Zweipfennigs geisterhafte Detektei - Felix Bartsch - E-Book

Zweipfennigs geisterhafte Detektei E-Book

Felix Bartsch

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Beschreibung

Rufus Zweipfennig, einer der letzten Geisterjäger im Bundesgebiet – und chronisch pleite. Seit er sich vom Hexenzirkel abgewendet hat, hat sein Telefon ein Schweigegelübde abgelegt. Die Auftragslage ist dünn. Als er bei einem seiner seltenen Jobs jedoch einen Geist fängt, der sich völlig untypisch verhält, wird sein Leben als erfolgloser Privatermittler auf den Kopf gestellt. Denn die Krähen, die Ermittlungseinheit des Hexenzirkels, übernehmen den Fall – und zwingen Rufus zur Mithilfe. Schnell findet er sich in einer großangelegten Verschwörung wieder, in der es um weit mehr als nur um eigenartige Geister geht. Es geht um das Weiterbestehen der gesamtenHexenwelt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Realm & Rune Verlag

Heimat phantastischer Geschichten und

spannender Geschichte!

www.realm-and-rune.de

Insta/TikTok: @realm_and_rune

ISBN 978-3-69026-046-6

© 2025 Realm & Rune Verlag

Idee & Text: Felix Bartsch

Lektorat & Korrektorat: Tintenschwert, www.tintenschwert.de

Cover & Titelei: Stella Ehrhardt, @nightskygraphics

Buchsatz & Design: Sonja Blank

Anschrift: An der Obstwiese 9, 50171 Kerpen, [email protected]

Für Charlotte.

Eine Welt voller Magie wartet auf dich.

Du musst nur genau hinsehen.

Über den Autor

Felix Bartsch (*1992) isst, schreibt und schläft in Oberfell an der Mosel. Letzteres eher schlecht, aber das soll hier keine Rolle spielen. Angefangen mit Kurzgeschichten in der Schulzeit über ein zehnjähriges Intermezzo auf den Poetry-Slam-Bühnen in ganz Deutschland, hat er es sich nun aus unerfindlichen und vermutlich masochistischen Gründen in den Kopf gesetzt, sich am Buchmarkt als Autor für Urban Fantasy zu etablieren. Ob das funktioniert? Wir werden sehen!

www.felixbartsch.com

www.instagram.com/felixtbartsch

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 1

Das Klingeln des Telefons riss mich aus meiner Trance. Ich zuckte zusammen. Die letzten Stunden hatte ich erfolgreich damit vertrödelt, eine Taube zu beobachten, die auf der Fensterbank vor meiner Detektei umherstolzierte und mir mit ihrem Gurren den letzten Nerv raubte. Was nützen Hexenkräfte, wenn mir gewöhnliche Tauben auf der Nase herumtanzen?

Ich hatte schon alles probiert. Wildes Herumgefuchtel, lautes Rufen, mit Schuhen werfen. Aber nichts hatte etwas gebraucht, außer mir selbst kalte Füße. In einem schwachen Moment hatte ich sogar an drastischere Maßnahmen gedacht. Aber das brachte ich einfach nicht übers Herz. Also hatte ich wehmütig meine Schuhe wieder eingesammelt und mich seitdem darauf beschränkt, der Taube bei ihrem ausgedehnten Siegestanz zuzusehen.

Bis jetzt jedenfalls. Denn jetzt klingelte das Telefon und das brachte mich völlig aus dem Konzept. Natürlich war das für ein Telefon an sich kein ungewöhnliches Verhalten. Sie wurden schließlich genau deswegen gekauft. Sie sollten klingeln. Seit ich mich vom Hexenzirkel abgewandt hatte, tat meins das aber eigentlich nie. Obwohl es nicht kaputt war, wie ich bereits mehrfach überprüft hatte.

Es waren einfach nur schwere Zeiten für »Zweipfennigs geisterhafte Detektei« und als Geschäftsführer und einzigen Angestellten traf es mich besonders hart. Seit ich vor einigen Wochen den Geist eines Schauspielers eingefangen hatte, der partout nicht einsehen wollte, dass sein letzter Vorhang gefallen war, hüllte sich das Telefon in vornehmes Schweigen. Dafür geisterten mir seitdem Zitate aus berühmten Theaterstücken durch den Kopf.

Ich wischte mir über den Mund und verscheuchte einen Vers aus dem Nachtmonolog von Goethes Faust. Dann wartete ich kurz. Ich ließ es genau fünfmal klingeln. Nicht zu unhöflich, nicht zu verzweifelt. Außerdem schreckte die Wartezeit allzu unfreundliche Scherzanrufer ab. Dann nahm ich ab.

»Zweipfennigs geisterhafte Detektei, Rufus Zweipfennig am Apparat, was kann ich für Sie tun?«, ratterte ich meinen Spruch herunter. Ich hatte viel Zeit in die Perfektionierung meiner Ansage investiert. Nachdem sich einige Varianten, unter anderem mit Gesang oder Jugendsprache, als geschäftsschädigend herausgestellt hatten, war ich zu einer klassischen Version übergegangen.

»Hallo, spreche ich mit dem Geisterdetektiv?«, fragte eine Frauenstimme.

Offenbar hatte da jemand meine Anzeige gesehen. Ich schaltete neuerdings Annoncen in der Lokalzeitung, in denen ich mich als Geisterdetektiv und Experten für das Übernatürliche anpries. Exorzismen, Ermittlungen, Geisterjagden – kein Fall ist zu absonderlich für Rufus Zweipfennig. Ich kam mir lächerlich dabei vor, aber schwierige Zeiten erforderten eben verzweifelte Maßnahmen. Und da ich vom Hexenzirkel seit unserem Zerwürfnis nicht viel zu erwarten hatte, musste ich mich eben irgendwie über Wasser halten.

»Am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich würde Sie gerne mit einer Austreibung beauftragen.«

Heureka! Eine echte Kundin, die genau wusste, was sie wollte. Sofort setzten sich die Rädchen in meinem Kopf in Bewegung, mein Geist wurde regelrecht beflügelt. Ich klemmte mir dasTelefon zwischen Ohr und Schulter und nahm einen Notizblock zur Hand.

»Sehr gerne. Um was für eine Austreibung geht es denn?«

»Nun, das ist etwas kompliziert. Wissen Sie, ich weiß nicht, ob ich wirklich offen sprechen kann.«

Die Frau sprach leise, sie flüsterte fast in den Hörer. Je leiser sie wurde, umso lauter hörte ich das Blut in meinen Adern pumpen. Meine Neugier war geweckt, mit der Aussicht auf eine spannende Ermittlung konnte man mich immer ködern.

»Kein Fall ist zu ungewöhnlich. Sprechen Sie einfach frei raus, dann kann ich schauen, was ich für Sie tun kann.«

»Es geht um meinen Mann.«

»Was hat er denn? Ist er besessen? Speit er grüne Galle? Regnet es Frösche über ihm?«

Die Fantasie ging mit mir durch und die verschiedenen Szenarien sprudelten nur so aus mir heraus. Man sehe es mir nach, es war wirklich der erste Fall seit langem und ich ging meinen Job sehr gerne nach. Manchmal vielleicht zu gerne.

»Schön wäre es. Aber dafür könnte sich der Herr niemals motivieren. Gar nichts macht er. Nicht einmal den Abwasch. Deshalb möchte ich ja, dass sie ihn aus meiner Wohnung austreiben.«

Autsch. Das ging in eine völlig falsche Richtung. Aber ich sollte es eigentlich besser wissen. Wer, der noch wirklich bei Trost ist, ruft schon wegen einer Zeitungsanzeige einen Geisterjäger an? Aus dem Hintergrund mischte sich nun eine Männerstimme in das Telefongespräch ein.

»Mit wem redest du da Elisabeth?«

»Das geht dich gar nichts an«, sagte die Anruferin, offenbar hieß sie Elisabeth, zu ihrem Mann.

»Bei dem Krach verstehe ich den Fernseher kaum.«

»Dann zieh doch dein Hörgerät an, du stolzer Gockel.«

»Alte Ziege.«

»Hören Sie, womit ich mich rumschlagen muss?«, wandte sich Elisabeth wieder an mich. »Der alte Sack muss dringend ausgetrieben werden.«

»Wen nennst du hier einen alten Sack?«, polterte der Mann im Hintergrund.

