Wer Avocado sagt, muss auch Bionade sagen - Felix Bartsch - E-Book

Wer Avocado sagt, muss auch Bionade sagen E-Book

Felix Bartsch

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Beschreibung

Christoph kann dem fortschreitenden Ausverkauf und der Uncoolwerdung der Hauptstadt nicht tatenlos zusehen. Er und seine Freunde schmieden einen Plan. Leider keinen besonders guten ... Patriotische Urbane gegen die Gentrifizierung der Stadt! Schreiend komisch. Vollkommen absurd. Und ganz nah dran.

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Seitenzahl: 264

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periplaneta

Felix Bartsch: „Wer Avocado sagt, muss auch Bionade sagen“ 1. Auflage, September 2018, Periplaneta Berlin, Edition Mundwerk

© 2018 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Dieses Buch ist eine Satire. Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig. Erwähnungen von - oder Anspielungen auf Personen des öffentlichen Lebens oder bekannte(n) Begrifflichkeiten stellen keinerlei Wertung von irgendwelchen real existierenden Begrifflichkeiten oder Personen dar.

Projektleitung, Lektorat und Titelgrafik: Swantje Niemann Covergesign: Marion Alexa Müller, Thomas Manegold

Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-108-0 epub ISBN: 978-3-95996-109-7E-Book-Version: 1.1

Felix Bartsch

Wer Avocado sagt, muss auch bionade sagen

Eine Gentrifiction

periplaneta

Eins

Christoph rieb sich die Augen und rückte dann seine Hornbrille zurecht. Gerade war sein Mitbewohner in sein Zimmer gestürmt und hatte ihm gesagt, er solle dringend den Fernseher einschalten, da sei was Großes am Laufen. Dann hatten sie beide herzlich gelacht, wohl wissend, dass Fernsehen ja sowieso nur vorgefertigte Meinungen für Vollidioten verbreitete und überhaupt völlig bourgeois war, weshalb sie beide keinen Fernseher besaßen. Da konnte man sich genauso gut einen rostigen Nagel durch die Nase ins Gehirn treiben, das hätte eine ähnlich bildende und anregende Wirkung.

Nachdem das MegaHyperBook Stratosphere 2 unlimited, das Omi ihrem kleinen Liebling vor dem Auszug in die große Stadt geschenkt hatte, endlich hochgefahren war, öffnete Christoph zielstrebig den Browser. Er begann, sich panisch durch die üblichen Blogs und Newsplattformen zu klicken, nur um überall dieselbe Schreckensbotschaft über den Bildschirm flackern zu sehen. Er schnaufte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Jedes Mal zuckte sein gesamter Körper beim Lesen der Nachricht zusammen. Zwischendurch heiterte er sich mit lustigen Katzenvideos auf. Katzen fand er einfach superniedlich, besonders, wenn sie sich wie Menschen anzogen. Wer konnte schon einem Fellknäuel widerstehen, das wie ein Steuerberater aussah? Richtig, niemand.

Danach wieder Gänsehaut. Die Stadt war nicht mehr angesagt!

„Fuck. Verdammte Scheiße“, stammelte er in seinen Dreitagebart, von dem niemals jemand erfahren durfte, dass er über drei Wochen gebraucht hatte, bis er so wunderschön flaumartig seine jungenhaften Gesichtszüge verdeckte. Dieser Bart war wie der sanfte Hauch von Edelschimmel auf einem französischen Weichkäse, ein Pelz gegen die Pubertät, und für gewöhnlich ging Christoph entsprechend liebevoll mit diesem kostbaren Gut um. Nun jedoch zupfte er mit zittrigen Fingern daran herum, sodass sich schon fast kahle Stellen bildeten.

Plötzlich war da diese Leere, dieses Nichts. Wie konnte das nur passieren? Klar, es hatte Anzeichen gegeben, doch Christoph hatte sie erhaben ignoriert, denn ihm selbst war es ja gut ergangen. In den letzten Jahren hatte er sich unverwundbar gefühlt. Als Sir Awesomeness McHammergeil war er schließlich immer am Puls der Szene und angesagt. Irgendwo in einer Riege mit Chuck Norris, Bruce Lee und Angela Merkel. Immerhin dachte Christoph ja auch nicht permanent über die Folgen seines Zigarettenkonsums nach, denn ausgestattet mit der Turbolunge 9000 konnte nichts schief gehen. Es war nie Christophs Art gewesen, verfrüht den Teufel an die Wand zu sprühen.

Doch jetzt brach alles, was er bisher so halbherzig abgetan hatte, über ihm zusammen. Christoph blickte fassungslos auf den Bildschirm. Da war dieser verdammte Kloß im Hals. Dieser Kloß, der vom Schlucken nur noch dicker wurde und den es doch eigentlich nur in Erzählungen und mittelmäßigen Liebeskomödien gab, wenn der schüchterne Losertyp dem viel zu heißen Mädchen endlich seine Liebe gestand. Christoph hatte tausende von diesen Filmen gesehen. Nicht, weil er sie mochte, sondern weil es eine beliebte Abendbeschäftigung in seiner WG war, sich bewusst schlechten Filmen auszusetzen, um die Dialoge später in Konversationen mit anderen Menschen zu rezitieren. Dabei fühlten sie sich ein bisschen so wie Tyler Durden in Fight Club, der als Guerilla im Kino Sexszenen in Kinderfilme schnitt. Nur eben, dass sie Dialoge aus Liebeskomödien in das echte Leben woben. Nur jetzt fehlten ihm die passenden Worte, gingen ihm die Filmschnipsel aus.

