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Autorin Pamela Pabst ist die erste von Geburt an blinde Strafverteidigerin Deutschlands. Ihr außergewöhnliches Leben dient als Vorbild der erfolgreichen ARD-Serie "Die Heiland - Wir sind Anwalt". Zwei Leben: Die Strafsache Wilhelm Schweiger geht in die zweite Runde Dreißig Jahre sind vergangen, seit der Fall Wilhelm Schweiger die Gerichte beschäftigte. Nun tritt Nina, seine 34-jährige Tochter und selbst Rechtsanwältin, in die Fußstapfen ihres Vaters. Gemeinsam mit ihrer Stiefmutter Doris Aalatt verteidigt sie nicht nur einen Architekten, der des Mordes an seiner Frau beschuldigt wird, sondern auch eine drogensüchtige Prostituierte. Zeitgleich taucht Nina tief in die alten Akten ihres Vaters ein und beginnt, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. In zutiefst bewegenden Vater-Tochter-Gesprächen, kurz vor Wilhelms Tod, enthüllt er ihr die erschütternde Wahrheit über sein verstörendes Doppelleben. Wie viel kann eine große Liebe tragen, wenn sie auf Lügen und Geheimnissen aufgebaut ist? Pamela Pabst verwebt erneut meisterhaft wahre Begebenheiten aus ihrem Alltag als Strafverteidigerin mit der fesselnden fiktiven Geschichte des Berliner Rechtsanwalts Wilhelm Friedrich Schweiger und seiner Familie. Ein Roman, der die Grenzen von Schuld, Sühne und familiären Bindungen auslotet.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Strafsache
Wilhelm Schweiger
-Die zweite Generation -
Justizdrama von
Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht
Pamela Pabst
Impressum:
Texte: Copyright by Pamela Pabst
Umschlaggestaltung: Copyright by M. Hoppe
Verlag:
Pamela Pabst
Mohriner Allee 118c
12347 Berlin
https://www.wilhelmschweiger.de/
Der 17. Juni 2016 war ein Freitag. Am Vormittag hatte Doris Aalatt einen Strafprozess in »Moabit«, Berlins altehrwürdigem Kriminalgericht, geführt und war danach weiter zu einer Zivilstreitigkeit am Landgericht gehastet. Sie hatte gewissenhaft die Post erledigt, am Nachmittag drei Mandanten empfangen, und nun war es fast 19:00 Uhr geworden... - wieder ein Arbeitstag vorüber.
»Klaudia, hast du den Schriftsatz ans Amtsgericht Charlottenburg schon fertig?« fragte Doris Aalatt und betrat mit einem gewaltigen Aktenstapel vor der Brust das Vorzimmer, wo ihre Sekretärin noch immer eifrig auf die Tastatur ihres PCs einhämmerte. Doris Aalatt war eine sportliche aber zugleich traditionsbewusste Erscheinung Ende 50, zierlich in der Statur und schlank. Sie hatte mittelblondes halblanges Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und trug ein graues Kostüm, dazu eine weiße Bluse und halbhohe Pumps.
»Ich bin gerade fertig geworden, Doris«, sagte Klaudia Boysen und rumpelnd setzte sich der Drucker in Bewegung. Mit den Worten »Das hier kann auch zurück ins Register« legte sie ihr eine der Akten auf den Tisch und wuchtete den Rest unter großer Kraftanstrengung auf einen der Registraturschränke gegenüber, wobei sie freihändig auf einen kleinen Hocker kletterte, weil sie sonst nicht bis ganz nach oben reichte.
»Was ist eigentlich mit der Sache da am Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg?« »Das habe ich Dir doch rüber gemailt, genauso wie den Eilantrag für Frau Demirkan«, entgegnete Klaudia Boysen, sich keiner Schuld bewusst, während sie den Schriftsatz mit Stempeln versah, zusammenfaltete und kuvertierte.
Klaudia Boysen hatte bereits in der Kanzlei gelernt, die damals noch ihrem Vater, Paul Boysen, und seinem Kollegen, Wilhelm Schweiger, Doris Aalatts Ehemann, gehört hatte. Klaudia Boysen war ein sportlicher Typ, 15 Jahre jünger als ihre Chefin, also Mitte 40, die sie schon so lange kannte, dass sich beide inzwischen duzten. Klaudia Boysen hatte eine peppige Kurzhaarfrisur mit Strähnchen, die oft wöchentlich die Farbe wechselten. An diesem Tag war gelb angesagt. Sie trug stets klimpernden Modeschmuck in den verrücktesten Formen und farbenfrohe Kleidung. An diesem Tag hatte sie sich für kleine Eistüten entschieden.
Über den Registerschränken hing ein großformatiges Foto unter Glas. Es zeigte einen grauhaarigen Mann Mitte 50 in Anzug und Krawatte. Er saß im Rollstuhl und hatte zwei kleine Kinder auf dem Schoß. Daneben stand eine Dame Mitte 60 mit grauem, lockigem Haar und einem lieben Gesicht. Sie trug ein blaugraugestreiftes Kleid mit einem weißen Kragen und balancierte eine goldene Lesebrille auf der Nase. Beide Frauen hatten das Bild zur Erinnerung an alte Zeiten dort aufgehängt. Es zeigte ihren Lehrchef mit seinen Kindern, Nina und Florian, sowie ihre Ausbilderin, Frau Genest, die schon lange nicht mehr unter ihnen war, aber noch immer als guter Geist der Kanzlei über alles wachte, was sie taten.
