Zwischen mir und dir - Christina Lauren - E-Book
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Christina Lauren

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Beschreibung

Du kannst vor allem davonlaufen, aber nicht vor deiner ersten Liebe.

Ihre erste große Reise führt die junge Tate Jones nach London, wo sie dem unglaublich anziehenden Sam begegnet. Es ist Liebe auf den ersten Blick, und die beiden verbringen eine unvergleichliche Zeit miteinander, teilen ihre Hoffnungen und Träume – und ihre Geheimnisse. Doch dann wird sie von Sam bitter enttäuscht und er verschwindet aus ihrem Leben – bis sie sich zehn Jahre später erneut gegenüberstehen. Doch Tate glaubt nicht an zweite Chancen. Aber gegen nichts ist man so machtlos wie gegen die Liebe …

Ein Romance-Highlight über das Scheitern einer ersten Liebe – und die Tücken der Liebe im zweiten Anlauf.

"Die Leserinnen werden diesen Roman über das ganze Glück, aber auch den ganzen Kummer, den die Liebe bereithält, verschlingen." Schreibfeder.de zu "Nichts als Liebe".

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Über Christina Lauren

Hinter Christina Lauren verbergen sich Christina Hobbs und Lauren Billings. Lauren ist promovierte Neurowissenschaftlerin und Mutter zweier kleiner Kinder. Christina wuchs in Utah auf und ist bei weitem nicht alt genug, die Mutter einer 16-jährigen Tochter zu sein. Nach mehr als einem Dutzend Bestsellern im Bereich Young Adult legen sie hier nun ihren ersten Liebesroman für Erwachsene vor, der in den USA bereits für Furore sorgte.

Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Du kannst vor allem davonlaufen, aber nicht vor deiner ersten Liebe.

Ihre erste große Reise führt die junge Tate Jones nach London, wo sie dem unglaublich anziehenden Sam begegnet. Es ist Liebe auf den ersten Blick, und die beiden verbringen eine unvergleichliche Zeit miteinander, teilen ihre Hoffnungen und Träume – und ihre Geheimnisse. Doch dann wird sie von Sam bitter enttäuscht und er verschwindet aus ihrem Leben – bis sie sich zehn Jahre später erneut gegenüberstehen. Doch Tate glaubt nicht an zweite Chancen. Aber gegen nichts ist man so machtlos wie gegen die Liebe …

Ein wunderschön romantischer Roman über das Scheitern einer ersten Liebe – und die Tücken der Liebe im zweiten Anlauf.

»Die Leserinnen werden diesen Roman über das ganze Glück, aber auch den ganzen Kummer, den die Liebe bereithält, verschlingen.« Schreibfeder.de zu »Nichts als Liebe«

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Christina Lauren

Zwischen mir und dir

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić

Inhaltsübersicht

Über Christina Lauren

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Dank

Impressum

Wenn du jemals mit mir in den Wald gegangen bist, muss ich dich sehr lieben.

Mary Oliver

Wie ich in den Wald gehe

Kapitel 1

Juni, vierzehn Jahre zuvor

Meine Großmutter sah sich in dem Hotelzimmer um. Ihr kritischer Blick wanderte von den Vorhängen über die in Rot- und Cremetönen gehaltene Ausstattung, die Landschaftsgemälde an den Wänden, die antike Kommode, auf der sie vermutlich der Fernseher störte. Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht in einem so edlen Hotelzimmer gewesen, und dennoch besagte Nanas Miene unzweifelhaft: Für den Preis hätte ich mehr erwartet.

Meine Mutter meinte immer, Nana sehe in diesen Momenten »schrumpelig« aus, was es ziemlich gut traf. Meine Großmutter war erst einundsechzig Jahre alt, doch sobald ihr etwas nicht passte, glich sie einer Trockenpflaume.

Naserümpfend trat sie nun ans Fenster. »Soll das ein Scherz sein? Wenn ich auf eine Straße schauen wollte, hätte ich auch in Guerneville bleiben können.« Ihr Blick fiel auf das Haustelefon, und sie trat entschlossen darauf zu. »Man hat uns ein Zimmer auf der falschen Hotelseite gegeben.«

Wir waren von Oakland über New York nach London geflogen und erst vor einer guten Stunde gelandet. Während des langen Flugs über den Atlantik hatten wir gleich hinter der Trennwand zum Servicebereich gesessen. Neben Nana ließ sich ein gebrechlicher alter Mann nieder, der sich an ihre Schulter lehnte und einschlief; zu mir setzte sich eine Mutter mit einem kleinen quengligen Kind. Nun wünschte ich mir nichts sehnlicher, als etwas zu essen, eine Runde zu schlafen und für eine Weile von den Anwandlungen der Trockenpflaume verschont zu bleiben.

Meine Großmutter besaß in Guerneville ein kleines Restaurant mit Namen »Jude’s«. Als ich acht Jahre alt war, waren meine Mutter und ich zu ihr gezogen, und ich hatte es in den letzten zehn Jahren tagtäglich erlebt, wie Nana in der Lage war, Dinge mit Humor zu nehmen. Aber hier war sie weit weg von zu Hause, sie hatte ihre Komfortzone verlassen, und vor allem hasste sie es, für ihr hart verdientes Geld nicht das zu bekommen, was vereinbart gewesen war.

Ich stellte mich ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter, über die ein für London typisches schwarzes Taxi fuhr. »Ist doch eine schöne Straße.«

»Ich habe für einen Blick auf die Themse bezahlt.« Nana griff nach dem Telefonverzeichnis des Hotels und ging die Einträge mit dem Zeigefinger durch.

Ich betrachtete sie voller Schuldgefühle. Diese Reise war ein Geschenk für mich und kostete mehr als alles, was wir je zuvor unternommen hatten.

»Und auf Big Ben.«

Ich war sicher, dass meine Großmutter bereits ausrechnete, wie viel sie bei einem preiswerteren Zimmer hätte sparen können.

Wie immer, wenn ich mich unwohl fühlte, wickelte ich meinen Zeigefinger in den Saum meines T-Shirts, so fest, bis das Blut in meiner Fingerspitze pochte. Meine Großmutter schlug auf meine Hand, ich ließ den Saum los. Sie setzte sich an den kleinen Schreibtisch, schnaubte verärgert und hob den Telefonhörer ab.

»Hallo. Zimmer zwölf-achtzig. Ich bin mit meiner Enkelin aus … Ja genau, Judith Houriet ist mein Name.«

Ich sah sie verwundert an. Sie hatte »Judith« gesagt, nicht wie sonst »Jude«.

Jude Houriet kannte ich. Sie kochte, backte Kuchen und kümmerte sich, seit sie ihr Restaurant im Alter von neunundzwanzig Jahren eröffnet hatte, um ihre Gäste. Falls einer von ihnen mal knapp bei Kasse war, konnte er anschreiben lassen. Judith war offenbar die elegante Version von Jude. Judith reiste mit ihrer Enkelin nach London und erwartete, in ihrem Hotelzimmer die Aussicht zu bekommen, für die sie bezahlt hatte.