Er begann, mit dem rechten Bein zu wackeln. Auf und nieder mit jedem Scrollen des Mausrades. Auf und nieder mit jeder gelesenen Zeile auf dem Bildschirm. Auf und nieder bei jedem kurzen Ein- und Ausatmen. Würde seine Mutter ihn jetzt sehen, sie hätte ihm wieder in ihrer unvergleichlichen Art angedroht, seinen Fuß am Boden festzunageln oder das Internet abzustellen. Doch gerade würde selbst ein 50-cm-Stahlbolzen seinen Fuß nicht ruhighalten können und die Trennung vom Internet seinen Tod bedeuten.

Das war es nun also, das Ende? Mit der ganzen Lebensart, die er in den letzten Jahren so in sich aufgesogen hatte, sollte es plötzlich vorbei sein?

In den Blogs wurde der Niedergang der einstigen Szenehochburg Deutschlands sauber protokolliert. Es hatte schon vor einigen Jahren angefangen, als immer mehr junge Menschen zum Studieren in das Mekka der Kreativität einfielen. Jahr für Jahr brandeten neue Ersti-Wellen gegen die Stadtmauern wie Orks gegen die Wälle von Helms Klamm. Sie alle hofften, weit weg von ihren Kuhdörfern am Puls der Zeit leben zu können. Doch nachdem die letzte Altbauwohnung bis obenhin mit Studenten vollgestopft und sogar der letzte Drei-Quadratmeter-Müllcontainer zu einer hippen und alternativen Low-Budget-Unterkunft umfunktioniert worden war, stand man vor einem Problem: Die Stadt war schlicht und einfach voll und bot keine Perspektiven mehr.

Zu viele und immer kritischere Stimmen stritten miteinander und verhinderten eine sinnvolle Weiterentwicklung der Szenekultur. Gleichzeitig führte der geradezu lächerlich hohe Konsum von Szenegetränken und Drehtabak zu Ressourcenknappheiten. So begannen schon vor zwei Jahren die Krisen, angefangen mit dem großen Mate-Engpass von 2018. Laut Internetberichten kam es damals schon zu ersten Ausschreitungen und Gewalttaten. Um an das süß-koffeinhaltige flüssige Gold zu kommen, sollten sich Jugendliche zu Gangs zusammengeschlossen und in alter Westernbanditenmanier die Zulieferer überfallen haben. Die Medien berichteten von Baumstämmen auf der Straße und maskierten Ganoven mit Luftgewehren. Das hielt Christoph aber bis heute für einen urbanen Mythos.

Doch das war nicht der einzige Bereich, in dem sich das drohende Ende frühzeitig abgezeichnet hatte. Dem Fortbewegungsmittel Nummer eins, dem Longboard, wurde bereits vor einem Jahr mit der Einführung von einigen rollbrettfreien Zonen ein erster Dämpfer verpasst. In diesen Zonen war es wegen diffuser Gründe wie Lärmbelästigung und der fragwürdigen Ästhetik der Straßensurfer untersagt worden, Longboards zu verwenden. Zunächst waren es nur die reicheren Viertel gewesen. Dort wurde das Verbot aber mit eiserner Faust durchgesetzt. Berichte von Rentnern, die jugendliche Rollbrettfahrer mit Gehhilfen, Stöcken oder Schrotflinten, Souvenirs aus dem lang zurückliegenden Russlandurlaub, von den Beinen holten, waren keine Seltenheit. Die Jugendlichen fühlten sich durch diese Nachdrücklichkeit ziemlich vor den Kopf gestoßen und waren von der Rolle, beides im wahrsten Sinne des Wortes.

Kritischer wurde es aber erst, als sich die Zonen ausweiteten und immer weniger Spots für das lässige Herumgerolle übrigblieben. Im Endeffekt schien das alles nur ein ausgetüftelter Plan der Stadtverwaltung zu sein, um von der Fülle hipper Jugendlichen in irgendeiner Weise finanziell profitieren zu können. Da machten die meisten jungen (Neu-)Hauptstädter noch gute Miene zum bösen Spiel. Als dann jedoch vor wenigen Wochen wegen gigantischer Absatzzahlen eine Zusatzsteuer für gebrauchte Schallplatten eingeführt wurde, die je nach Rauschfaktor des schwarzen Vinyls bis zu zehn Euro betragen konnte, schwoll den meisten (männlichen) Jugendlichen der Sack derartig an, dass die Skinny-Jeans in der nächsten Streetwear Collection als Baggy-Pants neu vertrieben werden konnte. Die Jünger der Stadt hatten die Faxen dicke.

Gleichzeitig wollte sich weiterhin jeder Zugezogene in der neuen Heimat beweisen und die neusten Trends aufzuspüren, bevor es sie überhaupt gab. Egal, wie absurd sie klangen, Hauptsache exklusiv, abgefahren und unpopulär. Sobald sich mehr als fünfzig Leute für etwas interessierten, wurde es fallengelassen und der nächste heiße Scheiß gesucht. Besonders die Gastronomie hatte darunter zu leiden und so öffneten beinahe täglich neue Läden mit den absurdesten Geschäftsideen.

