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Von Anfang an ist Simone wenig begeistert, die Sommerferien am Neusiedler See zu verbringen. Die politisch angespannte Situation in dem österreichisch-ungarischen Grenzgebiet spitzt sich immer mehr zu, und dann passiert es tatsächlich: Kurz vor der Heimreise nach Deutschland finden sich Simone, ihr Mann Thorsten und die kleine Tochter Nicola in einem chaotischen Kriegsszenario wieder, das schlagartig alles verändert. Für Simone zählt nur, ihre Tochter unbeschadet nach Hause zu bringen. Einen unerwarteten Verbündeten findet sie in dem jungen ungarischen Soldaten Balász Varga, der sein Leben riskiert, um die kleine Familie in Sicherheit zu bringen. 25 Jahre später lässt Nicola an einem Sommertag die Ereignisse von damals Revue passieren und legt Stück für Stück eine bis dahin verborgene, unglaubliche Geschichte frei. Lukas Pellmann denkt die gegenwärtigen nationalistischen Entwicklungen konsequent weiter und erzählt von der Kraft von Mitmenschlichkeit und Vergebung.
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Seitenzahl: 394
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für all die Menschen da draußen, die sich in diesen herausfordernden Zeiten für Freiheit, Toleranz und ein friedliches Miteinander engagieren.
»Es wird keinen Krieg geben.«
Der hagere alte Mann servierte das Geschirr mit dem Blümchenmuster ab, das Simone so sehr mochte. Dabei lächelte er wie ein Großvater, der seinen Enkeln Zuversicht vermitteln will: Euch wird nichts geschehen. Ihr seid sicher. Ich schaue auf euch.
»Siehst du, unser Pensionswirt sieht das genauso«, warf Thorsten ein. »Du machst dir mal wieder vollkommen unnötig Sorgen!«
Simone runzelte die Stirn. Der Nachsatz war überflüssig. Aber so war Thorsten nun mal. In den vergangenen Tagen hatte er jede Gelegenheit genutzt, um seine von vornherein fragwürdige Entscheidung, in Krottenthal Urlaub zu machen, zu verteidigen.
Simone kam es so vor, als sei das mittlerweile sein einziges Thema geworden. Dass ihre Tochter Nicola im Neusiedler See schwimmen gelernt hatte, dass sie alle gemeinsam trotz der gefährlichen Situation wunderschöne Radausflüge unternommen hatten: All die wenigen schönen Dinge, die Simone halfen, ihre latente Beklommenheit unter Kontrolle zu halten, spielten für Thorsten keine Rolle. Im Zentrum seiner Kommunikation stand einzig und allein die Rechtfertigung seiner hoheitlich getroffenen Entscheidung, in diesem Jahr den Urlaub in Krottenthal am Neusiedler See zu verbringen.
Sie hatte dieses egozentrische Gehabe so unendlich satt. Was bildete er sich ein, darüber zu urteilen, ob die Gedanken, die Simone sich machte, unnötig waren oder nicht? Mit welchem Recht nahm er ihre Sorgen als persönliche Kränkung wahr? Es ging hier nicht um ihn, sondern um das Wohl der gesamten Familie. Das schien er nicht zu verstehen, nicht verstehen zu wollen.
Am liebsten hätte Simone ihm einen der geblümten Teller gegen den Kopf geworfen, so leid es ihr auch um das schöne Porzellan gewesen wäre.
Sie sah sich im Frühstücksraum der Pension um. An den Wänden hingen Bilder aus der Umgebung. Fotos vom See und vom Schilfgürtel, von Vogelschwärmen im Formationsflug sowie Menschen, die sich auf Heurigenbänken mit einem Glas Wein zuprosteten. Es roch nach Kaffee, das Frühstücksbüffet war reichhaltig gedeckt, aus den Lautsprechern klang Popmusik, viel zu leise, um herausfiltern zu können, ob deutsch- oder ungarischsprachig. Das indirekte Licht der Sonne fiel durch die nach Südosten ausgerichteten Fenster.
»Thorsten, seit Wochen sind die Zeitungen voll. Es werden Wetten abgeschlossen, wann der Angriff erfolgen wird. Ob heute oder erst morgen. Auf TikTok und Whats-App überschlagen sich die Gerüchte. Glaubst du wirklich, die Leute denken sich das alles nur aus?«, zischelte sie ihm gedämpft zu.
Thorsten verdrehte die Augen. An einem geordneten Austausch von Argumenten schien er schon länger nicht mehr interessiert zu sein.
»Wo ist Krieg?«, fragte Nicola und stellte den Teller, auf den sie beim Frühstücksbüffet gigantische Kaiserschmarrnberge in einem See aus Apfelmus platziert hatte, auf den Tisch. Sie hatte auch nicht mit Puderzucker gespart. Das kulinarische Ensemble wirkte wie eine aus einem Meer aus Bananenwasser aufragende verschneite Berglandschaft.
»Ach, Nicola, ich hab dir doch gesagt, dass du dir den Teller nicht so vollladen sollst. Könntest du nicht zur Abwechslung mal auf mich hören?«
Ihre siebenjährige Tochter beschloss, erst gar nicht auf Simones Mahnung zu reagieren und ließ sich den Kaiserschmarrnberg schmecken.
»Und es gibt natürlich keinen Krieg, es ist alles gut«, schob Simone hinterher.
»Sag ich ja«, betonte Thorsten triumphierend. »Es gibt keinen Krieg. Also lass uns die vier Tage, die uns hier am See bleiben, genießen. Du kommst eh schnell genug wieder nach Hause zu deinen aufregenden Damenkränzchen.«
Simones linker Unterarm ruhte auf dem Tisch, ihre Finger glitten den Goldrand des Tellers entlang. Wie wohltuend es für sie war, die Fingernägel ihrer anderen Hand währenddessen so tief wie möglich in die Haut des Unterarms zu drücken.
Die Erzählcafés, die sie im Auftrag der Braunschweiger Seniorenheime organisierte, konnten tatsächlich aufregend sein. Natürlich hatte Thorsten gar keine Ahnung, wie so ein Erzählcafé ablief, welche Rolle Simone dabei spielte oder was das Besondere an ihrem Konzept war. Es interessierte ihn schon lange nicht mehr, was Simone in der Arbeit erlebte, welche Erfolge sie feierte, was ihr Sorgen bereitete oder welche Herausforderungen sie zu meistern hatte.
Wie lange auch immer sie noch hier am See bleiben würden, für Simone stand fest, dass sie keine weitere Stunde genießen könnte. Vielleicht wäre es anders gewesen ohne Nicola. Aber mit einer Siebenjährigen in einem Krisengebiet, das offenbar wie ein Pulverfass mit brennender Lunte kurz vor der Explosion stand – sie mochte sich nicht ausmalen, was das bedeuten könnte. Wie schnell konnten sie sich in Sicherheit bringen, wenn wirklich ein Krieg ausbrach? Wie weit war es bis zur Grenze, hinter der die ungarischen Soldaten angeblich bereits in Stellung gegangen waren? Ein Kilometer? Oder sogar weniger?
Es war eine absolute Schnapsidee gewesen, hier Urlaub zu machen. Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen? Erst kurz vor ihrer Anreise hatte sie in einer Wochenzeitung ein Interview mit einem österreichischen Osteuropaexperten gelesen. Der hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sich im Burgenland eine explosive Mischung zusammenbraute. Ging es nach dem Politikwissenschaftler, hätte man seit Jahren ahnen können, dass es eines Tages zu einem militärischen Konflikt rund um das östlichste Bundesland Österreichs kommen würde. Man brauchte nur mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.
