Alien Wars - Operation Mars - Marko Kloos - E-Book

Alien Wars - Operation Mars E-Book

Marko Kloos

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Beschreibung

Befreit den Mars!

Nachdem ihr Angriff auf die Erde in letzter Sekunde verhindert werden konnte, haben sich die Lankies auf den Mars zurückgezogen. In Sicherheit sind die Menschen deshalb aber noch lange nicht, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Aliens den blauen Planeten erneut attackieren. Sergeant Andrew Grayson wird beauftragt, die irdischen Verteidigungsanlagen zu verstärken und neue Weltraumsoldaten auszubilden. Doch Grayson hat gerade eigene Probleme, und wenn er scheitert, hängt das Schicksal der Menschheit erneut am seidenen Faden.

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Seitenzahl: 612

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Das Buch

Seit über einem Jahr ist Gefechtscontroller Andrew Grayson nicht mehr im Kampfeinsatz gewesen. Dies ändert sich jedoch, als er von einem hochdekorierten General das Angebot erhält, an einer Aufklärungsmission zum Planeten Leonidas c teilzunehmen. Dessen Mond Arcadia hat eine erdähnliche Atmosphäre, und genau dorthin hat sich ein Jahr zuvor in einer feigen Nacht- und Nebelaktion die frühere NAC-Regierung mit einer großen Zahl Kolonisten sowie einer beachtlichen Raumflotte geflüchtet – in der Hoffnung, dort vor den Lankies sicher zu sein. Da das Nordamerikanische Commonwealth im Verbund mit den anderen Staatengemeinschaften der Erde jedes einzelne Raumschiff im Kampf gegen die Lankies dringend benötigt, soll diese Flotte wieder zurückgeholt werden. Und so wird aus der vermeintlichen Aufklärungsmission ganz schnell eine erbitterte Schlacht. Doch damit nicht genug: Die Vorräte der wenigen überlebenden Menschen auf dem Mars werden knapp, nachdem die Lankies die Versorgungslinie abgeschnitten haben! Grayson weiß, dass nun jeder Tag zählt. Denn wenn die Menschen den Mars endgültig an die Lankies verlieren, gibt es nirgendwo mehr einen sicheren Ort.

Der Autor

Marko Kloos wurde 1971 in Deutschland geboren und ist dort auch aufgewachsen, bevor er nach Amerika übersiedelte. Er arbeitete u.a. als Soldat, Verkäufer und IT-Administrator, bevor er seine Leidenschaft für Fantasy und Science-Fiction zu seinem Beruf machte und Autor wurde. Er lebt mit seiner Frau und den gemeinsamen zwei Kindern in New Hampshire.

Die Alien-Wars-Reihe im Heyne Verlag:Erster Band: SterneninvasionZweiter Band: PlanetenjagdDritter Band: SonnenschlachtVierterBand: Operation Mars

Mehr über Marko Kloos und seine Romane erfahren Sie auf:

MARKO KLOOS

Alien

Wars

OPERATION MARS

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe: CHAINS OF COMMANDDeutsche Übersetzung von Martin Gilbert Redaktion: Werner Bauer Copyright © 2016 by Marko Kloos Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Shutterstock Satz: Fotosatz Amann, Memmingen ISBN 978-3-641-19578-6 V003 www.diezukunft.de

Für Robin –wir sind wirklich verdammte Glückspilze …

PROLOG

Inzwischen nennen wir es den Exodus.

Vor einem Jahr erschien ein Lanky-Saatschiff im Erdorbit, und der schlimmste Albtraum der Menschheit manifestierte sich am Nachthimmel über dem nordamerikanischen Kontinent: massive Materie und elementare Kraft in Gestalt eines drei Kilometer langen, schwarz schimmernden Torpedos.