Zuletzt hatte ein Restaurant aufgemacht, in dem man selbst seine Zutaten mitbringen musste – und diese dann auch selbst zubereitete. Aber nicht jeder Gastronom hatte solche bahnbrechenden Ideen und so schloss und eröffnete man immer wieder dieselben Cafés, Clubs und Szenekneipen, bis irgendwann nach einer Vielzahl an Namen alle Kombinationsmöglichkeiten aus Buchstaben und Zahlen durchdekliniert waren. So kam es zum Leerstand. Einem Leerstand, den noch mehr Zugezogene ausnutzten, um sich Wohnraum unter den Nagel zu reißen – in der Not schläft ein Erstsemester-Student auch mal in einem alten Backofen oder baut sich eine Hütte aus Barhockern. Ein Teufelskreis, diese Zuwanderung.

Heute hatte nun also offiziell der letzte Club der Stadt die Pforten geschlossen und somit den letzten Nagel in den Sarg der Stadt geschlagen. Das XYI8Y92 hatte sich immerhin wackere vier Wochen gehalten und überzeugte lange durch sein Konzept: In Ermangelung eines finanziellen Etats und als Protest gegen die aberwitzigen GEMA-Gebühren, aufgrund derer so mancher Gastronom sich schon gezwungen sah, sein Erstgeborenes zu verhökern, verzichtete der Betreiber auf Musik. Unter dem Motto Peter Pan Revival Club musste man sich also den Soundtrack für die fetzige Feierei selbst vorstellen. Das fand Anklang, schließlich beschritt dieses Konzept neue Wege und sprach das Kind im Jugendlichen an.

Nun aber war die Party vorbei, hatte die GEMA doch einen Weg gefunden, zumindest eine Unterlassung der gedanklichen Rezitation geschützten Liedgutes einzuklagen. Kurz gesagt: Im Kopf der Besucher schallte nun statt der neusten Indie Band ein großer „Dieses Lied ist in ihrem Land nicht verfügbar“-Sprechchor. Und dazu wackelte es sich eher schlecht mit der Hüfte.

Christoph ließ den Kopf in die Hände fallen. Er atmete schwer durch die Finger, sodass bei jedem Atemzug ein leises Pfeifen entstand. Da war diese Ohnmacht. Diese schreckliche Ohnmacht, die er schon damals gespürt hatte, als seine Lieblingsband auf einmal eine erfolgreiche Radiosingle herausgebracht hatte und nicht mehr nur in ramschigen Kaschemmen vor 20 Gästen auftrat.

Er fühlte sich beraubt. Man hatte ihm nicht nur seine Stadt weggenommen, sondern auch seine Identität. Was war er denn abseits dieser Stadt? Nichts als ein mittelmäßiger Designstudent, der schon viel zu lange ohne klares Ziel im Bachelorstudium vor sich hindümpelte. Aber in dieser Stadt, da war er Teil einer Bewegung, einer Generation, die nur auf den richtigen Moment wartete, um ihr schier unglaubliches Potential zu entfalten. Er wollte auf keinen Fall wie sein Vater in einem 9-to-5-Job festhängen und sich jeden Tag dieselbe Krawatte fest um den Hals schnüren, nur um die Seele irgendwie im Körper einzusperren. Das war nicht sein Stil. Aber das verstand man auf dem Land nun mal nicht und auch sonst nirgendwo. Und das alles sollte jetzt vorbei sein? In seinem Kopf spielten sich wirre Szenarien ab, in denen ihn sein Vater bereits für eine Banklehre bei der Sparkasse angemeldet hatte und sich freute, dass sein Sohnemann endlich in die väterlichen Fußspuren trat. Er sah sich schon mit einer bäuerlichen Magd des 17. Jahrhunderts verheiratet und zu Zwangsarbeit im Bergwerk verurteilt.

Auf einmal fühlte er eine Phantomkrawatte, die ihm Stück für Stück den Hals abschnürte. „Ich gehe nicht wieder in die Kohlemiene“, schrie Christoph und machte sich keuchend auf die Suche nach frischer Luft.

Er fand sie auf dem Balkon, irgendwo zwischen ein paar leeren Kästen Sterni Export und alten Weinflaschen. Dieser Balkon hatte für Christoph immer etwas Beruhigendes gehabt, war ein Anker, der ihm Halt gab. Wie oft hatte er hier schon nach einer langen, durchtanzten Nacht der Sonne beim Aufgehen zugesehen und sich dabei mit wie fremdgesteuerten Fingern eine Zigarette nach der anderen gedreht. Doch heute spürte er beim Blick Richtung Horizont nichts. Die Sonne lachte hämisch auf seine Misere hinab. Es war fast schon, als hätte sie einen lodernden Finger, mit dem sie ihn immer wieder neckisch in die Seite pikte und dabei dümmlich vor sich hin grinste. Eindeutig, die Sonne war ein Arschloch. Und jeder andere, der auch nur einen Funken Fröhlichkeit ausstrahlte, auch.

