Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine Familiengeschichte einer Arbeiterfamilie in München-Giesing in den 60-er Jahren. In den 60-er Jahren waren traditionelle Rollenbilder in der Familie und in der Gesellschaft weit verbreitet. Der Vater war in der Regel der alleinige Ernährer und Hauptverdiener, während die Mutter hauptsächlich um den Haushalt und um die Kindererziehung kümmerte. Frauen hatten weniger berufliche Möglichkeiten und waren finanziell von ihren Ehemann abhängig. Die drei Geschwister der armen Familie in München Giesing hatten sich gemeinsam auf den Weg gemacht, um der Armut zu entfliehen. Doch je näher sie ihrem Ziel kamen, desto stärker wurde ihr schlechtes Gewissen. Sie erkannten, dass sie auf ihrem Weg aus der Armut über andere Menschen verfügten. Sie sahen diejenigen, die in ihrem Viertel zurückblieben und weiterhin mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatten. Das Gefühl der Schuld nagte an ihnen und ließ sie zweifeln.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 172
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
In den 60-er Jahren waren traditionelle Rollenbilder in der Familie und in der Gesellschaft weit verbreitet. Der Vater war in der Regel der alleinige Ernährer und Hauptverdiener, während die Mutter hauptsächlich um den Haushalt und um die Kindererziehung kümmerte. Frauen hatten weniger berufliche Möglichkeiten und waren finanziell von ihren Ehemann abhängig.
Die drei Geschwister der armen Familie in München Giesing hatten sich gemeinsam auf den Weg gemacht, um der Armut zu entfliehen. Doch je näher sie ihrem Ziel kamen, desto stärker wurde ihr schlechtes Gewissen. Sie erkannten, dass sie auf ihrem Weg aus der Armut über andere Menschen verfügten. Sie sahen diejenigen, die in ihrem Viertel zurückblieben und weiterhin mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatten. Das Gefühl der Schuld nagte an ihnen und ließ sie zweifeln.
Roman
von
Robert Harler
Alle in dem Buch geschilderten Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Menschen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Stefan und Florian.
Nach dem ersten Kindergartentag.
Die jungen Freunde.
Daheim.
Der Abend zum Verdrängen.
Radio.
Kindergeburtstag.
Fernseher.
Stefans Opa.
Containern.
Vater baut einen Kaninchenstall.
Die Geschwister.
Franziska.
Versorgung.
Schwierigkeiten in der Schule.
Stefans Alltag.
Berts neuer Anfang.
Franziskas Schulabschluss.
Fernsehen.
Realschule.
Franziskas Entlassung.
Stefan, ohne Geschwister zu Hause.
Stefan als Plakatmaler.
Stefans Geldeinnahmen.
Tanzschule.
Mutters Aufstieg.
Franziska zu Hause.
Stefan lernt Goldschmied.
Bert als Revisor.
Erster Ausbildungstag als Lehrling.
Franziska.
Blow-up.
Halleluja.
Bert Daheim.
!. Lehrjahr.
Heirat.
Stefan auf Wolke Sieben.
Aufwind.
Isarhochwasser.
Nachthimmel.
Franziskas Pläne.
Mit Veronika in Schwabing.
Florian taucht unter.
Schwabing.
Erste Ausstellung.
Isartal.
Alltag.
Traum vom Baumarkt.
Treffen mit Tanja.
Vater Xaver geht in den Vorruhestand.
Wende.
Bewerbungen für die Kunstakademien.
Vater Xaver.
Abschied von München.
Ankunft in Düsseldorf.
Franziskas Umdenken.
Bert als Kleinunternehmer.
Erster Tag in der Kunstakademie.
Julietta.
Volkers Bruchbude.
Kein neuer Baumarkt.
Regale auffüllen.
Ausstellung.
Galerien.
Pressesprecher.
Tanzscheune.
Zwischenprüfung.
Little Tokyo.
Besuch bei einer japanischen Familie.
Besuch in München.
Stefan und Florian wuchsen 1960 in der Feldmüllersied-lung zwischen der Tegernseer Landstraße, der Gietlstraße, dem Pfarrhof an der Ichostraße und der Heiligkreuz-Kirche der Pilgersheimer Straße von München Giesing auf.