»Na dich. Du Sack.«

Ich legte auf, bevor ich noch intimere Einblicke in das offenbar intakte Eheleben der beiden bekam. Ein weiterer Tiefpunkt im Leben des Rufus Zweipfennigs. Zu allem Überfluss knurrte mein Magen nun auch noch. Ich schlurfte zum Kühlschrank und öffnete ihn mehrmals, in der Hoffnung, er würde sich irgendwann auf magische Weise füllen. Aber, auch wenn ich der einzige offiziell praktizierende Geisterjäger in Koblenz und einem Umkreis von mehr als zweihundert Kilometern war, über Jahrzehnte ausgebildet in der geheimen Kunst der Hexerei, den Kühlschrank auf zauberhafte Weise zu füllen, lag nicht in meiner Macht.

Ich drehte noch eine Runde durch mein Büro und fand schließlich eine angebrochene Packung Kekse, über die ich mich in meinem Stuhl hermachte. Büro war eigentlich auch zu viel gesagt. Es handelte sich um eine heruntergekommene Kneipe in einer Seitengasse der Koblenzer Innenstadt, kaum größer als fünfzehn Quadratmeter. Hinter der massiven Holztheke hatte ich mir einen Arbeitsplatz mit einem massiven Laptop aus dem letzten Jahrhundert und dem schweigsamsten Telefon der Welt eingerichtet. Die meisten Stühle im Schankraum hatte ich einfach stehengelassen, für den Fall, dass mich mal jemand besuchen kam. Eigentlich hatte ich es bei der Auswahl der Immobilie vor allem auf den Kühlraum abgesehen, der sich nach ein paar kleineren Umbauten hervorragend zur Lagerung von Geistern eignete.

Der Luxus einer eigenen Geisterkühlung hatte allerdings seinen Preis. Und deshalb war ich darauf angewiesen, zu jedem Spinner am Telefon freundlich zu sein. Das war auch zur hiesigen Polizei durchgesickert. Seitdem pflegten wir gelegentlich Kontakt und sie vermittelten besondere Fälle gerne an mich weiter. Ich glaube, im Polizeipräsidium hielt man mich für eine Art Erlebnistherapeut. Jedenfalls sahen sie in mir eine angenehme Chance, um besonders aufdringliche Verrückte von der Wache fernzuhalten. Immerhin sprang für mich hin und wieder ein mickriges Honorar raus, was den Strom ein paar Wochen weiterlaufen ließ.

Ich lebte seit Monaten von der Hand in den Mund und schlief viel zu wenig. Kein Wunder, dass es außer mir eigentlich keine freiberuflichen Geisterjäger gab. Die miesen Verdienstaussichten und die Perspektive, das Rentenalter nur im Ausnahmefall zu erreichen, machten den Beruf nicht gerade attraktiv. Deshalb schlugen die meisten Hexen lieber einen anderen Karriereweg ein. Oder arbeiteten zumindest festangestellt für den Zirkel, statt sich mit den Problemen der gewöhnlichen Menschen abzumühen.

Ich checkte meinen Handykalender, mehr aus Gewohnheit und Pflichtgefühl als mit einem konkreten Ziel. In den letzten vier Wochen hatte ich keinen einzigen beruflichen Eintrag gemacht und die meisten Tage damit verbracht, meine kleine Fehde mit den Tauben zu pflegen. Außerdem spielte ich neuerdings das lustiges Spiel, wie hoch ich offene Rechnungen aufstapeln konnte, bis sie über mir zusammenstürzten. Bisher kam ich auf einen geschätzten Meter ohne schlimmere Konsequenzen.

Um mich auf andere Gedanken zu bringen, schaltete ich das Radio an. Ein Nachrichtensprecher berichtete gerade über das geheimnisvolle Verschwinden von Kühen, das einige Bauernhöfe im Umland heimsuchte. Ich hatte davon schon gehört. Ein aufgebrachter Landwirt hatte mich vor Monaten mal einen halben Tag dafür bezahlt, den ausgeweideten Kadaver einer Jungkuh auf seinem Hof zu untersuchen. Er vermutete wohl eine Art Werwolfangriff, wenn nicht noch Schlimmeres. Das war natürlich extrem unwahrscheinlich, denn Werwölfe sind sehr seltene Geisterwesen, die zudem nur zu Vollmond auffällig agieren. Die meisten Werwölfe sind deutlich friedlicher als ihr Ruf und verhalten sich den ganzen Monat über wie normale Bürger. Sie bekommen nur zu Vollmond manchmal komische Anwandlungen und wollen dann jeden anknabbern, dem sie begegnen. Aber wem passiert das nicht ab und an?

Ich hatte bei besagtem Landwirt jedenfalls nichts herausgefunden und war mir eigentlich sicher, dass irgendwelche Halbstarken oder großangelegter Versicherungsbetrug hinter dem Kuhverschwinden steckte. Der Radiomoderator sprach weiter ohne Punkt und Komma, aber auch die nächsten Nachrichtenbeiträge brachten keine spannenden Erkenntnisse. Also schaltete ich wieder ab und lauschte stattdessen dem Knurren meines Magens. Die Packung Kekse hatte nicht lange vorgehalten.

Ich würde nicht drum herumkommen, ein wenig Klinken zu putzen. Wie das Schicksal es so wollte, hatte sich kürzlich ein Medium in Koblenz niedergelassen. Sie hieß Henrietta Pelgrin und betrieb ihr Geschäft »Die zauberhafte Henrietta« in bedeutend besserer Lage als ich meins. Offenbar konnte sie sich – wie auch immer – die Miete dort leisten und musste ihr Geschäft nicht in irgendeiner zwielichtigen Nebenstraße unterbringen. Bisher hatte ich es vermieden, ihr einen Besuch abzustatten. Maßgeblich, weil es sich bei der Dame des Hauses entweder um eine kolossale Spinnerin oder eine praktizierende Hexe handelte. Beide Fälle bedeuteten Ärger und ich konnte Ärger wirklich nicht ausstehen. Aber besondere Zeiten erforderten nun einmal wirklich verzweifelte Maßnahmen.

Ich nahm meinen schwarzen Mantel vom Haken. Der gehört neben Hemd, Jeans und Stiefeln quasi zu meiner Uniform, denn er ist schön warm und hat tiefe Taschen, in denen sich allerhand Kram verstauen lässt. Verhext tiefe Taschen. Im Spiegel neben der Tür prüfte ich noch einmal kurz, ob ich vorzeigbar aussah. Die fettigen roten Haare verdeckten meine Stirn, die Augenringe hingen mir bis zu den Mundwinkeln und der Dreitagebart wollte dringend getrimmt werden. Aber alles in allem war ich so gesellschaftsfähig, wie es eben ging.

Ich hängte beim Gehen noch rasch mein »Geschlossen«-Schild in die Tür, mehr aus Gewohnheit als aus Nutzen. Nur die wenigsten Menschen, die bereit waren, einen Geisterdetektiv zu beauftragen, trauten sich auch in seine Geschäftsräume. Im Prinzip war mein Büro also kaum mehr als ein Raum, in dem ich ein paar Sachen verstauen, Geister einlagern und ungestört telefonieren konnte. Zumindest war es das gewesen, bis diese Taube aufgetaucht war.

Ich schloss die Tür hinter mir ab, verließ die Nebengassen und stürzte mich ins Getümmel. Die Löhrstraße ist die Haupteinkaufsstraße von Koblenz, vollgepackt mit Geschäften und mindestens ebenso vielen leerstehenden Räumlichkeiten, wie man es eben aus jeder größeren Stadt kennt. Und wie immer platzte sie aus allen Nähten. Ich manövrierte unter größtem Kraftakt wie ein fragiles Ruderboot durch die Flutwellen der Einkaufslustigen. Menschen strömten an mir vorbei, blieben ruckartig an Schaufenstern stehen und verschwanden dann in Läden. »Die zauberhafte Henrietta« befand sich nur wenige hundert Meter von meinem Büro entfernt und doch fühlte sich der Weg an wie eine Ewigkeit. Mehrmals überlegte ich, einfach umzukehren und mir stattdessen eine heiße Schokolade oder einen Tee zu machen.