Plötzlich riss Malte die Balkontür auf.

Er hatte seinen Vollbart zu einem dichten Zopf geflochten und hielt eine Bibel in der linken und den Schnaps in der rechten Hand. Tränen liefen ihm aus den blutunterlaufenen Augen.

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich“, schluchzte er zwischen zwei Schlucken Weinbrand, nur um dann unter Tränen auf den mit Kissen bedeckten Europaletten niederzusinken. Für Christoph war es eine vollkommen neue Situation. In all den Jahren des gemeinsamen Wohnens hatte er Malte noch nie weinen sehen. Bis dato war er schlicht davon ausgegangen, dass Malte über keine Tränendrüsen verfügte und stattdessen in seinen Augenringen Schnaps schmuggelte. Malte war auch einfach nicht der Typ für Tränen, mit seinen kurzgeschorenen Haaren, den Fitnessstudio-Designermuskeln und tätowierten Oberarmen.

Er selbst war auch völlig überrascht von seinem emotionalen Ausbruch. Von Wut über Trauer bis hin zu Verzweiflung wechselte seine Gefühlslage im Tempo eines Stroboskoplichtes. Das letzte Mal, dass er derart aufgelöst war, lag schon Jahrzehnte zurück und hatte mit der Absetzung von Heidi im Vorabendprogramm zu tun gehabt. Davon hatte er aber bis dato niemandem erzählt. Es sollte schließlich keiner wissen, dass unter seiner harten Schale nur ein kleiner Junge steckte, der gerne einmal der Ziegenpeter geworden wäre. Gott, was hätte er diese Heidi gerne flach gelegt.

Für Christoph war Malte immer eine Naturgewalt gewesen, die sich mehr schlecht als recht als Mensch verkleidete. Und jetzt lag er da, hämmerte mit den bowlingkugelgroßen Fäusten auf die Kissen und hörte nicht auf zu schluchzen, als hätte man ihm gerade am ersten Schultag sein Milchgeld abgenommen. Dabei war er doch sowieso laktoseintolerant. Christoph saß daneben und schwieg ob der Tragik und Komik der Situation. So verbrachten sie noch einige Stunden, irgendwie am Rand der Klippe. Und im Hintergrund sang ein Vogel sein Lied, in der Hoffnung, ein fickbares Weibchen zu finden.

Zwei

„Oh, du glaubst, Alkohol ist dein Verbündeter. Für dich ist Alkohol eine Waffe. Ich wurde in ihm geboren, in ihm geformt, ich habe die Nüchternheit erst erblickt, als ich ein Mann war, damals hat es mich nur ... gelangweilt“, grölte Malte durch das Wohnzimmer. Dann verharrte er kurz mit erhobenem linken Arm und geöffneter Hand, als wollte er gönnerhaft den Zuschauer einen letzten Blick erhaschen lassen.

Schließlich setzte er seine Bane-Maske wieder ab und offenbarte ein verschmitztes Oscar-Gewinner-Lächeln. Auf Amphetamin wurde Malte immer zu Bösewichten aus den Batman-Filmen. Christoph hatte sich immer gefragt, wie Malte überhaupt die gesamte Zeit und das Geld zur Verfügung hatte, um diese Nummern einzustudieren sowie die Kostüme zu beschaffen. Bemerkenswert fand er es auf jeden Fall, schließlich brachte Malte jedes Mal den Text trotz seines erhöhten Pegels fehlerfrei über die Lippen. Es war so etwas wie seine Superkraft, eine Superkraft, die niemandem half. Es sei denn natürlich, jemand sähe einen Nutzen darin, diesem Bären von einem Mann dabei zuzusehen, wie er als Pinguin verkleidet durch die Gegend torkelte. Eine Freakshow zum Beispiel oder ein sehr gelangweilter Milliardär. Wenn Christoph Milliardär wäre, dann würde er dafür wohl bezahlen, beschloss er für sich. Und er würde gut zahlen, schließlich wäre er gelangweilt, denn zu viel Geld zu besitzen langweilte grundsätzlich immer.

Wenigstens war Malte dieses Mal nicht Scarecrow. Seine überzeugende Darstellung des psychisch gestörten Therapeuten aus Batman Begins samt Vogelscheuchenmaske und Koffer voller Halluzinogene hatte Christoph einmal derart in Panik versetzt, dass er es vier Tage lang nicht aus der Embryonalhaltung schaffte. Das war auch der Grund, weshalb er das erste Semester wiederholen musste, denn die Aktion fiel ausgerechnet in die Klausurphase. In dieser Zeit hatte er sich oft zurück in seine Mutter gewünscht. Auch wenn es da mittlerweile sicherlich nicht mehr sonderlich geräumig und das W-Lan nicht gut war. Aber immerhin gab es dort keine Vogelscheuchen und Psychotherapeuten.

„Weißt du, warum ich immer noch keinen Oscar gewonnen habe?“, fragte Malte.

„Weil du ein verdammt mieser Schauspieler bist?“, lachte Christoph.

