Zwischen Wildnis und Freizeitpark - Werner Bätzing - E-Book

Zwischen Wildnis und Freizeitpark E-Book

Werner Bätzing

4,8

Beschreibung

Einst waren sich die gesellschaftlichen Interessengruppen aller Alpenstaaten einig darüber, dass die Alpen als wichtiger Teil des jeweiligen nationalen Lebens- und Wirtschaftsraums zu betrachten seien. Doch diese Einheit zerbricht mit der Epochenwende des Jahres 1989 und dem Erstarken des neoliberalen Denkens. Aber nach der Jahrtausendwende explodieren die Kontroversen, indem mit Ideen wie »alpiner Brache«, »Wildnis«, »Wasserschloss« oder »Freizeitpark« die alten Alpen-Vorstellungen grundsätzlich infrage gestellt und durch ganz andere Zukunftsbilder ersetzt werden. Der bekannte Alpenforscher Werner Bätzing, Autor des Standardwerks *Die Alpen* (vollständige Neubearbeitung März 2015), stellt in dieser Streitschrift pointiert die Leitideen der wichtigsten Alpen-Perspektiven dar, die gegenwärtig diskutiert werden, und bewertet sie kritisch im Hinblick auf die mit ihnen verbundenen Auswirkungen auf die Alpen. Da Bätzing diese Auswirkungen in allen Fällen als problematisch und bedenklich beurteilt – Verlust von Lebens-, Wirtschafts-, Umweltqualität –, skizziert er im letzten Teil dieser Streitschrift eine ganz andere, eine »unzeitgemäße« Perspektive für die Alpen, in der die Alpen als dezentraler Lebens- und Wirtschaftsraum eine Zukunft erhalten sollen.. Die meisten der derzeit heftig diskutierten Zukunftsperspektiven für die europäische Großregion Alpen führen in die Sackgasse. Tatsächlich sind die zentralen Probleme im Alpenraum gar nicht Probleme der Natur oder Kultur der Alpen, sondern in ihnen zeigen sich die Probleme unserer globalisierten Welt auf eine besonders deutliche und auffällige Weise.

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Werner Bätzing

Zwischen Wildnis und Freizeitpark

Werner Bätzing

Zwischen Wildnisund Freizeitpark

Eine Streitschriftzur Zukunft der Alpen

© 2015 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

ISBN 978-3-85869-742-4

2. Auflage 2017

Inhalt

Vorwort: Zur zweiten Auflage

Einleitung: Warum diese Streitschrift?

Elf Thesen

I. Zur aktuellen Situation: Die Alpen verwildern

Wildgewordene Alpen 1: Natur und Umwelt

Wildgewordene Alpen 2: Wirtschaft und Kultur

II. Welche Zukunft für die Alpen? Fünf Zeitgeist-Perspektiven

Vorbemerkung

Die »realistische« Perspektive: Anschluss an die Moderne

Die neoliberale Perspektive: Alles auf die Metropolen

Die hedonistische Perspektive: Fun im Freizeitpark

Die Unterlieger-Perspektive: Wasserschloss und Energiequelle

Die radikal naturschützerische Perspektive: Alles Wildnis

Die Gemeinsamkeit: aller fünf Perspektiven

III. Eine unzeitgemäße Perspektive: Die Alpen als dezentraler Lebens- und Wirtschaftsraum

Warum eine unzeitgemäße Perspektive?

