Zwischen Furcht und Freiheit - Tobias Künkler - E-Book

Zwischen Furcht und Freiheit E-Book

Tobias Künkler

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Beschreibung

Wie sieht christliche Erziehung heute aus? Welche Rituale werden gelebt? Wie versuchen Eltern, ihren Glauben weiterzugeben? Die Autoren und ihr Team haben geforscht und fromme Eltern befragt. Ihre Ergebnisse präsentieren sie in diesem faszinierenden Buch, das spannende Einblicke in die Erziehungsrealität gibt. Es geht um die Spannung, den Kindern einerseits Freiheit geben, sie aber andererseits zum Glauben führen zu wollen. Weitere Themen sind u.a. körperliche Strafe, Sexualerziehung, Geschlechterrollen und welche Bedeutung die Gemeinde hat. Die Autoren stellen ihre Forschungsergebnisse in einen größeren Kontext und bieten hilfreiche Denkanstöße.

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TOBIAS KÜNKLER · TOBIAS FAIX

ZWISCHEN

FURCHT & FREIHEIT

DAS DILEMMA DER CHRISTLICHEN ERZIEHUNG

Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22884-7 (E-Book)

ISBN 978-3-417-26813-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben,

folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG,

58452 Witten.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Titelbild: shutterstock.com

Autorenbilder: CVJM

Satz: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Infografiken: Amos Herter, Kathrin Spiegelberg, Sophia Wald

INHALT

Über die Autoren

Stimmen zum Buch

EinleitungDas letzte große Abenteuer

Im Zwiespalt

Zum Aufbau

Unsere Hoffnung

Dank

Kapitel 1Die Wichtigkeit von Familie

Familie in der Diskussion

Familie in der Bibel

Ein Blick hinter die Kulissen

Portrait Andreas

Kapitel 2Bleibt nichts mehr, wie es war? Familie und Erziehung im Wandel

Eine sich immer schneller verändernde Gesellschaft

Ehe und Familie im Niedergang?

Alles eine Frage des Stils? Unterschiede in der Erziehung

Veränderungen im Erziehungsverhalten

Der Erziehungsstilwandel in christlichen Familien

Portrait Anke

Kapitel 3Die Bedeutung des christlichen Glaubens in der Erziehung

Das Ziel: zum Glauben erziehen

Einweisende vs. hinweisende Glaubenserziehung

Der Wohlfühlfaktor: das Klima der Glaubenserziehung

Das Gottesbild in der Glaubenserziehung

Glaubenserziehung im Wandel

Fazit: Die Glaubenserziehung hat sich verändert

Portrait Paul

Kapitel 4Die Glaubensvermittlung im Alltag

Gespräche über den Glauben

Die Wichtigkeit des Gebets

Rituale im Alltag

Fazit: Die Formen ändern sich

Portrait Nadja

Kapitel 5Väter, Mütter, Söhne, Töchter – Unterschiede zwischen den Geschlechtern

Die Veränderung der Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft

Die Rollenverteilung bei christlichen Eltern

Unterschiede im Erziehungsverhalten

Fazit: Es gibt Unterschiede zwischen Ideal und Wirklichkeit

Portrait Michael

Kapitel 6Die Rolle der Gemeinde in der Glaubenserziehung

Und immer wieder sonntags: der Gottesdienstbesuch

Die Kinder- und Jugendarbeit

Unterschiede zwischen den Denominationen

Fazit: Gemeindebindung und Erziehungsrelevanz der Gemeinde sind relativ hoch

Portrait Sabine

Kapitel 7Konfliktfelder in der Glaubenserziehung

Zank und Streit – Konflikte gehören dazu

Gewalt-ig problematisch – Gewalt in der Erziehung

Fazit: Es ist besser, als gedacht – und doch kein Grund zur Beruhigung

Portrait Robert

Kapitel 8Sexualität in der Glaubenserziehung

»Gut, dass wir mal ganz in Ruhe darüber geredet haben.«

Einstellungen zu »Sex vor der Ehe« und Homosexualität

Fazit: Es wird mehr geredet

Portrait Svenja

Kapitel 9Zwischen Furcht und Freiheit

Vier evangelikale Erziehungsverständnisse

Fünf Typen christlicher Glaubenserziehung

Das große Bild

Fazit: Die (Ohn-)Macht der Erziehung

Portrait Sebastian

Kapitel 10Konsequenzen für Christen und Gemeinden

Statement 1

Statement 2

Statement 3

Statement 4

Statement 5

Statement 6

Statement 7

Statement 8

Statement 9

Statement 10

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

ÜBER DIE AUTOREN

Dr. Tobias Künkler lebt mit seiner Frau Mareike in Kassel und arbeitet an der CVJM-Hochschule als Professor für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit. Gemeinsam mit Tobias Faix leitet er das Forschungsinstitut empirica.

Dr. Tobias Faix lehrt als Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel, ist mit Christine verheiratet und hat zwei Töchter. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Studien.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

STIMMEN ZUM BUCH

»Ich wünsche diesem Buch über das so wichtige Thema der christlichen Familie eine große Beachtung und eine gute Resonanz.«

Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen a. D. und Mutter von zwei Kindern

»Dieses Buch ist wichtig. Es zeigt, wie evangelikale Familien tatsächlich leben und wie sie zwischen den Erwartungen ihrer Meinungsführer, der Beharrungskraft ihrer Tradition, den Spannungen der Gesellschaft und ihrem eigenen Bild von Gott meist kreativ und manchmal ratlos ihren Weg finden. Die Forschung von Tobias Künkler und Tobias Faix leistet einen grundlegenden Beitrag, um weitere Schritte zu gehen von der Furcht in die Freiheit.«

Wolfgang Thielmann, ev. Pastor und Journalist

»Eine wissenschaftliche Untersuchung, die kontrovers, aber konstruktiv diskutiert werden möchte – das ist eine angemessene Antwort auf das Wort des Jahres 2016! Und der Gegenstand ›Christliche Erziehung‹ ist es wert, dem Trend zum postfaktischen Urteilen entrissen zu werden.