Ein sanft fragender Ausdruck huschte über Maltes Gesicht. Dann setzte er wieder eine ernste Miene auf. „Quatsch, das System ist einfach scheiße. Da sitzen so eine Handvoll elitärer Volldeppen und entscheiden, wer ein guter Schauspieler ist und wer nicht. Aber wer zur Hölle hat denen überhaupt die Legitimation dazu erteilt? Richtig! Eine weitere Bande elitärer Volldeppen. Und wenn wir das alles konsequent zu Ende führen und die Deppen-Konstante beibehalten, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass ich als erfahrener Konsument sicherlich mehr Ahnung von Filmen habe als diese ganzen Pappnasen. Deshalb steht mir der Oscar zu. Würde den aber sowieso nicht annehmen. Da haben mir die Illuminati zu stark die Finger mit drin!“, führte er aus.

Christoph sagte nichts. Er wusste, dass Malte nun in dem Stadium angekommen war, in welchem er wüste Monologe über Verschwörungstheorien und Weltanschauungen zum Besten gab. Die einzige Möglichkeit, diese Phase zu überstehen, hieß Ruhe bewahren.

So begann Christoph, mit seiner Mensakarte gelangweilt das weiße Pulver auf dem abgeschliffenen und weiß gestrichenen Couchtisch hin und her zu schieben. Es war still im Raum, lediglich das leise Kratzen der Karte auf altem Holz und das gelegentliche Herausbrechen von kleinen Splittern war zu vernehmen. Christoph versuchte, flacher zu atmen, in der Hoffnung, Malte würde schlicht vergessen, dass er immer noch im selben Raum war. Das Unterfangen war aber zum Scheitern verurteilt, besaß Malte doch die geschärften Sinne eines Rehkitzes. Eines einen Meter neunzig großen Rehkitzes mit Tattoos und Amphetamin in der Blutbahn.

„Weißt du“, brach Malte die Stille, „Manchmal fühlt sich mein Leben an wie Star Wars Episode 7.“

„Weil es nichts als ein riesiges Déjà-vu ist?“, ließ sich Christoph zu einer Antwort hinreißen.

„Haha. Sehr witzig, Christopherus. Nein, sondern weil Geld und finanzieller Druck alles behäbig werden lassen. Erfolgsdruck hängt wie Bleigewichte an deinem Körper und zieht dich nach unten. Und so ist auch mein Leben“, sprach Malte.

„Wann hast du denn jemals Druck gehabt oder Erfolg angestrebt?“, fragte Christoph.

Maltes Augen begannen, bedrohlich zu funkeln. „Ja, genau das ist es ja. Ich habe verstanden, wie der Hase läuft. Ich lasse mir keine Gewichte an meine Eier binden, da bin ich mir zu fein für. Freiheit, das ist das Zauberwort, mein junger Padawan. Du musst sie atmen, sie fühlen, sie schmecken. Deshalb damals überhaupt hergezogen ich bin.“

Christoph nickte. Er wusste nicht, ob er es tat, weil er Malte zustimmte, oder ob er schlicht seine Ruhe haben wollte. Er nickte wiederholt, ließ sich gar zu einem gebrummten „Hmm“ hinreißen und hielt dann inne, um weiter mit der weißen Plastikkarte über den Holztisch zu schaben. Sein Vater hatte auch immer so genickt, wenn ihm eigentlich etwas nicht passte, er es aber nicht zugeben wollte. Dasselbe gebrummte „Hmm“ hatte er damals von sich gegeben, als Christoph ihm von seinen Umzugs- und Studienplänen erzählt hatte. Christoph sah es vor sich, als wäre es gestern gewesen: Im grünen Strickpullover, die Beine in beiger Hose übergeschlagen und den Oberkörper im Sessel zurückgelehnt, fuhrwerkte sein Vater mit der rechten Hand im eigenen Gesicht herum und wog gleichzeitig die Fernsehzeitschrift in der linken. Im Hintergrund nur das Knistern des Kaminfeuers und das leise, monotone Dröhnen des Nachrichtensprechers, der wegen der schlechten Qualität des alten Röhrenfernsehers ein wenig wie Goebbels klang. Dann unterbrach dieses Brummen das Goebbels-Stimmdouble, gefolgt von wiederholtem Nicken. Das war es. Mehr hatte sein Vater dazu nie gesagt.

Christoph lief bei diesem Gedanken ein kalter Schauer über den Rücken. Er ließ die Karte ruhen, rollte ein Papierröllchen aus einem Foto von Marlene Mortler, die es aus unerfindlichen Gründen immer noch geschafft hatte, sich im Amt als Drogenbeauftragte zu halten, und zog sich eine weitere Line in die Nase. Prickelnd.

Als Kinder hatten sie manchmal Brausepulver durch die Nase gezogen und geschaut, bei wem mehr weißer Schaum aus der Nase schoss und wer es länger durchhielt. Der Gewinner bekam dann Ruhm, Ehre und Frauen – jedenfalls hatten sie sich das damals so vorgestellt. Mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten am Brausepulver konnte Christoph damals immerhin die kluge Meike von sich überzeugen und das war schon eine Leistung, konnte Meike doch lesen wie eine Fünfklässlerin.