»Kannst du mal schauen, wie mein Terminplan für morgen aussieht?« fragte Doris Aalatt fast beiläufig, während sie wieder auf ihr Zimmer zusteuerte, und Klaudia Boysen öffnete mit der Computermaus klickend ein Fenster auf ihrem Bildschirm. »Kannst du nicht bei dir drüben schauen, Doris?« fragte Klaudia Boysen. »Ich habe den Computer schon runtergefahren«, entgegnete Doris Aalatt, da sie davon ausgegangen war, für diesen Tag alles erledigt zu haben.
Diese Zeremonie wiederholte sich seit nun fast zwanzig Jahren jeden Abend und beide hatten sie bereits von Wilhelm Schweiger und Frau Genest übernommen. Damals als es noch keinen Computer, sondern allenfalls eine elektrische Schreibmaschine gegeben hatte, war alles analog und in Papierform vonstattengegangen.
»9:00 Uhr Moabit in Sachen Ali Özman, 12:00 Uhr Landgericht Littenstraße in Sachen Pauli gegen Karadas GmbH, um 14:00 Uhr kommt Frau Geißler, das ist die Sache mit dem Eilantrag, um 15:00 Uhr kommt Herr El-Mohammad, um 16:30 Uhr ist dann Schmidt gegen Schmidt dran – da könnte man noch was zwischenschieben – und um 17:00 Uhr hast du deinen Termin beim Zahnarzt.«
»Na das scheint ja machbar zu sein. - Dann kannst du von mir aus auch nach Hause gehen. Es ist ja schon spät.« »Wie großherzig von dir! Ich finde, ich habe hier heute schon genug gemacht.« Bevor Doris Aalatt etwas entgegnen konnte, läutete es an der Tür. »Dein Hausfreund?« scherzte Klaudia Boysen. »Ach was«, lachte Doris Aalatt. »Das ist mein Abholservice.“
Beide vernahmen durch die geöffnete Kanzleitür Geräusche im Treppenhaus. Es surrte und rumpelte, dann betrat ihr Besuch die Kanzlei. »Guten Abend«, grüßte man beide freundlich im Chor durch die geöffnete Tür des Schreibzimmers, und es erschienen ein Mann jenseits der siebzig, der im Rollstuhl saß, und seine Begleiterin, eine hübsche junge Frau Anfang dreißig, mit blondem Haar, das ihr locker über die Schultern fiel – Wilhelm Schweiger und seine Tochter Nina. Beide waren in den Regen gekommen.
Wilhelm Schweiger sah noch immer aus wie auf dem Bild. Er trug jetzt allerdings eine schwarze Tuchhose, einen dunkelroten Pullover und ein weißes Hemd, das mit dem Kragen und den steifen Manschetten darunter hervorlugte. Seit er in diesen Räumen nicht mehr als Anwalt tätig war, trug er keinen Anzug und keine Krawatte mehr, obwohl Doris Aalatt und Klaudia Boysen ihn so immer gern gesehen hatten. Er hatte einfach jedes Mal Würde ausgestrahlt.
»Hallo mein Schatz«, begrüßte ihn Doris Aalatt und ging in die Hocke, um ihm einen Kuss zu geben. »Dann werde ich mal meinen Mantel holen und mit euch mitkommen. – Wer von euch ist gefahren?« »Ich«, antwortete Wilhelm Schweiger. Er verfügte über einen entsprechend umgebauten PKW, der ihm ein gewisses Maß an Selbstständigkeit zurückgegeben hatte. »Mein Auto ist noch in der Werkstatt«, sagte Nina. »Was ist passiert«, fragte Klaudia. »Mir ist hinten einer voll in die Tür gefahren«, antwortete Nina. »Krass!«
Doris Aalatt holte ihren Mantel, und Wilhelm Schweiger chauffierte alle gemeinsam nach Zehlendorf in die Schellenbergstr. 91 b – sein Elternhaus. Er bewohnte mit seiner Familie eine um 1910 erbaute weiß gestrichene Villa in guter Lage, die von einem großen Garten umgeben war und viel Arbeit verursachte. Wilhelm Schweiger hatte von Kindesbeinen an dort sein gesamtes Leben verbracht: Erst mit seinen Eltern, Else und Friedrich Schweiger, dann mit seiner Mutter zusammen als Junggeselle wie in einer WG, später mit seiner Frau Margot und den Kindern, und nun mit Doris.
Während Doris Aalatt die Haustür aufschloss, holte Nina den Rollstuhl ihres Vaters aus dem Kofferraum und stellte ihn neben die geöffnete Fahrertür, damit er umsteigen konnte. Bei diesem Transfer half sie ihm nicht, das war nicht notwendig, aber bevor sie die Wagentür zuschlug, drückte sie ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Sie hatten ein sehr inniges Verhältnis zueinander, inniger als ihre Geschwister. Auch ihr Bruder Florian und ihre Schwester Johanna hatten ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater, aber Florian war nun einmal ein Junge und Johanna hatte all die Wirren in der Vergangenheit nicht miterlebt, die beide zusammengeschweißt hatten.
