, »Soziales Leben«, »Mediennutzung«, »Sport/Hobbies« und »Wegezeiten« wurden sämtliche Lebensbereiche erfasst. Besonders im Fokus standen bei dieser Studie familien- und bildungspolitische Fragestellungen sowie Aspekte, die eine »veränderte Wohlstandsmessung« ermöglichen sollten, die »über ökonomische Kerngrößen« hinausgeht (Theisen 2017: 11f.). Hierbei wurden vor allem Fragen der »Lebensqualität« und Möglichkeiten »freier Zeitgestaltung« betrachtet – sicherlich wichtige Aspekte, die vermutlich immer noch sehr dem Zeitgeist entsprechen, was sich in der aktuell laufenden Erhebung allerdings erst noch zeigen muss.

In diesem Kontext wäre es meines Erachtens ebenso interessant, zu fragen, wie viel Zeit Menschen eigentlich für ihre Identität verwenden. Das mag zunächst einmal seltsam oder nicht machbar klingen. »Ich verwende Zeit für meine Identität?«, würde der eine oder andere – vor allem auch sich selber – fragen. Ja, das tun wir! Wir hier, in unserer weitgehend gesättigten Gesellschaft, tun dies sogar quasi ständig. De facto würde eine Studie vermutlich feststellen, dass jede der in der Destatis-Studie untersuchten Kategorien, Unterkategorien und Aktivitäten in Verbindung mit Identitätsfragen oder mit der Entscheidung für eine Zugehörigkeit zu betrachten ist. Das glauben Sie nicht? Heute ist unser Leben eingebettet in ein engmaschiges Konsumnetz – jede Entscheidung für einen Kauf oder Nichtkauf geht zurück auf die Frage einer bestimmten Haltung oder Einstellung bzw. auf die Frage, wie eine solche nach außen repräsentiert werden soll: Welche Zahnpasta benutzt wird, welches Shampoo, welcher Duft, welche Rucksackmarke – unser gesamtes alltägliches Leben wird begleitet von Kaufentscheidungen und diese wiederum von Werbung, die eine bestimmte Lebenshaltung oder Persönlichkeit mit einem Produkt verbindet. Der reife Mann nimmt dies, die unabhängige Frau das, der Akademiker benutzt jenes, der Individualist raucht dieses, das Abenteuer beginnt hiermit und das hier macht Familien modern. »Konsum-Kapitalismus« nennt Eva Illouz (2019) dieses Phänomen und beschreibt, wie weit dieser bis in das intimste Beziehungsleben hineinwirkt. Als »Lifestyle-Kapitalismus« benennt dies Robert Misik in Anlehnung an Jeremy Rifkins Begriff des »Kulturkapitalismus«: »Firmen haben damit begonnen, ihre Produkte mit einem Lebensstil, einem Lebensgefühl zu verbinden, um sie besser verkaufen zu können – und heute werden die Produkte oft in erster Linie gekauft, um einen Lebensstil zu erwerben.« (2015: 1) Wir leben in einer Gesellschaft, die mit ihrem wirtschaftlichen Wachstumscredo auf einer Identitätsindustrie basiert, die ihrerseits von den Ängsten der Menschen lebt, »sich keine dem postmodernen Leben entsprechende Identität schaffen zu können«, und daher »Individuen in der Postmoderne abhängig von den Angeboten der Konsumgesellschaft [macht]«. Thomas Kron und Melanie Reddig (2011: 463) haben dies in einer Zusammenfassung des Ansatzes des polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman ausgeführt.

Unentwegt scheinen Menschen individuell und gesellschaftlich mit Fragen der Identität beschäftigt zu sein: mit der Konstruktion, der eigenen Zuordnung oder derjenigen von anderen Menschen. Wir kleiden und schmücken uns in besonderer Art, üben Sprechweisen, schwören auf eine besondere Wochenzeitung oder einen bestimmten Youtube-Kanal, befestigen Aufkleber auf unseren Autos oder Briefkästen, die besagen, was wir gut oder schlecht finden oder auch, an welchen Orten der Welt wir schon waren, wo wir uns beheimatet sehen, in welchem Land, in welcher Stadt, in welchem Bezirk. Wir tragen Buttons, bestimmte Marken oder nur Secondhand und gerne T-Shirts mit Sprüchen. Wir identifizieren uns mit Rap, Hiphop, Schlager oder der Musik aus den Achtzigern beziehungsweise ist das alles viel zu ›mainstream‹ für uns und wir hören nur Klassik oder schwören auf Jazz, aber auf keine Fall iTunes, sondern Platte, denn wir machen das anders und deswegen lernen unsere Kinder auch Horn und Geige. Wir können nur in bestimmten Stadtteilen wohnen, entweder aus Kostengründen oder weil wir dort unseresgleichen finden – was beides natürlich in engem Zusammenhang stehen kann –, oder wir ziehen in einen Stadtteil, der gerade (noch) kein Kollektiv anzieht und zählen uns damit ebenso zu einer bestimmten Art von Mensch, den Individualisten, die gerade nicht zu diesen »Konsumtrotteln« oder »Kommerzidioten« (Misik 2015: 2) gehören möchten und am Ende dann – ups – doch wieder Teil eines Kollektivs sind, für welches es passende Angebote gibt: »Fair Trade. Die schönen Dinge, wie sie Manufactum verkauft. Mode Retro. Die Vermarktung des Schäbigen. Das besonders ausgefallene Teil, das signalisiert, dass Sie anders sind als die anderen.« (ebd.) Wir verpflichten uns der einen Sportart, dem einen Fußballverein, den Sportmuffeln, der einen Partei, benutzen Apple, weil wir uns eher zu den Kreativen zählen, schauen auf keinen Fall Privatsender und essen nur Bio oder eben gerade nicht. Nichts von dem, was wir tun, scheint zufällig zu sein, hinter fast jeder menschlichen Handlung steht eine bewusste und möglichst aussagekräftige Ausstattung unserer Person, die uns von anderen abgrenzt, die uns einer bestimmten Gruppe von Menschen zuordnet – oder auch gerade nicht, was uns dann eben zu einem Teil des ›Gerade-nicht‹-Kollektivs mit eigenen charakteristischen Merkmalen und insbesondere Konsumentscheidungen macht.

