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Wesermarsch 1978/1979: Egal, ob im Kreißsaal oder auf der Wochenbettstation – mit viel Feingefühl und Fachwissen versorgt die junge Hebamme Esther werdende Mütter bestmöglich und kämpft gegen überholte Ansichten. Doch im starren Klinikalltag mit seinen strengen Abläufen wird ihr klar: Wirklicher Fortschritt braucht Mut und manchmal ungewöhnliche Wege. Einen solchen muss sie gehen, als die Schneekatastrophe 1979 das öffentliche Leben stilllegt und sie ein verzweifelter Hilferuf erreicht. Doch in dieser Nacht muss sie nicht nur dem tobenden Sturm trotzen, sondern auch um das Leben zweier Menschen ringen. Der Auftakt der bewegenden Hebammen-Dilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin entfaltet vor der eindrucksvollen Kulisse der Wesermarsch eine Geschichte voller Mut und Menschlichkeit. Authentisch und zutiefst berührend zeigt Regine Kölpin, wie es einer jungen Hebamme gelingt, inmitten von Widrigkeiten ihren eigenen Weg zu finden und durch ihren unerschüttlichen Einsatz anderen zu helfen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Lektorat: Christine Neumann
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Nachwort und Danke
Literatur
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
31. Dezember 1978
Es schneite und schneite und schneite.
Fast wütend schlugen die Windböen mit ihren Schneemassen an die Fenster, und die Flocken drängten sich an den Scheiben, bevor sie langsam am Glas hinabrutschten und sich dort zu einer Wand auftürmten, die stetig wuchs. Im Laufe des Tages war der Schneefall immer dichter geworden, und die Dunkelheit hatte dem Tag kaum eine Chance gegeben.
Kaum jemand hatte das Licht gelöscht, und auch die Wellenklinik in Bremerhaven war hell erleuchtet, vermittelte aber kein einladendes Bild, dazu waren die geklinkerten Mauern mit den weißen Fenstern, an denen innen senfgelbe Stores Atmosphäre vermitteln sollten, nicht ansprechend genug.
Die junge Hebamme Esther mochte das Krankenhaus nicht, vielleicht auch, weil sie voreingenommen war und Krankenhäuser grundsätzlich mit Skepsis sah.
»Da geht das Jahr wohl ziemlich spektakulär zu Ende«, meinte Säuglingsschwester Nantke, mit der Esther in der Stationsküche saß, gerade Pause machte und genüsslich an ihrer Zigarette zog. »Mir graut es davor, gleich nach Hause zu fahren. Das war heute Morgen schon ein schwieriges Unterfangen. Mal sehen, ob ich überhaupt mit dem Wagen durchkomme oder doch besser zu Fuß gehe. Nur werde ich da eine ganze Weile unterwegs sein – bei dem Wetter ist das kein Zuckerschlecken.«
Esther nickte. »Es herrschen heftige Minusgrade, das ist wirklich kein Spaziergang. Ich weiß auch noch nicht, wie ich später zurück nach Nordenham komme. Es ist schön, dort zu wohnen, aber bei solchen Witterungen leider schwierig, zur Arbeit zu fahren.«
»Womöglich erfriere ich.« Nantke kräuselte die Oberlippe. »Und womöglich übersieht man, dass ich kein Schneemann bin, wenn ich da rumstehe.«
»Wenn überhaupt: eine Schneefrau oder gar die Schneekönigin. Du kannst dir ja eine Mohrrübe mitnehmen, damit wenigstens die Nase stimmt«, witzelte Esther.
»Gute Idee. Mir bleibt eben nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Sich mit dem Auto festzufahren ist auch nicht der Hit. Da kann es ebenfalls ganz schön kalt werden, meinst du nicht? Womit wir dann schon bei der Schneekönigin wären und ich tiefgefroren nach meinen Spielkameraden suchen muss.«
»Du bist unverbesserlich.« Esther schmunzelte, trank den letzten Schluck Tee und stand auf.
Sie verspürte nur wenig Lust, sich weiter übers Wetter zu unterhalten, es gab auf Station und im Kreißsaal gravierendere Dinge. Außerdem war ihre Pause gleich um, und die leitendende Hebamme Schwester Magda verstand keinen Spaß, wenn es um Unpünktlichkeit ging. Sie hatte die sprichwörtlichen Haare auf den Zähnen, und Esther war bereits einmal aufgefallen, dass sie die Uhr ein paar Minuten zurückgestellt hatte, bloß um der Kollegin einen Anranzer zu verpassen.
Nantke aber war mit ihrer Litanei über das furchtbare Wetter und wie sie nach Hause kommen sollte noch nicht fertig. »Ich überlege, wie ich es irgendwie schaffen kann«, meinte sie versonnen.
Esther nickte aufmunternd.
Klar sah es draußen gespenstisch aus, wie die Schneeflocken einander jagten. Sie konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass die Welt wegen dieses Schneegestöbers einfach so zusammenbrach. Was sollten denn die Menschen in den Bergen sagen, dort schneite es doch häufiger und sicher noch mehr.
»Arbeiten wir zunächst unseren Törn, und dann sehen wir weiter.« Esther stellte die Tasse neben die Spüle. Bevor sie Feierabend machten, musste noch abgewaschen werden.
»Heute ist Silvester, wir wollen doch alle feiern, wie kannst du da so lässig bleiben?« Nantke schüttelte den Kopf. »Also ich möchte so schnell es geht nach Hause, damit ich mich für diese letzte Nacht im Jahr richtig aufbrezeln kann.«
Esther lächelte, denn eigentlich hatte Nantke das gar nicht nötig. Ihre Haut war immer leicht getönt, die dunklen Augen blitzten auch ohne Lidschatten, und ihr brauner Pagenkopf war stets akkurat geschnitten. Unter dem rechten Auge prangte ein kleiner Leberfleck, der wie gemalt wirkte und ihrem Gesicht etwas Besonderes verlieh.
»Ich bin ohnehin allein«, antwortete Esther. »Für mich ist es ein Tag wie jeder andere.« Es sollte lässig klingen, aber sie wusste selbst, dass ihre Worte etwas traurig wirkten.
Leider war die Situation aber so, wie sie gesagt hatte. Dieser letzte Tag, mit dem sich das Jahr 1978 verabschiedete, unterschied sich für sie nicht von den anderen Arbeitstagen – wenn man vom Wetter mal absah.
Der Wecker hatte erbarmungslos geklingelt und Esther zum Frühdienst gerufen. Sie war bei heftigem Schneetreiben erst fast eine halbe Stunde lang von ihrer Wohnung, die in Nordenham in der Pommernstraße lag, zum Bahnhof gelaufen, hatte den Bus zum Fähranleger genommen, war mit dem Schiff übergesetzt und dann mit dem nächsten Bus zum Bahnhof gefahren, um von dort das letzte Stück zur Wellenklinik zu gelangen.
Trotz der warmen Kleidung hatte sie erbärmlich gefroren. Denn damit hatte Nantke recht. Es war sehr kalt, und das war neben dem Schneefall in der Wesermarsch ziemlich ungewöhnlich.
Eben rüttelte eine Böe so wütend am Fenster, als ob sie Einlass begehrte. Doch der Schnee hatte sämtliche Scheiben inzwischen zugeweht, sodass dieser Windstoß nur den oberen Bereich freiblies, der sich allerdings sofort wieder schloss.
»Hoffentlich fährt nachher dein Bus, und du kommst zurück nach Nordenham«, unkte Nantke weiter und hob kurz grüßend die Hand, weil Esther zur Tür ging. »Ich muss auch gleich los und mich um die kleinen Würmer kümmern, sonst macht mich der alte Drachen zur Schnecke. Da stehen sich unsere beiden Damen in nichts nach.«
Nantke erhob sich ebenfalls, schob sich an Esther vorbei und verschwand über den Flur in Richtung Säuglingszimmer, hinter dem sich die Wochenstation befand. Ihre Kaffeetasse hatte sie stehen gelassen.
Esther lief rasch zurück und stellte sie ebenfalls in die Spüle, denn irgendwer würde sich bestimmt darüber aufregen, und sie würden beide unnötigen Ärger bekommen.
Ein tiefes Durchatmen, bevor sie in den Kreißsaal ging. Nun galt es wieder, sich auf ihre Wöchnerin zu konzentrieren.