»Wir sind hier, um den achtzehnten Geburtstag meiner Enkelin zu feiern, und ich habe ausdrücklich ein Zimmer mit Blick auf Big Ben und die Them…« Sie drehte sich zu mir um und flüsterte: »Jetzt bin ich in der Warteschleife gelandet.«

Judith klang überhaupt nicht nach meiner Großmutter. Oder veränderte man sich, wenn man den Kokon seiner kleinen Heimatstadt verließ? Die Frau vor mir besaß zwar Nanas weiche Rundungen und die kräftigen, zupackenden Hände, aber sie hatte eine gut geschnittene schwarze Jacke an, die Jude sich kaum leisten konnte, und ihre gelb-braun karierte Schürze fehlte. Jude trug ihr Haar in einem Knoten, in dem ein Bleistift steckte, Judith hatte eine schicke Föhnfrisur.

Als sich am anderen Ende des Telefons wieder jemand meldete, hatte derjenige eindeutig keine guten Nachrichten. »Das ist nicht akzeptabel«, erklärte Nana. Und »Ich werde mich beschweren« und »Ich erwarte eine Rückerstattung«.

Sie legte den Hörer auf und stieß einen endlos langen Seufzer aus. Das tat sie sonst nur, wenn es tagelang geregnet hatte, ich vor Langeweile unleidlich wurde und sie nicht mehr wusste, was sie mit mir anfangen sollte. Aber wenigstens war ich diesmal nicht der Grund dafür.

»Du weißt nicht, wie dankbar ich dir bin«, sagte ich leise. »Auch wenn dir das Zimmer nicht gefällt.«

Sie seufzte noch einmal und sah mich an. Ihre Miene wurde etwas sanfter. »Na schön.«

Im Geist sah ich zwei Wochen mit Nana in diesem Hotelzimmer vor mir, hörte, wie sie sich über den zu niedrigen Wasserdruck im Bad, die zu weiche Matratze im Bett und die Preise im Hotel beschwerte.

Doch dann sagte ich mir, dass vor mir zwei Wochen in London lagen. Ich würde die Stadt erkunden, Abenteuer erleben und so viele Eindrücke wie nur möglich sammeln, bevor mein Leben wieder klein würde. Zwei Wochen voller Sehenswürdigkeiten, über die ich bisher nur in Büchern gelesen oder die ich im Fernsehen gesehen hatte. Zwei Wochen, in denen ich die besten Theateraufführungen der Welt genießen würde.

Zwei Wochen außerhalb von Guerneville.

Dafür würde ich selbst eine Trockenpflaume in Kauf nehmen. Ich hob meinen Koffer aufs Bett und begann mit dem Auspacken.

***

Wir machten einen ersten Spaziergang. Dabei überquerten wir die Westminster Bridge und kamen an Big Ben vorbei, dessen schwerer Glockenklang tief in meiner Brust vibrierte. Und noch immer konnte ich kaum glauben, dass ich wirklich hier war.

Nach einer Weile betraten wir einen kleinen dunklen Pub mit dem Namen »The Red Lion«. Dort roch es nach abgestandenem Bier, altem Bratfett und Leder. Nana warf einen Blick in ihr Portemonnaie, um sicherzugehen, dass sie für unser Essen genug Dollar in Pfund getauscht hatte.

An der Theke schrien ein paar Gestalten eine Sportübertragung im Fernsehen an, an einem Tisch am Fenster saßen zwei Männer. Sonst gab es keine Gäste. Es war fünf Uhr nachmittags, vielleicht wollte außer uns noch niemand essen.

Laut und mit deutlich hörbarem amerikanischen Akzent sagte Nana: »Einen Tisch für zwei, bitte. Am Fenster.« Daraufhin stand der ältere der beiden Männer so abrupt auf, dass sein Tisch wackelte.

»Sind Sie auch über den Großen Teich gekommen?«, rief er uns zu. Er war in Nanas Alter, kräftig, hochgewachsen, dunkelhäutig, mit dickem, buschigem Schnurrbart, das Haar grau meliert. »Wir haben gerade erst bestellt. Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns.«

Die Schultern meiner Großmutter versteiften sich. Als der Kellner kam, nahm sie ihm die Speisekarten brüsk aus der Hand und steuerte die beiden Männer an.

Auch der jüngere Mann stand auf. »Luther Hill«, sagte der ältere und hielt Nana die Hand hin. »Und das ist Sam Brandis, mein Enkel.«

Nana schüttelte die dargebotene Hand verhalten. »Jude Houriet. Und das ist Tate Jones, meine Enkelin.«

Luther schüttelte auch meine Hand, doch ich hatte nur Augen für Sam. Irgendetwas an ihm ging mir durch und durch, beinah wie der Glockenklang von Big Ben, und ich konnte nicht anders, als zu denken, dass mich dieser große junge Mann an einen mächtigen starken Baum erinnerte.

Er neigte sich ein wenig zu mir herab – vielleicht wollte er, dass ich aufhörte, seine breite Brust anzustarren –, und dann lächelte er freundlich, wie um mir zu versichern, dass er meine Hand gewiss nicht zerquetschen würde, wenn ich sie ihm gab.

Er ergriff sie ganz sanft und sagte: »Hi, Tate.«

Ich sah ihn an und fand ihn einfach wundervoll, mitsamt den kleinen Makeln, die ihn irgendwie erst perfekt machten. Auf seinem Nasenrücken war ein Knubbel, wo die Nase einmal gebrochen war, und durch eine Augenbraue zog sich eine Narbe. Auch auf dem Kinn hatte er eine Narbe – eine winzige Kerbe in Form eines Kommas unter der Unterlippe. Seine freundliche Ausstrahlung ließ meinen Puls schneller schlagen, ebenso das Kraftvolle seines Körpers und das Zusammenspiel von brünettem Haar, weit auseinanderstehenden grünbraunen Augen und vollem, schön geschwungenem Mund. Mir war, als könnte ich sein Gesicht den ganzen Abend lang betrachten und immer etwas Neues entdecken.

»Hi, Sam.«

Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Luther einen Stuhl für meine Großmutter hervorzog. Ich dachte an Jesse, von dem ich mich vor zwei Wochen getrennt hatte, dem einzigen Jungen in Guerneville, der es wert war, von mir gemocht zu werden. Drei Jahre waren wir zusammen gewesen … doch nun hatte ich andere Pläne.

Oder etwa nicht?

Nein, ich war nicht nach London gekommen, um Jungs zu treffen. Ich wollte in Museen gehen, die großen Stätten der Kunst und Geschichte besichtigen und unter Menschen sein, die in dieser europäischen Metropole arbeiteten und lebten, statt in einem Nest irgendwo in der kalifornischen Pampa. Ich wollte mit Nana all die Dinge unternehmen, von denen sie geträumt hatte, und mehr von der Welt sehen, bevor ich im Herbst mit dem College begann.

Doch wenn ich Sams Ausdruck richtig verstand, schien er zu glauben, ich sei allein seinetwegen gekommen. Selbst als ich meinen Blick von ihm abwandte, spürte ich, dass er mich weiter ansah, und er hielt noch immer meine Hand. Wie auf ein Zeichen blickten wir beide auf unsere ineinandergeschlungenen Hände, eine kleine in einer großen. Erst dann ließ er mich los.