Die Siedlung entstand in den Jahren zwischen 1840 und 1845. Die Namensgeberin der Siedlung erwarb das große Grundstück mit ihrem ererbten Vermögen.
Alte Feldmüllersiedlung in München Giesing.
Sie verkaufte die Liegenschaften an die Arbeiter, Tagelöhner und kleinen Handwerker in kleinen Parzellen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.
Die neuen Eigentümer bauten ihren bescheidenen Besitz als einstöckige Eigenheime, mit Garten oder Werkstätten in den Hinterhöfen. Alle Besitzer, die den Traum vom Eigentum umsetzten, fühlten sich aufgewertet. Ihr neues Zuhause verdrängte alle Demütigungen aus ihrem Körper.
Das Herbergehaus in München-Giesing.
Die Häuschen waren eingeschossig, sodass ein Erwachsener aus der Dachrinne trinken konnte.
Kindergarten.
Stefan durfte als erstes Kind der Familie mit fünf Jahren in den Kindergarten gehen.
Er und sein Freund Florian verharrten anfangs angespannt, nachdem die leitende Schwester sie in ihrer Ordenstracht am Eingang begrüßt hatte.
Die beiden Neulinge streiften ihre Angst ab. Von ihrer Religion her darf die freundliche Frau in der göttlichen Tracht niemanden verprügeln.
Isarbrücke in München Giesing.
Seine Mutter drohte Jahre bei jeder kleinen Verfehlung, wenn er nicht gehorchte, verspätet nach Hause kam, sich beim Spielen verdreckte oder Schimpfworte benutzte: »Warte, wenn du in den Kindergarten kommst, treibt dir die Ober-Schwester deine Marotten aus. Einen Dreckspatzen wie dich kennt sie nicht! Wenn du dich nicht besserst, schaffst du die Volksschule nicht und du wirst auf einem Schrottplatz arbeiten!» Stefan, mit ständigen Beschimpfungen aufgewachsen, wirkte verdruckst und unwohl!
Die Mama herzte ihn nur, wenn er kränkelte oder unter Migräne litt.
Für die beiden Freunde erweiterte sich ihre kleine Welt, weil zwei Mädchen und vier Jungs aus der besseren Wohngegend des Fasanengartens den Kindergarten besuchten.
Am nächsten Tag nahm Stefan neben Amelie Platz. Sie ähnelte mit ihrem Putten Gesicht, mit ihren hellblonden Haaren, dem Engel in Mutters Gebetbuch. Ihre bis zur Schulter reichenden geflochtenen Zöpfe schaukelten bei jeder Kopfbewegung. Sie trug eine schneeweiße Bluse, einen grünblauen Schottenrock, weiße Kniestrümpfe mit schwarzen Lackschuhen.
Lächelnd sagte sie zu ihm: »Ich heiße Amélie!» Kess entgegnete er: »Mein Name ist Stefan. Ich wohne zwei Straßen weiter in der Arbeitersiedlung. Mein Vater arbeitet in einer großen Gießerei. In der gießen die Arbeiter große Motorblöcke für Autos und Schiffe.» Begeistert stand er auf. Mit beiden Händen zeigte er gen Himmel: »Die Gehäuse der Schiffsmotoren, die passen in kein Badezimmer!«
Sie schob ihr Kinn nach vorne: »Wir besitzen ein Haus im Grünen, in dem passen ein Dutzend Schiffsmotoren hinein. Zweimal in der Woche kommt ein Gärtner, um Mutters Bauerngarten zu pflegen.»
Ihr Nachbar schaute sie schräg von unten an: »Meine Mutter erledigt alles in unserem Haushalt. Die kann Stricken, Nähen und Hühner schlachten! »
Mürrisch entgegnete seine Sitznachbarin: »Meine Mama singt im Kirchenchor, steuert unser Boot auf dem Chiemsee und ist bei einer Hilfsorganisation im Vorstand!»