Heute fiel es ihr jedoch schwer, weil sie sehr müde war. Gerade noch hatte sie eine lange und schwierige Geburt begleitet und dem Kind gesund auf die Welt geholfen.
Eigentlich verwunderte es sie jedes Mal, dass nur sie und die Eltern von diesem Mysterium ergriffen waren. Da wurde ein Kind geboren, und doch tanzte die Welt nicht Polka, jubilierte lautstark oder schickte ein turbulentes Feuerwerk in den Himmel. Alles ging den gewohnten Gang, als wäre im Leben dieser jungen Mutter nicht gerade etwas Weltbewegendes passiert. Als wäre dieses Wunder des neuen Lebens nicht geschehen. Der Alltag mit seinen Gegebenheiten, den Gerüchen und Routinen floss einfach weiter.
Esther blieb kurz stehen, weil ihr schwindelig wurde. Sie nahm den Geruch von Desinfektion und Schweiß wahr. Vom Flur her ertönte das Klappern von Geschirr, darunter mischten sich eilige Schritte, die auf dem grauen Linoleumboden quietschten.
Sie schrak zusammen, als sie die Stimme der leitenden Hebamme Helma vernahm. »Esther, was stehen Sie da rum? Bringen Sie das Kind von Frau Müller endlich weg! Die Wöchnerin braucht jetzt Ruhe, die Geburt war sehr anstrengend. Ich habe es untersucht, der lütte Kerl ist fit und kann ins Säuglingszimmer.«
Tadelnd blickte Helma sie über den Rand ihrer dicken umrandeten Brille an.
»Ja, das mache ich!«, antwortete Esther schnell und atmete ein weiteres Mal tief durch.
Noch war sie neu, stand unter der Fuchtel der erfahrenen Kollegin und musste sich erst beweisen. Sie durfte zwar ihre Geburten allein betreuen, aber sie hatte keinen großen Spielraum, was ihre eigenen Vorstellungen von einer harmonisch verlaufenden Geburt betraf. Irgendwie hatte sie sich die Hebammentätigkeit anders vorgestellt.
Doch schon während der Ausbildung in Marburg war sie einiger Illusionen beraubt worden.
Dabei hatte sie sich doch mit ihrer besten Freundin Birgit ein Versprechen gegeben, als sie die Lehre gemeinsam begonnen hatten. Immer sollten die Mütter und Kinder an erster Stelle stehen. Leider war dies jetzt oft nicht umsetzbar.
Der Klinikalltag war durchstrukturiert und wurde von den äußeren Gegebenheiten, wie den Arbeitszeiten, bestimmt. Schon während der Ausbildung war Esther deutlich geworden, wie sehr sie ihre Erwartungen würde anpassen müssen. Aber dass es so arg wurde, hätte sie sich dann doch nicht träumen lassen.
Birgit kam mit allem viel besser zurecht. Sie hatte sich einfach arrangiert, war zufrieden und rebellierte nicht gegen die Vorgaben, mit denen die Hebammen reglementiert wurden.
»Es gibt eben Bestimmungen, und daran muss man sich halten«, sagte sie immer, wenn sie telefonierten.
Esther fiel dies jedoch schwer.
»Nun aber ab! Kurz was trinken nach den langen Stunden akzeptiere ich, nur dann muss die Arbeit weitergehen«, wurde Esther von Helma gescheucht.
Die junge Hebamme betrat den Kreißsaal, in dem die frischgebackene Mutter völlig verschreckt in dem weiß bezogenen Bett lag und gar nicht so recht zu begreifen schien, was eben Wunderbares passiert war.
Helma war ihr gefolgt. »Worauf warten Sie noch?«
»Frau Müller hat das Baby doch noch gar nicht im Arm gehabt.« Esther schaute hilflos erst zum Säugling in dem metallenen Rollwagen, dann zu ihrer Chefin und wieder zurück. Diese ersten Momente waren für die Bindung zwischen Mutter und Kind immens wichtig. Es kostete doch kaum Zeit, und wenn schon …
Hinter ihr räusperte sich jemand. Esther musste sich nicht umdrehen, denn es gab nur einen Arzt in ihrer Abteilung, dem der Geruch der Zigarillos so stark anhaftete. »Tun Sie bitte, was man Ihnen aufgetragen hat, und diskutieren Sie nicht ständig!«
Dr. Werner, der Oberarzt der Gynäkologie, führte in dem Bremerhavener Krankenhaus ein sehr strenges Regiment, an dem keiner rütteln durfte. Als Befürworter der modernen Geburtsmedizin schien er eine große Befriedigung darin zu finden, stets alle Fäden in der Hand zu halten und vor allem stetig zu propagieren, mit welch mittelalterlichen Methoden die Kinder bis vor wenigen Jahren noch geboren wurden, bevor die Ärzteschaft den Hebammen das Zepter aus der Hand genommen hatte.
»Bitte keine Eigenmächtigkeiten! Wir wollen später alle noch feiern und das neue Jahr ausgiebig begießen. Bei dem miesen Wetter wird es schließlich dauern, ehe wir zu Hause sind. Da müssen Sie auch Rücksicht auf die Säuglingsschwestern nehmen.«
Esther nickte stumm und warf der Mutter einen entschuldigenden Blick zu. Sie brachte den neugeborenen Jungen ins Säuglingszimmer, wo ihn Schwester Magda, der Drachen, wie Nantke sie eben passend tituliert hatte, sofort in Empfang nahm.
»Das hat ja ewig gedauert, bis die Frau den kleinen Wurm rausgepresst hat«, schimpfte sie. »Ich habe gleich Feierabend und keine Lust, Überstunden zu machen. Bin heute Abend zum Essen bei meiner Freundin eingeladen, damit wir fein ins neue Jahr feiern können. Es gibt Falschen Hasen und eine Pfirsichbowle. Vorab eine Zwiebelsuppe überbacken aus dem Ofen.« Magda leckte sich voller Vorfreude die Lippen. »Und danach wird sicher noch der leckere Vanillepudding mit Schokoladensoße reinpassen. Das geht ja heutzutage ganz fix – Tüte auf, angerührt. Wenn ich daran denke, was wir uns vor ein paar Jahren noch abgequält haben!«
Esther überreichte ihr wortlos den Säugling, während Magda weiter von der modernen Küche schwärmte, für die sie sich offensichtlich sehr erwärmte.
Modern sein. Fortschrittlich. Alles Alte hinter sich lassen … Es gab wohl kaum etwas, das in dieser Zeit mehr propagiert wurde.
Grundsätzlich war das ja auch klasse.
Manchmal und in bestimmten Dingen ging es Esther allerdings zu schnell, vor allem, weil nicht bei jedem sogenannten Fortschritt auch hinterfragt wurde, ob es wirklich ein besserer Weg war.
Zum Glück war für Magda das Thema Silvester und die moderne Küche nun ausführlich besprochen. Die Schwester wechselte zurück in den Arbeitsmodus und griff nach dem Kind. »Na, gib schon her de Jung. Ich kiek selbst noch mal, ob mit dem Lütten alles in Ordnung ist. Dann wird auch nichts übersehen. Gebadet ist der Zwerg ja schon.«
Der Säugling maunzte empört, als Magda ihn recht grob auf den Wickeltisch legte und auszog. »Hast dir wirklich Zeit gelassen, bist ganz zerdrückt«, murmelte sie, als ob das Kind etwas dafürkonnte, wenn eine Geburt länger dauerte.
»Es braucht eben manchmal«, warf Esther ein, biss sich aber sogleich auf die Zunge. Es war besser, den Mund zu halten, alles andere brachte die Kollegen nur gegen sie auf.
Für diese hatte eine Geburt schnell und unkompliziert zu sein. War sie das nicht, half man eben nach.
Die alten Zeiten wollte keiner zurück.
Die Zeiten, in denen Frauen ihre Kinder zu Hause bekamen und ihnen dafür Zeit und Ruhe sowie eine geschützte Atmosphäre gegeben wurden. Die Zeiten, in denen eine einzige Hebamme eine Mutter von Beginn der Schwangerschaft bis nach der Geburt rundum betreute.
Die Zeiten, in denen nicht der Schichtdienst bestimmte, wie lange eine Hebamme bei der Gebärenden sein durfte.