Die Beziehung fand ein jähes Ende, als Christoph das Taschengeld für Brausepulver ausging und Meike sich lieber den reichen Jungen der Klasse zuwendete. Seitdem war Christoph klar, dass er Materialismus und Eigentum ablehnte. Jedenfalls konnte er das heute so formulieren, damals dachte er einfach, dass Meike doof sei. Sie wusste nicht, was ihr alles entging. Heute konnte sich Christoph schließlich so viel Prickelpulver leisten, wie er wollte – also solange das Bafög-Amt weiter überwies. Und selbst wenn die irgendwann kein Geld mehr lockermachten, könnte er noch eine seiner Nieren verkaufen. Er hatte da von einem Aktionskünstler gehört, der aus menschlichen Organen Skulpturen baute. Ein teurer Spaß, aber künstlerisch äußerst wertvoll, was Christoph wieder zu den gelangweilten Milliardären zurückführte. Dem könnte man jedenfalls mal so nebenbei eine der eigenen Nieren andrehen und zack – Finanzkrise gelöst.

„Du hast recht. Ich bin doch auch hier hergekommen, um dem sanften Würgegriff von Vattern zu entfliehen. Was erwartet uns schon zu Hause? Der Reihenhausalptraum in Sepia-Till-Schweiger-Filter. Fehlt nur noch, dass Dieter Hallervorden mein Großvater wird“, sagte Christoph.

„Hast du eigentlich Keinohrhasen gesehen?“, fragte Malte.

„Nein, ist das jetzt das einzige Detail, das dir an meiner Aussage auffällt?“

„Ja. Nein. Jein. Du weißt ja, es ist 1996, deutsche Schauspieler sind whack und bräunen sich in Sepia. Die legen sich damit ja fast schon ein. Aber worauf ich hinaus wollte: Ich finde den Titel eigentlich gar nicht so schlecht. Ein Tier wird seines phänotypischen Merkmals beraubt. Passender wäre bei dem Vollidioten aber vielleicht Keinrüsselelefant oder Schwanzloser Schweiger gewesen“, schmunzelte Malte.

Christoph lachte. Ein Lachen, das kompromissloser denn je durch das Wohnzimmer schallte und doch letztlich in heiseres Gebell mündete. Er lachte, weil diese Beobachtung Maltes den Zustand der letzten Tage so präzise auf den Punkt brachte. Man hatte sie ihrer Merkmale beraubt.

„Wenn ich der Hase wäre, dann hätte ich mir ein ordentliches Paar Löffel implantieren lassen. Kostet ja sicherlich nicht viel bei so einem dubiosen Hasendoktor in Bangkok oder irgendwo in Osteuropa“, fuhr Malte unaufgefordert fort.

„Und, wenn wir schon dabei sind, ein Duckface dazu, was?“, scherzte Christoph.

„Ieh, nein, auf keinen Fall. Mir ist schon das Schnabeltier bizarr genug. Pfui Teufel, du solltest dich schämen. Gib mir mal lieber das Gras.“

Mit geübten Fingern rollte er das wohlduftende Grün in ein Longpape ein und entzündete es mit einem Streichholz. Mit dem ersten Ausatmen begann ein süßlicher Geruch, den Raum zu füllen. Malte lehnte sich in seinem Sessel zurück und wechselte an seinem Handy die Playlist.

Christophs Fuß begann rhythmisch zu wippen, als die ersten Klaviertöne durch den Raum hallten. Er mochte dieses Klavierspiel, diese Jazzmusiker, deren Sound so klang, als würde man ihr Klavier eine dunkle Kellertreppe herunter schubsen, während sie spielten. Da rumpelte und dröhnte es, dass es eine wahre Wonne war. Die alten Boxen knisterten und knarzten, Christoph nickte wieder. Da war dieses Gefühl von Schwerelosigkeit, das er nur in solchen Momenten fand.

„Aber das ist ja eigentlich auch gar nicht unser Problem“, übertönte Malte die Musik. „Wir haben uns ja nichts vorzuwerfen, haben alles richtig gemacht. Das ist wie mit diesen Zwangsbeschneidungen, weißt du? Wir werden hier zwangsbeschnitten, unsere Freiheit von anderen Menschen mutwillig dem Schafott preisgegeben.“

Maltes Augen glühten förmlich. Wie heiße Kohlen im Herbstwind. Dazu ein starrer Blick, weit aufgerissene Lieder und hervortretende Augäpfel – ein Ausdruck irgendwo zwischen Wahnsinn und Erleuchtung. Er lächelte wieder verschmitzt, so als hätte er erneut einen seiner geliebten Batman-Monologe gehalten. Doch Christoph bemerkte den Nachdruck in seiner Stimme, in seiner Mimik.

„Eigentlich wäre es mal an der Zeit für die totale Braveheart-Nummer“, legte Malte nach.

„Du meinst, blau werden und Röcke tragen?“, fragte Christoph.

„Wir sind nicht deine Mutter!“, konterte Malte, „Eher die Nummer mit der Revolution und dem Widerstand gegen die Unterdrückung. Friede den Hüten, krieg den Palästinenserschals. Also nicht direkt, aber du weißt schon, was ich meine.“

Malte reichte den Joint weiter und Christoph inhalierte einen tiefen Zug. Weißer Rauch füllte das Altbau-Wohnzimmer, in dem Möbel vom Sperrmüll hinter einem Dickicht aus Spinnweben verschwanden.