Dass über die »Kultivierung seines Geschmacks […] das Selbst seine Einzigartigkeit [erfährt]« (Illouz 2019: 304), wissen wir aus Bourdieus soziologischen Studien zum Zusammenhang von Geschmack und sozialem Status. Wenn Bourdieu sich mit den Nuancen von Geschmacksdifferenzen beschäftigt, beispielsweise in Bezug auf Kunstwerke, indem er zwischen dem legitimen, dem mittleren und dem populären Geschmack unterscheidet, dann zeigt er damit, wie hierdurch feine gesellschaftliche Unterschiede geschaffen werden, die für die Bestimmung sozialer Positionen bestimmend sind (Bourdieu 1987/2016: 36ff.). Zwar wandeln sich durch die Globalisierung und die Digitalisierung herkömmliche soziale Strukturen und das Verhältnis von »ökonomischem«, »kulturellem« und »sozialem Kapital«4 wird neu justiert bzw. dynamisiert. Aber das ändert nichts an dem grundlegenden Faktum, dass sich Identität auch über Geschmack bildet und dass Geschmack als »Legitimitätsnachweis« für die soziale Position gilt (ebd.: 115ff.). Möglicherweise gerade weil diese klaren klassenbezogenen Strukturen nicht mehr existieren bzw. wandlungsfähiger sind, scheint eine möglichst ausgeprägte Selbstrepräsentation an Bedeutung zu gewinnen – manchmal auch in Verbindung mit der Bekräftigung von (eigentlich längst überholten) sozialen Distinktionen. (So ist zum Beispiel ein Aufkommen konservativer, stark bürgerlich orientierter Lebensweisen junger Familien zu beobachten.) Selbstverständlich gibt es diesbezüglich individuell ausgeprägte Unterschiede – das hat sicher jeder schon festgestellt. So gibt es Menschen, für die es sicherlich vordergründiger ist, aktiv zu gestalten, was andere von ihnen wahrnehmen (sollen), und solche, denen dies relativ – wenn auch nicht komplett – egal ist. Mag sein, dass es hier alters-, geschlechtsspezifische und soziokulturelle Unterschiede gibt, und vielleicht auch regionale und globale. Vielleicht sind Identitätsfragen in der hier dargestellten Ausprägung in mancher Hinsicht ein Luxusphänomen, das – man denke an die Maslow’sche Bedürfnispyramide5 – erst dann voll greifen kann, wenn alle lebensnotwendigen Bedürfnisse gestillt sind? Was dann die Frage aufwürfe, wo sich Identität in dieser Pyramide genau wiederfinden würde.