Unzeitgemäß 1: Kulturelle Werte statt Geld als Schlüsselfaktor

Unzeitgemäß 2: Der Wert dezentraler Potenziale

Unzeitgemäß 3: Naturschutz mittels angepasster Nutzung

Unzeitgemäß 4: Multifunktionale Nutzungen statt Monostrukturen

Unzeitgemäß 5: Alpenspezifische Lösungen statt globaler Standardisierungen

Bilanz

Ausblick: Ein peripherer Lebensraum – Vorbild für »Orte guten Lebens« in Europa

Nachwort: Streit über die Streitschrift

Anhang

Websites

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Zur zweiten Auflage

Nur eineinhalb Jahre nach Erscheinen dieser Streitschrift wird bereits eine zweite Auflage erforderlich, was zeigt, dass dieses kleine Buch in den aktuellen Diskussionen um die Zukunft der Alpen offenbar eine nicht unwichtige Rolle spielt. Dies wird unterstrichen durch zahlreiche Berichte in Printmedien und im Radio – am häufigsten zitiert: das Interview mit mir in der ZEIT vom 29. April 2015 mit dem Titel »Ich will die Revolution« – sowie durch viele Einladungen an mich, meine Thesen in Vorträgen oder Podiumsdiskussionen zur Diskussion zu stellen. Besonders auffällig war dabei, dass einige Zeitungen und Zeitschriften, die bislang stets sehr deutlich eine der kritisierten Zeitgeistperspektiven vertreten hatten, jetzt ausführlich und sachlich über die Thesen dieser Streitschrift berichteten. Bahnt sich hier vielleicht ein Wandel in der öffentlichen Diskussion an?

Mehr zu den Reaktionen auf die erste Auflage dieser Streitschrift siehe Nachwort auf Seite 139.

Da sich die Realität der Alpen in der kurzen Zeit seit dem Erscheinen dieser Streitschrift nicht relevant verändert hat und da ich in meiner Darstellung auch nachträglich keine korrekturwürdigen Stellen entdeckt habe (nur die Naturschutzflächen habe ich aktualisiert, weil sie wieder etwas größer geworden sind), habe ich den Text dieser Streitschrift unverändert belassen.

Ich würde mich sehr freuen, wenn die Diskussion so intensiv fortgeführt würde, wie sie begonnen hat, und wenn dabei über Alternativen, die quer zum Zeitgeist stehen, weiter gründlich nachgedacht wird.

Bamberg, den 31. Oktober 2016

Werner Bätzing

Einleitung

Warum diese Streitschrift?

Über die Frage, wie die Zukunft der Alpen aussehen soll, gibt es derzeit heftigen Streit, der weite Kreise zieht.

Allein das Faktum, dass es einen solchen Streit gibt, ist erstaunlich, und zwar aus zwei Gründen.

Zum einen gab es viele Jahrzehnte lang einen starken Konsens bei der Frage nach der Zukunft der Alpen: Alle gesellschaftlichen Interessengruppen in allen Alpenstaaten waren sich darüber einig, dass die Alpen ein relevanter Teil des jeweiligen nationalen Lebens- und Wirtschaftsraumes seien und dass sie auch dementsprechend zu fördern und zu entwickeln seien. Das Aufkommen der Umweltbewegung in den 1970er-Jahren störte erstmals diesen Konsens, aber die Umweltschützer blieben bis in die 1990er-Jahre hinein doch eine ziemlich kleine Gruppe. Mit der Epochenwende des Jahres 1989 und dem Erstarken des neoliberalen Denkens wird dann dieser Konsens von ganz anderer Seite endgültig aufgekündigt, und nach der Jahrtausendwende explodieren die Kontroversen über die Zukunft der Alpen.

Zum anderen ist dieser Streit sehr erstaunlich, weil unsere Gegenwart dadurch geprägt ist, dass, anders als noch in den 1970er- und 1980er-Jahren, heute keine wirklichen Alternativen mehr diskutiert werden: In Politik und Wirtschaft gibt es kaum noch relevante inhaltliche Differenzen, und alle Akteure handeln nur noch unter Verweis auf unausweichliche Sachzwänge, die sie zum bloßen Reagieren zwingen. Auch im normalen Alltagsleben dominieren Sachzwänge alle Entscheidungen und lassen keinen Spielraum für andere Möglichkeiten. Diese Sachzwänge gelten heute als effizient, logisch und vernünftig, und wer sie infrage stellt, ist unlogisch und unvernünftig und steht schnell außerhalb der »normalen« Gesellschaft.