Geburten waren zu einer medizinischen Angelegenheit geworden. Nach Meinung der Ärzte, wie Dr. Werner, aber auch vieler Schwestern und einiger Hebammen musste den Gebärenden dafür tunlichst unter die Arme gegriffen werden. Auch, damit das Personal entlastet wurde. Schließlich konnte man das Kinderkriegen inzwischen erheblich beschleunigen oder sogar mittels Wehentropf vorprogrammieren.
Esther seufzte. Sie wollte wenigstens versuchen, für die Mütter und Neugeborenen da zu sein, auch wenn sich ihre einzige Tätigkeit darauf beschränkte, im Kreißsaal dafür zu sorgen, dass die Kinder gesund auf die Welt kamen. Aber ein freundliches Lächeln, ein paar aufmunternde Worte taten schon gut.
»Willst du da festwachsen?«, herrschte Magda sie nun an, und Esther fuhr erschrocken zusammen, weil sie ihrer Gedanken wegen unaufmerksam war.
»Ab zurück in den Kreißsaal, da kannst du Helma helfen, aber guck hier nicht rum wie ein Frosch mit großen Augen! Wir sind ein Klinikbetrieb, und da muss alles reibungslos funktionieren.«
Esther schluckte. Sie musste sich wirklich zusammenreißen, wenn sie keine schlechte Beurteilung riskieren wollte.
Magda war schon dabei, den kleinen Jungen zu wickeln, und zurrte eben die Mullwindel fest. Die Gummihose lag ebenfalls bereit. Mit einem gezielten Griff steckte der Säugling auch darin. »Nun noch fix den Strampler, und dann ab ins Säuglingszimmer, damit Nantke ihm die Flasche geben kann und wir in den wohlverdienten Feierabend kommen.«
»Sollte die Mutter denn nicht kurz versuchen, ihm die Brust zu geben, bevor er Fertignahrung bekommt?«, fragte Esther. »Sie war vorhin so erschöpft von der langen Wehenzeit, ich glaube, sie hat das alles noch gar nicht so richtig verarbeitet, und sie sollte mit ihrem Sohn doch wenigstens ein wenig kuscheln können. Ihn anlegen … Dann wird alles viel leichter für sie.«
Magda schaute sie an, als hätte Esther von ihr verlangt, die Silvesternacht im Klinikkeller zu verbringen. »Geh zurück in den Kreißsaal zu Helma«, quetschte sie schließlich hervor. »Das ist deine Aufgabe. Der Lütte bekommt gleich die Flasche, und in sechs Stunden kann die Mutter ihn in den Arm nehmen, dann ist sie auch besser ausgeruht von der langen Geburt. Wenn der Vater kommt, wird der Junge an die Scheibe gehalten, damit der Erzeuger sieht, was er da fabriziert hat. Kannst der Frau ja sagen, dass es ihrem Sohn gut geht.« Sie nickte Esther zu, und damit war für sie die Sache erledigt.
Nantke schaute aus der Milchküche kurz um die Ecke und zuckte bedauernd mit den Schultern.
Esther warf einen Blick zur großen Uhr, die auf dem Flur laut tickte und deutlich zu machen schien, dass hier keine Ruhe herrschte, sondern die Uhren den Takt vorgaben.
Als Esther auf den Flur zum Kreißsaal trat, wurde gerade eine Frau von den Rettungssanis gebracht.
»Der Mann hat Streckenposten angesprochen, weil sein Wagen in einer Schneewehe stecken geblieben ist«, erklärte der eine Sanitäter der leitenden Hebamme. »Die haben den Zug am Bahnübergang halten lassen, und sie ist damit weitergefahren. Wir haben sie eben am Bahnhof abgeholt. Was für ein Sauwetter! An einigen Stellen ist wirklich kein Durchkommen mehr.«
»Bitte bringen Sie die Patientin in Saal 2«, sagte Esther.
Sie verfolgte noch, wie die Frau hinter der Schiebetür verschwand. Diese Geburt würde der Spätdienst gleich übernehmen. Die Kolleginnen waren schon da, und Esther gab ihnen Bescheid, damit sich eine der Hebammen des Neuzugangs annahm.
Danach eilte sie zu Frau Müller. Die junge Mutter wirkte noch immer völlig erschöpft. Sie würde jetzt weitere zwei Stunden zur Überwachung im Kreißsaal bleiben, falls es zu Nachblutungen kam.
»Das Nähen des Damms tat weh«, flüsterte sie, fragte aber nicht nach ihrem Sohn. Es schien Esther, als hätte sie kapituliert.
Sie war froh, dass Frau Müller die Geburt zumindest in ihrer Schicht geschafft hatte und sie in der Endphase der Geburt hatte bei ihr bleiben können. Helma hätte keine Skrupel gehabt, Feierabend zu machen und auch sie nach Hause zu schicken.
»Esther, bringen Sie bitte die Nachgeburt noch in die Verbrennung und räumen hier auf«, schnarrte Helma vom Flur her in gewohnter Befehlsmanier. »Anschließend können Sie gehen. Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch. Soll ja später noch heftiger schneien. Brechen Sie sich bloß kein Bein oder den Arm, wir sind in der nächsten Woche unterbesetzt.«
Esther lächelte gezwungen. Wenn das Helmas einziges Problem war!
Sie erfüllte die letzten ihr aufgetragenen Arbeiten, desinfizierte die Hände und ging in die Umkleide. Dort schlüpfte sie aus dem Schutzkittel und der Hebammentracht. Den Kittel warf sie in den Wäschesack. Morgen am Neujahrstag hatte Esther Spätdienst. Bis dahin würde der Schneesturm bestimmt nachgelassen haben, und ihren Heimweg konnte sie vermutlich auch gut bewältigen.
Dass der Wagen des werdenden Vaters des Neuzugangs in einer Wehe festgesteckt hatte, war sicher seiner Nervosität geschuldet. Da waren Esther schon viele Dinge untergekommen. Einmal hatte einer mit zwei gleichzeitig angezündeten Zigaretten vor der Kliniktür gestanden und es nicht einmal bemerkt.
Esther versuchte, sich Mut zu machen, doch sie ahnte schon, dass gleich keine leichte Wegstrecke auf sie wartete. Schon in der Eingangshalle wurde ihr bewusst, wie heftig es draußen wirklich zuging. Es kam ihr vor, als versuchte die Schneelawine sogar das Krankenhaus zu okkupieren, denn von überallher wehte ein feiner, kalter Zug durch sämtliche Ritzen.
Gut, dass auf Esther heute Abend keine Feier wartete. Sie war neu in der Gegend und hatte sich noch nicht eingelebt. Der Weg von Nordenham bis Bremerhaven war zudem viel zu weit und umständlich. Entweder musste sie lange Strecken laufen, oder aber die Busfahrt dauerte ewig, je nachdem, für welchen Bus sie sich entschied oder welcher gerade besser für ihre Dienstzeiten geeignet war. Eigentlich wäre ein Umzug nach Bremerhaven sinnvoll, aber das könnte sie erst in Angriff nehmen, wenn sie die Probezeit hinter sich gebracht hatte.
Jedenfalls war sie heute allein, denn für den einen Tag nach Hause zu fahren lohnte sich nicht.
Die Fahrtstrecke mit Bus und Bahn dauerte bis Friesland recht lange, und ihre Eltern müssten von ihrer Landwirtschaft, die kurz vor Horumersiel lag, noch fast zwanzig Kilometer nach Wilhelmshaven fahren, um Esther dort am Bahnhof abzuholen.
»Das Jahr 1979 werde ich also mit mir selbst begrüßen«, sagte Esther zu sich, als sie vor die Tür trat.
Sofort wich sie einen Schritt zurück, denn was eben von drinnen bereits heftig erschienen war, zeigte sich jetzt als wahre Hölle. Sie wurde von einem jaulenden Wind empfangen, die Sicht reichte keine drei Meter weit. Neben der Außentreppe türmte sich der Schnee über einen Meter hoch und war schon dabei, sich die Stufen einzuverleiben.
Es war bitterkalt, und Esther musste sich zunächst orientieren, welche Richtung sie einschlagen sollte. So een Schiet, Nantke hatte mit ihrer Unkerei verdammt recht gehabt.