Als ausgebildeter Hexer hatte ich mir eine gesunde Skepsis gegenüber Medien angewöhnt. Das Meiste, das sie so als Leistung anbieten, ist kaum mehr als Hokuspokus. Ein geschickt ausgespielter Betrug, der die Verwirrung und Trauer der Kunden ausnutzt. Doch solche Läden ziehen nun einmal ein Klientel an, das auch bereit sein könnte, einen Geisterdetektiv zu beauftragen.

Vielleicht konnte ich also zumindest ein paar Visitenkarten verteilen und Kontakte knüpfen. Allein vom Gesetz des Zufalls her musste Henrietta Pelgrin ja gelegentlich auch richtig liegen. Und dann wollte ich natürlich gerne in der Gegend oder zumindest schnell erreichbar sein.

Der Aufwand konnte sich also durchaus lohnen, wenn ich mich auch lieber von Medien jeder Art ferngehalten hätte. Allein der permanente Geruch nach Räucherstäbchen. Mir drehte sich nur beim Gedanken daran der Magen um.

Schon an der Ladentür wurde mir klar, dass Henrietta Pelgrin und mich keine enge Freundschaft verbinden würde. »Die zauberhafte Henrietta« wirkte von außen wie eine Mischung aus Reisebüro und pinker Zuckerwatte. Überall glitzerte und blinkte es, grelle Neonfarben stachen mir in den Augen. Ich sehnte mich in die Zeiten zurück, in denen Medien noch den Anstand gehabt hatten, ihre Geschäfte in dunklen Ecken hinter Perlenvorhängen zu verstecken oder sich nur auf Jahrmärkten herumzutreiben. Auch wenn ich diese Zeiten mit meinen nicht einmal dreißig Jahren selbst nie miterlebt hatte.

Das Geschäft schien gut zu laufen. Durch das Schaufenster konnte ich einige Damen und Herren verschiedenen Alters sehen, die in einem Wartebereich an schicken Tischen saßen und Kaffee oder Sekt schlürften.

Ich musste mir vor Augen führen, dass es um meine Existenz ging, um mich zum Eintreten zu überreden. Wenn du nicht da rein gehst, kannst du deinen Laden absperren. Oder du musst festangestellt für den Hexenzirkel arbeiten. Möchtest du das? Also los. Verhalte dich einfach unauffällig, führe ein paar Gespräche mit potenziellen Kunden und ehe du dich versiehst, bist du wieder daheim mit einem warmen Kräutertee.

Die Motivationsrede wirkte. Ich schluckte einmal kräftig, öffnete die Tür … und lief unmittelbar in einen Mann, der den Laden gerade verlassen wollte. Er war etwa zwei Meter groß und seine Unterarme waren dicker als meine Oberschenkel. Doch was noch beeindruckender war als seine bloße Masse, war die Aura, die ihn umgab. Ich prallte zurück und wäre beinahe gefallen, wenn der Fremde mich nicht reflexartig gepackt hätte. Seine große Hand schloss sich vollständig um meinen Oberarm. Ich sah ihm erschrocken ins Gesicht. Eine lange Narbe zog sich vom linken Auge über seine Nase, die Verschleißspuren wie bei einem Profiboxer aufwies. Mein Gespür für Absonderliches schlug Alarm. Als Geisterjäger lernt man, die eigenen Sinne zu schärfen, um das Besondere besser wahrzunehmen. Bei günstigen Wetterbedingungen kann ich, wenn ich meinen Geist öffne, einen gewöhnlichen Poltergeist aus über hundert Metern Entfernung spüren. Aber in diesem Moment ließ mich mein Gespür im Stich. Noch bevor ich den Fremden genauer mustern konnte, knurrte er eine Entschuldigung und verschwand in der Menge.

Ich verharrte einen Moment, um zu verfolgen, wohin er ging. Doch obwohl er so eine beeindruckende Erscheinung war, verlor ich ihn schnell aus den Augen. Da ich die Ladentür die gesamte Zeit aufgehalten hatte, ruhten nun alle Blicke der anwesenden Kunden auf mir. So hatte ich mir meinen unauffälligen Auftritt nicht vorgestellt.

Also huschte ich schnell hinein. Sofort begrüßten mich die unterschiedlichsten Gerüche. Es war eine vielfältige Komposition, wie man sie sonst nur in Parfümerien zu riechen bekam. Die süßen Düfte trübten meine Sinne und dämpften meine Wahrnehmung. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Eine leise Stimme tief in mir rief mir zu, dass hier irgendwas nicht stimmte. Aber die intensiven Düfte lenkten mich davon ab.

Am Empfangstresen begrüßte mich ein junger Mann. Er hatte seine Haare zu einer aufwändigen Föhnfrisur gestylt und die Augenbrauen akkurat gezupft. Ich bezweifelte, dass er volljährig war.

»Herzlich willkommen bei der zauberhaften Henrietta. Was kann ich für Sie tun?«, säuselte er.

Das war eine gute Frage. Was wollte ich hier noch einmal? Ich kramte in meinem Gedächtnis und warf meinen ursprünglichen Plan sofort über Bord.

»Ich möchte bitte zu Henrietta Pelgrin«, hörte ich mich sagen. Moment. War das wirklich meine Idee gewesen?

Der junge Mann musterte mich erst von oben bis unten und sein Blick sprach Bände.

»Die zauberhafte Henrietta befindet sich gerade in einer Sitzung«, sagte er und zückte sein Smartphone. Er tippte darauf herum und summte dabei gedankenverloren, bevor er weitersprach. »Ich könnte Ihnen einen Termin am Samstag in drei Wochen anbieten. Alternativ können Sie morgen während der kurzfristigen Sprechstunde zu uns kommen.« Er prüfte mich noch einmal mit seinem Blick und ich sah einen Funken von Mitleid in seinen Augen. »Die ist für besonders schwierige Fälle. Sind Sie denn schon in der Kundenkartei, Herr …«

»Zweipfennig, Rufus Zweipfennig«, murmelte ich und griff in einem Moment von Klarheit in meinen Mantel, um meine Papiere vorzuzeigen. Ich pflegte gute Kontakte zu einem Fälscher, der mir jedes Ausweisdokument meiner Wahl kostenlos fertigte, weil ich den Geist seines Stiefvaters aus seiner Wohnung vertrieben hatte. Deshalb besaß ich nun eine hochoffizielle Detektivlizenz, die absolut keine Bedeutung hatte, einen Ausweis des Bundesnachrichtendienstes sowie mehrere Papiere von Behörden wie der Bauaufsicht, Lebensmittelkontrolle oder dem TÜV. In diesem Fall entschied ich mich spontan für eine Trumpfkarte, die garantiert zu einem Gespräch mit der Eigentümerin führen würde.

»Steuerprüfung? Ach, wie unerfreulich«, raunte der Junge, der mit jedem Moment jünger aussah. »Wissen Sie, ich möchte die zauberhafte Henrietta nur ungern mitten in einer ihrer Sessions stören. Sie müssen verstehen, dass die Art von Arbeit, welche die Madame leistet, nur möglich ist, wenn sie sich absolut konzentrieren kann. Jede Störung kann sich empfindlich auf die Schwingungen des gesamten Tages auswirken. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis, dass ich Sie unmöglich zu ihr lassen kann.«

Seinen Sätzen lag eine eigene Melodie inne, die mich tief in ihren Bann zog. Doch mit meinen Ausweispapieren hatte ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Die perfekte Fassade bröckelte und er wirkte verunsichert. Mit seinem Gerede schindete er nur Zeit, was mir die Möglichkeit gab, endlich wieder den Kopf einzuschalten.

»Ich bin nicht zum Spaß hier. Wenn ich nicht sofort Einblick in die Bücher erhalte, muss ich den Laden schließen«, gab ich den schlechtgelaunten Steuerfachangestellten. Ich liebe diese Rolle, weil sie mir erlaubt, in der Öffentlichkeit schlecht gelaunt zu sein, ohne dass sich jemand darüber wundert. Ich wandte mich an die Damen und Herren im Eingangsbereich. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie umsonst gewartet haben. Ich muss Sie nun bitten, das Geschäft zu verlassen.«

Die versammelte Kundschaft sah mich verwundert an. Dem garantiert Minderjährigen hinter der Empfangstheke lief der Schweiß über den Nacken. Er war mit der Situation sichtlich überfordert.