Zu viert war es eng am Tisch, und wir mussten zusammenrücken. Nana saß mir gegenüber, Sam zu meiner Rechten. Nana begutachtete die Tischdecke und strich sie mit verkniffenen Lippen glatt. Mir war klar, dass sie sich noch immer über die Aussicht unseres Hotelzimmers ärgerte und ihren Unmut am liebsten geäußert hätte, um von anderen zu hören, dass sie jedes Recht hatte, auf die Barrikaden zu gehen.

Mir fielen Sams lange, schlanke Finger auf, die nach einem Wasserglas griffen und es umschlossen.

»Seit wann sind Sie schon hier?«, fragte Luther.

»Wir sind gerade erst angekommen«, antwortete ich.

Er sah mich an, und unter seinem Walrossbart zeichnete sich ein liebenswürdiges Lächeln ab. »Und woher kommen Sie?«

»Aus Guerneville«, erwiderte ich. »Das liegt etwa hundert Kilometer nördlich von San Francisco.«

Luther schlug mit der Faust auf den Tisch. Das Wasser in seinem Glas wellte sich, und Nana fuhr zusammen. »San Francisco«, wiederholte er und lächelte so breit, dass man eine Reihe unregelmäßiger Zähne sah. »Da habe ich einen Freund. Doug Gilbert. Ist der Ihnen schon mal über den Weg gelaufen?«

Nana zog die Brauen zusammen und zögerte, bevor sie antwortete: »Doug … nein. Dem bin ich noch nicht begegnet.«

»Wenn er nicht nach Guerneville kommt, um den besten Brombeerkuchen Kaliforniens zu essen, kennen wir ihn nicht«, verkündete ich stolz. Nana blickte mich so strafend an, als hätte ich gerade das intimste Detail unseres Lebens verraten.

Sams Augen funkelten belustigt. »Ich glaube, San Francisco ist eine ziemlich große Stadt, Grandpa.«

»Natürlich.« Luther lachte über sich selbst. »Wir haben eine kleine Farm in Eden. Das liegt in Vermont, nördlich von Montpelier. Da kennt jeder jeden.«

»Ich weiß, wie das ist«, sagte Nana höflich und studierte die Speisekarte.

Ich überlegte fieberhaft, was ich nur sagen könnte, um ebenso freundlich wie die beiden Männer zu sein. »Was für eine Farm ist es denn?«

»Ein Milchbetrieb. Aber wie alle anderen Farmer auch haben wir noch ein paar Apfelbäume und Zuckermaisfelder.« Luther deutete auf Sam. »Wir sind in London, um Sams einundzwanzigsten Geburtstag zu feiern. Der war vor drei Tagen.« Er tätschelte Sams Hand.

Nana löste den Blick von der Speisekarte. »Tate hat gerade erst die Highschool abgeschlossen.« Sie schaute Sam warnend an, und ich wand mich innerlich. Er war nur drei Jahre älter als ich, doch meine Großmutter tat, als wäre er fünfzig und kurz davor, sich an mir zu vergreifen. »Im Herbst wird sie mit dem College anfangen.«

Luther hustete und drückte eine Serviette auf seinen Mund. Der Husten klang feucht und ungesund. »Wo denn?«

»Sonoma State University«, antwortete ich.

Luther schien sich die nächste Frage zurechtzulegen, doch Nana war ungeduldig geworden und winkte den Kellner herbei. Er war noch nicht ganz an unserem Tisch, als sie ihm schon ihre Bestellung zurief. »Ich nehme eine Portion Fish and Chips, bitte nicht zusammen auf einem Teller. Dazu einen Salat, aber ohne Tomaten. Und die Karotten nur, wenn sie nicht geraspelt sind.«

Sam schenkte mir einen Blick, der sowohl amüsiert als auch mitfühlend war. Am liebsten hätte ich ihm erklärt, dass meine Großmutter selbst ein Restaurant besaß und höchst ungern auswärts aß. Und dass sie bei der Zubereitung ihrer Speisen eine Perfektionistin war, sich jedoch nicht vorstellen konnte, dass ein anderer Koch ebenso großen Wert auf Perfektion legen könnte. Sam grinste verhalten, und dann sahen wir beide woanders hin.

Als der Kellner sich mir zuwenden wollte, hob Nana einen Zeigefinger. »Die Salatsoße bitte separat. Ach, auch ein Glas Chardonnay. Und ein Glas Eiswasser. Mit Eiswürfeln!« Sie beugte sich zu mir herüber, und mit gesenkter Stimme, aber doch so laut, dass jeder sie hören konnte, fügte sie hinzu: »Die Europäer haben etwas gegen Eis, weiß der Kuckuck, warum.«

Der Kellner sah aus, als wäre er kurz davor, die Augen zu verdrehen. »Was darf es für Sie sein?«, fragte er mich.

»Einfach Fish and Chips bitte.« Ich reichte ihm meine Speisekarte zurück.

Als der Kellner verschwunden war, breitete sich verlegenes Schweigen aus, bis Luther schallend lachte und sagte: »Jetzt wissen wir, wer von Ihnen beiden die Prinzessin ist.«

Nana wurde zur Trockenpflaume.

»Wie lange bleiben Sie in London?«, fragte Sam.

»Zwei Wochen.« Nana holte ihr Desinfektionsspray aus ihrer Handtasche und reinigte ihre Hände.

»Wir werden einen ganzen Monat in England verbringen«, sagte Luther.

Sam nahm ein Stück Brot aus dem Brotkorb und verschlang es hungrig mit zwei Bissen. Ich erinnerte mich, dass er und sein Großvater schon bestellt hatten. Wahrscheinlich hatte man ihnen das Essen noch nicht gebracht, weil wir dazwischengekommen waren.

»Zwei Wochen London, danach der Lake District. In welchem Hotel sind Sie?«

»Im Marriott«, antwortete ich so ehrfürchtig, als ginge es um den Buckingham Palace. »Es liegt direkt an der Themse.«

»Da sind wir auch«, sagte Sam und errötete.

»Wir werden so bald wie möglich umziehen«, erklärte Nana bissig.

Mir fiel die Kinnlade herunter. »Nana, wir –«

»Warum denn umziehen?«, fiel Luther ein. »Es ist doch ein wunderbares historisches Gebäude, und die Aussicht ist phantastisch.«

»Nicht bei uns. Wir blicken auf eine Straße und geparkte Autos. Bei dem Preis finde ich das unzumutbar.« Der Kellner schenkte Nana ein Glas Wasser ein. Sie schob das Glas fort. »Mit Eis, hatte ich gesagt.«

Sie ist müde, sagte ich mir und atmete tief ein und aus. Die teure Reise macht ihr zu schaffen, sie ist weit fort von zu Hause und denkt daran, dass meine Mutter das Restaurant allein führt.

Ich sah dem Kellner nach, der das Glas Wasser zurücktrug, und schämte mich für die schlechte Laune meiner Großmutter. Betreten schaute ich zu Boden und hörte Sam leise lachen. Als ich den Kopf hob, traf ich wieder auf seinen Blick, der etwas Tröstendes hatte.