Und wenn sich Simone im Frühstücksraum so umsah, war sie mit ihrer Befürchtung nicht alleine gewesen. Warum sonst waren sie jetzt offenbar die letzten Gäste in der Pension, nachdem die wenigen anderen Urlauber schon vor Tagen abgereist waren? Dass sie die Einzigen waren, die im Frühstücksraum speisten, konnte doch auch an Thorsten nicht vorübergegangen sein.
Plötzlich verstummte die Musik im Radio, eine monotone Stimme begann einen Text vorzutragen. Simone konnte nicht wirklich verstehen, was da gesprochen wurde.
»Kann ich noch einen Kako?«, fragte Nicole und begann zu lachen. Dieses süße, unschuldige Kinderlachen. Sie freute sich immer so, wenn sie Wörter verfremden konnte, sodass sie eine phonetische Ähnlichkeit mit Begriffen aus der Welt der Fäkalien aufwiesen.
»Sei mal leise«, herrschte Simone ihre Tochter an, stand auf und ging zu dem auf einem Wandregal stehenden Radio.
... die österreichische Bundesregierung fordert daher alle Zivilistinnen und Zivilisten, die sich in einer Entfernung von weniger als zehn Kilometern zur Staatsgrenze befinden, auf, das Gebiet unverzüglich zu verlassen.
»Kann ich jetzt noch einen Kako?«, wiederholte Nicola ihre Frage. »Bitte, bitte, nur noch einen.«
»Wir reisen ab«, stellte Simone fest. »Nicola holt sich noch schnell einen Kakao und dann packen wir unsere Sachen.« Sie wollte in dieser Situation nicht Thorsten und Nicola gleichzeitig gegen sich haben. Wenn Nicola also unbedingt einen Kakao haben wollte, sollte sie ihn bekommen.
Thorsten sah sie entgeistert an und warf sein Croissant auf den Teller. Was wohl als kraftvolle und vor Wut strotzende Geste gedacht war, wirkte nur lächerlich, denn das luftige Kipferl landete sanft und ohne jedweden akustischen Effekt auf dem Teller vor ihm.
»Mit deiner Hysterie kannst du einem aber auch wirklich alles kaputt machen!«, schrie er sie an.
»Hast du mein Brillenetui gesehen?« Thorstens beleidigter Tonfall klang, als hätte er eigentlich sagen wollen, dass Simone ein Miststück sei, mit dem er nie wieder ein Wort wechseln würde.
»Liegt auf dem Nachtkästchen«, antwortete Simone.
Die den Raum ausfüllende Hektik stand im krassen Gegensatz zur gespenstischen Ruhe, die in der restlichen Pension herrschte. Sie waren tatsächlich die letzten Gäste, jene, die trotz aller Warnungen am längsten ausgehalten hatten. Und nun war bis auf das Eigentümerpaar niemand mehr da. Simone hatte eine Unterhaltung des Pensionsbesitzers mit seiner Gattin belauscht, in dem diese sich darüber beklagt hatte, dass alle Arbeit nun an ihnen hängen blieb, nachdem ein Teil des Servicepersonals – großteils aus ungarischen Arbeitskräften bestehend – offenbar schon vor längerer Zeit gekündigt hatte und ob der drohenden Konfrontation in die Heimat zurückgekehrt war. Andere Angestellte, die mit der Politik des nationalistischen Regimes in Ungarn nicht übereinstimmten, waren weitergezogen, nach Deutschland, Frankreich oder woandershin. Fleißige Arbeitskräfte waren überall gern gesehen, ihnen stand die Welt offen. Zurück blieben jene, die physisch oder emotional mit ihrem Hab und Gut an einen Ort gebunden waren.
»Können wir Fingeralphabet spielen, bitte, bitte!« Nicola holte ihre Mutter aus ihren Gedanken. »Bitteeee!«
»Später«, antwortete Simone. »Pack jetzt deine Sachen zusammen, schau auch unter deinem Bett nach, damit du nichts vergisst.« Einer musste den Überblick bewahren, und Simone traute es ihrem Mann in seiner trotzigen Stimmung nicht zu, diese Rolle auszufüllen.
»Mama, Mama, ich finde den Franzi nicht!« Nicola kam mit aufgelöster Stimme aus dem Nachbarzimmer hereingelaufen. »Wir können ihn nicht hierlassen, er hat hier keine Freundinnen!«
»Wir lassen ihn auch nicht hier«, sagte Simone und bemühte sich, all ihre noch vorhandene Ruhe in ihre Stimme zu legen. »Hast du unter dem Bett nachgesehen?« Nicola nickte eifrig. »Im Schrank?« Wieder nickte das blonde Mädchen, Tränen kullerten über ihre Wangen. Nicola war tapfer, aber sie spürte natürlich Simones Unruhe, die Nervosität, vielleicht auch ihre Angst. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, ein großes Mädchen zu sein. Aber wie sollte in dieser Situation einer Siebenjährigen gelingen, wozu selbst Erwachsene nicht in der Lage waren.
»Vielleicht hat er sich wieder vor dir versteckt? Du weißt doch, dass er das so gerne macht. Hast du wirklich überall nach ihm gesucht?« Sie wusste, dass die Definition von suchen bei Nicola anders aussah als bei einem Erwachsenen. Für ihre Tochter war die Suche abgeschlossen, nachdem sie sich einmal in die Mitte eines Raumes gestellt und einen Rundumblick gewagt hatte. Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit zählten halt einfach nicht zu den Stärken von Kindern. Simone ging in Nicolas Zimmer. Der Kasten stand offen und war tatsächlich leer. »Und du hast Franzi noch nicht in deinen Koffer gepackt?«, fragte sie. Nur zur Sicherheit.
»Nein, das wüsste ich doch«, entgegnete Nicola.
Simone kniete sich unters Bett, wo noch nicht mal ein Staubkörnchen zu sehen war. Öffnete die Laden des Nachtkästchens, hob das kleine weiße Stickdeckchen hoch, das auf der Kommode lag, deren Schubladen sie ebenfalls abgesucht hatte. Nie und nimmer hätte der kleine Pinguin unter dem Deckchen liegen können, ohne dass es sofort aufgefallen wäre.
»Das ist alles so unnötig!«, hörte sie Thorsten von nebenan laut fluchen. »Wir machen uns hier zum Kasper und schenken vier tolle Urlaubstage her!«
Thorsten war seit einem Monat arbeitslos. Wenn hier jemand Urlaub herschenkte, dann war es wohl Simone. Sie hob das Kopfkissen hoch, auch das ohne Erfolg. Sah hinter das Bettgestell – vielleicht war das Stofftier ja im Zwischenraum zur Wand eingeklemmt.
»Wann hast du ihn denn das letzte Mal gehabt?«, fragte sie ihre Tochter. »Beim Frühstück war er nicht dabei, oder?« Nicola schüttelte energisch den Kopf.
»Ich könnte mich schwarzärgern!«, rief Thorsten in die konzentrierte Stille.
Simone hob die Bettdecke hoch. Ließ sie wieder fallen. »Psst«, machte sie zu Nicola, »komm mal her, aber ganz leise«, flüsterte sie. Die Siebenjährige trat näher. »Dein Pinguin hat sich unter der Bettdecke versteckt. Er glaubt, du findest ihn dort nicht und hat mich gebeten, ihn nicht zu verraten.«
Nicola begann zu kichern, die Tränen waren wie weggezaubert.
»Aber du und ich, wir sind ja ein Team«, fuhr Simone fort und deutete mit dem Finger auf jene Stelle der Decke, unter der der Pinguin versteckt lag. Sofort zog Nicola die Decke hoch, schrie: »Hab dich, hab dich!«, und schloss ihr Kuscheltier in die Arme.