»Aber, aber, Herr Zweipfennig. Wir können uns doch sicherlich anders einigen. Sehen Sie, ich glaube, bei der Madame ist in wenigen Minuten ein Termin freigeworden.«

Er prüfte sein Smartphone und tippte mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle auf dem Display.

»Da steht es, eine krankheitsbedingte Terminabsage. Wir müssen doch nicht gleich das gesamte Geschäft schließen, solche Maßnahmen wären wirklich nicht angebracht. Da werden wir uns doch bestimmt einig.«

Ichhatteihngenauda, woich ihn haben wollte. Wennichnoch

ein wenig Druck ausübte, bekäme ich sofort eine Audienz bei der Chefin. Vermutlich würde er mir sogar noch die PIN seiner Bankkarte verraten. Ich holte zum finalen Schlag aus, doch Henrietta Pelgrin kam mir zuvor.

»Josh, sind Sie so nett und geleiten Herrn Zweipfennig in Raum Zwei? Und bringen Sie ihm einen Ihrer berühmten heißen Kakaos. Ich bin in wenigen Sekunden bei ihm«, rief sie aus den hinteren Räumlichkeiten.

Joshs Miene beruhigte sich. Ich war nun nicht mehr sein Problem. »Wenn Sie mir folgen würden, Herr Zweipfennig?«

Er machte Anstalten, seinen Platz hinter dem Tresen zu verlassen.

»Nicht nötig, ich finde den Weg allein«, sagte ich und nahm meine Papiere von der Empfangstheke.

Ich folgte einem schmalen Gang neben der Empfangstheke. Er endete vor drei identischen Türen, eine links, eine rechts und eine am Kopfende. Die Tür zu Raum Zwei stand offen und ich trat ein. Seit ich nach meiner zehnjährigen Grundausbildung zum Hexer eine Karriere als Geisterjäger eingeschlagen hatte, hatte ich schon mehrere Medien zuhause besucht. Die meisten lebten nach wie vor zurückgezogen und hielten nicht viel von Sonnenlicht, Ordnung oder Körperhygiene. Bei Henrietta Pelgrin war jedoch alles schick dekoriert und steril. Raum Zwei hatte etwas von dem Behandlungszimmer einer Arztpraxis. Die Wände waren weiß gehalten, mit ein paar pinken Farbakzenten. Einige gerahmte Bilder vermittelten einen wohnlichen Eindruck und in der Luft lag ein Geruch von Reinigungsmittel. Es gab ein paar Zimmerpflanzen, ein Wandtattoo mit einem inspirierenden Spruch und in der Mitte des Raums stand ein runder Tisch mit drei Stühlen.

Ich zog einen raus und setzte mich. Josh brachte mir den angekündigten heißen Kakao, wobei er es vermied mir in die Augen zu schauen, und kaum eine Sekunde später war Henrietta Pelgrin schon da. Sie betrat den Raum nicht einfach nur, sie vervollständigte ihn. Als wäre die gesamte Einrichtung nur darauf abgestimmt, ihre Ausstrahlung richtig in Szene zu setzen. Sie hatte blondes, kinnlanges Haar und ich schätzte sie auf um die vierzig. Dank reichlich Schminke war das jedoch nur eine grobe Vermutung. Sie trug ein auffälliges lila Kostüm und Schuhe mit so schmalen und hohen Absätzen, dass jeder falsche Schritt direkt ein Fall für die Notaufnahme wäre.

Sie sagte sagte erst einmal nichts, sondern ließ ihre beeindruckende Gestalt für sich sprechen. Ich schluckte kräftig und nestelte an dem Ring an meinem Ringfinger herum. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.

»Sie müssen Herr Zweipfennig sein. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Betreiben Sie nicht ein erfolgloses Geschäft in einer Seitengasse ganz in der Nähe?«

Mist. Mein Bluff war schneller aufgeflogen, als ich erwartet hatte. Glücklicherweise schaltete ich schnell genug. »Einem echten Medium kann man eben nichts vormachen.«

»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs? Es scheint dringend zu sein, wenn Sie zu solchen Tricks greifen. Oder gehört das zum kleinen Einmaleins der Detektivarbeit?«

Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Die ganze Nummer hier lief anders als geplant. Für gewöhnlich tauchte ich auf, schüttelte ein paar Hände und ging im Idealfall mit der naiven Hoffnung auf neue Aufträge in der Tasche meines Weges. Ich konnte noch nicht einordnen, in welche Richtung dieses Gespräch gehen würde.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte ich, stand auf und zog ihr einen Stuhl zurück.

Sie war überrascht. Immerhin bot ich ihr gerade in ihrem eigenen Geschäft einen Stuhl an. Ein geschickter Zug, um das Kräfteverhältnis durcheinanderzubringen. Sie musterte mich für einen Moment. Ich stand ihr so nah, dass ihr intensives Parfum in meiner Nase stach. Blumig-holzig, aber irgendwie auch würzig, mit einem Hauch von unterdrückter Wut. Nach einer kurzen Bedenkpause ließ sie sich nieder.

»Ein echter Gentleman der alten Schule. Danke. Sie wissen gar nicht, wie anstrengend es sein kann, den ganzen Tag in diesen Schuhen herumzulaufen.«

Ich hatte die Initiative übernommen und wollte sie keineswegs wieder verlieren. Also kam ich zur Sache.

»Ich will ehrlich sein. Ich bin nicht hier, damit Sie mir etwas über mein totes Haustier erzählen können. Vielmehr strebe ich eine Art der Zusammenarbeit an.«

»Eine Kooperation? Wie habe ich mir das vorzustellen?«

»Nun, ganz einfach. Sie reden mit Geistern – und ich sorge dafür, dass sie Ihren Kunden keinen Ärger machen. Falls also einer Ihrer Kunden oder Sie selbst jemals Bedarf in die Richtung haben, melden Sie sich einfach bei mir.«

»Und dann kommen Sie auf einem weißen Ross geritten, um den Tag zu retten?«

Autsch. Das hatte gesessen.

»Herr Zweipfennig, ich will ehrlich sein. Ich schätze es sehr, einen Kollegen in meiner Nähe zu wissen. Und unter Umständen könnte sich eine Kooperation durchaus als gewinnbringend erweisen. Aber wenn das passiert, dann nur zu meinen Bedingungen. Ist das klar?«

Sie verstand sich hervorragend darauf, ihre scharfen Ansagen so freundlich auszusprechen, dass ich die versteckte Drohung kaum wahrnahm. Madame Pelgrin war keine arme Irre, die ein paar noch Ärmeren und Irreren das Geld aus der Tasche zog. Sie war eine knallharte Geschäftsfrau, die ihr Terrain absteckte. Es machte wenig Sinn, dieses Gespräch weiterzuführen. Wenn ich sie provozierte, würde sie endgültig dicht machen, wenn ich verhandelte, würde sie mich zum Frühstück fressen. Ein stillschweigender Rückzug kam aber auch nicht in Frage, denn ich wollte nicht vor ihr einknicken.

»Nun, wenn Madame nicht interessiert ist, möchte ich Sie nicht weiter aufhalten. Wünsche noch einen schönen Tag.«

Ich tippte mir an den imaginären Hut und verließ Raum zwei, ohne mich noch einmal umzudrehen. Der klare Abgang zu meinen Bedingungen ließ mir zumindest einen Funken Restwürde. Josh säuselte mir noch einen schönen Tag hinterher, als ich den Laden verließ.

Wieder auf der Einkaufsstraße kaufte ich mir eine Dose Spezi, setzte mich auf eine Bank und beobachtete gedankenverloren vorbeilaufende Menschen. Henrietta Pelgrin hatte mich beeindruckt. Gut, ich hatte meinen größten Trumpf, dass ich im Gegensatz zu ihr ein echter Hexer war und nicht allen bloß etwas vormachte, nicht ausgespielt. Aber man musste ja auch nicht in der ersten Runde All-in gehen. Und eindeutige Klarheit darüber, dass sie keine Hexe war, hatte ich nicht. Wenn es mir auch unwahrscheinlich erschien.