»Tate ist zum ersten Mal in London«, erzählte meine Großmutter und schien zu vergessen, dass es für sie nicht anders war. »Ich habe die Reise seit Jahren geplant und möchte, dass sie vom Hotelzimmer auf die Themse schaut.«

»Das verstehe ich«, sagte Sam. Und ohne zu zögern, fügte er hinzu: »Wenn Sie möchten, können wir die Zimmer tauschen. Unseres liegt im zwölften Stock, mit Blick auf die Themse, das London Eye und Big Ben.«

Zwölfter Stock. Genau wie wir.

»Das geht nicht«, erwiderte Nana.

»Warum nicht?«, fragte Luther. »Wir sind so gut wie nie in dem Zimmer. Die besten Aussichten findet man meiner Meinung nach, wenn man durch die Straßen läuft.«

»Auch wir haben nicht vor, die ganze Zeit im Zimmer zu hocken«, antwortete Nana pikiert. »Aber wenn man überlegt, was ich bezahlt –«

Luther ließ sie nicht ausreden. »Die Sache ist erledigt. Nach dem Essen tauschen wir die Zimmer.«

***

»Das gefällt mir nicht«, sagte meine Großmutter. Ich war dabei, meine Sachen wieder in meinen Koffer zu stopfen. Sie saß mit der Handtasche auf dem Schoß und ihrem fertig gepackten Koffer zu ihren Füßen auf einem Sessel. Es war also schon klar, dass wir umziehen würden, aber Nana musste noch Theater machen. »Wer gibt denn ein Zimmer mit Blick auf die Themse und Big Ben für eins mit Straßenblick auf?«

»Zwei Männer, die sehr nett sind«, antwortete ich.

»Wir kennen diese Leute doch gar nicht. Außerdem möchte man auch sehr netten Männern nicht zu Dank verpflichtet sein.«

»Nana, wir tauschen nur die Zimmer. Sie erwarten sicher nicht, dass wir das mit Sex bezahlen.«

Nana schaute aus dem Fenster. »Kein Grund, ausfallend zu werden, Tate.« Sie befühlte die Gardine. »Was ist, wenn sie herausfinden, wer du bist?«

So, endlich war es heraus. Der Grund, weshalb ich bisher nie weiter östlich als bis Colorado gekommen war. »Spielt das noch eine Rolle? Ich bin kein kleines Kind mehr, das man vor der Presse schützen muss.«

Nana holte Luft, um zu antworten, doch ich winkte ab. Für meine Großmutter war es wichtig, dass niemand etwas über mich erfuhr, und danach würde ich mich richten, auch ohne dass sie mich daran erinnerte.

Ich zog den Reißverschluss des Koffers zu und rollte ihn zur Tür. »Luther und Sam sind freundlich, weiter nichts. Und wir sind für zwei Wochen in London. Ein Zimmer mit Blick zur Straße würde dich in den Wahnsinn treiben, und das würde mich wiederum in den Wahnsinn treiben.« Nana rührte sich nicht. Ich drehte mich zu ihr um. »Du weißt, dass du ihr Zimmer haben möchtest, also komm.«

Mit einem Seufzer stand sie auf. »Wenn es dich glücklich macht.«

Wir verließen das Zimmer, rollten die Koffer hinter uns her und hörten, wie die Räder über die Nähte des dicken Teppichbodens schleiften.

»Ich möchte nur, dass dein Aufenthalt hier perfekt ist«, sagte Nana.

»Das weiß ich. Das Gleiche wünsche ich mir für dich.«

Sie zog den Schulterriemen ihrer Handtasche zurecht. Die Handtasche war ein Sonderangebot gewesen, und mein Herz zog sich zusammen. »Es ist unsere erste Reise nach London, und da möchte ich –«

»Nana, wir werden hier eine wunderschöne Zeit verleben, bitte hör auf, dir Gedanken zu machen.« Ihr Restaurant lief gut, aber es lag in einer kleinen Stadt, und wir würden nie im Geld schwimmen. Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie lange sie gebraucht hatte, um das Geld für diese Reise zusammenzukratzen. Ich wusste, dass sie jede Menge Museums- und Theaterbesuche geplant hatte; zu Harrods wollte sie mit mir gehen, und natürlich würden wir ständig auswärts essen – in zwei Wochen würde meine Großmutter wahrscheinlich mehr Geld ausgeben als sonst in einem ganzen Jahr.

»Ich bin so froh, dass wir hier sind«, erklärte ich. Sie gab mir keine Antwort.

In diesem Moment kamen Sam und Luther aus ihrem Zimmer, Luther mit einem Koffer, Sam mit einem Seesack über der Schulter. Wieder durchzuckte mich etwas bei seinem Anblick. Er trug ein blau-schwarz kariertes Hemd über einem weißen T-Shirt und Jeans, jedoch keine Schuhe. In Socken über den Flur zu laufen, gab ihm etwas Rebellisches.

Er nickte mir lächelnd zu. Mein Herz begann aufgeregt zu schlagen, was entweder an seinem Lächeln oder den schuhlosen Füßen lag.

Ich bin hier, um Museen und die großen Stätten der Kunst und Geschichte zu besuchen.

Ich bin hier, um mehr von der Welt zu sehen und Erfahrungen zu sammeln.

Ich bin nicht hier, um Jungs zu treffen.

Als wir auf einer Höhe waren, stellte ich fest, dass ich ihm kaum bis zur Schulter reichte. Ich kam mir vor wie die Erde, die ihre Bahn um die Sonne zog.

»Noch mal vielen Dank«, murmelte ich.

»Für ein Lächeln von dir tue ich alles«, antwortete er ebenso leise.

***

Das neue Zimmer war wie unser altes, außer dass wir nun die richtige Aussicht hatten. Nana packte ihren Koffer aus, hängte ihre Kleidung in den Kleiderschrank, stellte ihre Hygiene- und Kosmetikartikel im Bad auf die breite Granitablage über dem Waschbecken. Auf der schweren dunklen Platte wirkten ihre Tuben und Dosen aus dem Supermarkt mickrig.

Dann erklärte sie, sie sei müde, und machte sich zum Schlafen bereit. Sie cremte ihre Füße, ihre Hände, stellte den Wecker und griff nach ihrem Buch. Dann stieg sie ins Bett. Ich dagegen war trotz des langen Flugs und der Zeitverschiebung glockenwach. Wir waren in London, waren nicht kurz nach Santa Rosa oder San Francisco gefahren, sondern hatten Amerika und danach einen ganzen Ozean überquert. Ich war erschöpft, aber gleichzeitig hoffnungslos überdreht. Ich wollte nicht schlafen, konnte mir nicht vorstellen, überhaupt jemals wieder zu schlafen. Würde ich mich hinlegen, würde ich mich nur von einer Seite auf die andere wälzen und mich in meinem Laken verheddern.

Für ein Lächeln von dir tue ich alles.

Ich trat ans Fenster. Nana hatte recht gehabt, die Aussicht von hier war wirklich fabelhaft. Ich sah die glitzernden Lichter der Stadt und wäre am liebsten aus dem Zimmer geschlüpft, um die Straßen von London zu erkunden. Ich ließ meinen Blick über die Themse gleiten, hinüber zu Big Ben und wieder zurück. Unten am Hotel war ein kleiner Garten, gesprenkelt von winzigen Lampions, die sanft im Wind schaukelten.