In jedem modernen Rahmenlehrplan für Evangelischen Religionsunterricht wird beklagt, dass eine christliche Erziehung im Elternhaus nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Auf der anderen Seite ist das Image dieser Erziehung denkbar schlecht. Nicht erst seit dem Film ›Das weiße Band‹ fallen vielen Menschen sofort ›streng‹ und ›fast alles verboten‹ als Stichworte ein.

Eine wissenschaftliche Untersuchung, die Licht ins Dunkel bringt, kommt also zur rechten Zeit. Den Autoren ist es bei einer breiten inhaltlichen Streuung der Befragungen gelungen, bei der Sache zu bleiben. So ist ein absolut lesenswertes und faktisch bemerkenswertes Buch entstanden. Dass es auch noch leicht lesbar ist, begünstigt die absolut wünschenswerte Diskussion.«

Dr. Dieter Altmannsperger, Oberkonsistorialrat in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Vater von drei Kindern

»Statt Totenglöckchen präsentieren Tobias Künkler und Tobias Faix viele positive Überraschungen: Die christliche Familie in Deutschland lebt nicht nur, sondern sie ist putzmunter! Mit den Daten ihrer großen Befragung belegen sie, wie viel christliche Eltern dafür tun, dass ihr Kind im Glauben an einen gütigen, verzeihenden Gott aufwächst. Das Buch ist eine Pfl ichtlektüre für alle, die Eltern heute und morgen bei ihrer wichtigen Aufgabe unterstützen wollen.«

Prof. Dr. Wolfgang Stock, Geschäftsführer »Christburg Campus Berlin« – christliche Schulen und Kitas in freier Trägerschaft und Vater von fünf Kindern

»Die christliche Erziehung gibt es ebenso wenig, wie es die Familie gibt. Die von den Autoren durchgeführte Untersuchung belegt dies eindrücklich mit Zahlen, Daten und persönlichen Interviews und liefert so besondere Inspiration für Eltern und Verantwortliche in der Jugend- und Gemeindearbeit. Selten wurde deutlicher: Ohne den jeweils anderen geht es nicht. Dieses Buch ist ein vielfältiger Impulsgeber für alle, deren Herz für eine christliche Erziehung schlägt. Das macht ›Zwischen Furcht und Freiheit‹ so wertvoll.«

Hansjörg Kopp, Generalsekretär des CVJM Deutschland und Vater von drei Kindern

»Diskussionsfreudige Männer treffen auf ein heißes Thema: Herausgekommen ist in diesem Fall ein herrlich unaufgeregtes Buch zur Glaubenserziehung und gleichzeitig ein leidenschaftliches Stück Wissenschaft.«

Johanna Klöpper, Autorin und Mutter von zwei Kindern

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

EINLEITUNG

DAS LETZTE GROSSE ABENTEUER

»Ich überleg grade, ob ich irgendwo eine Familie kenne, von der ich denke, wow, da läuft es richtig super? (Pause) Ne, vielleicht ab und zu begegnet mir mal eine Familie wo ich denke, wow, das ist eine coole Familie.«ANKE

»Die christliche Erziehung beginnt sofort nach der Geburt.«MICHAEL

Das letzte große Abenteuer auf dieser Erde ist die Familie, so stand es sinngemäß vor einiger Zeit in einer Zeitschrift. Ob das so stimmt, wissen wir nicht. Aber Familie gehört definitiv zum Spannendsten und Herausforderndsten, was unsere individualisierte Welt zu bieten hat. Unsere Herkunftsfamilie hat uns wahrscheinlich mehr und tiefer geprägt, als wir wahrhaben wollen – unabhängig davon, ob wir schlechte Erfahrungen gemacht haben oder gute, ob wir antiautoritär oder autoritär erzogen wurden. Aber was ist das eigentlich: eine christliche Erziehung? Gibt es die christliche Erziehung überhaupt? Nein, sicherlich nicht, aber es gibt Väter und Mütter, denen der eigene Glaube so wichtig ist, dass sie diesen an ihre Kinder weitergeben wollen. Sie machen ihn vielleicht sogar zum obersten Maßstab ihrer Erziehung. In der Vorbereitung auf dieses Buch sagte uns ein Freund: »Passt auf, beim Glauben und beim Sport kennen die Eltern kein Pardon!«

Wir sind beide in einer christlichen Familie aufgewachsen und dafür im Nachhinein sehr dankbar. Mit Sicherheit interessiert uns dieses Thema auch deshalb, weil es uns selbst betrifft. Weil wir beim Schreiben dieses Buches auch unsere eigene Erziehung immer wieder reflektiert haben – was gut war und was wir eher nicht übernehmen würden. Als Erziehungswissenschaftler setzt sich Tobias Künkler schon lange mit Fragen rund um Familie, Erziehung und das Lernen in Beziehungen auseinander. Tobias Faix ist Vater zweier Töchter und musste bereits sehr konkret überlegen, wie er erziehen möchte. Seine wichtigste Erfahrung dabei ist: »Eigene Kinder machen demütig.« Während er früher schnell das Erziehungsverhalten anderer Eltern kritisierte, weiß er mittlerweile, wie herausfordernd sich Erziehung gerade im alltäglichen Miteinander gestaltet. Doch gerade das macht es so spannend und interessant. Außerdem schließt sich für Tobias Faix ein Kreis: Als Student hat er bei einer Umfrage seines Vaters mitgearbeitet, bei der es um christliche Familien ging; jetzt, zwanzig Jahre später, führt er eine ähnliche Studie selbst durch.