Ihr neuer Bekannter schwieg. In seinem Gehirn ratterte es: »Warum besitzen deine Eltern ein so großes Haus?«
Amelie hob die Hände und zeigte mit dem Zeigefinger nach oben: »Frage den lieben Gott im Himmel? Unser Gärtner sagt. Der ist für alles verantwortlich!»
Schwester Maria klatschte in die Hände: »Kinder, jetzt spielen wir draußen! Die rechte Seite spielt in den Sandkästen und die linke schaukelt. Nach einer Stunde tauschen wir.» Weil Amelie und Stefan unentwegt miteinander redeten, rief sie: »Hallo, ihr beiden Turteltauben seid herzlich eingeladen!»
Seine Sitznachbarin nahm ihn an die Hand und führte ihn zu den Schaukeln: »Komm, wir spielen, wer am höchsten schaukeln kann!»
Florian stürmte auf seinen Kumpel zu, zupfte ihn an die Hand: »Was willst du mit der? Weil sie teure Klamotten trägt und aus einem besseren Haus kommt, schleichst du dich an die heran! Was wird aus uns beiden? Mit der darfst du nicht herumtoben oder Fußball spielen!»
Stefan drückte ihm die Hand: »Wir bleiben Freunde, daran kann keine Frau etwas ändern. Das mit Amélie ergab sich. Die stand plötzlich vor mir!»
Sein Kumpel verdrehte die Augen: »Das kommt davon, weil Amelie ein Weib ist! Bei meinem Papa und meiner Mama fing es genauso an! Die haben auf der Wiesn zum ersten Male auf einer Schiffschaukel zusammengesessen!»
Stefan schaute staunend.
Auf Geheiß der zweiten Schwester Kreszenz gingen sie in den Aufenthaltsraum, um Milch zu trinken und ihre Butterbrote zu essen.
Damit Amelie sich nicht neben seinem Freund platzierte,
schob er den Stuhl beiseite.
Stefan bummelte mit seinem leeren Brotbeutel vom Kindergarten nach Hause. Unterbewusst lief er mit den neuen Schuhen durch jede Pfütze. Amelie Mutter holte ihre Tochter mit einem silbergrauen BMW ab.
Seine Mama begrüßte ihren Sohn im Vorgarten und ohrfeigte ihm, wegen der verdreckten Schuhe: »Hat dir die Ober-Schwester nicht gesagt, dass du nicht durch den Matsch laufen sollst!«
Verwundert meinte er: »Nein! Sie meinte, Kinder brauchen das, für ihre Entwicklung!» Mutter entgegnete: »Ich plage mich ab, damit du mit sauberer Unterwäsche zum Kindergarten gehst, und die Tante erzählt dir so einen Stuss. Schweine und Elefanten spielen im Matsch, um ihre Parasiten loszuwerden. Du hast keine! Merke dir das endlich!«
Mutter trug eine dunkle, butterblumengelbe, viel zu weite Kittelschürze, die ihre attraktive Figur umhüllte. Wenn sie an entspannten Tagen lachte und die Sonne ihr schönes Gesicht ausleuchtete, ähnelte sie einer Titelschönheit auf der Rundfunkzeitung.
Eine weitere führende Schule kam für sie als viertes Mädchen eines armen Holzfällers nicht infrage. Vaters Lohn, als Streckenwärter reichte nicht, um die Familie ausreichend zu ernähren.
Mit 14 Jahren bekam Resie eine Stellung bei einer Amtsratsfamilie in München. Die prägte sie stärker als ihre Eltern, die Volksschule oder ihre sieben Geschwister. Als Haushälterin profitierte sie von der Bildung ihres Arbeitgebers. Den Kindern wurde vorgelesen und die lernten Klavier spielen. Die Eltern hörten im Radio klassische Musik, Hörspiele und Reiseberichte.
Nachdem Stefan aus der Milchflasche getrunken hatte, eine Schnitte Brot, mit Mutters Marmelade aß, schaute er auf ihren Einkaufszettel. Darauf standen 30 Produkte, die er beim Discounter Kaiser, beim Fleischer und beim Drogisten kaufen musste.
Seitdem seine Schwester die Realwirtschaftsschule besuchte, musste er für die Familie einkaufen. Die Schuhe zum Schuster und die zu ändernden Kleidungsstücke zum Schneider bringen.