Nina erinnerte sich noch gut an die Zeit in ihrer Kindheit, als der Papa noch auf zwei Beinen unterwegs gewesen war. Er war oft nicht zuhause gewesen, da er viel hatte arbeiten müssen, aber sie war sich seiner Liebe stets sicher gewesen, auch wenn es gerade nach dem Unfall eine Zeit gegeben hatte, in der er sehr depressiv und nicht in der Lage gewesen war, sich um sie zu kümmern. Und auch, als er für einige Zeit nicht mehr zuhause gewesen war, hatte sie sich mit ihm verbunden gefühlt.
»Kommt ihr!« rief Doris Aalatt zu ihnen herüber und Nina löste sich von ihm. »Ich hab Dich lieb.« Sie schob ihn in Richtung der Hauseingangstür und beide gingen hinein. Drinnen hängte sie seine Jacke an die Garderobe und beide betraten das Esszimmer, wo bereits Geschirr auf dem Tisch stand. »Ich glaub es ja nicht, Johanna hat den Tisch gedeckt!« rief Nina. »Da kannst du mal sehen«, sagte Wilhelm Schweiger, »sonst schimpfst du immer nur herum, wenn sie deine Schminke nimmt.« »Mädchenprobleme halt«, sagte ein junger Mann, der Wilhelm Schweiger wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur rund 50 Jahre jünger, sein Sohn Florian. Florian war dunkelhaarig, groß und schlank. Er trat mit einer Schüssel Spagetti aus der Küche. »Du hast gekocht?« wunderte sich Nina.
Einmal in der Woche versuchten Wilhelm Schweiger und Doris Aalatt alle an einen Tisch zu bekommen, was manchmal gar nicht so einfach war. Schließlich war sie voll berufstätig, um die Familie zu ernähren. Nina und ihre Schwester Johanna lebten noch zuhause, Florian wohnte in einer Studenten-WG in Kreuzberg. Doch nun waren alle beisammen.
Johanna war die Jüngste von den dreien. Sie war 16 Jahre alt und hatte etwas von beiden Eltern: Haarfarbe, Stirn und Augen von ihrer Mutter, Doris Aalatt, Mund und Nase von ihrem Vater. Ein Platz am Tisch blieb leer, dies war der Platz von Margot Schweiger gewesen. Nina und Florian hatten als Kinder dieses Ritual etabliert, nachdem ihre Mutter am 12. Juli 1989 viel zu früh von ihnen gegangen war. Nun war ihnen dies aufgrund ihres Alters weit weniger wichtig, aber sie hatten diese Tradition beibehalten, wenn auch nicht direkt darüber gesprochen wurde. Es war einfach so.
»Und, wie läuft’s?« fragte Nina ihren Bruder Florian, während sie sich Nudeln auftat. »Ganz dünnes Eis. - Selber schuld, ich würde das niemals machen« rechtfertigte sich Johanna. »Es muss ja auch nicht jeder in unserer Familie Jurist werden«, sagte Wilhelm Schweiger und erinnerte sich schmerzvoll daran, dass er dies auch nie hatte werden wollen, doch bei seinem gestrengen Vater, Friedrich Schweiger, hatte er keine Wahl gehabt. Seit dem Tod seines Bruders Bruno war praktisch seit seiner frühesten Kindheit klar gewesen, dass er einmal die Kanzlei des Vaters übernehmen würde, und das hatte er dann ja auch viele Jahrzehnte getan.
»Die ersten Klausuren sind ganz gut gelaufen«, sagte Florian, »aber leider trügt dieses Gefühl ja auch manchmal.« »Ich habe mich immer gefühlt, wie eine Versagerin«, sagte Doris Aalatt. Wilhelm Schweiger kannte dies, aber im Gegensatz zu ihr hatte er dies nicht laut zugeben dürfen, und er würde es auch heute vor den anderen nicht zugeben.
Florian hatte, ebenso wie seine vier Jahre ältere Schwester Nina, Jura studiert und stand kurz vor der Erreichung des zweiten juristischen Staatsexamens. Im Gegensatz zu seiner Schwester, die sich nun gemeinsam mit Doris Aalatt um die Kanzlei kümmerte, wollte er in den Staatsdienst.
»Wann schreibst du deine letzte Klausur«, fragte Wilhelm Schweiger. »Am nächsten Donnerstag. Holst du mich danach ab?« Dies machte Wilhelm Schweiger sehr gern. Schließlich war er ohnehin den ganzen Tag allein zuhause, während alle anderen zur Schule und zur Arbeit fort waren. Da war dies eine sehr willkommene Abwechslung.
Generationen von Juristen hatten in der Salzburger Straße neben dem Rathaus Schöneberg in dem ehemaligen Gebäude der Nordsternversicherung ihr erstes und zweites Staatsexamen geschrieben. Immer wenn mittags um 12:00 Uhr das Läuten der Freiheitsglocke von dort herüberscholl, wo einst John F. Kennedy verkündet hatte, ein Berliner zu sein, war so gut wie die Hälfte der verfügbaren Schreibzeit verstrichen gewesen. Allein der Anblick dieses Gebäudes löste Beklemmungen bei Wilhelm Schweiger aus, aber er wollte seinem Sohn gern diesen Gefallen tun.