Vor drei Jahren haben wir, ein Erziehungswissenschaftler und ein Theologe, uns bewusst auf den Weg gemacht zu erforschen, wie christliche Familienerziehung heute aussieht. Die treibenden Fragen dabei waren: Was ist eigentlich das »Christliche« an der christlichen Erziehung, wie wird sie gelebt und welche Rolle spielen dabei die Erfahrungen der Mütter und Väter im eigenen Elternhaus? Das war der Ausgangspunkt der großen Familienstudie (»Aufwachsen in einer christlichen Familie. Eine empirische Studie zur christlich-familiären Erziehung«), die wir mit dem an der CVJM-Hochschule beheimateten Forschungsinstitut empirica für Jugendkultur & Religion von 2014 bis 2016 durchgeführt haben.

Die oben genannten Fragen gliedern sich in viele weitere auf wie: Welche Ziele, Werte und Normen leiten die Erziehung an? Wie wird der Glaube vermittelt? Welche gemeinsamen (geistlichen) Praktiken und Rituale gibt es? Welches Gottesbild wollen die Eltern an ihre Kinder weitergeben? Inwiefern wird der Glaube praktisch vorgelebt? Welche Rolle spielt körperliche Strafe? Wie wird über Sexualität in der Familie geredet? Und wie hängt die Familienerziehung mit dem Gemeindeleben zusammen?

Das Ergebnis der Studie gibt einen spannenden Einblick in die christliche Familienerziehung, mit einigen Überraschungen, manchen Bestätigungen und vielen interessanten Inneneinsichten in die Realität heutiger christlicher Familien. Ein Anstoß zu dieser Thematik war auch unsere letzte Studie »Warum ich nicht mehr glaube«. Dort befragten wir junge Erwachsene, die nicht mehr glauben wollten oder konnten, und stießen wieder auf die Tatsache, welchen großen Einfluss das christliche Elternhaus auf den Glauben hat. So entstand die Idee für diese Studie, die dank der Unterstützung der Stiftung christliche Medien sowie der Zusammenarbeit mit dem SCM R.Brockhaus Verlag durchgeführt werden konnte.

Im Zwiespalt

Die Ergebnisse der Studie, die wir in diesem Buch präsentieren, haben uns in positiver und negativer Weise überrascht, sowohl was die Einzelergebnisse betrifft als auch die Gesamtschau. Was sich dabei wie ein roter Faden durch die Analysen zog, war eine gewisse Spannung. Auf der einen Seite hat sich manche Enge geweitet und es sind in der Glaubenserziehung im Vergleich zu vor ein paar Jahrzehnten neue Freiräume und Freiheiten entstanden. Dies zeigt sich an einem sehr positiven Familienklima, einem liebevollen Gottesbild und dem Bewusstsein, dass man den Glauben der Kinder nicht erzwingen kann. Auf der anderen Seite gibt es alte und neue Ängste: die beständige Furcht, dass das Kind nicht gläubig wird, die Angst, dass es sich für einen anderen Glauben als den der Eltern entscheidet, oder auch die Befürchtung, dass das eigene Kind sich eines Tages als homosexuell outen könnte.

Dieser Doppelung von Furcht und Freiheit in der Glaubenserziehung gehen wir im Folgenden nach. Dabei hat die Furcht zwei Komponenten – es geht nicht nur um die Furcht vor eigenen Fehlern in der Erziehung, sondern auch um die Gottesfurcht. Dies meinen wir ganz positiv. In den Interviews, Umfragen und bei der Vorbereitung insgesamt haben wir eine große Ernsthaftigkeit gespürt, wenn es um christliche Erziehung geht. Weil die Väter und Mütter an Gott glauben, wollen sie ihre Erziehung auch auf ihn ausrichten. Da aber die Bibel kein Erziehungsratgeber ist und die gesellschaftlichen Veränderungen die Erziehungsstile massiv beeinflussen, sind viele von ihnen unsicher, ob sie das, was sie machen, auch richtig angehen.

Gleichzeitig schlug uns eine große Begeisterung entgegen. Viele wollten und wollen über das Thema reden und haben uns sehr ermutigt, weil es spannend ist und es bisher wenig Forschung darüber gibt. Dies hat uns auf dem Weg, der mit nicht wenig Arbeit verbunden war, immer wieder motiviert.

Zum Aufbau

Natürlich ist uns klar, dass auch unsere »Landkarte« nicht vollständig ist und noch viele weitere Entdeckungsreisen nötig sind, um die Vielfalt der christlichen Erziehung zu erkunden. Zu den Themen »Familie«, »Erziehung«, teils auch speziell zu »christlicher Erziehung«, gibt es bereits viele Studien, Theorien und Fachbücher. Wir binden bei der Analyse und Interpretation unserer eigenen Ergebnisse diese Grundlagen immer wieder mit ein. Dabei haben wir uns bemüht, aufschlussreich, transparent und anschaulich vorzugehen. Die wichtigsten Ergebnisse werden durch Grafiken hervorgehoben, genau wie einzelne Schlüsselsätze.

Das Buch ist in zehn Kapitel aufgeteilt. Dazwischen finden sich Portraits von Müttern und Vätern, die von ihrer Glaubenserziehung berichten. Sie sind aus Interviews entstanden, die wir geführt haben, und geben einen lebendigen und konkreten Einblick in das christliche Familienleben.1 Außerdem haben wir einzelne Zitate aus den Interviews in die Ergebnisanalysen miteingebaut, sodass die unterschiedlichen Personen immer wieder auftauchen werden.

In Kapitel 1 führen wir in die Thematik ein. Wir werfen zunächst einen Blick in die Bibel und schauen, was diese zum Thema Familie zu sagen hat. Dann stellen wir kurz die Studie vor, die die Grundlage für dieses Buch bildet. Wir beschreiben, wie wir einen Einblick in die christliche Familie gewonnen haben und welche Familien wir befragt haben. Ehe und Familie verändern sich gesamtgesellschaftlich, und dies wirkt sich auch auf die christliche Familie aus – das ist das Thema von Kapitel 2.

