Zwischen den Jahresringen - Manfred Schmidbauer - E-Book

Zwischen den Jahresringen E-Book

Manfred Schmidbauer

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Beschreibung

Jahresringe schließen sich unnachgiebig ums Leben. Ihr Zuwachs gehört der Zeit und dem Wechsel aus Schnee und Blüte, Hitze und Regen. Nur in den Spalträumen zwischen diesen harten Linien ist Platz für Gänge abseits von Pflicht und Absehbarkeit. Die Erlebnisse in diesen Spalträumen haben eine eigenartige Leichtigkeit, die alle Zeithürden überspringt, überfliegt und über allem eine Atmosphäre aus freier Beweglichkeit entstehen lässt. In allgemeinen Begriffen verliert sich, was für mich schön daran war und blieb. Vielleicht aber lässt es sich in Augenblicksskizzen denen mitteilen, die sie lesen möchten.

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Seitenzahl: 107

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Inhaltsverzeichnis

Trinidad | Tobago

Peking | Xiang

Mongolei

Kyoto | Nara

Algerien

Trinidad | Tobago

Es ist ein Trugbild der Gewohnheit, wenn die Zeit in eine immer gleiche Richtung zu fließen scheint, bloß weil die Uhren sich von links nach rechts drehen und man »allgemein« von links nach rechts schreibt. Worum sich Zeit und Erinnerung im besten Falle dreht, ist die Rettung von Augenblicken, bevor sie in der Kolonne von Geläufigkeiten zermalmt werden – und es ist ganz unvermeidlich, dass sich dabei alles zuweilen von links nach rechts dreht und dann wieder von rechts nach links.

Tobago: Über 90% Menschen mit afrikanischen Wurzeln und der Rest: ein bunter Haufen Glücksritter, Traumtänzer und Seilkünstler des Lebens von überall.

Die Bananenstaude vor dem Balkon trägt in ihrer Mitte ein neues Blatt – eingerollt wie das Deckblatt einer Zigarre. Und in der Wärme des Morgens, der Hitze des Mittags öffnet es sich dem lauen Regenguss des Nachmittags, und der Dunst steigt auf in den Sonnenuntergang.

Unsere Wandlungen erscheinen uns plötzlich und unvermittelt, so wie wir den Abend davor noch meinten, am Stand zu treten oder einen Marathon im Geröll zu laufen – bei Gegenwind. Dabei haben sich an jedem Tag Räder vorwärts gedreht, in einem magischen Zahlenschloss mit einem unentwirrbaren Code. Und über Nacht war dann die Kombination vollständig, ist die letzte Zahl an ihrem Ziel angekommen, und ein Tor hat sich geöffnet.

Gott ist ein Schwarzer, sagen sie, denn in Afrika sind die Menschen entstanden.

»Left, right, back ... bump ... das musst du lernen, ehe du zurückkehrst in dein Land.«

Bis Weihnachten sind alle Hütten neu gestrichen und jeder Holzsteg ausgebessert.

Unsere emotionale Kraft entscheidet darüber, wie viel wir aufnehmen aus dem endlosen Strom der Erscheinungen. Sie entscheidet darüber, was wir meinen wiederzuerkennen, und über jene Wahrnehmungen, denen wir immer und immer wieder unsere ganze Aufmerksamkeit schenken. Damit erhalten solche Wahrnehmungen die Höhe, Tiefe und Weite nicht nur einer, sondern Tausender von Empfindungen, die sich in einem einzigen Sammelpunkt zusammenfinden. Einem Punkt harmonischer Anziehung, auf den alles zustrebt.

So bestimmt diese emotionale Kraft zuletzt nicht nur, wie viel wir einem endlosen Strom des Lebendigen entnommen haben, sondern auch wie sehr wir die Vielfalt vereinen konnten. Sie bestimmt das Verhältnis zwischen rastlosem Sammeln und Besitzen hier und zeitvergessener Liebe da – vermittelt die einzigartige Beziehung zwischen den Dingen der Welt und uns.

Wie viele Leben haben wir? Eines, sollte man meinen. Aber immer, wenn ein Schmerz so groß wird, dass man mit einem Teil irgendwie daran stirbt – dann bekommt man zuweilen am Ende der Leere ein neues Leben geschenkt – schöner als alles, was war.