Esther kämpfte schon auf den ersten Metern gegen Wind und Schnee an. Sie bemerkte gleich, dass es nicht einfach sein würde, zur Haltestelle zu gelangen. Doch sie musste dringend den Bus zum Fähranleger bekommen! Falls sie den verpasste, konnte sie noch gucken, ob der nach Rodenkirchen fuhr.
Wo sollte sie denn sonst in der Nacht bleiben? Ein solches Schneetreiben hatte sie noch nie erlebt, denn der Winter war in den nördlichen Gefilden ein seltener Gast. Und Schnee normalerweise Mangelware.
Aufgeben war ohnehin keine Option, und so stemmte sich Esther mit aller Macht gegen dieses Wetter an. Sie hatte den Klinikparkplatz gerade ein kleines Stück hinter sich gelassen und war schon jetzt fix und fertig. Ihre Nase war wie eingefroren, das Atmen bei diesem eisigen Wind fiel ihr schwer. Obwohl Esther Fäustlinge mit Fell trug, waren ihre Finger kalt, von den Zehen in den Boots ganz zu schweigen.
Außerdem beschlich sie eine immer größere werdende Furcht vor diesen Naturgewalten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und es wuchs die Angst, die Strecke nicht bis nach Hause zu schaffen. Wenn sie diese paar Meter schon fast bis an ihre Grenzen brachten … Was, wenn der Bus doch nicht fuhr und sie wieder umkehren musste?
Sie erschrak, als neben ihr unvermittelt ein dunkler Opel hielt. Der Fahrer ließ das Fenster herunter, und Esther wollte schon weglaufen, als sie erkannte, wer in dem Wagen saß. Es war Dr. Drews, der Stationsarzt.
»Soll ich Sie mitnehmen?« Er brüllte gegen den Kanon des Schneeorkans an. »Ihre Mütze ist ja schon fast zehn Zentimeter in die Höhe gewachsen«, rief er mit einem verschmitzten Lächeln. »Kommen Sie lieber ins Warme, sonst verlieren wir womöglich noch eine unserer jungen Hebammen, weil sie zur Eissäule erstarrt ist.«
Esther musste nicht lange überlegen, ob sie dieses Angebot annehmen wollte. »Das wäre wirklich gut, danke. Ich friere wirklich!«
Sie nahm die Mütze ab, klopfte den Schnee herunter, öffnete die Tür, schlug die Hacken der Boots gegeneinander und ließ sich aufatmend auf den Beifahrersitz fallen.
Sie war froh, als sie die Tür zuschlug, endlich im Trockenen saß und ihr der Wind nicht mehr um die Ohren pfiff.
Dr. Drews wartete, bis Esther sich angeschnallt hatte. Seit drei Jahren war das Pflicht, auch wenn viele dagegen protestiert hatten. Dann fuhr er langsam an, was kein einfaches Unterfangen war, weil die Räder zunächst durchdrehten und es etwas dauerte, ehe sie Griff bekamen.
»Noch mal Glück gehabt«, schnaufte er. »Es ist ein Kreuz mit dem Wetter. Wer hätte das gedacht?«
»Das kennen wir hier wirklich überhaupt nicht«, bestätigte Esther. »Ich bin froh, wenn ich zu Hause in der guten Stube sitze.«
»Nach der langen und schwierigen Schicht verständlich«, meinte Dr. Drews.
Esther nickte. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und sie hatte sich den Feierabend wahrlich verdient.
Dr. Drews konzentrierte sich mit zusammengezogenen Brauen auf die Straße. Esther musterte ihn unauffällig.
Was für ein schöner Mann!
Sie grinste innerlich bei dem Gedanken, aber wie sonst sollte sie den Assistenzarzt bezeichnen, wenn sie keinen anderen Ausdruck fand?
Seine blauen Augen hatten einen warmherzigen Ausdruck, die gerade Nase zierte das ebenmäßige Gesicht, und die leicht vollen Lippen waren angenehm geschwungen. Das braune Haar kringelte sich leicht über den Ohren, und wenn er lächelte, was der Arzt oft tat, zeigten sich seine tiefen Grübchen, die dem Gesicht etwas Besonderes verliehen.
»Ich bin erleichtert, dass Frau Müller es doch noch gut geschafft hat«, begann der Arzt das Gespräch erneut. »Sie musste sich trotz des Wehentropfs ganz schon quälen. Aber Hauptsache, das Kind ist gesund auf die Welt gekommen. Was ist es denn geworden? Junge oder Mädchen?«
»Ein Junge«, antwortete Esther und musste sich zusammenreißen, um den Blick von den wohlgeformten Händen, die das Lenkrad umklammerten, zu lösen. »Ja, zum Glück ist alles gut gegangen. Ich dachte schon, wir würden sie nicht bis zum Schluss entbinden können und die Kolleginnen müssten übernehmen. Zwischendurch hatte ich die Befürchtung, es würde sich noch sehr lange hinziehen und der Lütte könnte womöglich noch ein Neujahrskind werden. Der Wehentropf hat das verhindert.« Sie krauste die Stirn. »Sonst hätte Dr. Werner bestimmt schon bald eine Sectio angeordnet, damit das Baby keinem das Silvesterfest versaut.«
Kurz herrschte betretene Stille, und Esthers Worte standen im Raum.
Wider Erwarten kam von Dr. Drews aber nach einer kurzen Pause kein entsetztes »Wie können Sie so etwas sagen?« oder ein »Das ist in manchen Fällen ein notwendiges Vorgehen«, sondern ihm glitt ein kaum wahrnehmbares Lächeln übers Gesicht.
»Sie mögen es wohl nicht, wenn Sie die Geburt an eine Kollegin abgeben müssen oder zu stark in den natürlichen Vorgang eingegriffen wird, stimmt’s?«
Esther überlegte nun ganz genau, was sie antworten sollte. Zum Glück redete Dr. Drews noch weiter, und ihr blieb eine Schonfrist. »Dieser festgesetzte Klinikalltag und das organisierte Entbinden gefallen Ihnen scheinbar auch kein bisschen.«
Er hatte es auf den Punkt gebracht, stellte Esther fest.
»Nein, ich mag das alles nicht.« Sie hoffte, er würde das nicht vertiefen, weil es ihr unangenehm war, dass sie sich diesen Statuten so schwer beugen konnte. Nachher landeten ihre Aussagen doch noch bei Dr. Werner, und es folgte eine Menge Ärger.
Etwas Dunkles huschte über die Straße. Dr. Drews trat sofort auf die Bremse und geriet ins Schleudern. Er blieb kurz stehen, atmete tief durch und richtete dann seine Konzentration auf die Weiterfahrt.
»Verdammt, ist das glatt. Die Hinfahrt war schon ein Graus. Da bin ich von Nordenham und nicht aus Eckwarden gekommen, weil ich dort bei einem Freund übernachtet habe. In meinem Dorf war wohl gestern schon alles eingeschneit. Wenn das die ganze Nacht so weitergeht, kommen wir morgen gar nicht mehr aus der Tür.«
Es sollte wohl scherzhaft klingen, aber so heftig, wie der Schnee um den Opel Kadett herumtanzte, befürchtete Esther, dass er recht behalten könnte.
»Ich habe morgen Spätdienst«, sagte sie. »Bis dahin wird es sich vielleicht beruhigt haben.« Mit klammem Gefühl bohrte sie den Blick in die fast undurchdringlich wirkende Schneewand. Obwohl sie aus Abermillionen herumirrender Schneekristalle bestand, bot sie die Illusion einer Betonmauer, durch die es keine Möglichkeit der Flucht zu geben schien.
Hatte Esther den Schneefall immer als etwas Beschauliches, ja Beruhigendes gesehen und sich am Tanzen der Flocken erfreut, empfand sie ihn nun als bedrohlich. Es gab keine Romantik, keinen Ausbruch wie »Hurra, es schneit«. Es gab nur diese Unsicherheit, die mehr und mehr von ihr Besitz ergriff.
»Ich hoffe auch, dass sich das Wetter bis morgen gebessert hat.« Dr. Drews schaute Esther von der Seite her an und machte sie damit verlegen.