»Ich halte das nach wie vor für einen total überzogenen Schritt, aber bitte, wenn du dir das einbildest«, zürnte Thorsten, während er widerwillig seine Hälfte des Schrankinhalts in den großen Familienkoffer schleuderte. Den Rollkoffer hatten sie vor ihrer großen Skandinavienreise gekauft, zwei Jahre bevor Simone mit Nicola schwanger geworden war. Das waren andere Zeiten gewesen. Bessere Zeiten. Nicht, weil Nicola noch nicht auf der Welt gewesen war. Niemals würde Simone ihre Tochter für etwas anderes, für eine andere Zeit, eintauschen wollen. Aber Thorsten war ein anderer gewesen. Der alte Thorsten, in den sie sich verliebt hatte, hatte ihr Halt gegeben.
»Ich kenne doch solche Situationen, habe ich alles schon erlebt!«, fuhr Thorsten fort, während Simone im Badezimmer kontrollierte, ob sie nichts vergessen hatten. Doch bis auf die noch vom morgendlichen Duschen nassen Handtücher war alles leer geräumt. Auch das Shampoo in der Duschkabine, das Thorsten auf Reisen nur allzu gerne liegen ließ, war bereits eingepackt worden. »Damals, als ich mit meinen Eltern auf Rab war, sind wir auch nicht panikartig geflohen, als die Kroaten damit begonnen haben, die Krajina von den Serben zurückzuerobern.«
Simone beschloss, noch eine Weile im Bad zu verharren. Sie betrachtete sich im Spiegel, während Thorsten mit seiner Geschichte fortfuhr. Wie oft hatte sie diese Erzählung schon gehört? Das Artilleriefeuer, das Thorsten und seine Eltern je nach Windrichtung hatten hören können, während sie am Strand von Suha Punta gelegen und mittags den Grillteller im Restaurant genossen hatten, dazu ein riesiges Bierglas, vollgefüllt mit Tonicwater. Die hupenden Autos und die jubelnden Menschen am Kai und am Marktplatz von Rab, als die Offensive nur zwei Tage später erfolgreich beendet worden war. Dass sie gemeinsam mit den Kroaten gefeiert und sich über die eilig abgereisten Touristen lustig gemacht hatten. Sie konnte diese Geschichte nicht mehr hören.
»Hab alles«, sagte Nicola plötzlich. Das Mädchen stand mit seinem kleinen Köfferchen in der Tür zum Badezimmer. Wie süß sie sich da hingepflanzt hatte, mit ihrem spitzbübischen Lächeln und den geröteten Wangen, die Haare ganz verstrubbelt. Wie sehr Simone ihre Tochter liebte.
»Super. Dann muss ja nur noch Papa fertig werden, und dann können wir los.«
»Das war eine Freude, du hättest die Leute auf dem Marktplatz in der Altstadt sehen müssen, mit all ihren Fahnen. Wie nach einem Fußballmatch.« Thorsten war gerade dabei, seine Heldengeschichte zu beenden. »Mein Vater hat damals auch den richtigen Riecher gehabt und hat sich gegen meine Mutter durchgesetzt. Wäre es nach ihr gegangen, wären wir sofort abgereist und hätten den Urlaub auf irgendeiner verregneten Nordseeinsel fortgesetzt.«
»Nicola und ich bringen schon mal die ersten Sachen zum Auto.«
Simone wollte sich nicht länger mit Thorstens väterlichem Heldenepos aufhalten.
Die Gasse, in der die Pension lag und die mit ihrem starken Gefälle im Winter sicher eine feine Rutschpartie hergeben würde, spiegelte die gespenstische Stimmung aus dem Inneren der Pension wider. Außer Simone und ihrer Familie sowie den Pensionsinhabern war auf dem in der Sonne flimmernden Asphalt keine Menschenseele und auch kein Auto zu sehen oder zu hören. Das war vor zehn Tagen noch anders gewesen. Bei ihrer Ankunft in Krottenthal war der Ort noch lebendig gewesen. Menschen hatten einander gegrüßt, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Traktoren waren unterwegs auf dem Weg zum nächsten Weingarten durch das Dorf gerumpelt.
Das Einzige, das Simone an diesem sonnigen und heißen Vormittag wahrnahm, war ein dumpfes Motorengeräusch in der Ferne. Einige der Fenster in den Häusern der Gasse waren mit Holzplatten oder Pappkartons abgeklebt worden. Auf der roten Fassade eines einstöckigen Gebäudes mit Flachdach prangte ein aufgemaltes weißes Peace-Symbol. Darüber eine Taube, in deren Schnabel eine österreichische und eine ungarische Fahne die friedliche Koexistenz beider Länder unterstreichen sollten. Daneben hatte jemand mit weißer Farbe No war! auf die Fassade gepinselt. Kein Krieg.
Simone war erst kurz vor Ausbruch des Golfkriegs Anfang der 1990er-Jahre bewusst geworden, dass es in der Welt überhaupt Kriege gab. Bis dahin waren kriegerische Konflikte für sie bloßer Bestandteil von Filmen und Erzählungen gewesen, etwas, das es vielleicht in grauer Vorzeit auch mal in Deutschland gegeben, aber längst seinen realen Schrecken verloren hatte. Sie war ein Kind der 1980er-Jahre, damals zu jung, um die zerstörerischen Gefahren des Kalten Krieges spüren zu können. Und dann sang 1991 Alannah Myles plötzlich gemeinsam mit anderen musikalischen Helden aus Simones früher Jugend das Remake von John Lennons Give Peace a Chance.
Es war dieser nach einem Schulchor klingende Gesang, der ihr in diesem Moment in Krottenthal durch den Kopf ging. Und jetzt, da sie am Beifahrersitz ihres Kombis Platz genommen hatte, stellte sie sich vor, wie in Asien oder Südamerika Künstler ein Remake dieses Songs aufnahmen, um für Frieden in Mitteleuropa einzutreten. Und wie Menschen in anderen Teilen der Welt für Versöhnung und Verständigung beteten. Wenn irgendwo auf der Welt ein Krieg ausbrach, galten Simones Gedanken immer den Zivilisten. Den Familien, die auseinandergerissen wurden. Den Kindern, die man im Fernsehen sah, wie sie sich weinend von ihren Papas verabschieden mussten und mit verheulten Gesichtern Bussen hinterherwinkten, mit denen die um Fassung ringenden Männer zur nächsten Kaserne gebracht wurden. »Wir würden uns wirklich sehr freuen, wenn ihr nächstes Jahr wieder zu uns zum Laudahof kommen würdet«, sagte der Pensionswirt durch das offene Fenster der Fahrerseite zu Thorsten. »Dann hat sich die Lage sicherlich wieder entspannt.« Seine beruhigende großväterliche Art war einem gewissen Pragmatismus gewichen. Sie hatten ihren Urlaub im Voraus zur Gänze bezahlt. Ob Thorsten und Simone aufgrund ihrer früheren Abreise einen Teil des Geldes zurückbekommen würden, mussten sie mit der Versicherung aushandeln.
»Machen wir auf jeden Fall, Rudi«, antwortete Thorsten. Er schien felsenfest überzeugt zu sein. Sowohl davon, dass sich die Lage beruhigt haben würde, als auch von einer Rückkehr im nächsten Sommerurlaub.
Simone würde nie wieder hierherkommen. Das wusste sie bereits, noch bevor Thorsten den Dieselmotor ihres altertümlichen Volkswagens startete. Im selben Moment tat es ihr aber wiederum leid, denn sie mochte die Gegend, und die Einheimischen waren sehr gastfreundlich. In dieser Hinsicht hatte Thorsten ihr nicht zu viel versprochen. Doch die Erinnerung an die Umstände ihrer Abreise würden sie ein Leben lang verfolgen und einen unbeschwerten Urlaub am Neusiedler See unmöglich machen.