Mit 4 Jahren lernte ihm der 15-jährige Bruder, der die höhere Handelsschule besuchte, das ABC. Abends las er Märchen vor.
Den Küchenofen befeuerte die Hausherrin mit Holz oder Kohle. Von der Feuerstelle verteilte sich die Hitze auf die Kochplatten, um den Backofen und den Wohnraum. Im strengen Winter gelang es ihm, die kleine Wohnung wohlig aufzuheizen. Mutter beherrschte das Kochen, Backen und Aufheizen mit dem Ofen. Mit den verschiedenen Klappen zirkuliert sie die Luftzufuhr, um in der Backkammer Kuchen, Brot oder Rollbraten zu backen. Wenn die Hitze absackte, bekam der Hefekuchen eine Delle.
Die ärmliche Familie achtete darauf, dass sie die Abgase zusätzlich in der kalten Jahreszeit zum Heizen nutzten. Sie wurden um die Backröhre, mit einem Hebel umgeleitet.
Resie lernte ihren Mann bei einer Tanzveranstaltung im Giesinger Bahnhof kennen, die sie mit ihrer Schwester besuchte. Anfangs gefiel ihr der Zukünftige nicht, der wirkte, mit seiner massigen Statur, mit seinem Stiernacken, seinen rosigen Wangen und seinen tapsigen Bewegungen unbeholfen.
Weil er sie beim nächsten Tanzabend erneut aufforderte und sie nicht Nein sagen konnte, verabredeten sie sich für nächsten Sonntag ins Giesinger Brauhaus. Um sie zu als Freundin zu gewinnen, zeigte er ihr zu Anfang seinen Arbeitsnachweis als Gießereifacharbeiter und seinen Lohnstreifen. Da sie nicht ahnte, wie viel ein Mann zu der Zeit verdienen musste, um eine Familie zu ernähren, war sie beeindruckt.
Sie wollte das elende Leben ihrer Mutter nicht wiederholen. Die bekam 8 Kinder. 3 starben an Unterernährung. Das Geld, das ihr Vater als Streckenkontrolleur verdiente, reichte für ein erbärmliches Junggesellenleben, nicht für eine Großfamilie. Vor Hunger kratzen die Kinder an manchen Tagen das Fett von den Wänden, das sich durch die Kochschwaden darauf absetzte.
Xaver arbeitet in einer Gießerei in München-Sendling im Formenbau. Die Firma stellt Motorblöcke aus Aluminium für die Automobilindustrie her. Er besuchte bis zum 14. Jahr die Ichogrundschule in Giesing. Seine Mitschüler nannten ihn Kartoffelfresser. Die Frucht gehörte in der armen Familie zur Hauptnahrung! Viele Erwachsene und Kinder aus der Arbeiterschaft stoppelten bei den Bauern in der Umgebung, die abgeernteten Kartoffelfelder, mit Genehmigung der Landwirte wiederholt ab.
Nach dem Mittagessen spazierten Stefan und Florian, wenn es nicht regnete, von der Pilgerheimer Straße zur Isar.
Sie liefen über die Mondstraße, an dem reißenden Auer Mühlbach, mit seinem renovierten Häuschen vorbei.
Mühlenbach in München - Giesing.
Stefan sagte: »Wenn ich größer werde, springe ich in den Mühlbach, mit seiner starken Strömung und lass mich bis in die Innenstadt treiben. Von Bogenhausen laufe ich über Stock, Stein und Asphalt barfuß zurück! »
Florian zeigte auf eine kleine Bucht, mit der Andeutung eines Sandstrandes: In der planschten Jugendlichen, die sich an den Seilen hielten, damit sie nicht abtrieben!