Deshalb ist es eigentlich erstaunlich, dass bei der Frage nach der Zukunft der Alpen der Verweis auf die unvermeidlichen Sachzwänge nicht jede Diskussion unterbindet, sondern dass sich hierbei trotzdem ein solcher Streit entwickelt.

Ich selbst freue mich, dass es diesen Streit gibt, weil ich ihn für sehr wichtig halte und weil ich der Meinung bin, dass es kein Zufall ist, dass er sich gerade am Beispiel der Alpen entfaltet.

Deshalb möchte ich mich mit dieser Streitschrift in diesen Streit einmischen und Position beziehen – damit die Alpen auch in Zukunft ein lebenswerter Lebensraum bleiben.

Zu diesem Zweck wird in Teil I der Streitschrift die aktuelle Situation der Alpen zusammenfassend dargestellt, wobei die Bilanz negativ ausfällt: Die Alpen verwildern in jeder Hinsicht. In Teil II werden die fünf wichtigsten Positionen zur Zukunft der Alpen vorgestellt und bewertet, wobei die Bilanz ebenfalls negativ ausfällt: Keine von ihnen eröffnet den Alpen eine positive Zukunftsperspektive. Deshalb skizziert dann Teil III zentrale Elemente einer Zukunftsperspektive für die Alpen, mit der sie ein lebenswerter Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben können.

Auffällig bei allen Diskussionen und Streitereien um die Zukunft der Alpen ist die Tatsache, dass es dabei gar nicht um die Alpen im eigentlichen Sinne, also um ihre spezifische Natur, Umwelt, Geschichte und Kultur geht, sondern dass die Alpenstreitpunkte stets untrennbar mit Grundsatzproblemen unserer modernen Welt verflochten sind.

Aus diesem Grund habe ich den Argumentationsgang dieser Streitschrift – im Unterschied zu meinen anderen Alpenpublikationen – so angelegt, dass die Wechselwirkungen zwischen der modernen Welt und den Alpen im Zentrum stehen. Dabei zeigt sich schnell, dass die heute so verbreitete Denkweise der alternativlosen Sachzwänge am Beispiel des Alpenraumes nicht greift – und daraus erwachsen sehr relevante und spannende Fragen und Streitpunkte.

Danken möchte ich an dieser Stelle Andreas Simmen, Programmleiter und Lektor des Rotpunktverlages: Er hatte die Idee für diese Streitschrift, und ich habe sie sehr schnell und mit großer Begeisterung aufgenommen.

Widmen möchte ich diese Streitschrift allen Menschen in den Alpen, die auf oft querköpfige Weise sich den scheinbar vernünftigen Sachzwängen unserer Gegenwart verweigern, die ihre eigenen, konkreten Erfahrungen über die allgemeine Vernunft stellen und die damit Widerstand gegen den Zeitgeist leisten.

Elf Thesen

1.Während die Alpen lange Zeit im Fokus der europäischen Öffentlichkeit standen, werden sie heute immer unwichtiger – als wirtschaftsschwache Region und Peripherie haben sie gegenüber den großen Wirtschaftszentren keine Bedeutung mehr.

2.Im Zeitalter der Globalisierung spielen die Alpen nur noch eine randliche Rolle als Ergänzungsraum der Metropolen, in den hinein all das verlagert wird, wofür in den großen Zentren kein Platz mehr ist.

3.Die alpenspezifischen Lebens- und Wirtschaftsformen mit ihren artenreichen und vielfältig- kleinräumigen Kulturlandschaften verschwinden derzeit sowohl durch Nutzungseinstellung und Verwilderung als auch durch Verstädterung und Zersiedlung.