Ab Kapitel 3 kommen wir schließlich zu unseren konkreten Ergebnissen. Wir gehen der Frage nach, wie Glaubenserziehung in christlichen Familien heute genau aussieht und wie sich diese verändert hat. Welchen Glauben wollen die Eltern den Kindern überhaupt vermitteln? Was leitet sie dabei an? In welchem Klima geschieht die Glaubenserziehung? Und welches Gottesbild wollen die Eltern weitergeben? Wie das ganz praktisch geschieht, ist das Thema von Kapitel 4. Hier geht es beispielsweise um die Rolle von Gebet, Bibel oder anderen Ritualen.

Ausgewählte »heiße Eisen«, die für die christliche Erziehung eine wichtige Rolle spielen, werden in den Kapiteln 5 bis 8 behandelt. Alles rund um das Thema Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Kapitel 5, die Rolle der Gemeinde für die Glaubenserziehung in Kapitel 6, Konflikte und körperliche Gewalt in Kapitel 7 und schließlich Sexualethik und Sexualpädagogik in Kapitel 8.

Kapitel 9 schließlich bündelt die Ergebnisse unserer Überlegungen nochmals in zweierlei Weise. Zum einen stellen wir die unterschiedlichen Typen christlicher Erziehung vor, die wir vorgefunden haben, zum anderen thematisieren wir noch einmal die Grundspannung heutiger christlicher Erziehung, die sich bereits durch das ganze Buch zieht und immer wieder eine Rolle spielt: die Spannung zwischen Furcht und Freiheit.

In Kapitel 10 ziehen wir die aus unserer Sicht wichtigsten Konsequenzen, die sich aus dem Buch und den Ergebnissen ergeben, anhand von zehn abschließenden Statements.

Wer testen will, zu welchem Erziehungstyp er gehört, findet auf der Internetseite www.scm-brockhaus.de/familienstudie einen kostenlosen Online-Test. Am besten füllen Sie ihn direkt aus und lesen erst dann das Buch. Auf diese Weise können Sie herausfinden, auf welche Weise Sie erziehen.

Unsere Hoffnung

Für uns ist Familie und die dort stattfindende Glaubenserziehung etwas sehr Wertvolles und Kostbares, genau deshalb werfen wir einen genauen und immer auch kritischen Blick darauf. Wir hoffen, dass von diesem Buch eine lebhafte und gerne auch kontroverse (aber konstruktive) Diskussion ausgeht. Denn die christliche Erziehung ist nicht am Ende, wie manche befürchten, sie befindet sich jedoch, wie so vieles momentan, in einem tief greifenden Wandel. Gerade in solchen Zeiten ist eine Auseinandersetzung damit besonders wichtig. Spannend ist mit Sicherheit auch, dass einige Ergebnisse ganz unterschiedlich gedeutet und interpretiert werden können. Das ist uns bewusst und wir freuen uns auf die Diskussion darüber.

Daneben wünschen wir uns aber auch, dass die Ergebnisse nachdenklich machen, eigene Verhaltensweisen hinterfragen oder bestärken und somit die alltägliche Erziehung beeinflussen. Zu guter Letzt erhoffen wir uns, dass das Thema »christliche Erziehung« eine größere Bedeutung in den Gemeinden bekommt. In der Bibel war Erziehung nie nur eine Angelegenheit von Vater und Mutter, sondern immer eingebettet in eine größere Gemeinschaft. Wir denken daher, dass das Thema Glaubenserziehung noch stärker in die Mitte der Gemeinde gehört.

Dank

Wir haben insgesamt drei Jahre an der Studie und dem Buch gearbeitet und ohne die Unterstützung einiger großartiger Menschen wäre beides nicht entstanden. Insbesondere wollen wir uns bei unserem empirica-Team bedanken: Annika Hauschild, Tobias Schädel, Sarah Dochhan und ganz besonders Tim Sandmann, der bei der Durchführung des quantitativen Teils der Studie Großartiges geleistet hat und sehr viel zu diesem Projekt beigetragen hat.

Dass Studie und Buch nicht nur eine Idee blieben, sondern realisiert und finanziert werden konnten, haben wir der Stiftung christliche Medien und dem SCM R.Brockhaus Verlag zu verdanken. Hier danken wir besonders Annette Friese und Silke Gabrisch, die die Studie und die Entstehung des Buches begleitet und mit ihrer Expertise unterstützt haben.

Ein großer Dank geht zudem an Luise Sieg, Wilhelm Faix und Elinor Hartmann, die Teile des Manuskripts gegengelesen und wertvolle Hinweise gegeben haben. Und die beste Studie nützt schließlich nichts, wenn es nicht die vielen Väter und Mütter gegeben hätte, die mitgemacht haben, sei es bei den Interviews oder auch bei der Online-Befragung: Herzlichen Dank dafür!

Widmen wollen wir dieses Buch unseren Familien, euch verdanken wir uns!

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

KAPITEL 1

DIE WICHTIGKEIT VON FAMILIE

»Für mich geht es um die Grundfrage: Wem folge ich? Und meine Kinder merken sehr genau, wem ich folge, nämlich Jesus.«ANDREAS

»Also, was ist christliche Erziehung? Gar nicht so leicht zu beantworten.«MELANIE

Familie in der Diskussion

Über fast kein anderes Thema wird in Medien und unter Fachleuten so dauerhaft und kontrovers diskutiert wie über Familie. Die einen sehen das Ende der traditionellen Familie gekommen und beklagen, dass immer weniger Menschen heiraten, immer weniger Kinder geboren werden und die Vielfalt an familiären Lebensformen inflationär zunimmt. Die anderen sehen gerade in dieser Pluralisierung das Überleben der Familie gesichert und verweisen auf neue Konzepte des Zusammenlebens (Mehrgenerationenhaushalte etc.). Alle aber betonen letztlich die Wichtigkeit von Familie.