Er war der einzige Arzt, der die Krankenschwestern und Hebammen nicht von oben herab behandelte, sondern stets umsichtig und freundlich blieb – selbst wenn mal was schieflief. Da unterschied er sich ziemlich von seinen Kollegen, die sich meist sehr überheblich verhielten. Zudem war er an Attraktivität nicht zu überbieten. Sämtliche jungen Hebammen und Schwestern verzehrten sich nach einem Lächeln von ihm, egal ob sie gebunden waren oder nicht.
Hinter seinem Rücken wurde nicht nur getuschelt, wen von ihnen er wohl vorzog, sondern sie buhlten derart um seine Gunst, dass es fast peinlich war.
Ob Dr. Drews davon wusste, konnte Esther nicht einschätzen, aber er wäre wohl ziemlich blind, wenn ihm das verborgen geblieben wäre. Auf der anderen Seite gab es Gerüchte, die ihm nachsagten, er wäre ein ziemlicher Schürzenjäger, aber das musste ja nicht unbedingt stimmen.
Jedenfalls hatte Esther beschlossen, sich nicht daran zu beteiligen, den Arzt anzuschmachten, weil sie sich ohne Beziehung ganz zufrieden fühlte. Schließlich war es noch nicht lange her, dass sie sich aus der letzten freigeschwommen hatte.
»Ich hoffe, die Busse und Fähren fahren morgen pünktlich. Ich werde auf jeden Fall vorsichtshalber eher aufbrechen«, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf, um ihn nicht in Gedanken versunken anzustarren.
»Ist wahrscheinlich eine gute Idee. Selbst wenn es zu schneien aufhört, wird es zu Verspätungen kommen.« Dr. Drews hielt inne und warf ihr einen Seitenblick zu. »Wo feiern Sie denn eigentlich den Jahreswechsel?« Er setzte den Blinker und bog in Zeitlupengeschwindigkeit in die nächste Straße ab. Der Schnee türmte sich hier an manchen Stellen auf den Gehwegen hoch auf.
»Ich bin allein«, antwortete Esther. »Bei dem Wetter lohnt es nicht, bis nach Horumersiel zu meinen Eltern zu fahren, zumal ich keinen Wagen besitze. Und meine Freundin Birgt hat Dienst im Reinhard-Nieter-Krankenhaus in Wilhelmshaven. Neben der anstrengenden Arbeit hatte ich noch keine Zeit für nähere Bekanntschaften.«
»Ganz allein ins neue Jahr …«, sinnierte Dr. Drews, während er vorsichtig abbremste, weil vor ihnen ein orange blinkendes Ungetüm auftauchte. »Immerhin sind die Streudienste im Einsatz«, sagte er. »Wobei ich nicht sehe, was sie groß erreichen wollen.«
Er fummelte am Radio herum. Sofort sprang ihnen die volle Stimme des Moderators entgegen.
In Nordschweden erreichen die Temperaturen am heutigen Tag minus 47 Grad. Und nun noch Meldungen aus der Region. Im nördlichen Friesland haben die Räumfahrzeuge schon gestern kapituliert, weil viele Straßenzüge unpassierbar sind. Auch in der Wesermarsch gibt es zunehmend Probleme. Es kommt zu Zugausfällen und Verspätungen, die Räumdienste sind fast ununterbrochen im Einsatz. Kleiner Tipp: Wer kann, sollte sein Fahrzeug lieber stehen lassen und to Huus blieven. Ich wünsche einen guten Rutsch ins Jahr 1979. Klingt jetzt ein wenig ironisch, ich weiß. Passen Sie bitte auf sich auf!
Es folgte Abba mit Dancing Queen.
»Auto stehen lassen klingt lustig, wenn man zur Arbeit muss«, grummelte Dr. Drews. »Trotzdem möchte ich Sie nirgendwo absetzen. Ich nehme lieber einen Umweg in Kauf und bringe Sie direkt bis vor Ihre Haustür. Nun müssten Sie mir nur noch verraten, wo Sie wohnen, weil ich sonst den Weg zur Weserfähre nehmen werde. Ich feiere nämlich bei einem Freund und seiner Frau in Nordenham und fahre nicht nach Eckwarden.«
Esther lächelte. »Das passt gut. Ich wohne dort in der Pommernstraße.«
»Praktischer geht es nicht!« Er bremste erneut, weil das Auto vor ihnen ins Rutschen geriet. Es eierte auf der Straße hin und her, im Schneetreiben waren nur die Rücklichter zu erkennen. Glücklicherweise gelang es dem Fahrer, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Langsam steuerte er auf die Berme zu, wo er stehen blieb.
Dr. Drews atmete erleichtert auf, konnte aber nur ein paar Meter weiterfahren, weil sich vor ihnen mehrere Autos stauten.
»Dann haben wir ja glücklicherweise denselben Weg.«
Esther war mehr als erleichtert, denn bei diesem Verkehrschaos – überall blinkten die Leuchten von liegen gebliebenen Fahrzeugen, überall türmte sich der Schnee, und es war spiegelglatt – war davon auszugehen, dass die Busse gar nicht mehr oder nur eingeschränkt fuhren. Und zu Fuß würde es wahrlich kein Zuckerschlecken werden.
»Danke, ich bin froh, bei diesem furchtbaren Wetter keine Haltestelle mehr suchen zu müssen und auch keinen weiten Fußmarsch mehr vor mir zu haben. Wo wohnt Ihr Freund in Nordenham?«
»In der Bahnhofstraße«, gab der Arzt Auskunft. »Ist es von dort weit bis zu Ihrer Wohnung?«
»Bei normalem Wetter nicht«, antwortete Esther. »Aber jetzt … Ich würde vermutlich ein wenig länger brauchen.« Sie grinste.
Der Stau löste sich langsam auf, und Dr. Drews fuhr wieder an. Es ging aber nur im Schritttempo voran.
»Dann hoffen wir mal, dass die Fähre fährt«, meinte der Arzt. »Aber Eisgang ist wohl nicht zu erwarten, dazu hält der Frost noch nicht lange genug an. Allerdings wird es bei dem Wind ganz schön schaukeln.« Er starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Fahrbahn, die im Schneetreiben immer schwerer zu erkennen war.
Auch die eingeschaltete Straßenbeleuchtung brachte keine Verbesserung. Der Sturm schien immer mehr an Fahrt aufzunehmen.
»So düster, und das am Nachmittag«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor. »Bin froh, wenn wir es geschafft haben, das ist hier wirklich keine Wonne.«
Esther nickte. Sie fand den Arzt mit jeder Minute sympathischer, selbst in dieser brenzligen Situation behielt er einen kühlen Kopf und flippte nicht herum.
Innerlich musste sie grinsen. Nantke hatte einen Narren an Dr. Drews gefressen, und wenn sie Esther nun hier neben ihm sitzend sehen würde … Sie wäre gelb vor Neid. Nein, grün. Dunkelgrün.
»Warum wohnen Sie nicht in Bremerhaven und nehmen täglich diese lange Strecke in Kauf?«, fragte Dr. Drews nach einer Weile des Schweigens.
Esther zuckte mit den Achseln. »Ich hatte auf eine Anstellung in Brake gehofft. Im Waterkant-Krankenhaus arbeiten sie eher so, wie ich es mir wünsche.« Sie verstummte. Schon wieder war ihr so etwas im Beisein des Arztes rausgerutscht. Sie presste die Lippen zusammen und wechselte schnell das Thema. »Die Bude in Nordenham ist außerdem erschwinglich. Wenn die Probezeit herum ist und ich in der Wellenklinik bleibe, werde ich mir etwas einfallen lassen, denn es ist doch sehr umständlich so. Entweder suche ich mir eine Wohnung in Bremerhaven, oder ich kaufe mir einen Wagen, damit bin ich auch mobiler.«
»Das sollten Sie wohl tun. Aber warum sind Sie nicht gleich nach Bremerhaven gezogen?«, hakte er dann nach.
»Ich bin ein Landei und hatte Skrupel, in einer größeren Stadt zu wohnen. Da kam mir Nordenham mit seiner Beschaulichkeit sehr entgegen.«
Dr. Drews warf ihr einen warmen Blick zu, der Esther durch und durch ging. Ein bisschen konnte sie Nantke und die anderen ja verstehen.