Ohne viel Gas geben zu müssen, rollte der VW Kombi die Gasse hinunter. Nicola und Franzi winkten den Gastgebern durch die Heckscheibe. Als Simone zu den beiden alten Leuten zurücksah, bemerkte sie, dass die Hoffnung auf einen unbeschwerten nächsten Urlaubssommer und eine friedliche Zukunft auch aus ihren Gesichtern gewichen war.
Kurze Zeit später, nach zwei oder drei Kreuzungen, waren sie beim Kreisverkehr unten an der Bundesstraße angekommen. Auch die Fenster der Buschenschank, die zu Beginn ihres Urlaubs noch gut besucht gewesen war und deren Wirt ihnen in geselliger Runde allerlei Geschichten über Krottenthal und seine Einwohner erzählt hatte, waren mit Brettern vernagelt worden. Das Café, in dem es dieses herrliche Traubeneis zu kaufen gab, war genauso verwaist wie die Trafik daneben. Thorsten manövrierte den Kombi durch den Kreisverkehr.
Als sie die zweite Ausfahrt nahmen, entdeckte Simone das dreieckige Warnschild, das provisorisch in die Mitte jener Abzweigung gestellt worden war, über die sie tags zuvor noch zum See gefahren waren. Auf gelbem Hintergrund war darauf ein schwarzer Totenschädel zu sehen, darunter das Wort Mine. Es war mitten im Sommer, die Sonne hatte die Umgebung bereits am Vormittag ordentlich aufgeheizt. Und doch wurde es Simone plötzlich ganz kalt. Sie spürte die Gänsehaut auch an jener Stelle ihres Unterarms, in die sie zuvor, beim Frühstück, ihre Fingernägel gepresst hatte.
Sie mussten der Bundesstraße nur ein paar Kilometer in Richtung Nordwesten folgen. Bis Wien war es mit dem Auto eine Dreiviertelstunde. Es war nicht weit, bis sie in Sicherheit sein würden.
Doch sie sollten es nicht mal bis zum nächsten Ort schaffen.
Arpad hatte genau an dieser Stelle seinen heftigen Unfall gehabt. Mit seiner museumsreifen Cz 175 hatte er eine Kurve nicht richtig erwischt, sich zweimal überschlagen und war im Gebüsch gelandet. Sie hatten ihre Bierdosen fallen gelassen und waren sofort zur Unfallstelle gestürmt. Wären dort Bäume gestanden, er hätte den unfreiwilligen Stunt nicht überlebt. So aber hatte das Grünzeug den Aufprall seines Körpers gedämpft. Außer einem gebrochenen Oberarm war er unversehrt geblieben. Sechs Wochen später war er wieder auf der Motocrossstrecke unterwegs gewesen.
Keine vier Jahre war das her, und doch hatte Balázs keinen Schimmer, was aus Arpad, seinem ehemals besten Freund, geworden war. Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Bei Szusannas Hochzeit war das wohl gewesen. Danach war Arpad, wie so viele andere auch, ausgewandert. Nach England oder Schottland, so genau hatte das keiner sagen können. War aber auch egal. Balázs hätte ihn eh nicht besuchen können. Balázs konnte hier nicht weg. Das war sein See, hier hatte er Wurzeln geschlagen. Und einen Baum grub man ja auch nicht einfach aus, um ihn an anderer Stelle wieder einzupflanzen.
Die Verwurzelung mit seiner Heimat war es, die ihn nun wieder zurück, hierher auf die Motocrossstrecke, geführt hatte. Ohne Arpad. Ohne Motorrad. Ohne Bierdosen. Sein früheres Leben hatte er eingetauscht gegen eine Uniform und eine AK-63.
Seit vierzehn Tagen lagen sie hier in dieser Stellung, nicht mal sechshundert Meter entfernt von der österreichischen Grenze. Der Ort war ideal, da ihr Lager von der etwas tiefer gelegenen Straße, die zum seit Wochen geschlossenen Grenzübergang führte, nicht einsehbar war. Im Wald, der die Motocrossstrecke nach Norden abschloss, hatten er, sein Bruder Lászlό und die anderen Kinder aus der Schule früher Räuber und Gendarm gespielt. Damals war ihnen der Wald viel endloser und größer vorgekommen. Doch die Perspektiven ändern sich, wenn man erwachsen wird. Ein Einfamilienhaus, das einem als Kind noch wie ein riesiges Labyrinth erschienen ist, schrumpft im Lauf der Jahre zu einem viel zu engen Behältnis zusammen, aus dem man als junger Erwachsener so schnell wie möglich ausbrechen will.
Lászlό war beim Spielen immer Teil der Räuberbande gewesen, meist sogar ihr Anführer. Er war schon damals groß und kräftig gewesen. Irgendwann hatten die anderen Kinder es aufgegeben, selbst Anführer sein zu wollen. Balázs dagegen wollte nie bei den Bösewichten sein. Er war immer einer von den Guten gewesen, bei den Gendarmen. Ob als Junge beim Spielen im Wald oder wenn er in seinem Job als Nationalparkranger Besucher zurechtweisen musste, die arglos ihren Müll in die Natur warfen oder mit ihrem Auto über Wege heizten, die eigentlich nur mit dem Fahrrad oder zu Fuß hätten betreten werden dürfen. Aber jetzt, in dieser Uniform, in diesem Feldlager der ungarischen Armee, hatte er erstmals in seinem Leben das Gefühl, keiner von den Guten zu sein.
»Wann geht es denn endlich los?«, warf Ferenc, einer seiner Kameraden, in die Runde. Zu sechst hockten sie im Zelt, geschützt vor der frühen Morgensonne. »Diese Faschistenschweine müssen endlich eine Lektion bekommen.«
»Wir sind doch nur für eine Übung hier«, brachte sich ein anderer ein. »Unser Führer, der Gyula, wird höchstpersönlich entscheiden, ob es wirklich nötig ist, den Einsatzbefehl zu erteilen. Vielleicht reicht ja unsere bloße Anwesenheit schon aus, um die österreichischen Nazis zum Einlenken zu bewegen. Es wäre für alle das Beste, wenn es eine Verhandlungslösung gibt und das Leithabanat friedlich an Ungarn angegliedert wird.«
»Der dekadente Österreicher versteht nur die Sprache der Klinge. Hast du beim Heimatunterricht nicht zugehört?«, erwiderte Ferenc und schüttelte verständnislos den Kopf.
Für Balázs war all dieses politische Theoretisieren nichts als vertane Zeit. Der Heimatunterricht in den politischen Schulen, den alle Ungarn einmal die Woche besuchen mussten, langweilte ihn zu Tode, und er war froh, dass ihm das nun erspart blieb. So hatte der Dienst in der Armee wenigstens etwas Gutes. Balázs hatte sich nie besonders für politische Vorgänge interessiert. Seine Heimat und ihr Schutz waren auch ihm wichtig, keine Frage. Doch er hatte in seinem bisherigen kurzen Berufsleben genug Österreicher kennengelernt, die mit ihm das gemeinsame Interesse am Schutz der Natur auf dem Gebiet des Nationalparks im Seewinkel und im Hanság geteilt hatten. Das waren alles solide und nette Leute gewesen. Nicht einer von ihnen hatte eine ungarnfeindliche Position eingenommen. Kein einziges Mal hatte er mitbekommen, dass es der verschwindend kleinen ungarischen Minderheit im Leithabanat schlechter gehen würde als den übrigen Einwohnern. Im Gegenteil, er hatte den Eindruck, dass diese in Österreich lebenden Ungarn ganz zufrieden waren. Dass es ihnen auch wirtschaftlich besser ging als den Ungarn auf der anderen Seite der Grenze. Aber was wusste er schon. War er nicht eigentlich noch immer der kleine Junge, der nichts mehr liebte als die Natur? Und jetzt gerade war er doch in der Natur. Es war also nicht alles schlecht. Egal, was die Kameraden sagten. Egal, was die Offiziere ihnen über die Österreicher einzutrichtern versuchten.