Nun war Florian auch schon 29 Jahre alt. Auch wenn seine Geburt damals nicht geplant gewesen war und ihn sehr überrascht hatte, so hatte er auch ihn, so wie Nina, sehr ins Herz geschlossen. Er hatte ihm nie gesagt, was durch seine Geburt alles ins Rollen gekommen war, da er ihm kein schlechtes Gewissen verursachen wollte, aber er war sich sicher, dass ohne Florians Geburt manches anders gelaufen wäre, und damit meinte er nicht zuletzt, dass er es seiner Mutter schuldig geblieben wäre, der Familie einen Stammhalter zu schenken, der den Namen Schweiger fortführte.
Einige Stunden nach dem Essen, Florian war bereits gegangen und die Mädchen waren auf ihren Zimmern, saß Wilhelm Schweiger unter der Dusche. Doris Aalatt stand neben ihm und unterhielt sich mit ihm. Es machte ihr nichts aus, sich um dies und das zu kümmern, auch wenn er seit dem Unfall viel selbstständiger geworden war. Mit zunehmendem Alter und schwindenden Kräften nahm diese Selbstständigkeit jedoch wieder ab.
Gerade hatte sie eine frische Windel auf dem Sitzpolster seines Rollstuhles ausgebreitet, sicher war sicher, als es an der Tür klopfte: »Gute Nacht! Ich geh jetzt schlafen!« rief Johanna. »Gute Nacht!« riefen beide im Chor zurück. Beide hatten nicht abgeschlossen, aber das brauchten sie heute auch nicht mehr zu tun. Die Kinder waren groß.
Margot Schweiger hatte damals immer peinlich genau darauf geachtet, dass die Kinder bloß schliefen, bevor sie sich gemeinsam um seine Belange gekümmert hatten, doch im Alter von sieben Jahren hatte Nina ihren Vater doch einmal gesehen.
Sie hatte nicht einschlafen können, und so war sie von ihrem Zimmer hinüber ins Schlafzimmer gelaufen, ihren Hasen Benni immer fest im Arm. Ohne Benni war sie nirgendwo hin gegangen. Heute saß Benni oben auf einem Regal über dem Schreibtisch und hatte einen Ehrenplatz.
Ihr Papa hatte quer vor der Mama auf dem Ehebett gelegen und sie hatten ihm eine Windel angezogen wie ihrem Bruder Flori. Nina hatte nicht gewusst, dass auch erwachsene Menschen so etwas anzogen. Seine Beine hatten vom Bett heruntergebaumelt und die Mama hatte ihn »kleinen Königstiger« genannt. Und der Papa hatte ein bisschen geweint, aber ganz leise, so dass Nina es hatte kaum hören können. Still und heimlich war sie mit Benni zurück in ihr Bett gegangen.
Heraus gekommen war alles erst später, als Nina ihn gefragt hatte, ob Florian auch »ein kleiner Königstiger« sei, und da sonst außer Margot Schweiger und er in intimen Momenten niemand diese Redewendung verwendete, hatte Wilhelm Schweiger erfahren, dass Nina ihn gesehen hatte.
Natürlich hatte Wilhelm Schweiger nicht gewollt, dass Nina in der Schule herumerzählte, was sie gesehen hatte, doch wenn er es ihr als ein großes Geheimnis verkauft hätte, würde sie wohl erst recht davon erzählen, so hatte er damals befürchtet.
Als Nina eines Tages mit Benni zum Kuscheln bei ihm auf den Schoß gekommen war, hatte er sie fest an sich gedrückt und gefragt: »Du und Benni habt Mama und mich gesehen – stimmt‘s?« »Ja«, hatte Nina schüchtern geantwortet und war nicht sicher gewesen, ob sie damit soeben etwas Schlimmes eingestanden hatte. »Wenn man nicht mehr laufen kann, gibt es auch andere Dinge, die nicht mehr so richtig funktionieren, weißt du Nina-Maus. Wenn du etwas isst oder trinkst, dann merkst du, wenn du mal musst und dann gehst du einfach ins Bad. Aber wenn man nicht mehr spüren kann, wann man mal muss, dann muss man sich aus Vorsicht einfach regelmäßig darum kümmern«, hatte er ihr damals behutsam erklärt.
Im Büro hatten damals alle seine Zeiten gekannt, zu welchen er unauffällig verschwinden musste, um seine Blase mittels eines Katheters zu entleeren. Ihm war dies sehr peinlich gewesen. Frau Genest, seine gute Seele, war so manches Mal zu ihm ins Zimmer gekommen, wenn dort ein Mandant gesessen hatte, und hatte wortlos Blickkontakt zu ihm aufgenommen. Das war seine Erinnerung gewesen. Es hätte gerade noch gefehlt, wenn sie dies mit Rot in den Kanzleikalender eingetragen hätte. Heute nutzte er dafür die Weckfunktion seines Handys.