»Das kann ich gut nachvollziehen, ich bin ebenfalls kein Stadtmensch. Eckwarden mag ich, weil es ein entzückendes Dörfchen ist, den Jadebusen vor der Nase, der Geruch der Nordsee ist also präsent. Aber mit Nordenham könnte ich mich auch anfreunden.«
Der Fähranleger war in Sichtweite. Zum Glück gab es wegen des schlechten Wetters keine langen Schlangen. Sie mussten nicht einmal warten, sondern konnten gleich an Bord.
Es war wirklich eine schaukelige Überfahrt. Als sie die Fähre verließen, erschwerte sich das Weiterkommen immer mehr. Ständig mussten sie Schneewehen ausweichen, die sich auf der Straße türmten, dann wieder glich die Fahrbahn einer großen Eisfläche.
Hinzu kam die immer schlechter werdende Sicht. Das Schneetreiben verursachte noch immer eine fast undurchdringliche Wand, und man konnte keine zwei Meter weit schauen.
»Harrijasses nej, wer hätte das gedacht!«, seufzte Dr. Drews. Dann musste er schon wieder bremsen, weil vor ihm ein Auto in einer Wehe stecken geblieben war. Sie gerieten leicht ins Schleudern, aber der Arzt hatte den Wagen schnell unter Kontrolle, und es gelang ihm, das Gefährt unbeschadet zum Stehen zu bringen.
»Müssen wir helfen?« Esther graute es davor, den Opel zu verlassen und in die Kälte hinauszugehen, aber wenn nun den Insassen etwas zugestoßen sein sollte …
Dr. Drews zuckte mit den Schultern und verzog gleichzeitig das Gesicht. Auch ihm war sichtlich unbehaglich zumute. »Ich befürchte schon. Wir müssen zumindest nachsehen. Bleiben Sie sitzen, ich gucke erst einmal. Wenn Hilfe benötigt wird, winke ich.«
Er schnallte sich ab und öffnete die Tür. Sogleich wehte eine heftige Schneeladung auf seine Oberschenkel, und die Tür wurde ihm vom Sturm fast aus der Hand gerissen.
Trotzdem quälte er sich ins Freie, doch als er gerade einen Meter auf das liegen gebliebene Fahrzeug zugegangen war, fuhr das Auto an, und Dr. Drews kam so schnell er konnte zurück.
»Bloß weg hier«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, wir sind in der Hölle gelandet.«
»Ist die nicht eigentlich heiß?«, entgegnete Esther.
»Wahrscheinlich gibt es mehrere Arten, wenn ich mir das da betrachte«, antwortete er. Er drehte den Zündschlüssel, doch der Motor gab nur ein leises Jaulen von sich. »Der klingt wie ein gequälter Hund.« Er versuchte es ein weiteres Mal, aber wieder tat sich nichts.
»Und nun?«, fragte Esther.
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Ich befürchte, es sind die Zündkerzen. Nur leider habe ich keinen Ersatz dabei.«
»Puh«, stieß Esther aus. »Wenn wir von hier bis Nordenham laufen sollen, dann gute Nacht!«
»Das wäre fatal«, stimmte Dr. Drews zu. »Und einen Pannendienst jetzt zu erreichen dürfte wohl auch schwer werden – bei dem Wetter.«
Esther wurde klamm ums Herz. In Gedanken ging sie durch, wie man bei dieser Kälte eine Nacht im Auto überleben konnte.
Gar nicht, dachte sie. Wenn der Wagen nicht anspringt, haben wir auch keine Heizung. Wir werden also entweder hier erfrieren oder müssen doch versuchen, uns durchzuschlagen, wobei auch das im Augenblick wohl ein Himmelfahrtskommando ist.
Bitte lass uns nicht in dieser Schneehölle stehen bleiben, flehte sie weiter. Bitte, liebes Auto, spring an! Der Arzt versuchte, den Opel ein weiteres Mal zu starten, doch der Motor gab nur ein kurzes Heulen von sich.
Im Wagen wurde es von Minute zu Minute kälter. Durch jede Ritze zog es, und Esther kam es vor, als würde dieser Windhauch sogar die Feuchtigkeit ins Innere bringen.
Dr. Drews presste die Lippen fest aufeinander, dann schlug er aufs Lenkrad.
»Verdammt! Wir müssen so schnell es geht weg. Ohne Heizung wird es hier drin gleich so eisig wie in einer Kühltruhe. Da hilft wohl nur tief durchatmen und gutes Zureden.« Bei seinen Worten versuchte er sich in einem schiefen Grinsen und trommelte auf dem Armaturenbrett herum, bevor er den Schlüssel noch einmal bewegte.
Doch es tat sich einfach nichts.
Er schloss die Augen und bewegte lautlos die Lippen, was Esther unglaublich anziehend fand, denn sie machte es genauso, wenn sie sich etwas ganz doll wünschte.
Dann atmete Dr. Drews einmal tief durch, drehte den Schlüssel, und plötzlich begann der Motor zu stottern. Erst nur ganz leise, aber dann wurde das beruhigende Geräusch lauter, und als der Wagen bei dem nun einsetzenden Brummen zu wackeln begann, fiel Esther ein Stein vom Herzen.
»Das Auto möchte fahren!«, jubelte sie.
»Scheint so.« Trotz der Kälte hatte Dr. Drews Schweißperlen auf der Stirn.
Stockend fuhr der Opel an.
Esther hätte ihre Erleichterung am liebsten laut herausgeschrien. Das wäre ihr allerdings dann doch zu peinlich gewesen, und so schloss auch sie nur kurz die Augen und schickte ein Dankgebet zum Himmel.
Langsam quälten sie sich weiter. Inzwischen waren sie allein auf der Landstraße. Der Schneesturm tobte und tobte. Die Anstrengung, gegen diese dichte Wand zu starren, ermüdete Esther. Doch sie durfte auf keinen Fall einschlafen. Deshalb kniff sie sich, atmete tief durch und versuchte, sich auf die Radiodurchsagen zu konzentrieren.
Der Opel schob sich weiter. Kilometer für Kilometer, eine schier endlos erscheinende Strecke.
»Wenn das so weitergeht, verpasse ich noch meine Party. Wir wollten schon um sechzehn Uhr mit den Vorbereitungen beginnen«, murmelte der Arzt vor sich hin, aber Esther hatte ihn trotzdem verstanden.
»Gut, dass ich nichts geplant habe!« Sie merkte, dass ihre Worte etwas kläglich klangen. Am liebsten hätte sie sie zurückgenommen.
Glücklicherweise schien Dr. Drews ihr nicht zugehört zu haben. Er hatte sich vornübergebeugt und konzentrierte sich darauf, auf der Straße zu bleiben, was wirklich kein leichtes Unterfangen war.
Plötzlich gab es einen Ruck. Der Kadett war gegen einen Schneeberg geprallt, der aus dem Nichts vor ihnen aufgetaucht war und fast die Hälfte der Fahrbahn blockierte.
Dr. Drews legte den Rückwärtsgang ein. Zwecklos. Die Reifen drehten immer mehr durch, aber das Fahrzeug bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Nach einer Weile gab er auf und stellte den Motor ab.
Um den Wagen herum heulte der Wind sein schauriges Lied, es klang fast ein wenig höhnisch.
Trotz der geschlossenen Fenster und der warmen Kleidung fröstelte Esther. Der Arzt brauchte nichts zu sagen: Ihre Lage war übel, und sie mussten schnell einen Ausweg finden – sofern es den überhaupt gab.
Dr. Drews schlug wieder aufs Lenkrad und traf die Hupe, deren durchdringender Ton sich unter das Heulen des Sturmes mischte. »Mist! Verdammter Mist!«, entfuhr es ihm. »Wir stecken wohl endgültig fest!«
Esther entdeckte ein Straßenschild, das nur zur Hälfte von Schnee bedeckt war. »Immerhin weiß ich, wo wir sind.«
Nun erkannte auch der Arzt, wovon Esther sprach. Sie waren eben in die Hafenstraße in Nordenham abgebogen, und das Ziel lag zumindest in Reichweite.
»Trotzdem ungünstig!«, fluchte er und machte Esthers Freude darüber sogleich wieder zunichte. »Bis zu Ihrer Wohnung in der Pommernstraße ist es viel zu weit, das schaffen Sie bei diesem Wetter nicht. Ich hätte wirklich Angst, Ihnen könnte was passieren. Und wenn ich Sie begleite, begebe ich mich selbst in Gefahr, weil ich wieder allein zurückmüsste. Wir laufen über eine halbe Stunde bis dorthin. Minimum, eher länger.«
Er blickte Esther besorgt an.