»Ich glaube, ich vertrete mir noch ein bisschen die Beine«, sagte ich wie nebenbei. »Gehe vielleicht in den kleinen Hotelgarten da unten. Oder ich lese in der Hotelhalle.« Ich schnappte mir mein Buch.

Meine Großmutter studierte mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. »Allein?«

Ich nickte.

»Bleib auf dem Hotelgelände, Tate. Und sprich mit niemandem.«

»Natürlich nicht.«

Ihr Blick verriet, worum es wirklich ging: Sprich mit niemandem über deine Eltern.

Das tue ich nie, antwortete ich stumm.

***

An der Hotelbar hing ein Schild, auf dem stand, dass hier an Gäste unter einundzwanzig Jahren kein Alkohol ausgeschenkt werde. Ich war also noch nicht alt genug, um etwas trinken zu können, aber wie gern hätte ich mich auf einen Barhocker geschwungen, ein Bier bestellt und mir ausgemalt, ich wäre allein unterwegs, ohne unentwegt an meine Mutter oder Nana zu denken, ohne das Gewicht ihrer Vergangenheit und die Last ihrer Erwartungen. Ich fragte mich, ob man mich in der Bar bedienen oder mich für einen renitenten Teenager halten würde, der versuchte, verbotenerweise an Alkohol zu gelangen. Dann dachte ich an meine enge Jeans, meine übergroße Strickjacke, meine ramponierten Sneakers und sagte mir, dass ich mir die Mühe sparen konnte.

Ich nahm den Aufzug ins Erdgeschoss und ging hinaus in den Garten. Er war unglaublich gepflegt, und die Büsche waren so ordentlich gestutzt, dass man glauben konnte, sie würden nachts ins Hotel geräumt, um sie vor der Witterung zu schützen. Das Licht der Lämpchen verlieh dem Rasen eine leuchtend grüne Farbe, und es roch nach feuchtem Erdboden. Ringsum zog sich ein schmiedeeiserner Zaun, dahinter lag die Stadt.

Mein Leben lang hatte ich auf eine Reise wie diese gehofft, wollte weit fort von zu Hause und von unseren Geheimnissen sein. Nun war es so weit und dieser verwunschen wirkende Garten ein erster Höhepunkt.

»Den besten Blick hat man von hier unten«, ertönte eine Stimme.

Ich fuhr zusammen, drehte mich nach der Stimme um und entdeckte Sam. Er lag auf dem Rasen, hatte die Beine überkreuzt und die Hände unter dem Kopf verschränkt.

Inzwischen trug er grüne Sneakers. Seine Jeans hatte über einem Knie einen winzigen Riss, durch den ein Stück Haut blitzte, ebenso wie zwischen Hosenbund und dem Saum seines hochgerutschten T-Shirts.

Ich drückte eine Hand auf mein wild klopfendes Herz. »Was machst du da?«

»Ich ruhe mich aus.«

»Tut man das nicht im Zimmer?«

»Im Zimmer sehe ich keine Sterne.« Er starrte in den Himmel, dann wandte er den Kopf zu mir um. »Außerdem ist es noch nicht mal neun Uhr, und Luther schnarcht schon.«

»Meine Großmutter schläft wahrscheinlich auch schon.«

Sam klopfte auf das Gras an seiner Seite. »Komm, setz dich. Hier siehst du die Sterne.«

»Die sieht man in Kalifornien auch.«

Er lachte leise. »Aber du hast sie noch nie von hier aus gesehen.«

»Nein.«

»Dann komm«, sagte er drängender.

Mit achtzehn Jahren dürfte ein normaler Teenager wohl schon zigmal geglaubt haben, sich auf den ersten Blick in jemanden verliebt zu haben, aber ich war nicht so leicht zu beeindrucken und hatte schon immer bezweifelt, dass es zwischen zwei Menschen auf Anhieb funken konnte. Doch in diesem Augenblick war ich bereit, zumindest an Lust auf den ersten Blick zu glauben. Zwar begegnete ich Sam gerade erst zum dritten Mal, aber der Funke war von Anfang an da gewesen und hatte jedes Mal heller gebrannt.

Doch dann hörte ich im Geist Nanas Worte – auch die unausgesprochenen. Bleib auf dem Hotelgelände, Tate. Und sprich mit niemandem.

Ich betrachtete den tadellos gestalteten Garten. »Ob man hier wirklich auf dem Boden liegen und in die Sterne gucken darf? Ist es dazu nicht zu vornehm?«

»Was kann denn passieren, außer dass jemand kommt und sagt, ich soll aufstehen?«

Ich legte mich zu Sam und spürte den kalten, feuchten Boden. Ich zog die Ärmel der Strickjacke über meine Hände und schlang die Arme um mich.

»Und jetzt schau nach oben.« Sam zeigte auf den Himmel, wobei er mit seiner Schulter an meine stieß. »London gehört zu den Städten mit der größten Lichtverschmutzung der Welt, aber was für eine Pracht. Sieh mal, da ist Orion. Und da Jupiter.«

»Ich sehe sie nicht.«

»Weil deine Augen noch immer mit der Stadt beschäftigt sind. Vergiss die Themse, Big Ben und London Eye, konzentrier dich auf den Himmel.«

Das hätte ich vielleicht tun können, wenn ich nicht immerzu hätte denken müssen, wie dicht er neben mir lag, wie kraftvoll und warm er sich anfühlte. Es erinnerte mich an einen Tag, als ich als Kind am Hafen von San Diego stand und am Horizont ein riesiges Kreuzfahrtschiff erschien. Mit angehaltenem Atem hatte ich darauf gewartet, dass es näher kam, bis es schließlich vor mir aufragte.

»Was liest du?« Sam deutete auf das Buch, das ich auf den Rasen gelegt hatte.

»Ach, nur eine Biographie.« Ich tat, als wolle ich Schmutz von dem Buch wischen, und drehte es mit der Vorderseite nach unten.

»Über wen?«

»Rita Hayworth.« Ich wurde verlegen, obwohl Sam mir nicht wie jemand vorkam, der andere nach ihrer Lektüre beurteilte oder danach, ob sie sich von der Traumfabrik Hollywood faszinieren ließen. Doch diese Biographie offenbarte so viele intime Details der Schauspielerin, dass ich mich beim Lesen mitunter wie eine Voyeurin fühlte.

Rita Hayworth schien Sam nicht zu interessieren. »Deine Großmutter ist echt der Hammer«, wechselte er das Thema.

Ich drehte ihm mein Gesicht zu und wandte es wieder ab, als ich feststellte, wie dicht es an seinem war. »Die Reise hat sie angestrengt.« Als Sam nicht antwortete, wurde ich defensiv. »Sonst ist sie nicht so.«

»Ach«, sagte Sam und klang enttäuscht. Ich spürte, dass er mich ansah. Noch nie hatte ich neben jemandem gelegen, der so offensichtlich ein Mann war und mich mit den Augen eines Mannes betrachtete. Jesse war einfach nur ein anderer Teenager gewesen, und selbst wenn er mich in die Arme genommen und geküsst hatte, war er nicht mehr als das.