Ich verbuchte das Thema »neues Medium kennenlernen« erst einmal als erledigt, wenn auch nicht sonderlich erfolgreich, und checkte mein Handy. Ich hatte drei verpasste Anrufe von Frau Dornkneip. Sie war eine reizende Dame, die in einer feineren Wohngegend der Stadt in einer altertümlichen Villa lebte. Ein spannendes Haus mit einer langen Historie. Vor einigen Wochen hatte ich dort ihren Mann eingefangen. Also, den Geist ihres Mannes. Schon zu Lebzeiten hatte Herr Dornkneip sein Arbeitszimmer kaum verlassen wollen und, als er dann schließlich verstorben war, blieb sein Geist einfach da, wo er immer gewesen war, und ging weiter seiner Arbeit nach. Macht der Gewohnheit, nicht einmal im Tod konnte er aus seiner Haut. Bildlich gesprochen. Seitdem rief mich die Witwe alle paar Monate an, weil sie sich Sorgen machte, ihr Harald könnte wieder im Arbeitszimmer sein Unwesen treiben.

Dabei war der Geist ihres verstorbenen Mannes eigentlich ein ganz angenehmer Zeitgenosse gewesen. Geister leiden generell unter einem sehr schlechten Ruf. Die meisten Menschen glauben, dass Geister grundsätzlich böse sind. Das stimmt nur in den seltensten Fällen. Zumeist sind es unverstandene, arme Seelen, die sich mit aller Kraft an einen Funken ihres Lebens klammern. Deshalb treten Geister oft im Zusammenhang mit besonderen Orten auf. All die großen, mystischen Orte der Welt haben so ihre Geister. Manchmal ist es aber auch nur das häusliche Arbeitszimmer, an dem das Herz eines Verstorbenen hängt, weshalb die Person als Abbild zurückbleibt. Dementsprechend ungehalten reagieren sie gelegentlich, wenn man sie davon trennen möchte.

Frau Dornkneips Sorgen waren jedenfalls unberechtigt. Ich hatte ihren Mann fachgerecht eingefangen und in die Nebenwelt befördert, wo er nun eins mit dem großen Mahlstrom geworden war und hoffentlich Frieden gefunden hatte. Dennoch kam ich ihren Rufen gerne nach, weil ich die Nachsorge als einen wichtigen Teil meiner Arbeit verstand. Außerdem backte die alte Witwe hervorragende Kuchen.

Da ich nichts weiter zu tun hatte und mein Magen immer noch knurrte, sprang ich in den nächsten Bus und befand mich wenige Minuten später in Frau Dornkneips Foyer.

»Rufus, endlich sind Sie hier. Er ist wieder da. Da bin ich mir ganz sicher. Ich höre wieder das Wimmern im Arbeitszimmer und durch den Türspalt konnte ich seine Silhouette sehen. Das muss mein Harald sein. Es ist entsetzlich.«

Die Witwe stürzte mir in die Arme und ich hatte Schwierigkeiten, sie aufrecht zu halten.

»Es ist gut, dass Sie mich gerufen haben. Bleiben Sie zurück, Frau Dornkneip. Ich sehe mir das einmal genauer an.«

Hatte ich erwähnt, dass das größte Fingerspitzengefühl in meinem Beruf im Umgang mit den Hinterbliebenen und Betroffenen nötig ist? Die können einem sonst nämlich echt auf den Geist gehen.

Frau Dornkneip vermisste einfach nur ihren Mann und fühlte sich allein in dem großen Anwesen nicht mehr sicher. Also spulte ich das volle Programm ab. Für solche Zwecke trug ich in einer versteckten Manteltasche immer meinen Revolver mit mir, den ich nun zog. Die traditionelle Ausstattung der Geisterjäger sieht eigentlich eine Armbrust als Bewaffnung vor. Ich war aber kein großer Fan davon, mehr Aufmerksamkeit als nötig zu erregen. Deshalb hatte ich mich für einen kleinen Revolver mit kurzem Lauf und einer Sechsertrommel entschieden, die sich hervorragend mit verhexen Patronen für unterschiedliche Zwecke bestücken ließ. Diese Waffe war deutlich portabler und unauffälliger, wenn auch weit weniger beeindruckend als eine Armbrust.

Ich schlich mich mit behutsamen Schritten an das Arbeitszimmer heran, den Revolver fest in meiner rechten Hand. Durch einen offenen Spalt in der Tür konnte ich die Umrisse eines Menschen sehen. Doch nach zweimal Blinzeln erkannte ich schon, dass es nur ein Morgenmantel auf einem Kleiderbügel war. Vorsichtig näherte mich und je näher ich kam, desto lauter hörte ich ein gleichmäßiges Quietschen, das beinahe wie ein Heulen klang. Und dann ergab alles Sinn. Mit einem schnellen Schritt drückte ich die Tür auf und steckte die Waffe wieder weg.

»Frau Dornkneip, kommen Sie.«

»Ist es auch wirklich sicher?«

An der Schwelle zum Arbeitszimmer zögerte die Witwe. Sie hatte eine natürliche Abneigung, das Arbeitszimmer selbst zu betreten. Was es damit auf sich hatte, konnte ich bisher nicht in Erfahrung bringen. Vermutlich war es ihr zu Lebzeiten ihres Mannes schlichtweg untersagt gewesen.

»Ich würde Sie nie einer Gefahr aussetzen. Kommen Sie nun?«, fragte ich und streckte ihr meine Hand entgegen.

Die alte Dame fasste sich ein Herz, griff meine Hand und betrat mit Trippelschritten die heiligen Hallen ihres verstorbenen Ehemanns. Als sie den Morgenmantel sah, der auf einem Kleiderbügel an einem Schrank hing und im Wind flatterte, schüttelte sie ungläubig den Kopf.

»Ich habe ihn doch gesehen. Und gehört.«

»Frau Dornkneip, es ist nur der Wind«, sagte ich und verwies auf das Fenster, das bei stärkeren Windstößen leise und schaurig quietschte.

»Sie können das nicht zufällig reparieren, Rufus?«

Also verbrachte ich den restlichen Vormittag damit, das Fenster neu zu justieren. Der Großteil meiner Zeit ging dabei dafür drauf, vorher zu googeln, wie zur Nebenwelt man ein Fenster überhaupt justierte. Den Morgenmantel hing ich vorsichtshalber auch ab und räumte ihn in einen Schrank. Anschließend hatte ich mir ein großes Stück Bienenstich im antiken Wintergarten der alten Witwe redlich verdient.

Ich verabschiedete mich höflich. Weil ich nichts weiter zu tun hatte und mir die zwei Stück Kuchen sowieso schwer im Magen lagen, entschied ich mich gegen das Busfahren. Stattdessen spazierte ich entlang des Schwanenteichs, wo mich Armeen aus Enten und Nutrias um Brot anbettelten, das ich selbst nicht hatte. Anschließend nahm ich den Weg am Rheinufer entlang. Eine kühle Brise ging und ich spürte die unbändige Macht des Wassers, das neben mir her floss.

Während meiner Grundausbildung zum Hexer hatte mein damaliger Lehrmeister einen Faible dafür gehabt, mich möglichst schutzlos den Elementen auszusetzen. Einmal warf er mich während ich schlief in den Rhein. Er meinte, das würde mich abhärten. Ich war mir inzwischen sicher, dass er einfach ein mieser Typ war.

Die Beherrschung der Elemente gehörte nicht zu meinem Spezialgebiet. Es dauert gut ein Jahrzehnt, um eine Profession zu meistern. So gibt es jedenfalls die Ausbildungsverordnung des Hexenzirkels vor. Zunächst durchläuft man vom zehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahr eine Grundausbildung. Diese ist nicht durch eine Schule oder eine andere Institution organisiert, die zugrundeliegenden Regeln passen auf ein Blatt Papier. Es gibt keine Lehrer mit wallenden Gewändern, die in Schulklassen mit Zauberstäben herumwedeln und Gruppenarbeiten oder Aufsätze aufgeben. Stattdessen entscheidet der jeweilige Lehrmeister weitestgehend allein, was er dem Lehrling beibringen möchte. Und auf welche Art.

Hat man diese Tortur überstanden, wird man beim Hexenzirkel in einer rituellen Prüfung wie ein Schoßhündchen vorgeführt und darf sich Hexe nennen. Anschließend verwendet man die nächsten zehn Lebensjahre darauf, sich in einer der vielen Professionen zu spezialisieren, um ein nützliches Mitglied der Hexenwelt zu werden. Denn von der Hexerei allein lässt es sich herrlich schlecht leben, wie mein leerer Kühlschrank mir immer wieder vor Augen führte.