Diese war sonst beileibe nicht zaghaft, aber wenn sie in die weiße Hölle da draußen blickte, sank ihr Mut doch ganz beträchtlich. Es war gefährlich, sich allein auf den Weg zu machen, und sie wollte auch nicht, dass Dr. Drews etwas zustieß.
»Uns bleibt nur eine Lösung«, sagte er und musterte sie fragend. »Denken Sie, das wäre machbar?«
Esther ahnte, was er meinte, auch wenn er es nicht aussprach. So ganz behagte es ihr nicht, aber welche Wahl blieb ihr?
»Ich schließe aus der Frage, dass die Strecke zu Ihrem Freund mit mir im Schlepptau zu schaffen wäre. Das ist Ihre Idee, oder?«
Dr. Drews nickte. »Wäre es für Sie eine Option, mich heute Abend zu begleiten? Ich denke, das wird die einzige Lösung sein, die einigermaßen ungefährlich ist. Mit etwas Glück schaffen Sie es morgen früh zu Ihrer Wohnung, bevor Sie zum Dienst müssen. Ewig kann es nicht so weiterschneien. Das wäre vollkommen ungewöhnlich.«
»Im Auto sitzen zu bleiben, ohne Heizung, etwas zu trinken und zu essen, ist wohl keine Alternative.« Esther seufzte. Um wie vieles lieber wäre sie heute allein in ihrer kleinen Wohnung geblieben, hätte sich eine Silvestershow angesehen, ein Käsebrot verspeist und ein Bier getrunken. Zwischendurch hätte sie mit Birgit telefoniert und mit ihren Eltern, die jetzt sicherlich noch im Stall zu tun hatten.
»Welche Wahl bleibt mir?«, gab sie zur Antwort. »Ich kenne dort niemanden, mich kennt keiner, und alle werden bestimmt beglückt sein, mich endlich kennenzulernen. Hallo, hier kommt Dr. Drews mit einer gestrandeten Kollegin im Gepäck!«
Dr. Drews lachte. »Sie werden es verstehen. Ich verspreche Ihnen außerdem, dass dort keine weiteren Ärzte, Hebammen oder Krankenschwestern herumlaufen. Allerdings – Sandra ist schwanger.« Er zögerte eine Spur zu lange. »Sie ist übrigens die Nichte unseres werten Oberarztes.«
Esther hob die Brauen. »Also heißt das: Kein Wort über das Krankenhaus, der Feind hört mit?«
Er nickte. »Sandra ist zwar nicht so, und es würde nie bei ihrem Onkel landen, was Sie gesagt haben, aber manchmal halte ich es für besser, den Stier nicht zu reizen. Ich glaube, am liebsten würde Sandra niemals erwähnen, wer ihr Onkel ist. Er spielt sich auch ihr gegenüber immer als der Retter auf, weil er sich, trotz seines Alters, als Überbringer der modernen Geburtsmedizin sieht. Sandra ist das etwas unangenehm. Also ist Ihre Idee gut, die Arbeit besser außen vor zu lassen.«
Esther taxierte Dr. Drews vorsichtig. Er schien tatsächlich seinen Chef nicht ganz unkritisch zu sehen, obwohl er im Klinikalltag offenkundig hinter ihm stand, denn noch nie hatte Esther Kritik aus seinem Mund an dessen Arbeit vernommen.
Jetzt war allerdings nicht der passenden Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen. Jetzt galt es, sicher in eine warme Behausung zu gelangen.
»Wollen wir?«, fragte Dr. Drews. »Bitte machen Sie sich keine Gedanken, weil ich Sie mitbringe, obwohl Sie nicht eingeladen sind. Es kommen alle zu zweit, nur ich nicht.« Der Arzt errötete leicht. »Also nicht, dass Sie jetzt denken … Ich werde diese Notlage natürlich nicht ausnutzen.«
Esther lächelte. »Ich glaube Ihnen, dass dies kein unlauteres Angebot war. Das miese Wetter haben schließlich nicht Sie bestellt. Dann mal los, bevor wir die Türen nicht mehr aufbekommen.«
Sie kletterten aus dem Wagen. Sofort wehte ihnen eine Ladung Schnee ins Gesicht.
»Mann, ist das kalt!«, rief Esther. Im selben Augenblick sackte sie tief ein. Mit einem Ruck ergriff sie das Ende des Schals und wickelte ihn fester um den Hals. Aus den Manteltaschen holte sie ihre gestrickten Fäustlinge.
Dr. Drews war weniger gut ausgerüstet, denn er parkte immer direkt vor dem Krankenhaus, und er hatte keine weiten Wege zu gehen, so wie Esther.
»Wir sollten uns beeilen, meine Kleidung nützt kaum etwas gegen dieses Unwetter«, stieß er aus und hüpfte auf der Stelle, damit ihm etwas wärmer wurde.
»Auf geht’s!«, rief Esther ihm zu.
Er griff nach ihrem Arm, und so stützten sie sich gegenseitig im Kampf gegen die Naturgewalten.
Nach wenigen Metern tauchte vor ihnen das nächste Straßenschild auf, wobei die Buchstaben kaum zu entziffern waren, weil der Schnee sie sich einverleibt hatte.
»Wir haben bereits ein gutes Stück geschafft!«, schrie Dr. Drews gegen den Wind an. »Ich hoffe, dieses Wissen motiviert Sie, durchzuhalten.«
Ein bisschen besser wurde es, als sie in die Jahnstraße abbogen. Wo der Schnee nicht so hoch aufgetürmt war, hatte sich allerdings eine Eisfläche gebildet, die das Vorankommen nicht leichter machte, weil sie ständig wegrutschten und sich ausbalancieren mussten.
Mit nach vorn gebeugtem Oberkörper stapften sie Schritt für Schritt weiter und näherten sich der Nordenhamer Innenstadt. Der Marktplatz, sonst ein unbefestigter Schlackeplatz, lag wie eine Eisbahn vor ihnen, gesäumt von hohen Wehen. Kein Mensch war auf den Straßen, alle hatten sich in ihren warmen Behausungen verkrochen.
Das alte Rathaus war im Schneetreiben kaum zu erkennen.
»Die Bahnhofstraße mit der Wohnung meines Freundes liegt hinter dem Marktplatz. Wir sind gleich da!«
Diese Auskunft gab Esther etwas Hoffnung, denn von ihren Füßen spürte sie kaum noch etwas.
»Ich habe nicht einmal ein Gastgeschenk dabei«, entfuhr es ihr mit zitternder Stimme, als sie endlich vor dem Haus angekommen waren. Es handelte sich um ein weißes Gebäude aus der Gründerzeit und wirkte mit dem kleinen Türmchen am Giebel etwas verspielt.
»Von der Bahnhofstraße aus wurde früher das Vieh aus Butjadingen zum Weserufer getrieben, damit es dort verladen werden konnte«, wusste Dr. Drews zu berichten, aber bei der Kälte interessierte Esther das gerade herzlich wenig. Sie starrte auf ihre leeren Hände und hob die Schultern kurz an.
»Machen Sie sich bitte wegen des Geschenks keine Gedanken«, ging Dr. Drews dann doch auf ihre Sorge ein. »Ulli ist mein bester Freund, er wird sich bestimmt freuen, wenn ich Sie mitbringe. Auch ohne Präsent.«
»Und Sandra?«
»Sandra ist flexibel, keine Sorge.«
Trotz der beruhigenden Worte fühlte sich Esther fehl am Platz.
»Ach noch was.« Dr. Drews hatte den Finger eigentlich schon an der Klingelleiste, die sich linksseitig der grünen Holztür, die oben mit kleinen Sprossenfenstern versehen war, befand.
»Was denn?«, fragte Esther bibbernd.
Der Arzt drehte sich zu ihr um.
»Ich weiß, das ist alles ein wenig unkonventionell, aber wenn wir schon zusammen Silvester feiern, schlage ich zumindest für diese Zeit vor, dass wir uns duzen. Im Klinikbetrieb können wir das Sie beibehalten, um blöde Fragen zu vermeiden.«
»Prima Idee. Ich bin Esther.« Sie reichte ihm die Hand.