Balázs war hier, weil es seine staatsbürgerliche Pflicht war, den seit einigen Jahren wieder eingeführten Militärdienst abzuleisten, und weil er seinen Beruf als Nationalparkranger nicht hätte weiter ausüben können, wenn er sich dem Dienst an der Waffe entzogen hätte. Er war nicht hier, um gegen jemanden zu kämpfen. Und er glaubte auch nicht, dass es wirklich zu einem Krieg kommen würde. Warum auch?
Der höher gelegene Wald im Norden sorgte dafür, dass ihre Position von österreichischer Seite nicht einsehbar war. Das gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Sollte es wider Erwarten doch einen österreichischen Angriff geben, wäre ihre Position nicht so leicht auszumachen. Gleichzeitig kannte er sich in dieser Gegend ziemlich gut aus. Er wusste, wo man sich im Wald verstecken konnte, kannte die Erdlöcher, verlassenen Hütten und die längst überwucherten Bombentrichter aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Er, der gute Gendarm, der den bösen Räuber Lászlό am Ende des Tages noch in jedem Versteck aufgespürt hatte.
»Das ist jetzt nicht gegen dich gerichtet, aber ich habe wirklich null Bock auf diesen Termin.«
Svenja verdreht die Augen und mustert Alex heimlich. Bohnenstange, Spargeltarzan, langer Lulatsch – es gab sicher einen Haufen vermeintlich liebevoll gemeinter Kosenamen, die sich ihr Kameramann in seiner Kindheit und Jugend hat anhören müssen. Immer wenn Svenja mit ihm zusammenarbeitet, entwickelt sich ein fast schon mütterlicher Reflex, ihm an der nächsten Bude eine große Portion Pommes zu kaufen, massiv viel Ketchup und Mayonnaise darauf zu verteilen und anschließend penibel darauf zu achten, dass er das fettige Zeug auch wirklich bis zum letzten Kartoffelstäbchen verputzt.
Dass Svenja keine Lust auf das bevorstehende Interview in der Hamburger HafenCity hat, hat tatsächlich nichts mit Alex oder dem Termin an sich zu tun. Es geht vielmehr darum, wo sie währenddessen wesentlich lieber wäre. Denn im Oberlandesgericht am Sievekingplatz beginnt in diesen Minuten der spektakuläre erste Klimaprozess, der Auftakt zu einer Reihe von Verfahren, die gegen ehemalige Mitglieder des Hamburger Senats aufgrund von Versäumnissen im Kampf gegen den Klimawandel initiiert worden sind. Im Mittelpunkt des ersten Prozesses stehen die Elbvertiefungen der 2020er-Jahre. Am Sievekingplatz wird heute Geschichte geschrieben, und Svenja hätte eigentlich als Co-Autorin für den Correspondent vom Prozess berichten können. Doch dann wurde ihr Kollege Leo krank und sie musste für das Interview in der HafenCity einspringen.
»Wir holen aus dieser Geschichte jetzt einfach das Beste raus«, sagt Alex, nachdem er den Sunscreen-Mode seiner Brille aktiviert hat. Die Sonne brennt mal wieder vom Himmel herunter. Wann hatte es eigentlich das letzte Mal unter dreißig Grad im Schatten? »Was meinst du, wie viele hunderte Journalistinnen und Journalisten sich im Gericht gegenseitig die Füße plattstehen werden? Du dagegen wirst eine von Wenigen sein, die eine einfühlsame Geschichte über den Neuntagekrieg machen wird. Das, was du hier machst, wird etwas Besonderes werden.«
»Mhm, genau«, sagt Svenja und verzieht das Gesicht. »Und du wirst mein einziger Zuschauer sein. Niemand kann sich noch an diesen Konflikt erinnern. Frag mal random Leute auf der Straße, welche beiden Staaten in diesen neun Tagen Krieg gegeneinander geführt haben. Ich garantiere dir, dass nicht mal die Hälfte zumindest eines der beiden Länder nennen kann.«
Svenja hat sich mit Alex beim Motorroller-Parkhaus in der Überseeallee getroffen. Vor der Ausfahrt schultert er nun sein Equipment. Svenja hält kurz inne, genießt den sanft herabfallenden Sprühnebel in ihrem Gesicht. Eine Sekunde nichts tun, nichts denken, einfach nur sich selbst spüren und sein. Nicht den Prozess und die verpasste Chance vor Augen haben, nicht an den kranken Leo und vor allem und schon überhaupt gar nicht an Liam oder den positiven Schwangerschaftstest denken.
»Heute Morgen nicht geduscht?«, fragt Alex.
»Magst du das nicht?«, reagiert Svenja mit einer Gegenfrage. »Dieses sanfte Prickeln des Sprühnebels auf deiner Haut?«
»Geht so«, erklärt Alex wenig enthusiastisch.
Sie machen sich zu Fuß auf den Weg. Der Verkehr rollt behäbig über die vierspurige Straße. Seit die HafenCity mit ihren historischen Backsteinspeichern sowie den in die Jahre gekommenen Neubauten aus den Zehner- und Zwanzigerjahren mit einem umfassenden Schattensystem ausgestattet wurde, ist die Aufenthaltsqualität sprunghaft gestiegen. Wären das über der Fahrbahn gespannte Pflanzendach und der daraus herabrieselnde Sprühnebel nicht, die Hitze wäre nicht zum Aushalten, und Svenja wäre wohl noch schlechter gelaunt.
Aus der Entfernung ist ein Schiffshorn zu hören. Wahrscheinlich verabschiedet sich gerade einer der großen Pötte, um über die Elbe aufs offene Meer zu fahren. Wie gern Svenja auch mal wieder rausfahren würde. Nach Helgoland oder zumindest zur Plattform Wangerooge.
»Was erwartet uns jetzt eigentlich?«, fragt Alex, als sie sich der Alten Gleishalle im Oberhafen nähern.
»Ich glaube, du weißt mehr über das Veranstaltungsprogramm als ich. Ich habe ja schließlich erst vor einer Stunde erfahren, dass mein Tag anders verlaufen wird als gedacht. Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, den Fragenkatalog durchzugehen, den Leo vorbereitet hat.«
Svenja muss sich zusammenreißen, ihre Enttäuschung und Wut über die Entscheidung der Redaktionsleitung nicht in jedem Satz an Alex auszulassen. Er kann am allerwenigsten für die Situation.
»Ich weiß auch nur, dass da irgendeine Gedenkveranstaltung für den Krieg läuft«, sagt Alex.
Vor der Gleishalle, die ehemals Teil des Hauptgüterbahnhofs war und seit der Stilllegung des Bahnbetriebs als Kulturzentrum dient, bringt der warme Wind, der fast immer durch die Fluchten der HafenCity weht, vier Flaggen in ein ziemliches Durcheinander. Drei Fahnen sind für Svenja leicht zu identifizieren, die Vierte, eine Rot-Gelbe mit Vogel als Wappentier, kennt sie jedoch nicht.
»Um elf Uhr haben wir den Slot für das Interview«, steuert Svenja ihr Wissen bei.