Es gibt eine besondere Form des Vergessens: Dann, wenn die Erinnerung an einen Menschen immer wieder ins Bewusstsein drängt, ohne schwächer zu werden, reißt irgendwann die Verbindung zwischen dieser Erinnerung und der Fühlbarkeit ihres Gegenstandes, löst sich der Begriff von seinem bisherigen Inhalt. Und damit verschwinden Sehnsucht und Hass, die Erinnerung wird leicht und versöhnlich, das Bild fügsam und passungsgerecht, fertig für die Photomontage.

So bereinigt man im Lauf der Zeit – fast geräuschlos und unbemerkt – jedweden Platz im Rückblick der Biographie, und man gibt ihm einen Namen, auf den er vorher nicht gehört hätte.

Unser beider Fußspuren quer über den Strand – die Flut wird sie heute noch auslöschen. Aber morgen werden sie wieder da sein, wenn wir aufs Neue hier gemeinsam gehen. Sie werden erst aufhören vereint zu sein an dem Tag, wo es heißt: »Geh du schon, ich komme später nach.«

Wenn Liebe zu lügen beginnt, um den Verlust zu verhindern, ist am Ende alles verloren.

Kokospalmen tragen hier nicht immer nur Nüsse, sondern auch so manche Fledermauskolonie. Am Tag gehört der Himmel den Vögeln, bei Nacht den Fledermäusen – mit raschem Flügelschlag und plötzlichem Richtungswechsel, wie Schwalben.

Im Theater der falschen Erinnerung ist wohl schon oft die Entscheidung zum echten Blutvergießen gefallen, wenn wochenlang vom Erwachen bis zum Einschlafen, und in den Albträumen dazwischen hinreißend erfunden wurde, was niemals so gewesen ist.

Das Treibholz am Strand: Von der Brandung unterspült, ausgerissen, weggetragen von irgendwo und angeschwemmt hier.

Keine Entscheidung treffen müssen, keinen Entschluss fassen, auf nichts vorbereitet sein, außer auf die nächste Woge und sehen, wie sie sich am Strand im Sand verliert.

In allem was man hier tut, wird kaum je die Notwendigkeit fühlbar, es zu beenden. Ist man im Meer, will man nicht raus, sitzt man auf der Terrasse, will man nicht rein.

Das Englisch auf Tobago klingt wie der Text zu einem Song, den der Regenwald, das Meer und die Sonne gemeinsam geschrieben haben. Und so ist es nicht überraschend, dass die Worte der Melodie folgen und die Machart der Sätze auch.

Beim Versuch, in den Lebensrhythmus dieser Insel einzuschwingen, entfällt jede Anstrengung. Man benötigt keine schützende Trennfläche, kein Gewand gegen Kälte oder Hitze und kein Gesellschaftswörterbuch zur Dechiffrierung der Freundlichkeit.

Ein karibischer Regenguss ist wie ein Streit unter wahrhaft Liebenden. Er wäscht die Wolken vom Himmel, kühlt, ohne Kälte zu hinterlassen, und endet nie, ohne dass ihm Sonnenschein folgt.

Die kleinen Läden fürs Alltägliche – sie sehen aus wie bunte Fischerboote mit Dach und vier Beinen.

Ist man glücklich, braucht man keine Gesetze und Regeln. Ist man es nicht, beginnt die Suche danach und zuletzt tröstet alles mögliche was man dabei findet und er-findet. Aus solcher Materie schöpfen die Fahnenträger gnadenloser Ordnungen – gefolgt von jenen, die in der Not ihres Befindens glauben, sie hätten einen gefunden, der ihnen aus dem Mittelpunkt des Glücks den Weg dorthin weist.

Wir haben uns daran gewöhnt, Vorstellungen zu unserem Zeitvertreib zu benutzen. Wir knipsen sie an und aus wie das Licht im Schlafzimmer. Sie regen uns an, machen eine schöne Gänsehaut am Rücken, rühren uns zu Tränen, und dann sind sie wieder weg. Ihre Ursachen interessieren uns nicht mehr. Höchstens, wenn wir unsere Befindlichkeiten zum Hauptinteresse unseres Lebens bestimmt haben. Aber auch nur wenn sicher ist, dass dieses Spiel nichts kosten wird und in der Wirklichkeit keine Konsequenzen hat.