All diese Vielleichts könnten untersucht werden, allerdings bliebe die Frage bestehen, wofür Menschen all diese Anstrengungen unternehmen. Schließlich ist Gruppenzugehörigkeit – anders als dies in der Steinzeit der Fall war – heutzutage keine Frage des Überlebens mehr. Und angesichts der Tatsache, dass die Gründerin eines jungen Start-ups oder ein digitaler Nomade ohne akademischen Abschluss ein höheres Einkommen erzielen kann als ein promovierter Akademiker, ist sie auch längst keine Garantie mehr für eine hohe soziale Position – wie auch immer man diese definieren mag. Warum also solch ein komplexes und verzweigtes Differenzierungssystem? Denn – eines muss man an dieser Stelle klar festhalten: Konsumentscheidungen bzw. geschmacksbezogene Entscheidungen fungieren nach Bourdieu als »Teilungsprinzipien, die mit Begriffen zugleich Gruppen schaffen« (Bourdieu 1987/2016: 748). Sehr deutlich erkennbar scheint es ein menschliches Grundbedürfnis zu geben, das für uns als frühere ›Herdentiere‹ bzw. zum Überleben auf die Gruppe angewiesene Lebewesen so zentral war, dass wir es noch nicht ablegen konnten. Obwohl die Gruppe nicht mehr Leib und Leben schützt und uns auch keinen unmittelbaren konkreten Mehrwert bringt, scheint es einen Identitätshype zu geben. Sich kleineren (beispielsweise veganen) oder größeren (beispielsweise nationalen) Kollektiven öffentlich sichtbar zuzuordnen, ist angesagt. Das ist sicher auch – wie schon zu Anfang erwähnt – eine Reaktion auf die zunehmende Globalisierung mit ihren »dislozierenden Effekten«: Sie »[zerstört] die zeitliche und räumliche Koordination der Repräsentationssysteme für kulturelle Identität und imaginierte Gemeinschaft mit Macht« (Hall 2017/2018: 127). Das Chaos oder – nennen wir es hier einmal: – das große unfassbare grenzenlose Nichts, was hierdurch entsteht und »Identität heimatlos« (ebd.) macht, ist offensichtlich für Menschen kaum bis gar nicht auszuhalten. Es scheint, dass es unser Ich, unsere Persönlichkeit nicht aushält, nur ein undifferenzierter Teil eines riesigen grenzenlosen homogenen Kollektivs zu sein. In unserer Wahrnehmung käme das dem Tode gleich. Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass Grenzen »existenziell« sind, wie Schiffauer sagt (2006: 103). Er führt aus, wie daher im »Sprengen von Grenzen eine gewisse Ambivalenz [liegt]«; auch wenn es gleichzeitig Freiheit suggeriere, führe die erfahrene Strukturlosigkeit dennoch »zu Ängsten vor Verlorengehen, Selbstverlust und Haltlosigkeit«. Im Umkehrschluss bedeutet dies gemäß Schiffauer, dass das Ziehen von Grenzen »die Antwort auf die Urangst des Selbstverlusts« darstellt (ebd.).

Darum geht es also bei der universal verbreiteten und prominentesten Grenzziehung, die wir alle jederzeit und allerorten gerne vornehmen, derjenigen, die im selben Zug das Wir stiftet und das Ich nährt – die Unterscheidung von Eigenem und Fremden. Diese Kategorisierung hat sich durch seine Praktikabilität bewährt, denn »[d]as Eigene stiftet Heimat, Zugehörigkeit, Identität und Kontinuität – Fremdes löst Unruhe aus, bedroht die Identität und durchbricht die Tradition.« (Reuter 2002: 10) Dieses Bedrohungsgefühl geht seit Menschengedenken einher mit einer zerstörerischen Kraft, die sich leider weit jenseits der bis hierhin geschilderten harmlosen Selbstausstattung mit Anti-AKW-Aufklebern und Sprüche-T-Shirts bewegt. Um das Ich oder vielmehr das Eigene zu verteidigen, gilt es um jeden Preis, Trennlinien und Differenzierungen zu erzeugen. Es ist dasjenige menschliche Grundbedürfnis mit den brutalsten Auswirkungen der Menschheit, denn es liefert den Stoff für Genozide, Kriege, Unterdrückung – Ereignisse, deren Spuren tief in unseren Planeten eingraviert sind. Sie bestimmen noch immer kollektive Identitäten und die dazugehörigen Wertigkeiten, die Menschen von außen zugeschrieben werden und die sie von innen beschreiben; die Leib und Leben gefährden und allentscheidend dafür sein können, ob wir ein menschenwürdiges, erfüllendes Leben führen können oder nicht oder ob uns gar das Leben an sich untersagt wird.

Diese tiefen Spuren der Weltgeschichte zu überwinden, scheint ein fast übermenschliches Vorhaben, und doch – sollte es nicht möglich sein, von Menschen Erzeugtes auch kraft menschlichen Vermögens zu überwinden? Schließlich dient die Identifizierung mit einer Gruppe nicht nur als ein Wattebausch voll Wellness für das menschliche Ego. Zur selben Zeit wird sie zum Hammer im Werkzeugkasten der Macht und dient als Ventil für die destruktiven Seiten menschlichen Handelns. Heißt das, wir können nicht anders? Heißt das, auch Nationalist*innen, Rassist*innen und Faschist*innen folgen im Grunde nur einem Grundbedürfnis, gegen das sie sich nicht wehren können? Nein, mitnichten heißt es das. Wie in anderen Zusammenhängen sollten Menschen – im Gegensatz zu Tieren – auch hier in der Lage sein, ihre Bedürfnisse zu steuern bzw. die Anwendung von gesellschaftlichen und kulturellen Regeln zu unterstellen. In diesem Sinne spiegelt eine Berufung auf ein menschliches Gruppen-Grundbedürfnis die größtmögliche Einfältigkeit und einen niedrigen Evolutionsstand in der Gestaltung menschlichen Lebens wider, die nur das blanke und ungezügelte Zusammenrotten in einer möglichst einheitlichen Gruppe zur Abgrenzung gegenüber vermeintlich ›Anderen‹ kennt. Es ist der bequemste Weg zur Sicherung des Egos bzw. der eigenen Identität. Nur ist dies leider nicht mehr zeitgemäß – schlicht nicht zukunftsfähig. Man denke nur daran: Kurz vor dem Aussterben waren die Dinosaurier am größten.