„Hast du eigentlich mitbekommen, dass es wohl schon erste Todesfälle gab?“, setzte Christoph an. „In einem Randbezirk hat eine Gruppe VWL-Studenten die Mate-Abstinenz nicht mehr ausgehalten und wollte sich selbst welche brauen. Dazu haben sie einfach die Inhalte ihrer Aschenbecher in Wasser aufgekocht und mit einem Aldi-Sprudel Kohlensäure reingepumpt. Geschmack und Aussehen stimmten wohl, das Ganze war leider aber nur schwer bis gar nicht bekömmlich.“

Malte nickte zustimmend, obwohl ihm die Augen bereits zugefallen waren. Er träumte eine bizarre Szene, in der Heidi ihn als Krankenschwester umsorgte. Als er ihre Frage, ob er ihr Ziegenpeter sein wolle, bejahte, infizierte sie ihn mutwillig mit Mumps. Verdammte Heidi, sie würde ihn das Leben kosten, aber das war es wert.

Aus den Boxen erklang eine scheppernde Trompete mit einem Sound so schmutzig und verzerrt, als hätte man mit der Tram mehrere Runden über sie gedreht. Die schrillen Töne stachen ins Trommelfell, erst befremdlich und dann angenehm. ‚Audio-Akupunktur‘, dachte Christoph.

Malte begann zu schnarchen, sanft wie ein Grizzlybär mit Nasennebenhöhlenentzündung. Christoph zog noch ein weiteres Mal am Joint und drückte ihn dann auf einem Poster von Helene Fischer aus. Die heiße Asche brannte ein weiteres Loch in das Kleid von Frau Fischer, das im Verlauf der letzten Tage eine Art Schweizer-Käse-Look erhalten hatte. Er rieb sich mit dem rechten Daumen abwechselnd über die verschiedenen Finger seiner linken Hand und genoss dabei das Gefühl der durch die Reibung entstehenden Wärme. Immer wieder rieb er von den Knöcheln aufwärts und ließ dann wieder ab, bis ihn schließlich ebenfalls der Schlaf übermannte.

So verging die nächste Woche. Irgendwo zwischen Alkohol und Drogen schaltete sich der Autopilot ein. Sekunden verschwommen zu Stunden zerflossen in Tage. Zwischen Couchtisch und Stühlen lebte Christoph wie in einem schützenden Kokon, in dem lediglich den variierenden Essenslieferanten kurz Asyl gewährt wurde. Sämtliche Neuigkeiten und Geschehnisse der Außenwelt mussten draußen bleiben, bis es an der Zeit für sie war. Neben der Couch ein Turmbau zu Babel aus leeren Pizzakartons, auf dem Tisch ein Mount Everest aus Kippenstummeln, daneben eine Louvre-Pyramide aus Flaschen. Eine Ewigkeit hätte so vorbeiziehen können, es gab ja keinen Grund, etwas zu ändern.

Von den Tagen blieben meist nur einzelne Satzfragmente zurück, schummerige Eindrücke auf einem alten Super-8-Film, der sich beim Ansehen so anfühlte, als hätten die beiden ihn noch nie gesehen. Fremdheit in jedem Rückblick, als würden sie das Leben eines anderen Menschen beobachten. In jedem Dialog driftete Christoph weiter weg von der Realität und sah sich selbst beim Reden über die Schulter. Es war befremdlich und unecht. Bis es Sonntag wurde. Und ihnen das Gras ausging.

Drei

So richtig entsinnen, wie er in diese Situation gekommen war, konnte sich Christoph nicht. Irgendwann hatte es an der Tür geklingelt und anstatt der erwarteten Pizza stand Hannah da. Sie war weder knusprig gebacken noch mit Käse überzogen und so gab sich Christoph diesem unerwarteten Besuch gegenüber zunächst skeptisch. Nachdem jedoch in einem klärenden Gespräch mit Malte die Worte „kein Gras mehr”, „notwendiges Übel” und „Pizza kommt schon noch” fielen, ließ Christoph Gnade walten und bat sie herein.

Diese Begebenheit war nun schon zwei Stunden her und seitdem dauerte auch Christophs Martyrium an. Nicht nur, dass die Pizza erst eine Stunde später und beinahe kalt eintraf, auch hatte Hannah es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, ihr gesamtes Leben in ein einziges Gespräch zu quetschen. Seit zwei Stunden redete sie ohne Punkt und Komma, wobei sich sowohl Stimme als auch Zunge des Öfteren überschlugen. Christoph achtete seit einigen Minuten exakt auf ihre Nasenflügel und den Brustkorb, doch keine Bewegung zeugte von so etwas wie Atmung. Er sah sich schon in wilden Mund-zu-Mund-Beatmungsszenen. Das würde er übrigens nicht komplett ablehnen, schließlich war es schon einige Wochen her, dass er zuletzt am anderen Geschlecht herumgeschraubt hatte.

Doch trotz keinerlei Anzeichen von Atmung schien ihr nichts zu fehlen, noch nicht einmal ihr Stück von der Pizza hatte sie angerührt. Vermutlich überlebte sie durch Zellatmung oder betrieb Photosynthese – Christoph hatte es nicht sonderlich mit Biologie, aber es würde Hannahs grünen Pullover erklären. Außerdem war sie ja schließlich die Botanikerin der Gruppe.