Sie hofft, dass das Gespräch mit Frau Jansen nicht länger als eine Stunde dauern wird. Vielleicht schafft sie es ja danach doch noch zum Prozessauftakt.
Die längliche Backsteinhalle mit ihrer Stahl-Glas-Dachkonstruktion ist in etwa zur Hälfte gefüllt. Klassische Musik ist zu hören. Da ist ein Orchester, das live spielt. Die vor ihr stehenden Gäste versperren ihr den Blick zur Bühne, auf der sie das kleine Klassikensemble vermutet. Im hinteren Bereich der Halle warten Büffettische darauf, mit Essen und Getränken befüllt und anschließend von den geladenen Gästen gestürmt zu werden. Noch aber langweilen sich mehrere Mitarbeitende des Caterings in ihren weißen Uniformen an den Hochtischen, starren auf ihre Smartphones oder unterhalten sich.
Svenja sticht ein majestätischer Baum ins Auge, der aus dem tieferliegenden aufgelassenen Gleisbett in die Höhe ragt. Sie kennt sich mit Natur und Bäumen nicht sonderlich gut aus. Wenn es sich nicht gerade um einen Ahorn mit seinen charakteristischen Blättern, eine Birke mit ihrem weißen Stamm oder eine Kastanie mit ihren stacheligen Früchten handelt, ist sie baumtechnisch ziemlich orientierungslos. Dieser Baum strahlt an diesem Ort eine unbändige Kraft für sie aus. Es fehlen ihm vielleicht noch zwei oder drei Meter, bis er mit seiner Spitze an die transparenten Dachelemente stößt, durch die die Halle mit gleißendem Sonnenlicht geflutet wird. Es wäre ein schönes Symbol, wenn die Baumspitze eines Tages das Dach an dieser Stelle aufreißen und durchstoßen würde. Doch natürlich wird der Denkmalschutz dem Gewächs rechtzeitig einen Strich durch die Rechnung machen, da muss man sich gar keinen Illusionen hingeben.
Svenja versucht, sich zu orientieren. Sie hat lediglich die Info bekommen, dass sie sich nach dem Festakt neben der Bühne für das Interview mit Frau Jansen treffen soll. Sie sieht keine Kameras, keine Newsfluencer und auch sonst keine Kolleginnen und Kollegen aus der Medienbranche. Diesen Termin hat der Correspondent offenbar tatsächlich exklusiv für sich. Ein schwacher Trost im Vergleich zur Aufmerksamkeit, die ihrer Berichterstattung vom Klimaprozessauftakt zuteilgeworden wäre.
Sie entdeckt zwei freie Sitzplätze in einer der hinteren Reihen.
»Wollen wir?«, fragt sie Alex, während die Halle nach wie vor vom Klang der Streicher sowie eines Klaviers erfüllt wird.
»Geh du schon vor«, antwortet der Kameramann. »Ich drehe noch eine Runde und mache vielleicht ein paar Aufnahmen aus der Totalen, damit wir ein bisschen Füllmaterial haben, wenn wir den Beitrag nachher schneiden.«
Das Publikum entspricht Svenjas Erwartungen. Es haben sich hauptsächlich ältere Semester eingefunden. Manche Gäste tragen rot-gelbe Pins am Sakko oder an der Bluse. Durch die vor ihr platzierten Köpfe kann Svenja nun auch die Musikerinnen und Musiker des Ensembles erkennen. Und erst jetzt fällt Svenja auf, dass auch hinter dem Orchester Fahnen in derselben Farbenvariation stehen, wie sie ihr auch zuvor schon vor der Gleishalle aufgefallen sind. Sie erkennt die deutsche Flagge, sie weiß, dass das Rot-Weiß-Rot zu Österreich und das Rot-Weiß-Grün zu Ungarn gehören. Aber was hat es mit Rot und Gelb auf sich?
Als die Musik verebbt, betritt die Erste Bürgermeisterin der Stadt Hamburg ein erhöhtes Pult am Rand der Bühne. Sie trägt einen Hosenanzug und gehört derselben Alterskohorte an, die auch das Publikum dominiert. Svenja hält nach Alex Ausschau, doch sie entdeckt ihren Kameramann nirgends.
»Ein herzliches Grüß Gott«, beginnt das Stadtoberhaupt die Ansprache mit für diese Region überraschenden Worten, nachdem sie sich beim Orchester für die musikalische Darbietung bedankt hat.
Svenja ist froh, dass ihr noch ein bisschen Zeit vor dem Interview bleibt und sie die Ansprachen nutzen kann, um auf ihrem Tablet ein paar Dinge zu Frau Jansen zu recherchieren. Ganz ohne Vorbereitung in ein Interview zu gehen, nur mit Leos Fragenkatalog in der Tasche, empfindet sie als unprofessionell und als nicht fair gegenüber der interviewten Person, die sich extra Zeit nimmt. Die kann ja schließlich nichts dafür, dass Svenja gerade viel lieber woanders wäre und erst vor Kurzem erfahren hat, dass sie hierher in die Alte Gleishalle fahren soll.
Svenja zieht das Gerät aus ihrem Rucksack und aktiviert das Display. Sofort ploppt eine Erinnerung ihrer Kalender-App auf. 24. Juli, 10 Uhr, Dr. Dietmers. Wie könnte sie diesen Termin vergessen. Svenja drückt das kleine Fenster auf dem Display weg. Sie hört den Worten der Rednerin nicht weiter zu, öffnet stattdessen ihr Recherchetool und hält einen Moment inne. Vielleicht könnte sie ja auch einen kleinen Blick in die Liveübertragung vom Auftakt des Klimaprozesses wagen? Der Livestream wäre nur einen Klick entfernt. Svenja unterdrückt den Gedanken und gibt stattdessen den Namen ihrer Gesprächspartnerin ein.
Ihre Interviewpartnerin ist Geschäftsführerin eines österreichischen Spezialitätenrestaurants namens Beisl, nicht weit entfernt von hier, gegenüber den Magellan-Terrassen. Sie ist Mitglied der Österreichisch-Hamburgischen Freundschaftsgesellschaft, hat eine Patenschaft für einen Königspinguin in Hagenbecks Tierpark und tritt immer wieder als Organisatorin von Charityevents in Erscheinung. Bei einem Beitrag steht Frau Jansen vor einer gelbroten Fahne mit in der Mitte platziertem Wappenvogel. Svenja klickt in den dazugehörigen Artikel und erfährt, dass es sich dabei um die Flagge des Burgenlandes handelt. Auf dem Foto lächelt Svenja eine selbstbewusste Frau entgegen, blonde Pagenfrisur, starke Augenpartie. Sympathischer Eindruck.
Doch gleich der nächste Gedanke bringt Svenja wieder zum Klimaprozess. Ob die Anklageschrift schon verlesen wurde? Hat der Prozess vielleicht aufgrund des großen Medieninteresses verspätet angefangen? Wurde gleich zu Beginn eine Vertagung beantragt? Shit, warum kann sie sich nicht auf ihren verdammten Job konzentrieren? Sei verdammt noch mal professionell, ermahnt sie sich flüsternd.
»Alle Eltern können sich vorstellen, was es bedeutet, in einer solchen Situation mit ihrem Kind auf sich gestellt zu sein.«
Die Worte der Bürgermeisterin holen Svenja schlagartig aus ihren Gedanken.
Alles Glück liegt in dir. Simone wiederholte diese fünf Wörter, diese zwanzig Buchstaben, immer und immer wieder in ihrem Kopf.