Stefan schaute fragend zum Himmel, den der aufkommende Wind blau fegte: »Meine Mutter drohte mir Schläge an, wenn ich in der Isarbrühe bade, da das Baden in dem reißenden Bach lebensgefährlich sei! Die Uran-Utas im Dschungel lassen ihren Kindern mehr Freiheiten, als uns unsere Alten! Mit einem Jahr sind die jungen Primaten gescheitert als wir, erzählte mir mein Bruder! »
Nach dem Kopfschütteln entgegnete Florian: »Mit einem Jahr konnte ich laufen, sagte meine Mutter. Mir fehlt die Erinnerung an die Zeit! »
Stefan entgegnete: »Die Affensprösslinge besitzen einen großen Vorteil. Nach 11 Monaten kennen sie die Plätze, wo ihre Nahrung wächst. Meine Alte findet jeden Tag was, um mich umzuerziehen! Wenn ich mich bei meinem älteren Bruder beschwere, winkt der ab.» Meistens weissagt er: »Zolle ihnen keinen Respekt! Eines Tages stehst du über ihnen. Das gilt ebenso für deinen Vater, deinem Onkel, Lehrer und Chef! Begnüge dich nicht damit, ihren Anforderungen zu erfüllen, wenn ja, verpasst du die Möglichkeiten, die dir das Leben bietet.»
Der Kumpel schaute erstaunt: »Er wirkt belesen«.
Sein Mitstreiter entgegnete: »Der liest Bücher, hört Hör-spiele und spielt Schach. Meine Mutter erzählt allen ihr, Bert kam mit den besten Voraussetzungen auf die Welt, den musste sie nicht erziehen! »
Florian fragte: »Wer brachte ihm das Lesen und Schachspielen bei?» Stefan meinte: »Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter. Der fährt einen Konzertchef von einer Veranstaltung zur anderen. In der Wartezeit liest er die Romane im Auto, von Grass, von Böll, von Hemingway, die der Boss zurücklässt. Für meine Eltern und für seine früheren Freunde wurde er zum Außenseiter. Die lesen keine Bücher! »
Sie liefen an der Isar entlang bis zur Wittelsbacher Brücke. Darunter schlief Siggi, ein Obdachloser, mit seinem vertrottelten Hund, der aussah, als schliefe er in der Mülltonne.
Nachdem sie nähergekommen waren, lief ihnen »Napoleon« der aschgraue Mischlingsrüde, schwanzwedelnd entgegen. Freudig legte sie sich auf den Rücken, damit sie seinen Bauch kraulten.
Der Besitzer, mit seinem grau melierten Vollbart und mit seiner speckigen Ledermütze auf dem kahlen Schädel, seinem aufgedunsenen, zahnlosen Gesicht rief erfreut: »Seid ihr wieda vo Heisle ausgebüxt? Eure Mütta hod eich bestimmt vabodn, si soweid vo zua entferna und si mid am Graddla zua unterhoidn!
Wenn de dahinterkomma, des ihr bis qua Wittelsbacha Bruggn gelaffa seid, haun sie eich den Oasch vi!
Stefan winkte ab: »Die Alte glaubt, ich sei auf dem Kinderspielplatz.» Napoleon kam mit einem Stöckchen im Maul angelaufen, legte ihn den beiden Jungen vor die Füße und schaute sie bettelnd an.
Abwechselnd warfen sie den Ast bis zum Ufer. Mehrmals holte der Köter den Stock und brachte ihn zurück. Nachdem er mehrere Stöcke geholt hatte, brach er erschöpft zusammen. Siggi flößte ihn mit einer Flasche tröpfchenweise Milch ein.
Nachdem die Buben die Brücke in Richtung Flaucher verlassen hatten, pflückten sie von einem kleinen Haselnussstrauch die Früchte. Mit gefüllten Hosen- und Jackentaschen liefen sie heimwärts.
Stefan musste um 18 Uhr zum Abendessen zu Hause eintreffen.
Wenn nicht, gab es von der Mutter eine Schimpfkanonade. Sobald er mehrmals im Monat später eintrudelte, hetzte sie ihren Mann auf, bis er seinen Jungen übers Knie legte und seinen blanken Hintern mit seinem Hosengürtel verprügelte.
Um seine Mama zum Eingreifen zu animieren, schrie der Geschlagene wie ein Ertrinkender. Wenn die Schläge zu lange dauerten, bedauerte sie es, ihren Mann angestiftet zu haben. Nach einiger Zeit schritt sie ein: »Hör auf, du schlägst mir den Jungen zum Krüppel»!