Die Flotten der Welt waren nur noch ein Schatten ihrer einstigen Stärke. Wir haben die halbe NAC-Flotte bei der erfolglosen Verteidigung des Mars verloren – die Lankies hatten ihn schon ein paar Monate bevor sie zum ersten Mal über der Erde erschienen erobert. Der Rest der Flotte ist in der besiedelten Galaxis verstreut. Die Schiffe können nicht nach Hause zurückkehren, weil die Lankies noch immer unsere Alcubierre-Knoten blockieren. Mit unseren knappen Ressourcen gelang es uns immerhin, das Lanky-Saatschiff zu stellen und zu vernichten. Wir führten seit fünf Jahren Krieg gegen sie, und das war erst das zweite Mal, dass es uns gelungen war, eines ihrer Schiffe zu zerstören.

Doch wir zahlten einen hohen Preis für diesen Sieg.

Die multinationale Sicherungsstreitmacht der Erde – das letzte Aufgebot – verlor bei dieser Schlacht vier Schiffe. Zwölfhundert Raumsoldaten und Raumfahrer starben in einem ebenso kurzen wie heftigen und einseitigen Kampf. Fünf dieser Matrosen gehörten zur NACS INDIANAPOLIS. Sie entschied das Gefecht schließlich zu unseren Gunsten, indem sie den Lanky mit einem Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit rammte und das Saatschiff dadurch so stark beschädigte, dass wir ihm mit Atomwaffen den Fangschuss verpassen konnten. Bevor das Lanky-Schiff aber unterging, gelang es ihm noch, seine Saatkapseln über ganz Nordamerika zu verteilen. Jede dieser Kapseln enthielt ein Dutzend Siedler-Scouts mit einer Größe von fünfundzwanzig Metern und der Massivität eines mehrstöckigen Gebäudes. Wir folgten ihnen zur Erde und töteten diejenigen, die die Landung überlebt hatten. Und dabei verloren wir noch mehr Leute. Hunderte Soldaten und Tausende Zivilisten starben in einem heftigen und mit dem Mut der Verzweiflung geführten nächtlichen Gefecht, bei dem wir ganze Straßenzüge in Schutt und Asche legten.

Aber wir haben sie geschlagen und überlebt. Die Erde hat sich eine Atempause verschafft.

Und wir profitierten noch davon: von Lanky-Leichen, Hunderten an der Zahl und Dutzenden abgestürzter Saatkapseln. Das war eine Fundgrube für die Wissenschaft. Man konnte diese Leichen studieren und sezieren, herausfinden, wie sie funktionierten und wie man ihnen im Lebendzustand am besten den Garaus machte. Und nun war es auch möglich, die Schwachpunkte ihrer Schiffe zu ermitteln.

Kurz bevor die Lankies im letzten Jahr zur Erde kamen, verschwand die Regierung des Nordamerikanischen Commonwealth in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Sonnensystem. Sie nahmen ein Dutzend hochmoderner Kriegsschiffe, fast zwanzig Massengutfrachter und die politische und gesellschaftliche Elite des Commonwealth samt ihren Familien mit. Bisher weiß niemand, wohin sie verschwunden sind. In der Flotte geht das Gerücht um, dass die Exodus-Flotte schon vor längerer Zeit einen geheimen Alcubierre-Knoten zu einem Fluchtsystem eingerichtet hat. Vermutlich in der Annahme, dass die Erde früher oder später doch an die Lankies fallen würde. Wir empfangen Daten von mehreren Aufklärungssonden. Colonel Campbell von der INDIANAPOLIS hatte sie ausgesetzt, nachdem wir den geheimen Bereitstellungsplatz der Exodus-Flotte kurz vor ihrem hastigen Aufbruch entdeckt hatten. Wir sollten den Lankies wohl noch dankbar sein, weil sie diese Abtrünnigen zum überstürzten Aufbruch gezwungen hatten. Sie mussten zwei halb fertige Kriegsschiffe zurücklassen, die für die Flotte einen regelrechten Quantensprung bedeuteten: zwei schwere Kampfschiffe, die nur für einen Zweck gebaut worden waren – den Einsatz als Lanky-Jäger und Zerstörer.