»Ist das doof?« hatte Nina ihn damals sehr einfühlsam gefragt und dies hatte ihn sehr gerührt. »Eigentlich sollten sich erwachsene Menschen darum nicht mehr kümmern müssen. – Es hat mich sehr traurig gemacht Nina-Maus, dass das jetzt so ist«, hatte er ihr gestanden. »Und wenn du nicht gut aufpasst, dann geht es halt daneben. Dann ist zu viel in der Blase und du bekommst eine nasse Hose. Damit dies nicht vor fremden Menschen passiert, habe ich zur Sicherheit eine Windel angezogen, so wie Florian. – Früher hat man sich auf den Bauch geklopft, damit das, was du oben reingießt, unten auch wieder herauskommt. Aber heute steckt man sich kleine Röhrchen dort hinein, wo das Pipi rauskommt. Und für das andere Geschäft gibt es Medikamente. – Aber du darfst niemals irgendwelche Dinge von mir aus dem Bad nehmen und das selbst an dir ausprobieren, das ist gefährlich. – versprichst du mir das?« Nina hatte wortlos genickt.
Mit Florian oder mit Johanna hatte es eine solche Unterhaltung nie gegeben, Wilhelm Schweiger wusste auch nicht, ob die Geschwister miteinander einmal darüber gesprochen hatten. Möglicherweise hatten sie sich im Internet in entsprechenden
Foren darüber belesen.1
Tatsache war jedoch, dass diese Unterhaltung zwischen Vater und Tochter den Grundstein für ein sehr inniges Verhältnis gelegt hatte, das bis heute andauerte. Wilhelm Schweiger hatte kein Problem damit, wenn Nina ihn nackt sah oder ihm in bestimmten pflegerischen Situationen Hilfestellung gab. Mit seinem Sohn Florian oder seiner Tochter Johanna hätte er sich dies hingegen niemals vorstellen können.
Obwohl er seine Margot damals regelrecht angefleht hatte, ihn nach dem Unfall nicht zu verlassen, war ihre Liebe letztendlich irgendwo zwischen Einweghandschuhen, Abführzäpfchen und Klistieren abhandengekommen. Der Kinder wegen hatten sie bis zu ihrem Tod als Familie zusammengelebt und sich gegenseitig beigestanden, doch erotische Begegnungen hatte es zwischen ihnen seit seinem Unfall nicht mehr gegeben.
Dass Nina nun auch vor einigen Tagen in einen Autounfall verwickelt worden war, aus welchem sie Gott sei Dank unbeschadet herausgekommen war, ließ in ihm wieder längst verdrängte Bilder aufkommen.
Der Morgen des 8. August 1986 war ein freundlicher Tag gewesen. Die Sonne schien und der Himmel war strahlend blau gewesen. Nachdem er Nina zu seiner Mutter
1z.B. www.der-querschnitt.de, dessen Machern ich sehr danken möchte.gebracht hatte, weil Margot damals wegen der Schwangerschaft mit Florian zum Arzt gemusst hatte, war er nach Moabit gefahren, wo er eine Hauptverhandlung gehabt hatte.
Links vor ihm war bereits das Kriminalgericht aufgetaucht, ein mächtiges altes Gebäude aus verwittertem Sandstein mit zahlreichen Innenhöfen und zwei kupfergedeckten Türmen, deren Dächer grün leuchteten.
Er hatte die warme Morgensonne im Nacken gespürt, und für den Bruchteil einer Sekunde war sein Blick auf das Knäuel schwarzen Stoffes neben sich auf dem Beifahrersitz gefallen – seine Robe – als plötzlich völlig unerwartet ein großer LKW aus der linken Seitenstraße geschossen kam.
Voller Schreck war er so heftig auf die Bremse getreten, dass der Wagen mit der Schnauze förmlich in den Straßenbelag einzutauchen schien, doch ein Anhalten wäre in dieser Situation niemandem geglückt.
Sein roter Mercedes raste nahezu ungebremst frontal gegen die Vorderachse des LKW, es krachte ohrenbetäubend, Glas splitterte. Der LKW kam schließlich an einer Straßenlaterne zum Stehen.
Wie sehr hatte er sich damals gewünscht, diesen Unfall nicht überlebt zu haben, dann wäre ihm manches erspart geblieben. Andersherum hätte er aber auch manches, das nun sein Leben bereicherte, nie erlebt.
Die erste große Herausforderung
Doris Aalatt residierte in Wilhelm Schweigers ehemaligem Zimmer, welches rechtsseitig vom Schreibzimmer lag. Es handelte sich um hohe Altbauzimmer mit Sprossenfenstern und Parkettfußboden. Nina hatte das ehemalige Zimmer des Kollegen, Paul Boysen, Klaudias Vater, in Beschlag genommen, welches sich gegenüber, linksseitig vom Schreibzimmer, befand.
Doris Aalatt nutzte aus Sentimentalitätsgründen noch immer seinen Schreibtisch, ein Erbstück seines Vaters, seinen Bürostuhl, den er seit dem Unfall nicht mehr brauchte, sowie sein Bücherregal und seine Schreibtischlampe.