»Ich mag deine Großmutter«, sagte Sam.

»Weil sie so pingelig ist?«

»Weil sie weiß, was sie will.«

Ich lachte. »O ja, das tut sie. Und sie sagt es dir ins Gesicht.«

»Sie erinnert mich an Roberta.«

»Wer ist Roberta?«

»Meine Großmutter.«

»Luthers Ehefrau?«

»Ja.«

»Ist sie auch hier?«

Er gab einen Laut von sich, der wie »nein« klang. »Sie verreist nicht.«

»Nie?«

»Nicht wirklich.« Sam zuckte mit den Schultern.

»Genau wie meine Mutter.« Der Satz war mir herausgerutscht, und sofort wurde ich panisch.

»Ich glaube, meine Großmutter findet alles, was sie braucht, in Vermont.«

Ich entschied, dass es besser wäre, das Thema zu wechseln. »Warum seid ihr nach London gekommen?«

»Das war schon immer der Traum meines Großvaters. Und meiner.«

»Kein Wunder, dass er so aufgeregt ist.«

Sam murmelte irgendetwas, das ich nicht verstand.

Danach schwiegen wir. Sam hatte recht, je mehr ich mich auf den Himmel konzentrierte, desto mehr Sterne sah ich. In einem seltenen Anfall von Nostalgie erinnerte ich mich daran, wie mein Vater mir vor dem Einschlafen früher Geschichten aus Peter Pan vorgelesen hatte. In dem Buch waren Illustrationen, und jeder von uns suchte sich immer die aus, die ihm am besten gefiel. Ich entschied mich für Peter Pan, der durch ein Fenster späht und sieht, wie sich die Darlings umarmen. Mein Vater wählte das Bild, auf dem Wendy und Peter Pan durch die Nacht fliegen und an Big Ben vorbeikommen.

»Soll ich dir mal etwas erzählen?«, durchbrach Sam die Stille.

»Ja.« Ich sah ihn gespannt an.

»Etwas, das vielleicht ein wenig sonderbar klingt?«

Ich überlegte. Seit zehn Jahren hatte ich in einer Blase gelebt, einer winzigen Welt in einem Kaff in Kalifornien, in der tagaus, tagein dieselben Menschen um mich kreisten. Dort erzählte man sich nichts Sonderbares, es sei denn, es ging um meinen Vater, und auch das kam kaum noch vor, dafür sorgte meine Großmutter.

»Ja bitte.«

»Ich glaube, dass mein Großvater bald sterben wird.«

Ich erschrak. »Wie kommst du darauf?«

»Es ist so ein Gefühl. Gesagt hat er es nicht.«

Ich kannte Sam kaum, auch seinen Großvater nicht, trotzdem nahm mich die Nachricht mit, und ich fragte mich, wie schrecklich es erst für Sam sein müsse.

Ich kannte nur einen Menschen, der gestorben war, das war Safeway Bill, von dem ich nicht einmal wusste, wie er mit Nachnamen hieß. Er gehörte zu den Stammgästen meiner Großmutter, saß immer am selben Ecktisch und aß den Kuchen, den sie ihm spendierte. Oder er hockte betrunken vor dem großen Safeway-Supermarkt und bettelte. Ich glaube, er lebte schon in Guerneville, als meine Großmutter dorthin zog. Wie ein Hundertjähriger sah er aus, mit ledriger, faltiger Haut und verfilztem Bart. Touristen machten einen Bogen um ihn, wenn sie mit ihren aufblasbaren Schlauchbooten und dick mit Sonnencreme beschmierten Gesichtern auf dem Weg zum Russian River waren. Bill war der harmloseste Mensch, den man sich vorstellen konnte, viel friedlicher als die Studenten, die nach Guerneville kamen, sich sinnlos betranken und freitagabends die Gäste in der Kneipe namens Rainbow Cattle Company anpöbelten. Es machte mich wütend, wenn Leute Bill musterten, als hätten sie Angst, er könne gewalttätig werden.

Eines Morgens fand man Bill tot an der Bushaltestelle. Alan Cross, der Postbote, erzählte es meiner Großmutter. Nana hatte eine eigene Art, ihre Gefühle zu zeigen. Sie blickte aus dem Fenster und sagte: »Niemand wird meinen Pfirsichkuchen je so gern essen wie er.«

Aber Luther reiste um die Welt, er arbeitete, hatte eine Familie, und vor allem machte er einen gesunden Eindruck. Warum sollte so jemand bald sterben?

Wahrscheinlich schwieg ich zu lange, denn Sam räusperte sich und sagte: »Entschuldige, aber ich musste es mal loswerden.«

»Natürlich, das verstehe ich.«

»Luther ist nicht mein leiblicher Großvater. Offensichtlich nicht, immerhin ist er dunkelhäutig und ich nicht. Er ist Robertas zweiter Mann. Die beiden haben mich aufgezogen.« Wieder verschränkte er die Hände unter seinem Kopf.

»Kannst du ihn nicht fragen, ob er krank ist oder so etwas?«

»Nein. Er muss entscheiden, wann er es mir sagen will.«

Was für ein seltsames Gespräch wir führten. Offenbar machte es Sam nichts aus, mit einem fremden Menschen über seinen Großvater zu sprechen – oder es fiel ihm leichter, gerade weil er mich kaum kannte.

»Wärst du danach mit deiner Großmutter allein?«, fragte ich und wünschte, ich könnte die Frage zurücknehmen. »Entschuldige, das geht mich nichts an.«

Sam atmete tief ein und aus. »Luthers Gesundheitszustand geht dich auch nichts an, trotzdem habe ich es dir erzählt. Aber um deine Frage zu beantworten: Ja, dann gibt es nur noch meine Großmutter und mich.«

Als ich nichts sagte, sprach Sam weiter. »Vor vielen Jahren kam eine junge Frau aus der Ukraine nach New York. Sie hieß Danja Sirko. Ein Ehepaar mit Namen Michael und Allison Brandis stellte sie als Kindermädchen für ihre drei Kinder ein.«

Er machte eine Pause.

»Und weiter?«

Sam zögerte einen Moment, bevor er fortfuhr. »Danja war eine sehr schöne Frau und Michael nicht der treueste aller Ehemänner.«

»Oje.« Dann fiel bei mir der Groschen. »Ist Danja etwa deine Mutter?«

»Jep. Und mein Vater ist Robertas Sohn und Luthers Stiefsohn.« Sam lachte. »Ein schmutziges kleines Familiengeheimnis. Dann wurde meine Mutter aus Amerika ausgewiesen – ich wette, dass mein Vater dahintersteckte –, doch es war ihr Wunsch, dass ich nicht in einem armen Land wie der Ukraine aufwuchs, sondern in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Und da mein Vater nichts von mir wissen wollte, haben Luther und Roberta mich aufgenommen.«

Die reinste Seifenoper, dachte ich, und er durfte sie mir einfach erzählen, wohingegen ich das Geheimnis meiner Familie immer ängstlich für mich behalten musste.