4.Mit dieser Entwicklung verschwinden auch die vielfältigen Umwelterfahrungen, wie man die Alpen zum Zweck der menschlichen Nutzung verändern kann, ohne sie zu zerstören. Dieses Wissen ist für die weltweit wachsenden Umweltprobleme extrem wichtig.

5.In den verstädterten Alpenregionen in den tiefen Tallagen, am Alpenrand und in den Tourismuszentren leben heute zwei Drittel der Alpenbevölkerung, und hier konzentrieren sich sogar drei Viertel aller Arbeitsplätze der gesamten Alpen.

6.Der Tourismus hat noch nie die Alpen flächenhaft geprägt, und er konzentriert sich derzeit immer stärker auf nur 300 Tourismuszentren, die zu Touris musstädten werden, während viele kleine Tourismusorte und -anbieter vom Markt verschwinden.

7.Im eigentlichen Gebirgsraum der Alpen gibt es neben den Tourismuszentren nur noch die Wasserkraftnutzung als moderne Nutzungsform. Allerdings stellen diese Anlagen kaum Arbeitsplätze, und der Gewinn fließt aus den Alpen ab.

8.Wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungen weiter fortsetzen, wird die Zukunft der Alpen furchtbar – die Alpen zerfallen nur noch in verstädterte Gebiete und in Wildnisgebiete.

9.Die aktuellen Probleme der Alpen sind keine alpenspezifischen Probleme, sondern hier zeigen sich die zentralen Probleme der globalen Entwicklung besonders anschaulich und deutlich. Deswegen gibt es für die Alpen nur dann eine positive Zukunft, wenn sie sich diesen Selbstverständlichkeiten verweigern.

10.Für diese positive Zukunft muss die dezentrale Nutzung der Alpenressourcen in umwelt- und sozialverträglichen Formen gestärkt werden, und zwar mittels regionaler Qualitätsprodukte, um artenreiche Kulturlandschaften und alpenspezifische Lebens- und Wirtschaftsformen dauerhaft zu erhalten.

11.Diese Aufwertung kann nicht dadurch umgesetzt werden, dass sich die Alpen nach außen abschotten, sondern nur in Form der Gleichwertigkeit von endogenen und exogenen Nutzungen im Alpenraum – als ausgewogene Doppelnutzung.

I.

Zur aktuellen Situation: Die Alpen verwildern

Wildgewordene Alpen 1

Natur und Umwelt

Die meisten Menschen sehen und erleben die Alpen als eine großartige, gewaltige Naturlandschaft, die lediglich im Bereich der Täler durch Siedlungen, Gewerbegebiete, Autobahnen, Eisenbahnen und Straßen und im Bereich der Bergregionen durch Skigebiete, Bergbahnen, Stauseen und Hochspannungsleitungen vom Menschen verändert worden sei, während ansonsten die Gletscher, Felsen, Wälder, Wiesen und Weiden eine mehr oder weniger intakte Natur darstellten.

Dieses verbreitete Bild ist jedoch völlig falsch: Nicht erst die moderne Gesellschaft hat die Alpen verändert, sondern bereits die Bauerngesellschaften haben dieses Hochgebirge und seine Natur tief greifend ökologisch umgewandelt, um sich hier einen Lebensraum zu schaffen.

Im Naturzustand waren die Alpen – mit Ausnahme der Fels- und Gletscherregionen – fast vollständig mit einem dichten Wald bedeckt, und es gab nur wenige waldfreie Flächen. Diese bestanden aus den alpinen Rasen oberhalb der Waldgrenze, die im Naturzustand aber nur relativ klein waren, und aus Teilen der breiten Talböden, auf denen die regelmäßigen Hochwasser den Wald nicht aufkommen ließen. Darüber hinaus gab es noch kleinräumig waldfreie Flächen im Bereich von Gebieten mit besonders schlechter Bodenbildung, im Bereich von Mooren und auf Stellen, die durch regelmäßige Lawinen, Felsstürze, Steinschläge oder Muren (Gemisch aus Wasser, Steinen, Erde) waldfrei gehalten wurden.