Im Schein dieser altmodischen Schreibtischlampe mit grünem Schirm waren sie seinerzeit zusammengekommen und ein Paar geworden. Doris Aalatt dachte noch oft daran, wenn sie allein im Schein dieser Lampe hier saß und arbeitete. »Lass mich nicht los«, hatte er damals geflüstert, und eng umschlungen hatten sie damals eine ihr endlos vorkommende Zeit dort gesessen, sie neben seinem Rollstuhl auf dem Fußboden und er hinter seinem Schreibtisch.
Sie fand es noch immer gemütlich, wenn es draußen dunkel war und nur der Schein der Tischlampe den Raum erhellte, doch nun war es heller Tag, 08.30 Uhr in der Frühe. Gleich würde der Geschäftsbetrieb so richtig losbrechen: Anrufe, Faxe, E-Mails.
»Doris, die Polizei ist am Telefon!« rief Klaudia Boysen und riss die Tür zu Doris Aalatts Zimmer auf, ohne zuvor anzuklopfen. An diesem Tag war die Strähne Altrosa, und an ihren Ohren baumelten kleine Pommes-Tüten. »Stellst du durch, oder soll ich kommen«, fragte Doris Aalatt und war bereits aufgestanden. »Komm lieber mit, bevor ich es noch vermassle«, sagte Klaudia Boysen, und schon stand Doris Aalatt bei ihr im Vorzimmer und hielt das schnurlose Telefon ans Ohr. »Rechtsanwältin Aalatt!« meldete sie sich. »LKA 112 hier, mein Name ist Bensemann. Hier sitzt jemand, der möchte Sie unbedingt sprechen, Frau Aalatt. Können Sie vorbeikommen?« »Selbstverständlich« antwortete Doris Aalatt und bekam leicht weiche Knie, »Ich bin gleich bei Ihnen.« Damit drückte sie auf den roten Beenden-Button und gab Klaudia das Telefon zurück in die Hand.
»Ich bin dann mal weg zur Keithstraße«, sagte Doris Aalatt und wandte sich zum Gehen, als ihr Nina entgegenkam. »Morgen, wo willst du hin?« »In die Keithstraße zur Mordkommission. Willst du mit?« »Ich würde an deiner Stelle mitgehen«, sagte Klaudia Boysen und war ein bisschen neidisch. Und so ging Nina mit ihr mit.
»Beeindruckend«, staunte Nina, als sie das alte Gebäude betraten, in welchem die Abteilungen des Landeskriminalamtes Berlin untergebracht waren, die sich mit den „Delikten am Menschen“ beschäftigten: Mord, Totschlag, Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Kindern. Das Gebäude aus der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte damals einer Versicherungsgesellschaft gehört. Zahlreiche Malereien an den Decken und bunte Verzierungen ließen es wie eine Kathedrale erscheinen.
Sie traten auf einen Pförtner zu, nannten ihren Namen und warteten auf einer Bank, die in halber Höhe auf einem Absatz der gewaltigen Treppe stand, bis sie von einem jungen Mann in ziviler Kleidung abgeholt wurden. »Frau Rechtsanwältin Aalatt?« fragte er und nachdem Doris Aalatt dies bestätigt hatte, folgten beide Frauen ihm. »Und das ist meine Kollegin, Frau Rechtsanwältin Schweiger«, erklärte sie, während sie einen Gang durchquerten. »Bis jetzt ist Ihr Mandant friedlich. Wir haben ihm was zum Rauchen gegeben.«
Er führte sie einige Stufen hinunter und brachte sie in den Gefangenengewahrsam. Dort schloss er eine weitere Tür auf und beide Frauen standen in einer kleinen Zelle. Auf der Pritsche saß ein Mann. Er hatte den Kopf in die Hände vergraben und schluchzte leise.
»So, Frau Aalatt, da ist Ihr Mandant«, sagte der Kriminalbeamte. »Wenn Sie wieder raus wollen, klopfen Sie. Ich warte vor der Tür.« Damit schloss er geräuschvoll die Zellentür hinter sich und ließ die beiden Frauen mit dem Mann allein.
»Guten Tag, ich bin Rechtsanwältin Aalatt und das ist meine Kollegin, Frau Schweiger«, sagte Doris Aalatt. Für Nina war es noch etwas komisch, als Kollegin vorgestellt zu werden. Sie sah in Doris Aalatt mehr ihre Stiefmutter, statt eine Kollegin.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte der Mann und hob den Kopf. Erst jetzt erkannte Doris Aalatt ihn und war mehr als verwundert: »Herr Gottlieb!« Der Mann war Anfang 50, etwas übergewichtig und hatte schütteres Haar. Sein rundes Gesicht war rot und verweint.
Bevor Doris Aalatt die Kanzlei ihres Ehemannes, Wilhelm Schweiger, übernommen hatte, war sie als Richterin am Landgericht Berlin erst in einer Zivil- und dann in einer großen Strafkammer tätig gewesen und hatte nach der Aufgabe dieses Amtes bei dem Kollegen, Rechtsanwalt Herrfurth, in Zehlendorf gearbeitet. Aus dieser Zeit kannte sie den Mann, der vor ihr auf der Pritsche saß. Es war Herrmann Gottlieb, ein Architekt. Er hatte nur wenige Häuser neben den Herrfurths gewohnt.