Auch in der Bevölkerung hat die Familie – allen Unkenrufen zum Trotz – eine ungebrochen hohe Bedeutung. 81 Prozent der Ostdeutschen und 75 Prozent der Westdeutschen sehen Familie und Kinder als sehr wichtig an. Und so kommt der 14. Familienbericht der Bundesregierung zu dem Ergebnis: »Für mehr als 90 Prozent der Bevölkerung war es die größte Freude im Leben, zu beobachten, wie Kinder groß werden (93 Prozent West- und 96 Prozent Ostdeutschland).«2 Schaut man auf die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes (2014), dann macht die klassische Familie (mit verheirateten leiblichen Eltern) mit 70 Prozent immer noch das Gros aus, gefolgt von Alleinerziehenden mit 20 Prozent. Erst dann kommen mit gerade einmal 10 Prozent neue familiäre Formen des Zusammenlebens wie beispielsweise Patchworkfamilien, Familien mit unverheirateten Eltern, Lebensgemeinschaften oder homosexuelle Paare mit Kindern.3 Die Form der Familie hat sich immer gewandelt, aber bei Weitem nicht so drastisch bzw. nicht so, wie viele Menschen denken und manche Medien sensationsheischend verbreiten.

Dennoch verändert sich in den Familien sehr vieles. Dazu darf man aber nicht nur die äußere Form betrachten, sondern muss auch die innere Rollenverteilung, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, die Art und Weise der Erziehung, die Kommunikation in Familien u. v. m. in Betracht ziehen – in all diesen Bereichen sind die Umbrüche in den letzten Jahren viel gravierender als bei den äußeren Erscheinungsformen. Folgt man dem Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, so hat sich die Rollenteilung innerhalb der Familien verändert vom klassischen Alleinverdienermodell hin zu eher partnerschaftlichen Varianten:4

Vater alleinverdienend (Ernährer-Modell)

    30 %

Vater Vollzeit, Mutter Teilzeit (Hinzuverdiener-Modell)

    44 %

Beide Eltern Vollzeit (partnerschaftlich-egalitäres Modell)

    14 %

Sonstige Konstellationen

    12 %

Und das ist nur ein Aspekt. Die Veränderungen in der Rollverteilung bringen vor allem Väter dazu, sich stärker an der Kindererziehung zu beteiligen. Doch wie nachhaltig und intensiv prägen sie diese? Und verändert sie sich dadurch? Auch geänderte Erziehungsstile ziehen reichlich Diskussionen nach sich. Die einen fordern das Setzen von klaren Grenzen und eine Rückkehr zu Disziplin und Anstand, damit die Kinder zu Persönlichkeiten in unserer Gesellschaft werden (zum Beispiel Bernhard Bueb in »Lob der Disziplin« oder Michael Winterhoff in »Warum unsere Kinder Tyrannen werden«). Die anderen fordern Freiheit und Eigenverantwortlichkeit, weil die Kinder schon als eigene Persönlichkeiten auf die Welt kommen und nur so weiter reifen und gedeihen können (zum Beispiel Jesper Juul in »Dein kompetentes Kind« oder Haim Omer in »Stärke statt Macht«). Schauen wir auf die Diskussion in den Medien oder im Internet, könnte sie kaum kontroverser geführt werden.

Und die christliche Familie? Was macht die?

Welche Auswirkungen haben all diese Veränderungen und Diskussionen auf Familien, die bewusst sagen, dass sie ihre Kinder christlich erziehen wollen? Und was heißt »christlich« überhaupt? Ist dieser Begriff nicht sehr weit und wird teilweise inflationär gebraucht?

Ein geradezu typisches Zitat für das befürchtete Aussterben der Familie ist dieses: »Die gegenwärtige Moralrevolution zerstört die Familie. Entweder ist die Bibel Gottes Wort und dann ist sie auch unfehlbar oder der Mensch entscheidet darüber, was für ihn verbindlich ist und was nicht. Die dann entstehenden Ideologien haben deutliche Folgen für das Leben, wie die Entwicklungen auf dem Gebiet von Ehe und Familie zeigen. Es gibt Gründe für die moralische Zerstörung der Familie. Nur eine konsequente Rückkehr zu biblischen Maßstäben kann dagegen helfen.«5 Die Frage ist natürlich, zu welchen biblischen Maßstäben hier zurückgekehrt werden soll.

Auch beim Verständnis, was eine christliche Familie ist oder sein sollte, gibt es eine große Bandbreite von Meinungen. Auf der einen Seite sind da die Verteidiger traditioneller Werte und Familienformen, die sich unter dem Motto »Demo für alle. Ehe und Familie vor« lautstark bei Demonstrationen in verschiedenen Städten Deutschlands Gehör verschaffen. Auf der anderen Seite gibt es die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland »Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken«, die viele Veränderungen als positive Entwicklung deutet und die Vielfalt modernen Zusammenlebens bereits in der Bibel verwurzelt sieht.

Auch hier ist also festzustellen, dass die Diskrepanzen kaum größer sein könnten. Uns geht es in diesem Buch nicht um die Frage, wer genau recht hat, sondern die Analyse, wie eine typische, durchschnittliche, engagierte christliche Familie mit all diesen Veränderungen und Diskussionen umgeht. Wie gestaltet sie konkret ihren Familien- und Erziehungsalltag? Und was daran ist eigentlich christlich? Bevor wir diesen Fragen nachgehen, wollen wir uns jedoch zunächst kurz ansehen, welche Rolle die Familie in der Bibel spielt.