Die meisten Hexen spezialisieren sich auf die Arbeit mit den Elementen, die sogenannte Kreation. Sie meistern eines der Teilgebiete und bringen sich anschließend möglichst gewinnbringend in der Welt ein. Vor allem für sie selbst. Andere Professionen sind Heilkunst, Braukunst, also das Herstellen von Tränken, die Vision genannte Hellseherei und die Artefaktion, worunter die Fertigung besonderer Gegenstände zu verstehen ist. Und die ganz außergewöhnlich Verrückten wählen meine Profession, die Geisterjagd.

Hat man die zehn Jahre Spezialisierung hinter sich gebracht, darf man sich wieder vor den kritischen Augen des Hexenzirkels durch die Arena schleifen lassen und sich im Idealfall danach Großhexe beziehungsweise Hexenmeister nennen. Oder sich nie wieder blicken lassen.

Für mich würde es bald so weit sein, ich hatte noch ein Jahr in der Spezialisierung vor mir. Der Ausgang war mir aber eigentlich relativ egal, weil ich mich ungern beim Hexenzirkel blicken ließ und auch nicht vorhatte, daran in absehbarer Zeit etwas zu ändern. Diese Abneigung beruhte gewissermaßen auf Gegenseitigkeit, weil es da mal eine größere Auseinandersetzung gegeben hatte, an die ich nicht gerne, aber viel zu oft denken muss. Vor allem dann, wenn ich auf meinen niedrigen Kontostand schaue.

Ich drehte mehrmals vorsichtig an dem Weißgold-Ring an meinem rechten Ringfinger. Schließlich schüttelte ich die Gedanken ab, verließ die Rheinpromenade und nahm eine Route durch den Schlossgarten. Es war bereits Herbst und die reichhaltigen Blumenbeete verwelkten allmählich. Ich fühlte mit ihnen.

Um zurück zu meinem Büro zu kommen, musste ich durch ein eher unbeliebtes Einkaufsgebäude gehen. Der Hinterhof, von dem ein schmaler Gang in die Fußgängerzone führte, wurde nur selten von ein paar Touristen aufgesucht, die sich vollständig verlaufen hatten. Ansonsten ließ sich hier niemand blicken. Neben meinem Büro gab es noch einen kleinen Esoterikladen, der sich dank ein paar ahnungsloser Stammkunden recht wacker hielt. Leider waren sie nicht ahnungslos genug, um einen Geisterjäger zu engagieren.

Als ich an diesem Tag mein Büro erreichte, sah ich mich jedoch mit etwas Unglaublichem konfrontiert: Vor meiner Geschäftstür wartete jemand.

Ich wurde sofort misstrauisch und prüfte, ob mein Revolver da war, wo er hingehörte. Dann musterte ich den Fremden aus der Entfernung. Er trug eine blaue Latzhose und einen alten Pullover mit dem Logo einer Baufirma. Die Haare waren ihm vermutlich schon vor längerer Zeit ausgegangen, aber er machte insgesamt einen freundlichen Eindruck. Also näherte ich mich vorsichtig.

»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich.

Der Mann schreckte wie aus einer Trance hoch.

»Sind Sie dieser Zweipfennig?«, fragte er mit tief-dröhnender Stimme.

»Das kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Na, wer das wissen möchte.«

»Rainer Kohlfeld, Hausmeister in den Weißer Höfen. Ich glaube, ich brauche Ihre Hilfe.«

Die Weißer Höfe sind ein Wohnkomplex nahe der Mosel, direkt neben der Balduinbrücke. Ein seelenloser Neubau mit viel weiß, viel Glas und unverschämt hohen Preisen. Eigentlich kein Ort, an dem sich ein Geist typischerweise herumtreiben würde. Meine Neugier war also geweckt und ich streckte Herrn Kohlfeld die Hand entgegen.

»Rufus Zweipfennig. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Er drückte meine Hand und dabei umschloss seine Pranke sie vollständig. Sie fühlte sich rau und trocken an.

Ich schloss die Tür auf und bat ihn herein. Instinktiv schnappte er sich einen Barhocker und setzte sich an die Theke. Ich bot ihm ein Bier an, das er dankend annahm. Es half, den Menschen ein wenig Normalität zu bieten, wenn sie sich womöglich mit etwas Außergewöhnlichem konfrontiert sahen. Also machte ich erst einmal etwas Smalltalk über das Wetter und die Fußballergebnisse des vergangenen Wochenendes. Nicht, dass ich mich mit Fußball auskannte, aber ich gab mir zumindest Mühe und das nahm Herr Kohlfeld wohlwollend zur Kenntnis. Als wir per Du waren, stellte ich ihm die entscheidende Frage.

»Rainer, du wirkst nicht gerade schreckhaft. Und auch nicht

abergläubisch. Also, was zur Nebenwelt machst du hier?«

»Meine Chefs sagen, da wäre nichts. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Unten im Heizungskeller, da gibt’s Ärger. Irgendwer verbiegt immer die Rohre. Die Verwaltung meint, das wären bestimmt Jugendliche. Aber das kann kein Mensch gewesen sein, das weiß ich genau. Ich hab denen auch aufgelauert, aber da war keiner. Nur wieder verbogene Rohre. Ich konnte das nicht glauben. Aber dann habe ich ihn gesehen.«

Hektisch griff er zu seiner Flasche und nahm einen großen Schluck Bier.

»Ihn?«

»Na, ihn. Den … ach, den Geist halt.«

Er sah mich zögerlich an. Vermutlich wartete er darauf, dass ich laut losprustete. Die meisten meiner Neukunden waren sich unsicher, was sie von mir halten sollten. Ehrlich gesagt, mir ginge es vermutlich genauso.

»Wie sah er aus?«, fragte ich.

»Wie du und ich. Nur irgendwie nicht greifbar. Ich konnte kaum hinsehen. Und er hatte Hörner, glaube ich. Und einen durchdringenden Blick mit schwarzen Augen.«

Die meisten Geister sind eher scheu und offenbaren sich Menschen nicht. Jedenfalls nicht optisch. Sie machen sich eher über ihre Taten bemerkbar. Bei Rainers Beschreibung gingen bei mir also die Alarmglocken an. Denn warum sollte ein Geist für einen Menschen sichtbar werden, wenn er gar nicht wusste, dass er beobachtet wurde? Ich hakte nach.

»Bist du dir sicher?«

»Ich trinke Bier bei einem Geisterdetektiv. Nix gegen dich. Bin schon froh, dass ich nicht zu dieser Pelgrin musste. Diesem Medium. Da ist mir ein Geisterdetektiv schon lieber. Also bin ich mir wohl sicher, sonst kann ich mich ja gleich einweisen lassen. Ab in die Klapsmühle.«

Ich nickte und zückte einen Vordruck, um das übliche Protokoll durchzuführen. Organisation war schließlich die halbe Miete.

»Ist kürzlich jemand in den Weißer Höfen verstorben?«

»Bestimmt nicht. Von den Bonzen gibt doch nie einer den Löffel ab«, sagte Rainer und trank sein Bier leer. Ich stellte ihm ein neues hin, das er dankend annahm, und machte ein Kreuz auf meinem Protokoll.

»Gab es in letzter Zeit bauliche Änderungen?«

»Nur Kleinkram. Ein kaputtes Waschbecken hier, eine verstopfte Toilette da. Nichts Wildes, der übliche Wahnsinn.«

»Wurden antike Schätze, alte Kunst oder sonstige Wertgegenstände neu aufgehängt?«

Rainer zog eine Augenbraue hoch.

»Junge, wir reden von den Weißer Höfen. Keine Ahnung, was die da alles in ihrer Wohnung an Trödel haben. Seit ich mal aus einer verstopften Badewanne über hundert Liter Marmelade rauspumpen musste, will ich das gar nicht mehr wissen. Ich mach nur meine Arbeit und stelle keine Fragen.«

Ich kreuzte »vielleicht« auf dem Zettel an und machte mir Notizen. Die notwendige Befragung der Anwohner könnte wirklich lästig werden. Es war echt Zeit für einen Assistenten.