»Eine traurige Geschichte«, sagte ich.

Sam schüttelte den Kopf. »Mein Leben bei meinen Großeltern war tausendmal schöner, als es bei meinem Vater gewesen wäre.«

»Hast du noch Kontakt zu ihm?«

»Nein«, antwortete er gleichmütig. »Und, wie war es bei dir?«

Im Geist hörte ich Nanas drohende Worte. Wie in Leuchtschrift tauchten die Antworten vor mir auf, die ich auf Fragen wie diese zu geben hatte. Mein Vater starb, als ich noch ein Baby war. Meine Mutter und meine Großmutter haben mich aufgezogen.

Schon seit Jahren steckte die Wahrheit in meinem Hals und wollte heraus, doch ich schluckte sie immer wieder hinunter. Aber Sam hatte so offen über sich gesprochen. Sollte ich ihn nun belügen? »Bei mir?«

Sam stieß mich an – eine Berührung, die mich wie ein Stromschlag durchfuhr. »Ja, bei dir.«

»Ich bin in Guerneville groß geworden, einem kleinen Ort nördlich von San Francisco. Im Herbst gehe ich auf die Sonoma State University, die nicht weit von uns entfernt liegt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter und meine Großmutter haben mich aufgezogen.«

»Und dein Vater?«

Ich schluckte nervös. Die Lüge lag mir schon auf der Zunge, doch dann sagte ich mir, dass ich in London war, Tausende Kilometer von zu Hause entfernt, und dass hier andere Regeln galten. Von jeher war diese Lüge für meine Mutter und meine Großmutter wichtiger als für mich gewesen, warum sollte ich mich nach so vielen Jahren noch immer nach ihnen richten? »Mein Vater ist irgendwie … ausgefallen.«

Sam lachte. »Wie kann ein Vater denn ausfallen?«

Sollte ich es wirklich wagen? Merkwürdig eigentlich, dass ich es so lange für mich behalten hatte. Außer meiner Familie wusste nur meine beste Freundin Charlie Bescheid oder kannte, da sie einiges miterlebt hatte, zumindest die wesentlichen Versatzstücke. Die ganze Geschichte hatte ich ihr nicht mehr erzählen müssen. Und warum wollte ich es ausgerechnet jetzt tun?

»Als ich acht war, haben meine Eltern sich scheiden lassen, und meine Mutter ist mit mir nach Guerneville zurückgekehrt, in ihren Heimatort.«

»Und wo wart ihr vorher?«

Lag es an London, an dem kleinen Garten oder an Sam, dass mir plötzlich alles egal war? Ich war achtzehn und somit erwachsen, es war mein Leben, und was war das Schlimmste, was mir passieren konnte?

»In L.A.«

Es hätte mich nicht gewundert, wenn Nana in diesem Augenblick aus dem Hoteleingang gestürzt wäre und drohend die Fäuste geschüttelt hätte.

Sam stieß einen leisen Pfiff aus. Vielleicht hörte L.A. sich für einen Jungen von einer Farm in Vermont beeindruckend an.

Ich hatte nur schwache Erinnerungen an die Stadt – nebelverhangene Morgen, der warme Sandstrand unter bloßen Füßen, eine rosa Zimmerdecke über mir. Vielleicht ging es mir mit L.A. wie meiner Mutter mit meiner Geburt, und ich hatte alles Schmerzhafte vergessen und das Schöne behalten.

Wieder schwiegen wir, und plötzlich, nachdem ich den ersten kühnen Schritt gewagt hatte, flaute mein Adrenalinschub ab, und ich spürte wieder, wie kalt der Erdboden war. Wie eigenartig, dachte ich, ich habe etwas Verbotenes getan, aber weder hat die Erde sich aufgetan, um mich zu verschlingen, noch ist Nana erschienen, um mich zum nächsten Flugzeug und zurück nach Kalifornien zu schleifen.

»Geschiedene Eltern, Rückkehr nach Guerneville, Studium irgendwo um die Ecke. Im Vergleich zu Ehebruch und unehelichem Kind ist das nichts. Ich bin enttäuscht.«

»Das ist noch nicht alles, aber …«

»Aber …?«

»Wir kennen uns doch gar nicht.«

Sam wälzte sich zu mir herum. »Das macht die Sache doch so einfach. Ich bin ein Unbekannter, der bestimmt nicht durch Eden in Vermont laufen wird, um allen Leuten das Geheimnis einer schönen jungen Frau aus Kalifornien zu erzählen.«

Nach dem Wort »schön« hatte mein Gehirn ausgesetzt. Ich begann den Saum meiner Strickjacke um meinen Zeigefinger zu wickeln. Sam zupfte einen Grashalm aus meinem Haar, seine Finger streiften meine Wange. Ich ließ den Saum los und fragte mich, ob man im Licht der kleinen Lampen sehen konnte, dass ich rot geworden war.

Sam wartete einen Moment, dann legte er sich wieder auf den Rücken.

»Vielleicht habe ich dir deshalb von Luther erzählt. Weil wir uns nicht kennen. In Eden kann ich nicht darüber sprechen. Er und Roberta sind die Stützen unserer kleinen Gemeinde, und alle würden über nichts anderes mehr reden. Und Roberta ist zwar eine starke Frau, aber ich weiß nicht, wie sie ohne ihn zurechtkommen wird. Wahrscheinlich hat Luther auch deshalb nichts gesagt – falls er tatsächlich krank ist.« Er seufzte. »Aber nun habe ich es ausgesprochen – und kann lernen, damit umzugehen.«

Wie gut sich das anhörte, wie richtig. Ich dagegen lebte irgendwo in Wolkenkuckucksheim und konnte nicht lernen, mit irgendetwas umzugehen. Ich dachte an meinen Vater. Ich wusste, dass er Geld hatte, aber nicht einmal, ob wir etwas von ihm annahmen; wahrscheinlich nicht, wir hatten ja nie viel. Ich hatte nicht mehr als die Freiheit, mich in einem winzigen Umkreis zu bewegen. Darüber hinaus besaß ich eine Freundin – die beste, die man sich wünschen konnte –, eine Mutter und eine Großmutter, die mich liebten.

Und ich musste nichts anderes tun, als ein Geheimnis zu wahren.

Aber das wollte ich nicht mehr.

»Ich darf nicht darüber reden«, sagte ich, und ohne hinzusehen, stellte ich mir Sams verblüffte Miene vor.

»Du darfst nicht –? Okay, dann entschuldige ich –«

»Ian Butler ist mein Vater«, platzte es aus mir heraus.

So, es war passiert. Es war gesagt, und nun musste ich keine Angst mehr haben, daran zu ersticken.

Sam stemmte sich auf seinen Ellbogen und sah mich an. »Du machst Witze, oder?« Er lachte.

Ich lachte ebenfalls. Ich hatte diesen Satz noch nie gesagt, selbst in meinen Ohren hörte er sich bizarr an.

Sam furchte die Stirn. »Nein, ich glaube, es war dein Ernst.«

Ich nickte und konnte kaum glauben, dass ich es wirklich gewagt hatte. Mein Vater war ein berühmter Hollywoodschauspieler, hatte einen Oscar gewonnen und war stetig auf den Titelseiten irgendwelcher Zeitschriften zu sehen. Wahrscheinlich gab es kaum jemanden, dem sein Name nichts sagte.