Ein so stark bewaldeter Raum sperrte sich der bäuerlichen Nutzung, weil es keine Siedlungs- und Ackerflächen gab und weil die Weideflächen sehr begrenzt waren. Hinzu kam noch, dass die Alpen geologisch ein junges Hochgebirge sind, dessen Hebung noch lange nicht abgeschlossen ist. Dies führt zu großen Meereshöhen, einem steilen Relief und einer labilen Geologie, und in Verbindung mit den hohen Niederschlägen und der kurzen Vegetationszeit sind viele Naturprozesse durch eine »sprunghafte Naturdynamik«, also durch Berg- und Felsstürze, Steinschlag, Hochwasser, Muren und Lawinen geprägt.

Die hohe Waldbedeckung und die sprunghafte Naturdynamik waren also die Ursache dafür, dass die Alpen im Naturzustand von Bauerngesellschaften nicht besiedelt und genutzt werden konnten.

Dass die Alpen dann aber ab 6000 v. u. Z. trotzdem besiedelt und genutzt wurden, lag daran, dass sie wichtige Ressourcen wie fruchtbare Böden, sauberes Wasser, günstiges Klima (vor allem auf der Alpensüdseite und in den inneralpinen Trockenzonen) und wertvolle Erze besaßen. Aber zu ihrer Nutzung musste die Natur der Alpen erst tief greifend verändert werden:

1.In den tiefen Lagen der Alpen wurden große Waldflächen gerodet, um Siedlungen, Acker- und Wiesenflächen zu gewinnen, und zwar vor allem auf den sonnigen südexponierten Hängen, während auf den nordexponierten Hängen der Wald oft stehen blieb. Die landwirtschaftliche Nutzung betraf aber nicht die Talaue oder den ebenen Talboden, der regelmäßig überschwemmt wurde, sondern umfasste nur die höher gelegenen Bereiche des Talbodens, die Schwemmkegel der Seitenbäche und die unteren Berghänge.

2.Auf den ebenen Talböden war die Gewalt des Hochwassers so groß, dass Bauerngesellschaften sie nicht kontrollieren konnten; deshalb wurden diese Gebiete erst im 19. Jahrhundert mit moderner Technik in intensiv genutztes Kulturland umgewandelt. Diese Flächen, die heute oft als die am besten und einfachsten zu nutzenden Flächen in den Alpen angesehen werden, waren also die schwierigsten, die am spätesten kultiviert wurden.

3.Der Bereich der alpinen Rasen wurde durch Waldrodungen sehr stark vergrößert, und die Obergrenze des Waldes wurde alpenweit etwa 300 Höhenmeter abgesenkt; erst dadurch entstanden die relativ großen Alpregionen, die uns heute oft so »natürlich« vorkommen.

Dadurch wurde der Charakter der Alpen vollständig verändert: Aus einem dicht bewaldeten Hochgebirge, aus dem nur Fels- und Gletscherberge aus dem Wald herausragten, wurde eine offene Landschaft, in der sich Wald- und Kulturlandschaftsflächen kleinräumig abwechselten und die überall Fern- und Tiefblicke ermöglichte, die im Wald nicht möglich waren. Das uns vertraute Alpenbild ist ein Kulturprodukt und entspricht keineswegs dem Naturzustand der Alpen.

Da aber der Wald auf allen Flächen mit einem steilen Relief der beste Erosions-, Hochwasser- und Lawinenschutz ist, vergrößerten die Bauerngesellschaften mit den Waldrodungen die sprunghafte Naturdynamik der Alpen noch zusätzlich. Um hier dauerhaft leben und wirtschaften zu können, waren sie gezwungen, mit ihren Nutzungen diese Dynamiken gezielt zu dämpfen. Das Ergebnis lässt sich in fünf Punkten zusammenfassen:

1.Akzeptieren von Nutzungsgrenzen: Nicht jeder Hang kann gerodet und in Kulturland umgewandelt werden, sondern ab einer bestimmten Steilheit muss der Wald stehen gelassen werden und besitzt eine Funktion als Bannwald (Schutz von Siedlungen vor Lawinen und Steinschlag).