»Stefan.«
»Gut, dann ist das geklärt. Jetzt bin ich auf den Abend gespannt. Nur schade, das ich nun weder Birgit noch meine Eltern anrufen kann.«
»Ulli und Sandra haben ein Telefon, das darfst du sicher nutzen.«
Das »Du« klang aus Stefans Mund noch etwas merkwürdig.
Als die Haustür summte und ihnen die Wärme des Hausflurs entgegenschlug, überwog bei Esther trotz aller Bedenken die Erleichterung.
Moin, wen hast denn du da mitgebracht?«, begrüßte Ulli die beiden und musterte sie ein bisschen erschrocken, als ihm gewahr wurde, wie ausgekühlt sie waren. »Ihr seid ja völlig durchgefroren und seht aus wie Schneemänner!«
»Du wirst es kaum glauben, aber es ist kalt draußen«, antwortete Stefan grinsend. »Und zur Frage eins: Das ist meine Kollegin Esther. Bei dem Mistwetter schafft sie es leider nicht bis nach Hause in ihre Wohnung, und deshalb habe ich sie mitgebracht. Nähere Erklärungen folgen, wenn wir aufgetaut sind.«
Ulli streckte Esther die Hand hin. »Moin! Ich sag einfach mal du, okay?«
Sie nickte.
Ulli trat beiseite und winkte die beiden in den Flur. »Ihr müsst euch erst mal aufwärmen, bevor ihr mehr erzählen könnt. Und dann wird gefeiert, da bist du dabei, Esther, oder?«
»Aber sicher, nachdem mein Auto draußen im Schnee steckt und Spaziergänge bei dem Schietwedder auch nicht so beliebt sind …«, antwortete Stefan sofort, worüber Esther sehr dankbar war, denn ihr war es noch immer etwas peinlich, einfach so bei fremden Leuten aufzukreuzen.
»Da hast du recht«, warf Ulli ein. »Esther, du bist natürlich herzlich willkommen. Das ist ja wirklich schlimm da draußen.« Er schloss die Wohnungstür hinter ihnen.
Esther schlüpfte umgehend aus den durchweichten Boots, und Stefan tat es ihr gleich.
Sie hatte eiskalte Füße, und ihre Hose war zum Teil von der Feuchtigkeit dunkel gefärbt, was Ulli sofort auffiel.
»Sandra hat bestimmt trockene Klamotten für Esther, und ich schaue mal in meinem Kleiderschrank nach, ob ich auch was für dich finde. Gut, dass wir dieselbe Größe haben.« Er schlug Stefan freundschaftlich auf die Schulter.
Der nickte erleichtert. »Danke, das ist wahre Fürsorge.«
Stefan hängte den triefenden Mantel an die Garderobe und rieb sich fröstelnd die Arme. Auch seine Hosenbeine waren durchnässt, und auf dem Hemd zeigten sich ebenfalls Flecken, denn seine Kleidung hatte längst nicht so dicht gehalten wie Esthers.
»In was für einem dünnen Fummel rennst du denn bei dem Schneetreiben herum?« Ulli schüttelte den Kopf. »Typisch Stefan Drews, der immer glaubt, ihm könne niemand etwas anhaben, weil er schon irgendwie durchkommt.« Er verzog das Gesicht und blickte Esther an. »Wir sind alte Freunde, und der Typ ist immer, wie soll ich sagen, unbedarft. Eigentlich beneidenswert.«
Stefan war das Gespräch sichtlich unangenehm. »Erzähl keinen Quatsch! He, ich bin mit meinem Kadett unterwegs, da rechne ich doch nicht damit, im Schneesturm durch die Weltgeschichte laufen zu müssen.«
»Es war ja auch nur Nordenham«, berichtigte Ulli ihn feixend.
Esther mochte Stefans Freund und seinen Humor. Dieses Flachsen und freundliche Sticheln. Er schien unkompliziert zu sein, und das gefiel ihr sehr.
»Aber was reden wir«, lenkte Ulli ein. »Erst einmal braucht ihr was Trockenes am Leib.« Er steckte den Kopf ins Wohnzimmer und rief nach seiner Frau, die offenbar noch gar nichts von dem Besuch mitbekommen hatte.
»Sandra?«
»Ja, was ist?«
Aus der Küche war das laute Brummen der Dunstabzugshaube zu hören.
»Stefan ist da und hat einen weiblichen Gast mitgebracht. Kannst du ihr bitte eine trockene Hose ausborgen?«, rief Ulli gegen den Lärm an. »Sie muss nämlich hierbleiben und mitfeiern!«
Eine etwa ein Meter sechzig große Frau mit einem dicken Bauch und blondem schulterlangem Haar kam um die Ecke geschossen. »Herrje, sag doch was!« Sie reichte Esther die Hand. »Moin, ich bin Sandra, Ullis Frau, und in mir wohnt ein Junior, männlich oder weiblich, keine Ahnung.« Sie grinste breit. Keine Frage, was Esther hier machte. So als wäre es nichts Besonderes, dass eine Fremde einfach so zum Silvesterfest auftauchte.
»Dann komm mal mit, ich finde schon was Passendes. Wenn ich nicht gerade ein Kind im Bauch habe, bin ich nämlich recht schlank, sodass von meinen Sachen einiges dabei sein dürfte.«
Esther genoss die Wärme der Wohnung und folgte Sandra ins Schlafzimmer. Zielstrebig griff die nach einer Wrangler-Jeans mit leichtem Schlag. »Die könnte gehen, probierst du mal? Brauchst du noch einen Pulli?« Sie maß Esther mit den Augen ab. »Ich habe hier noch einen Ringelrolli und ein Unterhemd. Leg die feuchten Sachen einfach über den Heizkörper, dann können sie trocknen.«
Esther freute sich, wie unkompliziert und selbstverständlich auch Sandra mit ihr umging.
»Wir sind im Wohnzimmer«, plauderte ihre Gastgeberin munter weiter. »Sollte die Jeans nicht passen, kannst du dir was anderes aus dem Schrank nehmen. Tu dir keinen Zwang an und fühl dich wie zu Hause.« Sie griff in eine Schublade und beförderte ein Paar Wollsocken heraus. »Die solltest du lieber auch wechseln und diese hier anziehen.«
Dann war Esther allein. Sie schlüpfte aus der nassen Kleidung, die unangenehm auf der Haut klebte.
Die Jeans passte wie angegossen, der Rolli war wider Erwarten nicht kratzig, sondern fühlte sich angenehm weich an, und die warmen Socken erwiesen sich als Balsam für die Füße.
Sie betrachtete sich im Spiegel, ordnete ihr blondes Haar, atmete tief durch und ging zurück in den Flur.
Aus dem Wohnzimmer war eine weitere Männerstimme zu hören, die Esther nicht zuordnen konnte.
Sie schaute sich kurz um, bevor sie sich zu den anderen gesellte.
Der Flur wie auch das Schlafzimmer waren nach Esthers Empfinden geschmackvoll eingerichtet.
Über der Kiefernkommode, auf der sich ein grünes Telefon befand, hing ein großer ovaler Spiegel, in den sie noch einen kurzen prüfenden Blick hineinwarf. Hinten rechts schien das Badezimmer abzugehen.
»Komm durch, wir sind im Wohnzimmer!«, rief Sandra, die Esther gehört hatte.
Sie stieß die Tür auf und sah als Erstes Stefan, der in einem Sessel aus dunkelbraunem Cord mit verchromtem Gestell saß. Daneben standen ein Glastisch, ein weiterer Sessel und eine Couch. Auf allen Sitzmöbeln lagen farblich passende Kissen. Eine Fototapete mit Waldmotiv verschaffte den Eindruck, inmitten von Bäumen zu sitzen.
»Schön habt ihr es hier.« Esther schaute zu den handgefertigten Makrameearbeiten an der Wand und zu einem Mobile in Fensternähe. Bienchen aus Bast tanzten im Zug des leichten Luftstroms um den kleinen Korb.
Sandra kam ihr aus der Küche entgegen, die sich dem Wohnzimmer anschloss, in dem sich auch der Esstisch befand. Ihr folgte ein junger, blonder Mann, dessen Gesicht von einem hellen Bart gerahmt wurde.