In seiner Wut giftete ihr Ehemann sie an: »Hoid du di daraus! Da braucht es, sonst hört er nie!
Seine beiden älteren Geschwister, die der Vater seit ihrem dritten Lebensjahr, nicht mehr schlug, da sie aus Angst vor ihm zu brav verhielten.
Seine 15-jährige Schwester hielt zum ersten Male, die schlagende Hand ihres Vaters zurück, weil sie mit ihrem Bruder litt: »Papa, du schlägst ihn zum Krüppel. Bei dem bleiben zeitlebens körperliche und seelische Schäden zurück!»
Erstmals erhielt sie von ihm einen Schlag ins Gesicht, der sie zu Boden stürzte und starke Schmerzen verursachte.
Ihr ein Jahr älterer Bruder sprang auf, half seiner Schwestern. Mit Wut trommelte er mit seinen Händen auf Vaters Brust: »Du zerstörst Stefans Zukunft. Nach der Einschulung setzt ihn der Lehrer in die erste Reihe, weil er aus Angst was Falsches zu sagen, stumm bleibt! »
Der schlagende Vater hielt an:
»I meine s guad mid eahm und mid eich. Ihr soit olle wos Vanünftigs lerna. A Pracht Prügl hol no niemand g schadet. Des hom mei Voda und mei Grousvoda scho gsogt.
Bert schüttelte den Kopf: »Dein Verhalten erreicht das Gegenteil! »
Mit Ärger im Bauch stürmte der Beleidigte auf seinen Sohn zu.
Die Mutter geriet in Panik und brüllte: »Hört auf! Ihr bringt euch gegenseitig um!»
Ihren Mann schubste sie auf die Bank und ihren Sohn aus der Küche. Dem rief sie nach: »Ich verlange von dir mehr Respekt! »
Mutter weinte, nachdem sie ihren Nachwuchs auf dem Boden schluchzend sitzend gesehen hatte. Stefan spürte intuitiv in seinem Inneren schlummernde Begabungen, die wollte er sich nicht von seinen Eltern, künftigen Lehrern und Lehrherrn ausprügeln lassen.
Vater schämte sich vor seiner Tochter, weil er sie liebte. Bevor er heiratete, träumte er von einer schönen blonden Tochter, mit Pauswangen und Puppenblick. Bei Franziskas Geburt rührte ihn ihr Anblick zu Freudentränen. Zu seiner Frau sagte er: »Mehr gädned. Merci!«
Franziska rief dazwischen: »Weil du uns, mit deiner Riesenpranke drohtest, wagten wir es nicht, uns auszuto-ben. Stattdessen lernten Bert und ich bei unserem Onkel, Mutters Bruder vor Schulanfang das Lesen, Schreiben und Zuhören! Stefan ist da anders: Der beharrt darauf, seine kindliche Entwicklung auszuleben. Wenn ihr den nicht weiter ausbremst, strebt der etwas Besonderes an! »
Mutter antwortete gereizt: »Der passt nicht in die Welt. Sobald ich den morgens wecke, hört der mir nicht zu, sondern kasperte herum. Mit Sicherheit landet der in der Hilfsschule! »
Bert winkte ab: »Mutter, eines Tages steckt der uns alle in die Tasche, wenn du nicht weiterhin an ihn herummäkelst. Im Alter sind wir nacheinander auf ihn angewiesen. Erst unser Vater, den mit den Jahren die harte, staubige Arbeit und die verschmutzte Luft organisch zersetzen.
Stefan zieht eines Tages aus München und wir sehen ihn im Fernsehen. Ihr müsst euch seine gezeichneten Bilder ausgiebig betrachten! Indem schlummert Hoffnung!
Vater schaute mit verdrehten Augen zum Fenster:
» Des fehlt ma no, oan Bua grous zua ziang, dabrotlose Kunst produziad. Da soi zuaseng, dass ea seine Voksschui packr, dann konn i ihn bei Ma in Dagießerei unterbringen!