Sam starrte mich noch immer an. Ich wünschte, ich hätte den Mut, die Arme um ihn zu legen.

»Heilige Scheiße«, flüsterte Sam. »Du bist Tate Butler.«

So hatte mich schon seit zehn Jahren niemand mehr genannt. »Inzwischen heiße ich Tate Jones, der Name, den meine Mutter nach der Scheidung angenommen hat.«

Sam studierte mein Gesicht, verglich wahrscheinlich jedes Detail mit dem Gesicht meines Vaters – die Form, die vorspringenden Wangenknochen, den Schnitt meiner hellbraunen Augen, die vollen Lippen und den Schönheitsfleck über meiner Oberlippe. »Mann«, sagte er, »wieso ist mir das nicht aufgefallen? Ihr gleicht euch wie ein Ei dem anderen.«

Das traf zu. Ich hatte mich heimlich in die Filme mit meinem Vater geschlichen und nicht fassen können, dass ich plötzlich mein Gesicht vor mir auf der Leinwand sah.

»Damals haben sich alle Leute gefragt, was aus dir geworden ist.« Sam strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Und nun bist du hier.«

Kapitel 2

Was hast du gestern Abend noch gemacht?« Nana hob mit dem Löffel eine Melonenscheibe auf ihren Teller und schob sich am Buffet entlang auf die winzigen, köstlich aussehenden Gebäckstücke zu.

Ich wollte ihr nicht von meiner Begegnung mit Sam erzählen, aber noch weniger wollte ich sie belügen. »Ach, ich habe ein bisschen im Hotelgarten gesessen.«

Sie drehte sich halb zu mir um. »Ist es ein schöner Garten?«

Ich sah die akkurat gestutzten Büsche vor mir, spürte wieder den kalten Erdboden und Sams wärmende Nähe.

»Er ist ganz okay«, antwortete ich so gleichmütig wie möglich und zuckte mit den Schultern. Hätte ich von dem Garten geschwärmt, hätte Nana ihn sehen wollen, was ich jedoch nicht wollte, schließlich war es der Ort, wo ich das Unaussprechliche ausgesprochen hatte.

»Wie lange bist du da geblieben?«

Solche Kontrollfragen war ich gewohnt, denn für Nana war es ganz normal, meinen Tagesablauf zu überwachen. Ich fragte mich, wie es sein würde, wenn ich auf dem College war und sie nicht mehr wusste, was ich von morgens bis abends tat, und nicht mehr jeden Menschen in meinem Leben kannte. Hätte ich ihr jetzt geantwortet, ich wisse es nicht mehr, wäre sie ärgerlich geworden.

Ich war müde, meine Lider fühlten sich schwer an und meine Glieder bleiern. Ich wollte schlafen, aber noch mehr wünschte ich mir, Sam wiederzusehen.

Wir hatten uns bis weit nach Mitternacht unterhalten. Sam hatte das Thema gewechselt, nachdem ich ihm erzählt hatte, wer mein Vater war, und keine einzige Frage nach meinem Leben in L.A. gestellt. Stattdessen hatten wir über Filme geredet, über kleine Dinge, die wir mochten, darüber, was wir am nächsten Tag in London unternehmen würden. Meine Vergangenheit spielte für ihn keine Rolle, und nach meiner Zeit in London würde ich ihn nie wiedersehen. Alles war im Lot. Ich wünschte nur, ich hätte die letzte Nacht auf Video, um es irgendwann meiner Mutter und Nana vorzuführen. Seht ihr, würde ich sagen, ich kann jemandem erzählen, wer ich bin, ohne dass derjenige ausflippt, alles an die Presse weitergibt und mich um Dads Telefonnummer bittet.

Irgendwann war ich neben Sam eingeschlafen und wurde wach, als er mich ins Hotel trug.

»Ist es spät geworden?«, fragte Nana.

»Ziemlich. Es war ja ein recht warmer Abend.«

Ich erinnerte mich, wie ich wach wurde. Es war mitten in der Hotelhalle, und Sam trug mich. Im Schlaf hatte ich meine Arme um seinen Hals geschlungen.

O Gott, du musst mich doch nicht tragen.

Macht mir nichts aus.

Bin ich eingeschlafen?

Ja, ich auch.

Entschuldige.

Spinnst du? Jetzt kann ich später jedem erzählen, ich war in London und habe dort neben dem hübschesten Mädchen geschlafen, das ich jemals gesehen habe.

Im Aufzug setzte er mich langsam und liebevoll ab, ließ mich an sich heruntergleiten, bis ich festen Boden unter den Füßen hatte. Doch sein Arm blieb um meine Schultern gelegt, eine Geste, die etwas Besitzergreifendes hatte. Ich wollte ihn fragen, wie viele Mädchen er schon getragen hatte und wie viele angesichts seiner muskulösen Arme, seiner breiten Brust, seiner Offenheit und der kleinen kommaförmigen Narbe unter seiner Unterlippe den Verstand verloren hatten. Mit wie vielen er schon geschlafen hatte, auf einem Rasen oder sonst wo.

Nana schob sich weiter vor, und ich kehrte in die Gegenwart zurück. »Heute gehen wir ins British Museum«, sagte sie und bedeutete mir mit einem Nicken, ihr zu einem Tisch zu folgen. Ich stellte fest, dass ich nur eine Scheibe Brot und eine Scheibe Käse auf meinem Teller hatte. »Bei Harrods essen wir zu Mittag.«

Wir setzten uns. Der nächtliche Schlaf – von der Aussicht des neuen Zimmers gar nicht zu reden – schien Nana gutgetan zu haben. Sie lächelte und trug ihre rote Lieblingsstrickjacke, woraus ich schloss, dass ihre Laune annehmbar war.

Nana war eine große Freundin fester Ordnung. Außer am ersten Weihnachtstag und an Neujahr öffnete sie ihr Restaurant jeden Morgen um halb sieben und schloss es nachmittags Punkt vier. In dieser Zeit bereitete sie Tortenböden vor, gab Bestellungen auf, prüfte die Einnahmen nicht ein Mal, sondern zwei Mal, zerteilte Hähnchen und legte sie in Buttermilch mit Paprika ein, um sie am nächsten Tag zu braten, bereitete die Beilagen zu, garte die Rinderbrust und bediente ihre Gäste. Ich half nach der Schule aus, räumte die Tische ab und deckte sie wieder ein, putzte den Küchenboden. Meine Mutter machte Limonade, schälte Äpfel, Pfirsiche und Kartoffeln, bereitete die Zitronencreme zu und packte am Nachmittag das übrig gebliebene Mittagessen ein, um es zur Tafel in Monte Rio zu bringen, wo die immer gleichen Menschen auf die einzige Mahlzeit warteten, die sie am Tag bekamen.

Nana winkte jemandem in meinem Rücken und riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm an, dass sie einem Kellner bedeutete, er möge uns Kaffee bringen, doch dann schallte Luthers Stimme durch das Restaurant. »Ach, da sind ja unsere Herzensdamen.«