Familie in der Bibel

Familie spielt in der Bibel in vielerlei Hinsicht eine besondere Rolle. Gott selbst wird oftmals mit menschlichen oder menschenähnlichen Zügen dargestellt und mit Familienrollen beschrieben. Das ist gerade im Hinblick auf Eltern-Kind-Gespräche über den Glauben von Bedeutung, da sich Kinder Gott in Gestalt eines menschlichen Körpers vorstellen bzw. mit einem erkennbaren Gesicht mit Augen, Nase, Ohren, Mund und Haaren. Am bekanntesten ist sicherlich Gott als Vater, wie er zum Beispiel im Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lukas 15) vorkommt. Es gibt darüber hinaus noch viele andere Bilder von Gott, die aus der familiären Erfahrungswelt stammen. So wird beispielsweise die Treue Gottes zu den Menschen mit der barmherzigen, tröstenden und mitfühlenden Liebe einer Mutter (Jesaja 49,14; 66,13) verglichen. Überhaupt enthalten viele Bilder die mütterliche Seite Gottes (Gott als gebärende Frau, als stillende Mutter, als Geburtshelferin etc.). Die besondere Bedeutung der Familie rührt daher, »dass ohne sie Aussagen über Gott und sein Verhältnis zu den Menschen anscheinend nicht ausreichend verstanden werden können«6. Wir können Gott also nur über unsere Erfahrungen mit Familie und mit konkreten Müttern und Vätern verstehen. Der Religionspädagoge Michael Domsgen weist darauf hin, wie wichtig diese Grunderfahrung überhaupt für Kinder ist: »Von entscheidender Bedeutung ist die Erfahrung, als von seinen Eltern erwünschtes und geliebtes Kind aufwachsen zu dürfen.«7

Im Kontext des Alten und Neuen Testaments wird unter dem Begriff Familie jedoch nicht die bürgerliche Familie aus Vater, Mutter und Kindern verstanden, sondern das ganze Haus und damit alle Personen, die dieser Hausgemeinschaft angehören. Teil dieser Familie sind meist auch Hauslehrer, Sklaven und Familienangehörige aus mehreren Generationen und teils ferneren Verwandtschaftsgraden. Kinder gelten in solch einer Gemeinschaft als Geschenk Gottes (Psalm 127,3) und spielen eine zentrale Rolle.

Das biblische Bild von Familie ist dabei nicht, wie oft missverstanden, normativ, will also kein festes Muster von Familie vorgeben und alle anderen Formen des Zusammenlebens als defizitäre Abweichung von der Norm abwerten. Vielmehr lenkt es den Fokus auf das spezielle Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen Mitgliedern. Familie diente bereits in alttestamentlichen Zeiten zur Reflexion des Gottesglaubens, quasi als Mikrokosmos, um die Beziehung der Menschen zu Gott zu verdeutlichen. Die Liebe zu den Menschen und die Liebe zu Gott lässt sich biblisch-theologisch nicht trennen und stellt die Grundlage aller weiteren Beziehungen da (3. Mose 19,18; Matthäus 22,34-40). In der Beziehung zu Gott wird die Geborgenheit gefunden, die sich dann auch in der Familie widerspiegelt und umgekehrt. Dabei gibt es wie gesagt nicht eine biblische Idealform von Familie, sondern diese wandelt sich mit der Zeit: von der Familie im Alten Testament als Sippe, der der »pater familias« (Familienoberhaupt) vorsteht, zu der Frauen, Kinder und Sklaven gehören und die oftmals mit »Vaterhaus« (bêt ’āv) bezeich net wird, hin zum »Haus« (οἶκος) im Neuen Testament.8 Die Bibel kennt also die soziale Gestalt der modernen Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kind nicht, sondern sammelt unter den genannten Begriffen Bewohner eines ganzen Hauses und/ oder einer Verwandtschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass frühere Bibelübersetzungen die Bezeichnungen auch nicht mit »Familie« übersetzt haben, sondern u. a. mit den Begriffen »Sippe«, »Vaterhaus« oder »Haus« gearbeitet haben. Erst in den letzten Jahren findet sich vermehrt »Familie«, was zumindest irreführend ist, da die Assoziation der Leserinnen und Leser oftmals eher in Richtung Kernfamilie geht.

Elberfelder Bibel 1905

      14

Lutherbibel 1984

        5

Elberfelder Bibel 1997

      63

Einheitsübersetzung 2012

    131

Gute Nachricht Bibel 2012

    289

Hoffnung für alle 2015

    305

Quelle: bibleserver.com

Dieser Trend zeigt, dass wir in der Gefahr stehen, unsere heutige Sichtweise von Familie in die Bibel hineinzuprojizieren, wo im engeren Sinne gar nicht davon die Rede ist bzw. ein anderes Grundverständnis vorliegt. Hinzukommt, dass Jesus selbst die geistliche Nachfolge und das Reich Gottes über die Familie stellt (Markus 3,35; Lukas 9,60), eine im damaligen und oft auch heutigen Kontext ungeheure Provokation. Denn die Bedeutung der Familie beruht in gewisser Weise darauf, dass die Beziehungen innerhalb der Familie allerhöchsten Stellenwert haben. Die Gemeinschaft miteinander und die Solidarität zueinander sind immens wichtig. Gerade im Alten Testament spielt die Familie/Sippe eine so wichtige Rolle für den Einzelnen, wie wir uns das heute kaum noch vorstellen können. In gewisser Weise sind Menschen damals nicht zunächst Einzelpersonen, die dann auch noch einer Familie angehören, sondern sie sind zuallererst Mitglieder einer Sippe und dann Einzelpersonen. Wurde man aus der Familie ausgestoßen, war man sämtlicher Lebensgrundlage und sämtlichen Schutzes beraubt und somit oft nicht nur dem gesellschaftlichen, sondern auch dem physischen Tod ausgeliefert.