Hätte sie in den vergangenen Wochen keine Nachrichten verfolgt und wüsste sie nicht, dass Krottenthal, das Örtchen in ihrem Rücken, den Angriff einer fremden Armee befürchtete, Simone hätte sich auf der Fahrt geradezu wie in einem entspannten Sommerurlaub fühlen können.
Es war angenehm warm, die Weingärten dies- und jenseits der Straße standen in sattem Grün, die Trauben daran waren deutlich zu erkennen. Am Horizont vollführte ein Schwarm unzähliger Stare seine akrobatischen Flugmanöver. Hie und da drangen die eigentümlichen Rufe von Vögeln durch das halb geöffnete Fenster. Störche oder Gänse? Ihre langen Haare wurden vom Fahrtwind erfasst und nach hinten geworfen. Im Radio lief ein Song von Coldplay. Sie wusste nicht, welcher es war. Für sie klangen alle Songs dieser Band gleich.
Das Gefühl der Erleichterung hatte sich erst eingestellt, als sie das Ortsschild von Krottenthal hinter sich gelassen hatten. Zuvor, als sie durch die Gassen der kleinen Ortschaft am Neusiedler See gefahren waren, war die Anspannung uferlos gewesen. Thorsten hätte plötzlich umkehren, irgendeinen Vorwand finden können, warum sie doch nicht nach Hause fahren konnten. Sie hätten auf eine Sperre oder gar fremde Soldaten treffen können. Nun aber waren sie unterwegs, auf offener Strecke, kein Weg mehr zurück. Mit jedem Meter, den der Wagen mit Thorsten hinterm Steuer zurücklegte, fielen einige Kieselsteine von jener Last ab, die in den vergangenen Tagen auf ihr zu liegen gekommen waren.
Sie drehte sich um, sah zu Nicola, die mit ihren überdimensionalen Kopfhörern auf der Rückbank saß und vergnügt die Hörbuchversion ihrer Lieblingspinguinserie hörte. Immer wenn die Titelmelodie lief, konnte das kleine Mädchen nicht mehr still sitzen bleiben und musste das Gehörte mit Händen und Füßen nachahmen. Es war jedes Mal ein riesengroßer Spaß für die ganze Familie.
Simone sah nach vorne, betrachtete die kurvenreiche, sich durch die Weingärten schlängelnde Bundesstraße und legte ihre Hand auf Thorstens Oberschenkel.
»Es war die richtige Entscheidung, glaub mir«, sagte sie in einer sanften Stimmlage, sodass Thorsten es nicht als eine rechthaberische oder gar triumphale Äußerung ihrerseits deuten konnte. »Wir können uns ja aus den verbleibenden Urlaubstagen eine schöne Zeit daheim machen, Ausflüge unternehmen oder mal wieder schwimmen gehen.« Es war ein Friedensangebot, das dazu beitragen sollte, den Streit der vergangenen Tage hinter sich zu lassen.
»Du hast ja recht«, willigte Thorsten ein. »Es ist nur so, dass mich zu Hause wieder all die Probleme erwarten. Ich hätte den Moment der Abfahrt einfach gerne so lange wie möglich hinausgezögert«, fuhr er fort. »Abgesehen davon, dass ich mir wirklich beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass auch nur ein ungarischer Soldat seinen Fuß auf österreichisches Territorium setzen könnte. Es sei denn, es handelt sich dabei um ein bilaterales Manöver, an dessen Ende ein gemeinsames Schnitzelessen steht.«
»Die Schnitzel werde ich schon vermissen«, sagte Simone und ließ ihre Hand auf seinem Bein. Und wieder kullerten einige Kieselsteine vom Berg hinunter, der sich in den vergangenen Tagen auf ihrem Herzen aufgetürmt hatte. Sie hatten nach wie vor eine gemeinsame Gesprächsbasis. Das fühlte sich gut an.
»Was ist denn da los?«, fragte Simone kurz darauf. Sie hatten gerade eine kleine Anhöhe erreicht. Krottenthal hinter ihnen war nicht mehr zu sehen, dafür war die nächste Ortschaft vor ihnen bereits deutlich zu erkennen, keine fünfhundert Meter entfernt.
»Sieht aus wie ein Checkpoint«, sagte Thorsten. »Haben die wahrscheinlich hier überall eingerichtet, um zu kontrollieren, wer sich im Grenzgebiet aufhält. Das wird mit unserem deutschen Kennzeichen sicher kein Problem sein.«
Sofort war es wieder da: dieses Druckgefühl, das sich in Windeseile in ihrem Bauch bildete und danach trachtete, so schnell wie möglich zu ihrem Hals zu gelangen, um Simone in Stresssituationen das Atmen schwer zu machen. Sie umklammerte ihren Unterarm, brachte die Fingernägel in Position. Aber was Thorsten sagte, machte auf einer rationalen Ebene Sinn. Es gab keinen Grund, eine Familie aus Deutschland, die hier Urlaub gemacht hatte, aufzuhalten oder nicht passieren zu lassen.
Thorsten reduzierte die Geschwindigkeit des VW Kombis. Straßenschilder, die auf den Checkpoint hinwiesen oder eine reduzierte Fahrgeschwindigkeit einmahnten, waren erst gar nicht aufgestellt worden. Zu brisant war wohl die allgemeine Krisensituation, als dass sich die Behörden noch um die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung kümmern konnten.
Nicola schien auf der Rückbank nichts von dem kleinen Zwischenstopp mitzubekommen, sie zappelte weiterhin fröhlich herum und schaute aus dem Seitenfenster in Richtung See, der weit entfernt in der Hitze flimmerte. Kein Boot, kein Surfer war zu sehen. Vielleicht war der See, dessen südlicher Teil auf ungarischem Staatsgebiet lag, für Freizeitaktivitäten bereits gesperrt worden.
Als sie sich bis auf wenige Meter dem Checkpoint genähert hatten, trat ein Soldat vor die aus einer Panzersperre sowie Stacheldraht und einem mit Sandsäcken befestigten Geschützstand bestehende Straßensperre. Sein Kamerad behielt die Situation, mit dem Maschinengewehr im Anschlag, vom Geschützstand im Blick. Auch wenn sie die Gegend bald hinter sich lassen würden, handelte es sich hier um eine für Simone zutiefst unbehagliche und verstörende Konstellation. Thorsten ließ den Wagen ausrollen und das Seitenfenster hinunterfahren.
»Guten Tag, wir sind Urlauber aus Deutschland und befinden uns auf der Heimfahrt. Wir haben vorhin im Radio gehört, dass Zivilisten die Grenzregion verlassen sollen.«
Simone zuckte innerlich zusammen, als sie ihren Mann das Wort Zivilisten sagen hörte. Natürlich waren sie das, keine Frage. Aber dass er dieses Wort überhaupt gebrauchte, machte deutlich, dass es hier eben auch eine andere Gruppe von Menschen gab, die alles andere als zivil war. Ihr Blick wanderte wieder zu dem Soldaten, der die Straßensperre vom Geschützpunkt aus mit seiner Waffe sicherte. So als ob von ihrer Familie eine Gefahr ausgehen würde.
»Grüß Gott«, sagte der Soldat. Auch er trug eine Maschinenpistole im Anschlag. Seine olivgrüne Uniform und der gleichfarbige Helm hätten auch aus Beständen der Bundeswehr stammen können. Simone erinnerte sich an Fotos aus der Militärzeit ihres Vaters, die sie lange nach dessen Tod im Familienalbum entdeckt hatte.