»Außer Ihnen ist mir niemand anderes eingefallen, den ich um Hilfe bitten könnte«, sagte Gottlieb fast entschuldigend und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, »Herr Herrfurth praktiziert ja nicht mehr.« »Ich freue mich, wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken«, sagte Doris Aalatt, »möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?«
Es dauerte einen kurzen Moment, bis er zum Erzählen anhob. »Ich habe meine Frau...«, begann er, aber er konnte nicht mehr weitersprechen und sank schluchzend in sich zusammen. »Ich habe sie mit einem Messer...« Doris Aalatt konnte sich schon vorstellen, was passiert war. »Nehmen Sie mal ein Taschentuch«, sagte Nina, die wortlos danebengestanden hatte, und reichte ihm ein Papiertaschentuch.
»Die Polizeibeamten werden jetzt gleich mit uns nach oben gehen und anfangen, ein Protokoll aufzunehmen. Als Beschuldigter brauchen Sie überhaupt nichts zu sagen, weder zur Tat noch zu den persönlichen Umständen. Und das würde ich Ihnen auch raten. Sie sind viel zu sehr durch den Wind. Erst einmal möchte ich die Akte sehen und dann können wir uns immer noch äußern. – Wollen wir das so machen?« Gottlieb nickte. Er konnte noch immer nicht sprechen. »Sie werden dann von hier aus nach Moabit gebracht und dort dem Haftrichter vorgeführt. Ich fahre auch nach Moabit und dann sehen wir uns dort wieder. ich bleibe den ganzen Tag dran an Ihnen, machen Sie sich keine Sorgen.«
Nina fand es toll, wie Doris Aalatt das machte. Sie fand es sehr professionell und einfühlsam. Sie wusste, dass sie auch auf ihren Vater in schweren Zeiten stets einen sehr positiven Einfluss gehabt hatte. Als Kind hatte sie mitbekommen, dass ihr Vater im Gefängnis gewesen war. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, dass der Papa von dort nie mehr zurückkäme, aber er war jedes Mal nach längerer Zeit zurückgekommen.
Das Büro der 2. Mordkommission sah weit weniger spektakulär aus, als die Zimmer, in welchen Schimanski, Derrick und der Alte residiert hatten. Ein Raum, der gerade einmal so breit war, wie das hohe Fenster an der Stirnseite, vollgestellt mit zwei Schreibtischen, auf denen je ein Computer stand. Nina durfte auf einem wackligen Holzstuhl Platz nehmen, für Doris Aalatt wurde noch ein zweiter Stuhl herangeschafft. Dann saßen alle Beteiligten zusammen um die Tische.
Zwei Männer in Zivil brachten Herrmann Gottlieb in Handschellen vor der Brust, lösten diese und machten ihn mit einem der eisernen Ringe an dem Holzstuhl fest, auf dem er saß. Sodann nahm einer der Männer hinter einem der Computer Platz, der andere ging wieder. Zeitgleich trat eine Dame in Zivil ein. »Guten Tag, mein Name ist Bensemann, wir hatten telefoniert.«
Frau Bensemann war dann auch die Wortführerin, während der andere Kriminalbeamte mit zwei Fingern auf dem PC herumtippte. »Herr Gottlieb, wir befinden uns hier im Landeskriminalamt in der Keithstraße. Mein Name ist Bensemann, das ist mein Kollege, Herr Helm. Ihre Verteidigerinnen, Frau Aalatt und Frau Schweiger sind bei Ihnen. Wir möchten jetzt mit Ihnen ein Protokoll aufnehmen.«
Nina fand es unglaublich spannend. Nachdem die übliche Belehrung heruntergerattert war, ging es zur Sache, bzw. gerade dies wollten sie ja nicht. »Mein Mandant wird sich zu den persönlichen Verhältnissen äußern, ansonsten wird er von seinem Schweigerecht Gebrauch machen«, sagte Doris Aalatt, freundlich, aber bestimmt.
»Herr Gottlieb, Ihnen wird vorgeworfen, Ihre Ehefrau, Olga Gottlieb, durch zwei Messerschnitte in den Hals getötet zu haben.« »Ach es ist doch sowieso alles egal«, schluchzte Gottlieb auf. »Glauben Sie, dass Ihre Frau bemerkt hat, was Sie vorhatten?« fragte Frau Bensemann. »Mein Mandant äußert sich hier nicht zur Sache!« Nachdem dies nochmals klargestellt war, ging es nur noch um die Personalien.
»Sie heißen Herrmann Gottlieb«, sagte Frau Bensemann. »Wann und wo sind Sie geboren und wie ist Ihr Familienstand?« »Ich bin am 21.07.1963 in Köln geboren und verheiratet«, sagte er mit gesenktem Kopf. »Nun verwitwet«, korrigierte Frau Bensemann. »Was für ein Datum«, dachte Doris Aalatt und malte sich aus, wie Wilhelm Schweiger hier vor 30 Jahren gesessen hatte.