Ich ging noch weitere Punkte mit dem Hausmeister durch und führte die übliche Dokumentation von Ort, Zeit und Handlungen beim Auftreten des Geists durch. Anschließend stellte ich eine viel zu niedrige Rechnung, was ich dadurch bemerkte, dass Rainer sie ohne weitere Diskussionen abnickte. Verdammt, bei dieser Hausverwaltung wäre wohl noch mehr zu holen gewesen. Ich musste wirklich dringend an meinem Geschäftssinn arbeiten. Danach machten wir ein Treffen vor Ort aus, der Hausmeister steckte sich noch ein Bier für den Weg ein und ich konnte in Ruhe nachdenken. Bis die Taube wieder auftauchte.

Kapitel 2

Ich mag Gebäude mit Leben. Einem Haus sollte man ansehen können, dass es bewohnt wurde oder wird. Die kleinen und großen Geschichten des Alltags müssen aus allen Poren triefen. Ich meine Macken und Löcher in den Wänden, Kratzer im Parkett und vollgehängte Wände mit Bildern und Erinnerungen. Nur dann fühle ich mich wirklich daheim, sofern ich dazu überhaupt in der Lage bin.

Die Weißer Höfe sind das Gegenteil davon. Ein moderner Wohnblock mit weißem Putz, vielen Fensterfronten und Glasbalkonen mitten in der Innenstadt von Koblenz. Für den Normalo waren die Wohnungen unerschwinglich, für jemanden wie mich in unerreichbarer Ferne. Ich würde unter normalen Umständen nicht einmal Zugang zum Haus bekommen.

Es gab sogar ein eigenes Parkhaus, das ich aber nicht brauchte. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und kettete es einfach im Innenhof an. Das Rad hatte ich auf einem Flohmarkt gekauft, weil es einen großen Korb hatte und ich zu solchen Einsätzen gerne einmal eine größere Menge Ausrüstung mitschleppen musste. Da störte mich das Blumenmuster auf dem Rahmen nicht weiter.

Auch diesmal hatte ich einen Rucksack voller Messgeräte, Kameras und allerhand technischer Spielereien dabei. Ich halte nicht viel davon, meine Hexenkräfte zu offensichtlich in aller Öffentlichkeit zu präsentieren. Schließlich ist die Beziehung von Mensch zu Hexe historisch gesehen ein wenig vorbelastet. Deshalb verstecke ich meine Fähigkeiten gerne hinter aufwendig aussehender Technik. Dass Menschen die Wirkungsweise von Technologie nicht verstehen, sind sie schließlich gewohnt.

Zusätzlich zu dem Rucksack führte ich eine Sporttasche mit Schlafsack, Klamotten und Proviant mit mir. Für solche Missionen besorgte ich mir immer reichlich Sandwiches, Schokoriegel und Spezi. Eben alles, was ein Minderjähriger so kaufen würde, wenn die Eltern mal ausgeflogen sind. Mein Beruf bestand oft daraus, nachts lange wach zu bleiben und zu beobachten. Das erklärte die tiefen Augenringe und den erhöhten Bedarf an Zucker. Jedenfalls redete ich mir das immer wieder ein.

Rainer wartete schon am Haupteingang auf mich. Der Eingangsbereich und das Treppenhaus waren steril gehalten. Das erleichterte zwar meine Arbeit, sorgte aber nicht gerade dafür, dass ich mich wohlfühlte. Meine eigene Wohnung befand sich am oberen Ende einer maroden Holztreppe unmittelbar über einer Kneipe in der Innenstadt. Es roch immer nach frittiertem Essen und Bier und am Wochenende war an Schlaf kaum zu denken. Entsprechend schreckte mich die klinische Sauberkeit ab.

Im Treppenhaus roch es nach gar nichts. Kein stechender Zitrusreiniger, kein Essensgeruch, einfach nichts. Rainer führte mich weiter nach unten. Wir passierten das Stockwerk der Tiefgarage und gingen noch tiefer in den Kellerbereich. Der Hausmeister zeigte mir einen Raum, in dem ich meine Sachen ablegen konnte.

»Hier kannste die nächsten Tage pennen. Hab dir eine Matratze und ein paar Decken hingelegt.«

Ich bedankte mich, legte meine Sachen ab und breitete mich aus. Es war kaum mehr als ein Kellerloch, aber ich hatte mich schon an unangenehmeren Orten auf die Lauer gelegt. Immerhin war es windgeschützt und nur in Teilen feucht. Nachdem ichausgepackt hatte, ließ ich mich von Rainer in den Heizungskeller führen.

»Hier vorne, die Rohre hat das Biest verbogen. Hab drei Männer gebraucht, um das wieder in Ordnung zu bringen.« Er klopfte stolz gegen eines der Rohre, das immer noch lädiert aussah.

Ich zog eine Art Smartphone mit zwei langen Antennen aus der Tasche. Ein spezielles Messgerät, das ich entworfen hatte. Gut, es maß nichts und seine einzige Funktion war, dass es anfing zu piepen, wann immer ich die Aura eines Geistes wahrnahm und diese Energie in das Gerät weiterleitete. Aber für Unwissende sah es dadurch so aus, als würde ich mit einem gewöhnlichen Messgerät hantieren. Ich stellte mich also vor die Rohre, öffnete meinen Geist und spürte nach einer Aura. Als ich ersten Wellen vernahm, schaltete ich das Gerät ein. Sofort setzte ein ohrenbetäubender Piepton ein.

»Verdammt, was ist das für ein Krach?«, schrie Rainer.

Ich schaltete das Gerät ab. »Ein Messgerät für übernatürliche Energie. Aber offenbar ist es defekt. Es sei denn … Ach, finden wir es heraus.«

Ich drehte es hin und her, öffnete meinen Geist erneut und hielt es an das Heizungsrohr. Wieder machte es gehörig Alarm. Also räumte ich es zurück in meinen Kellerraum und holte mein Ersatzgerät. Doch auch das schlug direkt lautstark aus, als ich die Aura hinein lenkte.

»Faszinierend. Das ist wirklich ungewöhnlich«, sagte ich.

»Sag ich doch!«

Selbst wenn ich unmittelbar vor einem Geist stand und seine Aura in das Messgerät leitete, kamen normalerweise höchstens ein paar harmlose Piepser heraus. Ich war meinen Ohren schließlich nicht böse. Aber so ein Lärm? Das war mir noch nie untergekommen. Hier stimmte etwas nicht. Und zwar gewaltig.

»Das ist wirklich eigenartig. Einen so hohenWert habe ich auf

der Skala noch nie gemessen«, sagte ich, nachdem mein Tinnitus nachgelassen hatte. »Wissen Sie, was das bedeutet?«

»Wir gehen alle drauf?«, knurrte Rainer.

»Vielleicht. Aber vorher möchte ich dem Geist gerne ein paar Fragen stellen. Eigentlich einen ganzen Katalog an Fragen. Ich meine … könnte es womöglich … vielleicht … ist es denn … Das kann ich ihn ja dann selbst fragen.«

Ich sah es in Rainers Augen. Er bereute es, mich hinzugezogen haben. Vor ein paar Tagen war er noch ein gewöhnlicher Hausmeister gewesen und nun steckte er mit einem Geisterdetektiv im Heizungskeller fest. Das konnte schnell zu viel werden.

»Ich muss jetzt ein paar Routinetests durchführen. Falls Sie also noch andere Aufgaben haben, komme ich ab hier dann allein zurecht.«

Er nahm diesen Ausweg dankend an, versicherte mir, später nochmal vorbeizuschauen – als ob – und verschwand dann fluchtartig. Ich war wieder allein. Aber das kannte ich nicht anders. Als Geisterjäger war man viel allein. Ich nutzte die Zeit, um meine übliche Prozedur durchzuführen.

Traditionell gesehen, bestand die Geisterjagd eigentlich nur aus zwei einfachen Schritten: Geist sichten, Geist eliminieren. Das rührte daher, dass die wenigen Geisterjäger, die es noch gab, im Dienst des Hexenzirkels standen. Und der Hexenzirkel hatte herzlich wenig Interesse daran, mehr über Geister zu erfahren. Den Entscheidungsträgern war es nur wichtig, dass die Geister schön brav in ihrer Nebenwelt blieben. Entsprechend wurden die Geisterjäger monatlich dafür entlohnt, dass sie einfach durch ihre Region zogen und Geister erlegten.