Illusionen soll man von Zeit zu Zeit aus dem Leben räumen wie die alten Möbel aus einer Wohnung. Möbel, die man nicht mehr wirklich mag, an die man sich bloß gewöhnt hat. Sie verstellen den Blick für das, was man neu lieben könnte. Der Grund, der oft so beharrlich die Räumung hindert, ist die Angst vor den leeren Räumen. So bleibt das alte Zeug stehen und liegen, und erzeugt ein Lebensgefühl zwischen Gewohnheit und Überdruss, etwas zwischen Sein und Nichtsein und steht sinnwörtlich im Weg.

Abendessen, Hanna serviert. Sie durchquert das Spalier der Tische im langsamen Tanzschritt. Und stellt sie eine Platte ab, so sind es Teile der Bewegung zu einem Rhythmus, den nur sie alleine hört. Aber indem wir ihn sehen mit Hannas Kommen und Gehen, auf Schritt und Tritt, fangen wir an, den Rhythmus auch zu hören, mit jedem Mal ein wenig mehr.

Große Weine haben oftmals etwas gemeinsam mit großen Männern: Das Alter, den Staub am Namensschild und die weichen Knie beim Zutritt frischer Luft.

So manche Dame am Hof Ludwigs XV. erklärte ihre Entbindung von einem dunkelhäutigen Kind mit dem überreichlichen Genuss von Trinkschokolade, die damals in Mode gekommen war. Kein Höhepunkt weiblicher Erfindungskunst, denn schöne Mohren waren schon seit mindestens hundert Jahren anhaltend modern, und so kam die Trinkschokolade für viele zu spät.

Wie entkommt man hier im Abbilden dem Klischee? Gar nicht! Eine so bezwingende Schönheit gibt der individuellen Sicht wenig Spielraum. Sie ist so stark, dass jeder, der sie sieht, wohl eine sehr ähnliche Empfindung haben muss, die zu einem Ausdruck auf direktem Weg drängt. Man staunt, verstummt und ist glücklich.

Aber es ist immer eine direkte Begegnung zwischen der Naturschönheit und dem Betrachter. Anders die Tempelgärten im japanischen Kyoto. Die sind bereits eine Interpretation der Natur, ein Philosophieren über die Welt. Und die lässt der Abbildung auf andere Art keinen Spielraum. In der Betrachtung solcher Tempelgärten verinnerlicht man gewissermaßen die Interpretation der Natur, und es zählt nicht die eigene individuelle Sicht. Es zählt nur, wie gut man verstanden hat und im Bild rezitiert, was die jahrhundertealte philosophische Daseins- und Naturbetrachtung sieht und sagen will.

Ein Licht weit draußen im Meer, so als würde es eben hinterm Horizont aufgehen. Doch es bleibt regungslos durch die Nacht. Kein Schiff und auch kein Leuchtturm, sondern eine Bohrinsel.

Unglaublich, wie lange man alles Mögliche glaubt, bis man sich dazu entschließt, es selbst zu erleben und zu sehen, dass es ganz anders ist. Und bestünde der Unterschied auch nur darin, dass andere es zuvor einfach anders gesehen haben.

Der Mond versinkt hinter dem Horizont wie ein brennendes Schiff.

Mit der Tiefe des Wassers verliert jede Form die Farbe, und alles wird blaugrau. Indem dies geschieht, ist es, als wären auch die Dinge andere geworden. Denn eine bunte Stille ist etwas anderes als eine Stille in Blau.

Das Glück bringt nur ganz selten dauerhafte Schaffenskraft – meist verliert man sehr bald eins von beiden. Was bleibt, ist die lebenslange Sehnsucht nach beiden zusammen.

Deshalb ist es die Muse, der man die Treue hält, wenn ein seltenes Glück sie zu uns führt. Sie lässt uns immer das Beste spüren – das Beste, was wir sein können und was wir haben – beim Einschlafen und beim Erwachen. Blickt man von einem solchen seltenen Glück zurück auf die Einsamkeit, so begreift man nicht, wie man sie ertragen konnte.