Nina und Doris Aalatt fuhren nach der Vernehmung mit dem Auto zum Kriminalgericht nach Moabit. Da völlig unklar war, wann genau ihr Mandant vorgeführt werden würde, um ihm den Haftbefehl zu verkünden, entschlossen sich beide, zunächst noch einige Akten auf den verschiedenen Geschäftsstellen abzuholen und sich sodann in die Gerichtskantine zu setzen.
In dem lichtdurchfluteten großen Raum in der fünften Etage - eines Anbaus an das schöne alte Gerichtsgebäude - ging es geschäftig zu: Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, gut aufgrund ihres weißen Hemdes, ihrer weißen Bluse, einer weißen Krawatte oder einer weißen Schleife auszumachen, sowie sonstige Justizbeschäftigte saßen an langen Tischen oder liefen mit Tabletts herum. Der Geräuschpegel war erheblich.
Doris Aalatt und Nina hatten sich einen Kaffee geholt. Nachdem dieser zur Hälfte ausgetrunken war, läutete Doris Aalatts Handy. Sie nahm es von der Tischplatte hoch und sah auf das Display: »Das ist das Gericht«, sagte sie und nahm das Gespräch an. »Aalatt! – Ja, wir sitzen in der Kantine. Ich habe noch meine Kollegin dabei.« Sie hörte. »Alles klar, dann gehen wir vorher noch runter. – Vielen Dank.«
»Und was ist?« fragte Nina erwartungsvoll. »In einer halben Stunde geht’s los. Aber wir gehen jetzt schon runter, ich will dir noch was zeigen. – Deinen Kaffee kannst du natürlich noch austrinken.« Nina trank dennoch schneller als üblich und folgte Doris Aalatt sodann erwartungsvoll zurück ins Erdgeschoss, wo beide in einem recht dunklen Gang mit zahlreichen Zimmertüren und einigen Holzbänken vor einer kleineren grünen Tür stehen blieben, die irgendwie zwischen all den anderen grauen Kassettentüren nicht ins Gesamtbild passte.
Schlüssel klapperten und dann öffnete sich besagte Tür. »Guten Tag, sind Sie Frau Rechtsanwältin Aalatt?« fragte ein freundlicher Wachtmeister in blauer Uniform und Doris Aalatt nickte. »Ja, ich habe noch meine Kollegin, Frau Rechtsanwältin Schweiger, dabei.« »Na dann kommen Sie beide mal.«
Beide folgten dem Wachtmeister durch die grüne Tür, der diese bereits wieder abschloss, als beide Frauen noch auf einer steilen Treppe nach unten standen. Er drückte sich an ihnen vorbei und schloss am Fuß der Treppe eine gläserne Tür auf, die in einen hellen langen Gang führte. »Das hier ist der Vorführbereich«, raunte Doris Aalatt und beide folgten dem Wachtmeister den Gang entlang, bis dieser rechts abbog und beide in ein kleines Räumchen führte. »Bitte schön. Nachher einfach klingeln.« Das Räumchen war gerade so groß, dass zwei Stühle darin Platz hatten. Da nur einer darinstand, bedeutete Doris Aalatt Nina, sich hinzusetzen, während sie stehen blieb. Rechts vor ihnen in der Wand war eine Glasscheibe eingelassen, hinter der im Nebenraum Herrmann Gottlieb saß. Die Kommunikation erfolgte über ein durchlöchertes Blech unterhalb der Glasscheibe und war dementsprechend schwierig.
»Hallo, Herr Gottlieb«, sagte Doris Aalatt mit lauter Stimme. »Gleich gehen wir zusammen zum Ermittlungsrichter. – Wie wir es besprochen haben, werden wir uns dort erst einmal nicht äußern. Das machen wir dann, wenn wir die Akte haben.« »Können Sie mir sagen, wo meine Kinder jetzt sind?« fragte Herrmann Gottlieb. »Ich gehe davon aus, dass die beim Kinder- und Jugendnotdienst untergebracht sind«, sagte Doris Aalatt. »Aber ich habe auch noch eine Frage: Wohnen Sie nicht mehr in Zehlendorf?« »Nein«, antwortete Gottlieb. »Das Haus gehörte einer Erbengemeinschaft, und ich musste da mit meinem Büro und mit meiner Wohnung raus.«
Drei Stunden nach ihrem ersten Zusammentreffen im Polizeigewahrsam wurde Herrmann Gottlieb im Kriminalgericht der an diesem Tag zuständigen Haftrichterin vorgeführt, welche über die Anordnung und den Vollzug der Untersuchungshaft zu entscheiden hatte. Doris Aalatt und Nina saßen der Ermittlungsrichterin gegenüber an einem weißen Holztisch, links von ihnen saß die ermittelnde Staatsanwältin, Frau Reiter, rechts von ihnen befand sich ein weißes Holzgatter, ähnlich wie ein überdimensionales Laufställchen, welches eine Holzbank umschloss. Die Richterin war nicht älter als Nina Schweiger.
Türen knallten, es rumorte, und zwei Justizwachtmeister in blauer Uniform, die zahlreiche klimpernde Schlüssel bei sich trugen, brachten Herrmann Gottlieb aus dem Keller des Kriminalgerichts herauf. Gottlieb schlurfte zwischen ihnen und hielt den Kopf gesenkt.