Der Ton des Soldaten war freundlich, doch ihm stand die Anspannung deutlich ins Gesicht geschrieben. Immer wieder blickte er von den Reisepässen auf und sah sich in der Umgebung um. Kein Wunder. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Österreich in keinen Krieg mehr verwickelt gewesen. Zumindest ging Simone davon aus, dass es sich mit der Geschichte des Nachbarlandes ähnlich verhielt wie mit jener von Deutschland. Und nun stand dieser junge Mann, der maximal zwanzig Jahre alt war, an diesem Außenposten, der nicht mal eine Handvoll Kilometer entfernt von einer möglicherweise todbringenden Gefahr postiert war. Für alle Beteiligten war dies wohl eine neue und zutiefst verstörende Situation. »Sie können hier nicht passieren. Wir haben Befehl von höchster Stelle, niemanden durchzulassen.«
»Aber vorhin lief doch diese Durchsage im Radio«, antwortete Thorsten. Simone fühlte den Kloß im Hals, der immer dicker wurde. Alles Glück liegt in dir. Alles Glück liegt in dir. »Wir müssen hier durch, es ist die einzige Straßenverbindung«, fuhr Thorsten fort. Er übte sich in Geduld, achtete darauf, dass seine Stimme nicht unverhältnismäßig laut wurde.
»Das stimmt so nicht«, entgegnete der Soldat. Er hatte eine extrem unreine Haut, die Akne eines Teenagers. Mein Gott, wie jung war dieser Mann? »Es gibt parallel zu dieser Straße einen Radweg sowie einen kleinen Güterweg. Aber beide Wege sind gesperrt, ein Befahren ist ausgeschlossen.«
»Und wie kommen wir dann hier weg?«, fragte Thorsten.
»Lassen Sie den Wagen stehen und gehen Sie zu Fuß weiter. Vielleicht gibt's im nächsten Ort einen Bus, der Sie und Ihre Familie nach Eisenstadt bringen kann.« Er sah in den hinteren Teil des Wagens, entdeckte Nicola, die ungerührt von der ganzen Situation ihr Hörbuch genoss und keinen Anteil an der Situation zu nehmen schien. Der Soldat lächelte, als er Simone und Thorstens Tochter sah, winkte dem Mädchen auf der Rückbank zu. Nicola wurde auf ihn aufmerksam, erwiderte das Winken und schien sich nicht weiter zu wundern, was seine Eltern auf offener Straße mit einem bewaffneten Mann in Uniform zu tun hatten.
»Aber wir müssen zurück nach Deutschland, mit unserem Gepäck, mit unserer Tochter. Wie sollen wir das alles ohne unser Auto schaffen?«
»Schauen Sie, ich verstehe Ihre Situation«, entgegnete der Soldat. »Die Durchsagen in Radio und Fernsehen, wonach die Zivilbevölkerung die Grenzregion verlassen soll, laufen seit vier Tagen. Wir haben hier vor zwei Tagen die Sperre errichtet. Sie hätten also achtundvierzig Stunden Zeit gehabt, Krottenthal auf geordnetem Wege zu verlassen. Jetzt ist es leider zu spät. Selbst wenn wir wollen würden, könnten wir die Panzersperre nicht entfernen. Uns fehlt dazu schlicht das Gerät.«
Simone nahm den Straßenrand genauer unter die Lupe, sondierte, ob sie die Sperre vielleicht rechts oder links umfahren konnten. Aber das Militär hatte die Position für die Barriere gut ausgewählt. Hier war die Bundesstraße verhältnismäßig schmal, ein Ausweichen an der Seite war für ein für die asphaltierte Straße konzipiertes Auto nicht allzu leicht. Anders sah das wohl für einen Panzer aus, weswegen sie sich fragte, wen oder was dieses Hindernis im Ernstfall tatsächlich aufhalten sollte.
»Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte Thorsten. Er blickte zu Simone, sah wieder retour zum Soldaten.
»Wie ich vorhin schon sagte, Sie können das Auto stehen lassen und zu Fuß weiter. Es ist nicht weit.«
»So ein Schwachsinn«, sagte Thorsten, nachdem er das Fenster wieder hochgefahren und den Wagen gewendet hatte. »Das können die doch nicht mit uns machen, wir sind deutsche Staatsbürger! Das ist unser Auto! Das lasse ich doch nicht einfach hier stehen.«
»Es ist doch nur ein Auto«, versuchte Simone auf ihn einzuwirken. Was soll's. Hauptsache, die Familie und ihr Hab und Gut waren in Sicherheit. Und wenn sie zweimal gingen und den Wagen am Kontrollposten stehen ließen, würden sie das mit dem Gepäck schon irgendwie schaffen.
»Ich überlasse den Jungs dort ganz sicher nicht mein Auto. Die drehen damit ein paar Runden und dann sehen wir meinen VW nie wieder!«
Meinen VW. Sie hatten das Auto kurz vor Nicolas Geburt angeschafft, großteils mit Geld, das Simone dank ihres damals miesen, aber immerhin gut bezahlten Jobs über die Jahre angespart hatte.
»Thorsten, es ist unser Auto. Und das hast ja wohl wirklich nicht du allein zu entscheiden. Es geht hier schließlich ...«
»Ruhe jetzt!«, schrie Thorsten.
»Mami, was ist denn los?«, fragte Nicola. Das kleine Mädchen sah auf der Rückbank plötzlich gar nicht mehr so glücklich drein. Nicola hielt für einen kurzen Moment die Muscheln des Kopfhörers weit genug von ihren Ohren weg, sodass sie hören konnte, was ihre Mutter antwortete.
»Alles in Ordnung«, log sie ihre Tochter an. »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie, wieder an Thorsten gewandt. Sie sah zu Nicola auf die Rückbank, die sich wieder auf das Hörspiel konzentrierte. Es lief wohl gerade kein Lied, bei dem sie mitsingen konnte, weswegen sie einfach nur in ihrem Kindersitz saß und zuhörte.
»Wir fahren zurück nach Krottenthal und dann rufe ich die Botschaft an. Kann ja wohl nicht sein, dass die uns hier nur ohne Auto rauslassen!«, erklärte Thorsten.
Es lagen bereits ein- oder zweihundert Meter zwischen ihnen und der Straßensperre. Der Soldat war auf seinen Posten hinter der Panzersperre zurückgekehrt, schien sich mit seinem Kameraden in dem MG-Nest zu unterhalten. Vielleicht wunderten sich die beiden über die seltsamen Touristen aus dem Nachbarland, die bis zuletzt ihren Urlaub auskosten wollten, komme, was wolle.
Simone wusste nicht, was da durch den Kopf der Soldaten ging, sie konnte auch gar nicht mehr so genau erkennen, ob die beiden wirklich miteinander redeten.
Dafür konnte sie im nächsten Moment beobachten, wie eine Granate in die Straßensperre einschlug und alles im Umkreis von mehreren Metern in einem hellen Feuerball zerfetzte.
Nicola nahm ihre Kopfhörer ab. »Was war denn das für ein Bums?«, fragte sie.
Die Kameraden zuckten zusammen, einem fiel sogar der olivgrüne Trinkbecher aus der Hand, dessen gesamter Inhalt sich über das Hemd entleerte. Zum Glück war die Flüssigkeit nicht weiter unten, auf der Hose des Kameraden gelandet. Ein noch größeres Gespött, als es ohnehin schon der Fall war, wäre ihm sicher gewesen.
Sie hatten während der Grundausbildung allerlei Gefechtsgeräusche kennengelernt. Doch während sie bei den Übungen vorgewarnt waren, erfolgte der Knall aus Richtung der österreichischen Grenze nun unerwartet. Außerdem klang das jetzt irgendwie anders. Intensiver. Echter.
»Was war das?«, fragte Kermit, nachdem sie aus dem Zelt gelaufen waren. In ihrem Feldlager sah alles unverdächtig aus, Zelte und die am Rande postierten Trans