2.Ausweichen vor großen Gefahren: Keine Anlage von Siedlungen auf den Talböden oder in Steinschlag- und Lawinengebieten und an diesen Orten auch nur eine extensive Landnutzung in sicheren Jahreszeiten.

3.Kleinräumige Nutzung: Da die Alpen von Natur aus sehr kleinräumig geprägt sind (Wechsel von feuchten und trockenen, steilen und flachen, sonnigen und schattigen Stellen), muss die Nutzung entsprechend kleinräumig gestaltet werden.

4.Das richtige Maß der Nutzung praktizieren: Eine zu intensive Nutzung zerstört die Vegetationsdecke und die Fruchtbarkeit des Bodens, eine zu extensive Nutzung lässt schnell den standortgemäßen Wald wieder aufkommen; deshalb ist das richtige Maß der Nutzung sehr entscheidend, damit sich die Vegetation mit der Nutzung gut entwickelt.

5.Aufwendung von viel Pflege- und Reparaturarbeit: Darüber hinaus müssen die Nutzflächen an vielen kritischen Punkten durch zusätzliche Arbeiten gezielt stabilisiert werden.

Die Ergebnisse dieser fünf Nutzungsstrategien, die im so dynamischen Alpenraum auf eine dauerhaft nachhaltige Nutzung abzielen, zeigen sich sehr deutlich in der ausgeprägten Kleinräumigkeit der traditionellen Kulturlandschaften und in dem Faktum, dass es zahllose Nutzflächen in den Alpen gibt, die vom Mittelalter bis heute ununterbrochen bewirtschaftet werden, ohne ihre Fruchtbarkeit zu verlieren und ohne durch Erosion oder andere Prozesse zerstört zu werden. Das bedeutet, dass es den Bauerngesellschaften gelang, die sprunghafte Naturdynamik im Alpenraum so stark zu dämpfen, dass sie hier dauerhaft leben und wirtschaften konnten.

Da die Wälder der Alpen in geologischer Sicht noch sehr jung sind – sie entstanden ja erst nach dem Ende der letzten Eiszeit –, sind sie nicht besonders artenreich. Die natürliche Artenvielfalt der Alpen findet sich in erster Linie in den Rasengesellschaften, und diese Pflanzen erhielten durch die bäuerliche Waldrodung, bei der keine Arten ausgerottet wurden, viele bessere Ausbreitungsmöglichkeiten. Zugleich förderte die hohe Kleinräumigkeit der Kulturlandschaften die Artenvielfalt, und die Menschen führten gewollt oder ungewollt zahlreiche neue Pflanzen in die Alpen ein. Deshalb kann man feststellen, dass die Artenvielfalt der Alpen durch die Umwandlung der Natur- in eine Kulturlandschaft spürbar erhöht wurde.

In der Zeit zwischen 1850 und 1880 erreichten diese traditionellen Nutzungen ihren Höhepunkt im Alpenraum – damals wurden alle Flächen mit Vegetationsbedeckung in irgendeiner Form genutzt, und selbst abgelegene Rasenbänder im steilen Fels wurden mit der Sichel gemäht, wobei die Wildheuer waghalsige Klettereien unternahmen.

Um die heutigen Umweltveränderungen in den Alpen zu verstehen, muss man also wissen, dass die modernen Nutzungen nicht in einem Alpenraum durchgeführt werden, der sich im Naturzustand befindet, sondern in bäuerlich geprägten Kulturlandschaften. Dies stellt eine völlig andere Ausgangssituation dar.