Wir verbrachten das ganze letzte Jahr damit, diese Schlachtschiffe fertig und in Dienst zu stellen, noch bevor der Anstrich der Hülle getrocknet war. Und die Sino-Russen, diese pragmatischen Hurensöhne, entwickelten ihren eigenen Lanky-Hammer: aus dem Orbit gestartete Antischiffraketen. Das waren Kaventsmänner mit 10000-Tonnen-Gefechtsköpfen aus Eis und Zellstoff, die von einem nuklearen Impulsantrieb auf einen signifikanten Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden. Nachdem ich im letzten Jahr Freunde im ehemals feindlichen Lager gewonnen habe, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass es ein Russe gewesen sein muss, der diese Idee hatte: einen kegelförmigen Eisblock vom Gewicht eines schweren Kreuzers anzufertigen und das Ding mit Atomraketen anzutreiben. Es ist primitiv, schmutzig und hässlich, aber es funktioniert. Ein paar Monate nach der Schlacht um die Erde erschienen noch einmal zwei Lanky-Schiffe im Abstand von einem Monat im Erde-Mond-Raum. Und die Russen bliesen beide mit ihren neuen Orion-Raketen aus dem All, ohne selbst Verluste zu erleiden. Das hat die Lankies dann offensichtlich dazu bewogen, ihre Aufklärungsflüge zur Erde einzustellen.

Natürlich stellte der Einsatz orbitalgestützter kinetischer Waffen mit Nuklearantrieb eine eklatante Verletzung des Svalbard-Abkommens dar, jedoch tangierten diese Formalitäten kaum jemanden, als die Lankies wieder auftauchten.

Die Orion-Raketen – so wirkungsvoll sie auch sind – haben einen signifikanten Schwachpunkt: Sie sind zu groß und zu schwer, als dass man sie von einem Sternenschiff aus starten könnte. Deshalb können wir sie auch nicht durch einen Alcubierre-Knoten transportieren. Dieses Manko haben sie mit den neuen Schlachtschiffen gemein, auf denen noch kein Alcubierre-Antrieb installiert ist. Das heißt, wir haben nun wirksame Waffen zur Bekämpfung von Lanky-Saatschiffen, aber sie sind nur für die Orbitalverteidigung brauchbar. Der Mars ist noch immer in den Händen der Lankies, und unsere Kolonien sind noch immer durch die Lanky-Blockade abgeschnitten. Aber wir arbeiten rund um die Uhr daran, endlich von der Verteidigung zum Angriff überzugehen. Um unsere Toten zu rächen, das zurückzuholen, was uns gehört, und sie ein für alle Mal aus dem Sonnensystem zu vertreiben. Und falls es uns gelingt, sie bis zu dem System zurückzuverfolgen, das sie ihre Heimat nennen, und sie mit Stumpf und Stiel auszurotten, würde mir das auch keine schlaflosen Nächte bereiten.

Das Überleben der Menschheit steht noch immer auf Messers Schneide. Aber wir ziehen inzwischen alle am selben Strang und verzeichnen endlich auch eine immer höhere Erfolgsquote bei der Bekämpfung der Lankies. Trotzdem gibt es noch viel zu tun; und ich weiß auch, dass wir noch mehr Menschen und Schiffe verlieren werden, bevor das alles vorbei ist. Aber es gibt wieder einen Hoffnungsschimmer, dass die Welt doch nicht den Bach runtergeht.

Zumindest nicht mehr als ohnehin schon …

1

GRUNDAUSBILDUNG

Ein Schreibstubenhengst bin ich nicht. Ich wurde zum Kampfsoldaten und zum Gefechtscontroller ausgebildet – folglich bin ich ein »Podhead«, ein »Kanisterkopp«. Der Name kommt daher, weil wir oft Gefechtslandungen in kanisterartigen Abwurfbehältern durchführen. Ich gehöre quasi zu den ersten Molekülen der Speerspitze. Seit einem halben Jahr bin ich auch Zug-Sergeant eines Ausbildungszugs im Rekrutenausbildungszentrum Orem des Nordamerikanischen Commonwealth. Und Zug-Sergeants sitzen nun mal in einem Büro, also gilt das auch für mich. Mein Büro hat einen Schreibtisch und ist ungefähr doppelt so groß wie die größte Kabine, die ich je auf einem Kriegsschiff belegt habe. In den ersten paar Wochen, nachdem ich das Büro bezogen hatte, mutete es völlig irreal an, wenn ich meinen Namen an der Tür sah: PLATOONSGT: SFCGRAYSON.