Der Abend bewirkte was. Ihre Mutter, die darunter litt, weil sie sich als Kind nicht entfalten konnte, obwohl sie die Klassenbeste in der Volksschule war. Um in der Stellung bei einem höheren Beamten nicht zu vereinsamen, heiratete sie den ersten Mann, der sie zum Tanzen einlud.
Sie träumte davon, einen Jungen mit schwarzen Haaren und ein Mädchen mit goldenem Locken zu gebären. Die in Armut aufzuziehen, überforderte sie. Wenn ihr Jüngster die vom älteren Bruder geerbten Kleidungen verdreckte, rastete sie aus, weil sie den Haushalt, das ständige Wäschewaschen, Bügeln, Kochen, Putzen, Armut und die Lust ihres Mannes überforderten.
Zu ihrer Sexualität besaß sie kein Verhältnis. Sie spürte beim Eindringen nichts! Mit ihrem Mann schlief sie, weil sie angeblich gesetzlich dazu verpflichtet sei! Zum Glück kam ihr Gatte sofort, sodass sie die Prozedur am Samstagabend übel gelaunt hinnahm. Während sie mit Stefan schwanger ging, fühlte sie ihre weniger werdende Lebensqualität und die wachsende Energy ihres Fötus.
Mit dem dritten Kind fing die Plackerei von vorne an. Ihre beiden Ältesten begannen, ihren Weg zu gehen. In der nahen Bäckerei beabsichtigte sie, ganztags als Bedienung zu arbeiten.
Von ihrem Mann erhielt sie keine Impulse. Der wollte anfangs das Junggesellenleben bis zum Tod fortführen.
Bis zu ihrer Ehe fuhr er zu den Heim- und Auswärtsspielen seiner Mannschaft 1860 München. Am Freitagabend ging er zu seinen Kumpeln ins Brauhaus. Bei jedem Treffen unterhielten sie sich in tausend Varianten über ihren Stammverein, über Beckenbauer, über Strauß. Wenn Mutter seine Suppe kochte, für die der Franz im Fernsehen warb, protestierte Franziska: »Der verschweigt die künstlichen Aromen darin!«
Weil Vaters Einkommen nicht reichte, um seine Familie ausreichend zu ernähren, mietete er beim Bauern ein Stück Pachtland an. Auf dem pflanzte er mit seinen Kindern Kartoffeln, Gemüse und Apfelbäume mit Zwergstämmen. Über den Sinn des Lebens hatte er niemals nachgedacht. Irgendwie musste er seine Familie über Wasser und am Kacken halten.
Armut war für ihn gewollt, damit das System funktioniert. Die kleinen Firmen profitieren am meisten von den Niedriglöhnen.
Bert und Franziska bekamen von ihrem Lieblingsonkel, Mutters Bruder ein kleines gebrauchtes Radio. Für die beiden, vor allem für Bert, öffnen sich neue Möglichkeiten. Durch den Deutschlandfunk lernte er die Welt und wissenschaftliche Abhandlungen kennen.
Mutter hörte aus ihrem Küchenradio tagsüber die gehobene Unterhaltungsmusik: Die Jahreszeiten von Vivaldi beschwingten sie. Ihre miese Stimmung bekam Schmetterlinge im Bauch. Die meisten Schlager waren für sie Muster ohne Wert, weil ihr harter Alltag keine Sehnsüchte zu lassen.
Bert versuchte mit seiner Schwester, den Rock Araond the Clock von Bill Haley zu tanzen. Auf dem Stuhl sitzend oder einzeln herumzappelnd hörten sie Chuck Bery, Elvis Presley, Jerry Lee Lewis und Little Richard.
Wenn sie die Musik aufdrehten, stürmte ihre Mama hinein und krakelte: »Laufen bei uns die Affen frei herum?
Wie wollt ihr euer Leben beherrschen, wenn ihr zu der aufgemotzten Countrymusik herumzappelt?
Von mir aus hört die sanften Beatles, die anständigen Simon und Garfunkel oder den klugen, schläfrigen Bob Dylan.
Sobald ihr Vater drohte: »Stellt die grässliche Musik ab! Hörten sie die Poplieder unter der Bettdecke.