Ich persönlich halte nicht viel von den alten Methoden. Meine Arbeitsweise besteht im Grunde aus fünf Schritten: informieren, observieren, konservieren, diskutieren und eliminieren. Zunächst hole ich so viele Informationen über den potenziellen Geist ein, wie ich nur kann. Anschließend schaue ich mich vor Ort um und finde eine Möglichkeit, den Geist zu binden, sodass ich mit ihm reden kann. Dadurch finde ich heraus, was dieser Geist wirklich möchte. Anschließend nutze ich dieses Wissen, sperre ihn in ein Gefäß und schicke ihn später dahin zurück, wo er hingehört. Soweit die Theorie.

In der Praxis lief es für gewöhnlich nicht so geordnet ab. So hatte ich mich schon häufiger über Geister informiert, die ich nie konservieren konnte. Umgekehrt eliminierte ich einige von ihnen, ohne auch nur einen Funken über sie zu wissen. Man musste die Theorie eben an die Praxis anpassen.

In diesem Fall war die Informationslage eher dünn. Ich hatte ein paar Eckdaten von Rainer erfahren, die aber nicht wirklich hilfreich waren. Schritt zwei brachte nun Ergebnisse hervor, die sämtliche Skalen sprengten, die ich mir selbst ausgedacht hatte. Auch hier kam ich also nicht weiter. Es blieb mir keine Wahl, ich musste den Geist festsetzen. Nur so würde ich in dieser Sache weiterkommen.

Also ging ich zurück zu meinem Basislager und holte ein paar alte Konservendosen. Ich hatte sie selbst leergegessen und nutzte sie nun als Fallen und Gefängnisse für Geister.

Sie waren luftdicht mit speziellen Deckeln verschlossen, die nur durch eine komplexe Mischung aus Hexerei, Plastik und Hoffnung hielten. In den Dosen selbst steckte das Ergebnis von komplizierten und langwierigen Beschwörungen. Normale Menschen und auch Hexen können körperlose Geister nicht berühren oder festhalten, andere Geister aber sehr wohl. Deshalb hatte ich verschiedene Tiergeister in die Dosen gebannt, zumeist große Pranken von Bären oder die Mäuler von Walen, die den Geist verschlangen oder einfach in die Dose zogen. Kurzum: Es waren Geisterfallen.

Ich verteilte einige Dosen im Heizungskeller und versteckte mich unter einer Werkbank. Jetzt begann der Hauptteil meiner

Arbeit: das Abwarten.

In der ersten Nacht passierte nichts. Um mir die Zeit zu vertreiben, trainierte ich ein wenig mit meinen Vertrauten. Jeder Geisterjäger verband sich im Laufe seiner Ausbildung mit verschiedenen Wesen, um deren Kräfte nutzen zu können. Manche schlossen einen Pakt mit einem Nachtmahr oder einem Dschinn. Andere öffneten sich für die Elementargeister eines Vulkans. Ich selbst hielt es lieber mit Tieren. Insgesamt war ich bisher mit drei Tiergeistern eine Verbindung eingegangen: einem Raben namens Krabat, einem Wolf namens Nodin und einem Polarbären, der auf den Namen Nanook hört. Ich ließ also abwechselnd ihre Geister durch mich strömen, ihre Abbilder vor mir erscheinen und festigten so die Verbindung. Außerdem überbrückte das zumindest die ersten Stunden.

Anschließend spielte ich zwei Packungen Batterien beim Versuch leer, einen neuen Rekord bei einem Gameboy-Spiel aus den 90er-Jahren aufzustellen. Nebenbei aß ich eine Familienpackung Gummibärchen und ging pünktlich zum Sonnenaufgang mit Magenschmerzen ins Bett.

Nachmittags traute sich Rainer in den Heizungskeller und ließ sich auf den neuesten Stand bringen. Da es nicht viel zu berichten gab und Rainer sich merklich ungern in der Nähe meiner Arbeit aufhielt, war es ein sehr kurzes Gespräch. Aber dafür, dass er tatsächlich nochmal aufgetaucht war, bekam er ein paar Sympathiepunkte extra.

Ich bestellte mir eine Pizza, die ich im Innenhof entgegennahm und dort auch aß. Thunfisch, Lachs und Shrimps. Eine Trias aus Meeresfrüchten, die Neptun bestimmt sauer machte. Glücklicherweise war ich dem mächtigen Gott des Meeres noch nicht begegnet und er verirrte sich auch an diesem Tag nicht zufällig in die Mosel. Was vor allem daran lag, dass er nicht existierte. Die Götter, die tatsächlich in der Nebenwelt ihr Unwesen trieben und dort über die zwölf Sektionen herrschten, interessierten sich glücklicherweise kein Stück für meine Essgewohnheiten. Also konnte ich meine Pizza ohne Störungen genießen.

Anschließend vertrat ich mir ein wenig die Beine an den Flussläufen von Rhein und Mosel und kehrte pünktlich zum Sonnenuntergang zu meiner angestammten Position unter der Werkbank zurück.

Auch in der zweiten Nacht passierte nichts. Und in der dritten ebenso wenig. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Ich hatte schon einmal auf Bitte einer Gemeinde mehrere Wochen in einer alten Burgruine verbracht, in der es angeblich spuken sollte. Alles, was ich da einfangen konnte, war eine handfeste Grippe, die mich mehrere Wochen ans Bett fesselte.

Nach der vierten ergebnislosen Nacht entschloss ich, den Kontakt zu den Hausbewohnern zu suchen. Maßgeblich, um meine Rechnung rechtfertigen zu können. Also stand ich extra frühzeitig auf, um meine Chancen zu steigern, irgendjemanden anzutreffen. Vorher schaute ich aber kurz in meiner Wohnung vorbei. Dort duschte ich und richtete mich halbwegs menschlich her. Ein weitgehend knitterfreies Hemd und eine Fliege sollten über den alten Mantel, die dreckigen Stiefel und meine zerzausten Haare hinwegtäuschen. Ich radelte mit ein paar Ausdrucken meines Standard-Protokolls zu den Weißer Höfen zurück. Im Innenhof atmete ich noch einmal tief durch, dann trat ich ein und klingelte wahllos bei den ersten Namen.

Es war früher Vormittag und die meisten Türen blieben mir verschlossen. Vermutlich gingen die Bewohner ihrer Arbeit nach oder ignorierten mich einfach. Eine alte Dame bat mich herein und stellte mir deutlich mehr Fragen als ich ihr. Ich empfahl ihr eine Partnerbörse für ältere Singles – bitte nicht nachfragen, woher ich diese kenne – und setzte meine Befragung fort.

Leider leben die meisten Städter so, dass sie ihre Nachbarn nach

bestem Gewissen ignorieren. Solange sie nicht stören, existieren sie quasi nicht. Dementsprechend dünn war die Informationslage am Ende des Tages. Auf dem Dorf laufen solche Befragungen ganz anders ab. Da klingelt man nur an einer Tür und erfährt die Lebensgeschichte aller Anwohner und ist binnen Stunden überall bekannt. Auf den Buschfunk ist eben Verlass. Außerdem wurde mir bei Befragungen im ländlichen Raum deutlich mehr Schnaps oder Wein aufgezwungen, während mir in den Weißer Höfen nicht einmal ein Glas Wasser angeboten wurde.

Nach einem langen Tag musste ich mich damit abfinden, dass ich hier nicht schlauer werden würde. Niemandem war irgendetwas Besonderes aufgefallen, was mich stutzig machte. Wenn es wirklich einen Geist gab, warum beschränkte er sich dann auf den Heizungskeller?

Das ergab keinen Sinn. Für gewöhnlich waren die Handlungen von Geistern sinnvoller als die der meisten Menschen. Es gab immer ein besonderes Bedürfnis, eine Idee oder einen bösen Geheimplan. Da aber kürzlich kein Hausmeister verstorben war, was mir Rainer mehrmals versichert hatte, und auch kein Installateur das Zeitliche gesegnet hatte, konnte ich mir auf all das keinen Reim bilden.

Also blieb mir nichts weiter übrig, als zu beobachten. Immerhin war es bezahlte Arbeit und ich nahm nicht irgendeine arme alte Dame aus, sondern eine Wohnbaugesellschaft. Ich legte mich also wieder auf die Lauer und wartete ab.

---ENDE DER LESEPROBE---