Das war jedoch auch das grundlegende Problem: Man durfte sich nicht mit seinem Dealer anfreunden. Schließlich wird dann der simplen Geschäftsbeziehung des Waren- und Geldtausches eine persönliche Ebene hinzugefügt und plötzlich muss man der Person, von der man Betäubungsmittel ersteht, auch noch erklären, wie es einem geht. Was sollte man da auch sagen? „Super, und jetzt gib das Gras her, nüchtern ertrage ich das alles nicht”? Dealer sind eben keine Therapeuten und das ist auch verdammt gut so. Weniger reden, mehr Medikation.

Da Hannah jedoch über das beste Zeug im gesamten Umkreis verfügte und sie die einzige Dealerin war, die gegen kleine Zuwendungen in Form von Essen auch Hausbesuche machte, war der Drops sowieso gelutscht.

Christoph fügte sich also in diese ausweglose Situation, nickte brav, fluchte auf irgendwelche Exfreunde und lachte, wenn etwas passierte, das er nicht verstand. Ab und an tauschte er vielsagende Blicke mit Malte aus, der sich in einen tranceartigen Zustand versetzt hatte und die Zeit nutzte, um intensiv über seine Träume, sein Studium und seine Steuererklärung nachzudenken. Klassische Gedankenspiele, die man eben so betrieb, wenn in der Außenwelt nix los war. Teilweise löste er auch leichte Kopfrechenaufgaben oder stellte sich den existentiellen Fragen: Was ist der Sinn des Lebens? Finde ich mal die wahre Liebe? Warum isst man Döner für zwei Euro, wenn man doch weiß, dass man sich davon garantiert den Magen verdirbt? Das Übliche eben. So machte er das immer, wenn Hannah ankam. Einfach im Kopf abtauchen und eins mit der Wand werden. Das gelang ihm prima und so blieb das aktive Zuhören immer an Christoph hängen.

An sich mochte Christoph die junge Frau, doch sie konnte einfach nicht das Persönliche vom Geschäftlichen trennen. Malte hatte sie schließlich angerufen, um Gras zu kaufen. Hätte er mit ihr reden wollen, dann hätte er sie einfach zum Abhängen eingeladen.

Doch für Hannah war das sowieso das Gleiche. Deshalb kannte mittlerweile das gesamte Viertel ihre Lebensgeschichte und auch ihre Zukunftspläne. Mit viel gutem Willen konnte das noch als Maßnahme zur Kundenbindung durchgehen, denn wer würde schon seinen Dealer wechseln, wenn dieser gerade vom Freund verlassen worden war?

Richtig, nur herzlose Vollspacken. Und die waren Christoph und Malte beileibe nicht.

Nach zwei Stunden, dreiundvierzig Minuten und siebzehn Sekunden ebbte der Wortschwall ab. Christoph war stolz auf seine buddhistische Geduld und freute sich auf die Belohnung. Das eigentliche Geschäft wickelte sich danach schnell ab: Hannah legte das Gras auf den Tisch, Malte gab ihr Geld und dann rollten sie gemeinsam die erste Tüte. Entspannt lehnte sich Christoph zurück.

Nun, da das Geschäftliche beendet war, empfand er Hannahs Anwesenheit auch nicht mehr als lästig. Er genoss es sogar, wie sich das einfallende Sonnenlicht in ihren viel zu großen Ohrsteckern brach, was den ganzen Raum wie winzige Diskokugeln bestrahlte. Ihre leuchtend rote Kurzhaarfrisur schimmerte mit ihren blauen Augen um die Wette und ihre Anwesenheit verlieh dem Raum eine sanfte Bordellatmosphäre. Hannah wirkte nun, nachdem sie sich ausgequatscht hatte, viel entspannter und aufmerksamer. Sie schaute sich ausgiebig im Wohnzimmer um. Ihr Blick blieb irgendwo zwischen leeren Flaschen und Fast-Food-Verpackungen kleben.

„Wie lange habt ihr euch denn hier schon verschanzt?“, fragte sie.

„Keine Ahnung. Ist schon Wintersemester?“, lachte Malte.

„Ja, ne, alles klar. Und wie lange soll das noch so weiter gehen?“

„Ach komm schon, du bist doch nicht unsere Mutter. Gerade von einer, die professionell Gras anbaut und vertickt, brauch ich hier keine moralisierenden Ansprachen“, fiel ihr Christoph ins Wort.

„Also bitte, ich bin seriöse Gartenbaufachangestellte. Ihr Banausen habt ja keine Ahnung, wie viel Liebe zum Detail darin steckt. Ihr kennt nur den Geschmack im Mund und das Gefühl im Körper, ich hingegen kannte euer Gras schon, als es noch ein Samen war.“

„Mein Vater kannte mich auch, als ich noch ein Samen war. Trotzdem würde ich mich ungern von ihm maßregeln lassen“, konterte Christoph.

„Na ja, so kann es jedenfalls nicht weiter gehen. Klar, ihr finanziert in letzter Zeit quasi alleine meine Monatsmiete, aber dass das hier kein Zustand für die Ewigkeit ist, wisst ihr auch“, sagte Hannah.