Früh im Leben glaubt man, alles wäre, wonach es aussieht. Später wünscht man sich nur noch, es wäre so. Und zuletzt beschützt man mit dem eigenen Leben die immer weiter schwindende Hoffnung, etwas wäre ausnahmsweise einmal nicht wie üblich.

Hier aber ist alles so, wie es aussieht, und das ist gut.

Der Preis fürs Glück ist gar nicht so hoch. Bloß zahlt man oft genug zu viel, in der Hoffnung, es würde dann größer werden oder ewig dauern, und so ist es mit einem Schlag verloren.

In jeder Theorie der Medizin und Heilpraxis steckt ein Bild vom Menschen. Und solche Bilder umreißen nicht einfach nur menschliche Eigenschaften und Merkmale.

Solche Bilder halten die Menschen in ihrem Leuchtkegel fest, blenden und verwirren sie wie ein Reh, das auf die nachtfinstere Straße und in den Scheinwerfer eines Autos geraten ist, wenn sie falsche oder einfach nur zu enge Menschenbilder sind.

Zeichnen an fremden Orten ist eine Gelegenheit, die Realität auseinanderzunehmen, ohne sie kaputt zu machen. Den Linien ihres Wesens mit dem Strich zu folgen, vorsichtig und neugierig.

Wenn wir gemeinsam träumen und keiner den anderen weckt, das ist auch eine Art von Glück.

Thanksgiving mit Truthahn auf karibisch, und die Keule erfordert beide Fäuste – nach Landesart.

Freut man sich anderswo auf weiße, frohe oder stille Weihnachten, so wünscht man sie sich hier »chilly«.

Wenn die Einsamkeit Quelle aller Ideen und Kraft im Wirken ist, dann muss man sie behandeln wie einen Freund – einen ernsten und zuweilen düsteren Freund vielleicht, aber einen Freund allemal.

Unter der Motorhaube des schwarzen Jaguar vor der Hoteleinfahrt: eine Katze mit ihren Jungen – aber kein einziger Zylinder.

Eine Phantasie für einen allein ist wie ein Nachmittagstraum mitten in einem wachen harten Tag. Eine Phantasie für zwei kann beide gemeinsam forttragen wie ein Ballon, den das Feuer immer höher steigen läßt.

Eine besondere Form von Liebe ist es, die Illusion eines Menschen, die wir für ihn verkörpern, aufrecht zu erhalten – als Geschenk an ihn und im Spüren und Wissen, dass wir nicht ganz und gar selber gemeint sind, von der Zuneigung und Bewunderung, die er uns entgegenbringt. In manch solcher Liebe schließt sich nach und nach die Kluft zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir verkörpern durch die Bemühung, es immer mehr zu werden für diesen einen Menschen – aus Liebe, in wissender Erwiderung einer halbblinden Illusionsverliebtheit, die mit ihrem sehenden Auge doch ehrlich liebt, was sie sieht, soweit sie eben sehen kann.

Auf zur Eroberung der Zwischenräume, in denen wir ganz selber sind und dieses Selbst sich neu anfühlt, leicht und selbstverständlich. Zwischenräume, in denen der Augenblick seinen Ausdruck erwirkt, ohne Verzug und ohne Rückgriffe, einfach und stark.

Eine kurze Unterbrechung des Vorhersehbaren und Verpflichtenden, eine Pause in der unerbittlichen Planmäßigkeit der Absicht. Damit füllen sich vielleicht zuletzt diese Zwischenräume und wirken zurück auf den Rest. Und so vollziehen sich unsere Wandlungen.

»Ich bin gesegnet,« sagt Hanna, »denn ich darf leben.«

Als Erste sind die Träume da. Dann kommt die Sehnsucht, sie greifbar, berührbar zu machen und an einen Ort zu stellen, wo wir ihnen begegnen und eins werden können mit ihnen.

Deshalb ist der Versuch, unsere Träume zu verorten in einem Gesicht, in ein paar Bewegungen, dem Klang einer Stimme, einem Lachen, einer Fußspur im Sand, alles das, ein lebenslanges Bemühen.

Und oft erinnert dieses Bemühen an die Unzahl dumpfer Zusammenstöße zwischen einer Hummel und einer Fensterscheibe auf der Suche nach der Pforte zum Licht – getragen nur von einem unbeirrt summenden Flügelschlag, der jeden harten Aufprall weich übertönt.