Dass Jesus dieser primären Bezugsgruppe ihre Vorherrschaft nimmt und das Reich Gottes und die Nachfolge darüberstellt, ist ein in der Menschheitsgeschichte einmaliger Vorgang. Denn in allen Kulturen zu allen Zeiten dieser Welt haben Primärgruppen, wie der Name schon sagt, primäre Bedeutung. Man kümmert sich zunächst um die eigene Primärgruppe (Familie, Stamm, Volk, Nation oder ethnische Gruppe) und deren Wohl. Als Christen ist für uns jedoch nicht die Familie, sondern der Leib Christi die Primärgruppe. Der Leib Christi wiederum hat den Auftrag, sich nicht nur um die eigene Primärgruppe zu kümmern, sondern sich für das Wohl aller einzusetzen. Wir sind gesegnet, um ein Segen zu sein; wir sollen selbst unsere Feinde lieben. In gewissem Sinne kann man sagen, dass ein zentraler christlicher Wert darin besteht, die einseitige Betonung und Bindung an die Primärgruppe aufzuheben und sich stattdessen um andere zu kümmern.

Oft gilt »Familie« (gemeint ist dann immer die bürgerliche Kleinfamilie) heute pauschal als christlicher Wert. Dieser Wert kann jedoch gerade dann problematisch werden, wenn dies bedeutet, dass Christen die bürgerliche Kleinfamilie als die einzig legitime oder zumindest als die wertvollste Form des Zusammenlebens sehen und damit alle anderen Formen des Zusammenlebens und insbesondere das sogenannte Singlesein abwerten. Es ist ja fast ein wenig paradox, dass der christliche Glaube von so vielen heute als Familienreligion betrachtet und gelebt wird, obwohl ihr »Gründer« Jesus Christus doch ein Single war, der die Familienwerte seiner Gesellschaft radikal auf den Kopf stellte, sich von allen familiären Verpflichtungen und Banden frei machte und von dem kaum ein positives Wort über seine eigene Familie oder den Wert von Familie allgemein überliefert ist. Bedenkt man zudem noch, dass der Apostel Paulus das Singleleben als die ideale Lebensform für Nachfolger Christi präsentierte und er Ehe und Familie eher als kompromisshafte Zweitlösung für Menschen mit besonderen körperlichen Bedürfnissen bewertete, fragt man sich in der Tat, wodurch Christen auf die Idee kamen, Familie an sich sei ein christlicher Wert.

Damit wir nicht falsch verstanden werden: Auch wir glauben, dass der Bund der Ehe, den zwei Menschen eingehen, von Gott gewollt und gesegnet ist und dass dieser Bund sogar von Gott dazu erwählt ist, etwas von den Beziehungen der Dreieinigkeit widerzuspiegeln. Auch glauben wir, dass Ehe und Familie den von Gott gewollten sicheren Rahmen bilden, um Kinder zu bekommen und großzuziehen. Wie erwähnt, sind die familiären Beziehungen sogar die Grundlage für Gotteserkenntnis. Bei allen positiven Aspekten steht jedoch auch die Familie – wie fast alles in dieser Welt – in der Gefahr, zum Götzen zu werden, und zwar besonders dort, wo einseitig vom christlichen Wert Familie gesprochen wird; wo sie über allem steht und alle Energie und Zuwendung allein an die Menschen innerhalb dieser Familie geht.

Dass auch die Familie sich in das Reich Gottes einordnen muss, bedeutet jedoch nicht, dass Familie etwas Negatives ist oder dann richtig gelebt wird, wenn Mütter oder Väter ihre Familie zugunsten der Gemeinde vernachlässigen. Vielmehr hat sie eine beständige und wichtige Bedeutung, wie viele Stellen im Neuen Testament zeigen. Besonders in den Briefen genießt die Familie eine besondere Wertschätzung, zum Beispiel wenn es um bestimmte kirchliche Ämter geht (1. Timotheus 3,4-5.12) oder bei den sogenannten Haustafeln, in denen alle Familienmitglieder (Hausbewohner) zur gegenseitigen Verantwortung gerufen werden (Kolosser 3,18-4,1; Epheser 5,22-6,9). Die Familie spielte bei der Glaubensvermittlung in der damaligen Zeit eine wichtige Rolle, denn der Glaube wurde über das gemeinsame Leben weitergegeben.

Lernen durch Nachahmung: Das Reich Gottes beginnt in der Familie

Familie ist letztendlich also auch eine Lerngemeinschaft. Die Herausforderung dabei ist unter anderem: Von wem kann die neue Generation der Eltern Erziehung lernen? Woher wissen junge christliche Ehepaare, wie sie ihre Ehe gestalten, ihre Kinder erziehen und Familie leben sollen?

Natürlich sind da zuerst die eigenen Erfahrungen in der Herkunftsfamilie, aber abgesehen davon stehen junge Familien oft ziemlich auf sich selbst gestellt da. Das »Haus« als größere Lebensgemeinschaft ist schon lange Geschichte und durch die hohe Mobilität in Studium und Beruf sind Eltern und Großeltern oft weit weg. In unseren Gemeinden spielt das Thema Familie oft nur in bestimmten, eher abgrenzenden Zusammenhängen eine Rolle: Es wird viel über die wichtige Funktion des Vaters gesprochen sowie von der traditionellen Familie als Gegenpol zu anderen Familienformen. Die viel wichtigere Frage aber, wie ein gesundes Familienleben im Alltag aussehen kann, in dem beide Elternteile Verantwortung tragen, wird selten thematisiert oder bestenfalls in spezielle Seminare ausgelagert.

Orientieren wir uns an der Bibel, dann wird sehr schnell deutlich, dass auch der Glaube vor allem durch Nachahmung erlernt wird. Die Kinder schauen sich den Glauben von den Eltern ab. Betrachtet man den großen Einfluss der Eltern auf die Entwicklung des Kindes sowie das Wissen darüber, dass Kinder insbesondere an Vorbildern lernen, dann wird unmittelbar deutlich, dass familiäre Glaubenserziehung zu einem großen Teil indirekt stattfindet, also einfach, indem der Glaube vorgelebt wird. Familiäres Nachahmungslernen spielt somit eine besondere Rolle für die Glaubensentwicklung, auch wenn mit zunehmendem Alter des Kindes auch andere Vorbilder von Bedeutung werden.

Wie stark sind sich Eltern ihrer Prägekraft bewusst und wie gehen sie mit diesem Bewusstsein um? Welches Gottesbild wollen Eltern ihren Kindern vermitteln? Denn Kinder orientieren sich zuallererst an den Eltern und schließen von deren Verhalten auf Gott. Damit gewinnt die Vorbildfunktion der Eltern ein entscheidendes Gewicht. Ein sehr strenger oder auch kaum anwesender Vater wird zunächst automatisch auf das Gottesbild übertragen werden.

Doch auch das Verhalten an sich wird nachgeahmt und bildet die Grundlage für die Vermittlung von Werten und Normen wie Achtung der Menschenwürde, Umgang mit Besitz, Höflichkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Opferbereitschaft, ehrenamtliche Mitarbeit, Liebe zu Gott und seinem Wort, Gebet, Glaube, soziale Einstellung etc. Das Leben im Alltag spricht die deutlichste Sprache. Es gibt ein geflügeltes Wort von Karl Valentin, das dies sehr gut auf den Punkt bringt: »Was nütze alle Erziehung, die Kinder machen uns sowieso alles nach.«

Die entscheidenden Impulse gehen dabei vom gemeinsamen Leben aus – nicht umsonst wird in der Bibel darauf so großen Wert gelegt. Wird das gemeinsame Leben vernachlässigt, werden viele Werte vom Kind nicht verinnerlicht bzw. es werden andere Werte übernommen. Gut brachte das der bekannte Pädagoge Thomas Gordon in seinem schon etwas älteren, aber immer noch lesenswerten Erziehungsbestseller »Familienkonferenz« auf den Punkt:

Eltern können ihre Wertvorstellungen lehren, indem sie sie vorleben. Wenn sie wollen, dass ihre Kinder Ehrlichkeit schätzen, müssen die Eltern täglich ihre eigene Ehrlichkeit demonstrieren. Wenn sie wollen, dass ihre Kinder Großzügigkeit schätzen, müssen sie sich großzügig verhalten. Wenn sie wollen, dass ihre Kinder sich »christliche Werte« zu eigen machen, müssen sie sich selbst wie Christen verhalten. Das ist der beste und vielleicht der einzige Weg für Eltern, Kinder ihre Wertvorstellungen zu »lehren«.9

Nachahmung und gemeinsame Lebensgestaltung gehören im Neuen Testament zum Selbstverständnis der christlichen Lebensgestaltung. Der amerikanische Missionar James Stalker hat beschrieben, wie das Prinzip Nachahmung gerade von Jesus und seinen Jüngern praktiziert wurde: »Für die zwölf Jünger bestand der wertvollste Aspekt ihrer Verbindung mit Christus einfach in dem Vorrecht, mit Ihm zu sein – Tag für Tag jenes wunderbare Leben zu sehen und täglich still, fast unbemerkt, von Seinem Charakter geprägt werden zu können.«10 Aber nicht nur bei Jesus spielt das Thema Nachahmung eine wichtige Rolle, sondern auch bei Paulus. In 1. Korinther 4,14 benutzt der Apostel das Wort sogar explizit im Zusammenhang mit dem Thema Erziehung: Er ist der Vater, die Gemeinde in Korinth die Kinder, die er erziehen und prägen möchte. Er fordert sie auf: »Werdet meine Nachahmer, wie ich Christus nachahme« (1. Korinther 11,1).

Im 18. Jahrhundert nahm Nikolaus Graf von Zinzendorf als einer der ersten das Thema Nachahmung für die Glaubenserziehung auf. Dabei waren seine Erziehungsgrundsätze geradezu revolutionär, wie der Zinzendorf-Kenner Zimmerling beschreibt.11 Zinzendorf wollte weg von starren Regeln und den körperlichen Strafen hin zu einer kinderzentrierten Erziehung, in der die Nachahmung eine zentrale Rolle einnahm. »Hauptaufgabe aller Erziehung ist es, zu dieser Gemeinschaft hinzuführen. Im Heranwachsenden soll die Gemeinschaft mit Jesus Christus selbsterzieherisch Kräfte freisetzen helfen.«12 In der Geschichte der Erziehung und insbesondere der Glaubenserziehung standen sich aber schon immer verschiedene Ansätze gegenüber und wurden diskutiert.

Diese grundsätzlichen Gedanken zur Familie haben uns während der Studie begleitet, da es explizit um die christliche Erziehung ging und die Bibel für viele Befragte eine große Rolle spielt, auch in Erziehungsfragen. Wie wir dabei vorgegangen sind und wen wir befragt haben, erklären wir im folgenden Abschnitt.

Ein Blick hinter die Kulissen

Im Film »Kitchen Stories« sehen wir eine schwedische Familie der 1950er-Jahre an ihrem Küchentisch sitzen und eine Mahlzeit einnehmen. Alles scheint normal. Bis die Kamera zurückfährt und wir in der Ecke der Küche einen Mann mit Hornbrille sehen, der auf einem Hochstuhl sitzt und auf einem Notizblock Aufzeichnungen macht. Der Mann ist ein Forscher des schwedischen Forschungsinstituts für Heim und Haushalt, das das Verhalten von Hausfrauen in ihren Küchen untersucht, um die Anordnung der Haushaltsgeräte zu optimieren. Das Gespräch mit der Familie, ja jeglicher Kontakt oder gar Hilfe bei den täglichen Arbeiten ist dem Wissenschaftler strikt untersagt, da dies die Forschungsergebnisse verfälschen würde. Diese Situation ist natürlich absurd und der Film unter anderem eine Parodie auf die Tatsache, dass manche Dinge nicht einfach neutral erforscht werden können.