Zug-Sergeants sind erfahrene Unteroffiziere. Ältere Männer und Frauen. Ich sage mir, dass ich erst siebenundzwanzig bin und schon auf eine fast siebenjährige Dienstzeit zurückblicke – davon fünf Jahre als Unteroffizier. In den neuen NAC-Streitkräften, die aus den Überlebenden der Schlacht um den Mars und die Erde sowie von Zurückgebliebenen des Exodus aufgestellt wurden, bin ich damit ein »alter Hase«. Und das ist ein verdammt beängstigender Gedanke.

Das Büro hat aber auch seine Vorzüge. Wenn ich nachts nicht schlafen kann – was meistens der Fall ist –, habe ich einen Rückzugsort, an dem ich mich beschäftigen kann. Ich muss nicht in meinem Quartier bleiben und mich von unwillkommenen Erinnerungen an gottverlassene Orte quälen lassen, die ein paar Tausend Kilometer oder auch ein paar Dutzend Lichtjahre entfernt sind. Nicht einmal die guten Pharmazeutika können dieses spezielle Programm in meinem Kopf löschen.

Ich blicke vom Holobildschirm meines Netzwerkterminals auf, als ich Schritte draußen auf dem Gang höre. Die Uhr an der Wand zeigt 04:14. Es ist noch über eine Viertelstunde bis zum Wecken und zu früh, als dass schon jemand wach wäre und gestiefelt im Gebäude herumlaufen würde.

Kurz darauf steckt Sergeant Simer den Kopf durch die offene Tür.

»Morgen, Sergeant Grayson.«

»Guten Morgen«, erwidere ich. Sergeant Simer hat heute Nacht Bereitschaft. Der Uffz vom Dienst hat ein kleines Büro im Eingangsbereich des Kompaniegebäudes. Im Zeitalter neuronaler Netzwerke und computerisierter Zugangssysteme ist das eigentlich eine obsolete Tradition, aber eben auch eine Tradition. Und das Militär pflegt viele solcher Traditionen.

»Das Sandwich schmeckt heute Morgen echt scheiße«, verkündet Simer.

»Ach ja?«

Ich winke ihn heran, und er tritt über die Schwelle und kommt zu mir an den Schreibtisch.

»Es kam gerade ein Anruf von der MP der Basis.«

»Oje«, sage ich. »Probleme mit dem Wochenendausgang?«

»Ein paar Rekruten sind am Samstag mit dem Bus in die Stadt gefahren und haben dann einen Zug nach Salt Lake genommen. Sie haben sich besoffen oder zugekifft. Jedenfalls haben sie durch Chip-Manipulation ein Taxi geöffnet, die Wegfahrsperre überwunden und eine Spritztour unternommen.«

»O nein.«

»Doch.« Simer verzieht kurz schmerzlich das Gesicht und fährt fort: »Sie sind dann von der Fahrspur abgekommen und haben einen Hydrobus gerammt. Frontalzusammenstoß mit einem Toten und drei Verletzten.«

»Scheiße«, sage ich. »Hat es einen von unseren Leuten erwischt?«

»Zwei. Einen von Gruppe Eins und einen von der Vier. Die Privates Barden und Perret. Barden ist tot.«

Ich schließe kurz die Augen und stoße einen Seufzer aus.

»Diese Vollidioten. Anderthalb Wochen vor dem Abschluss.«

Ich kannte Private BARDEN, J. von der Personalliste und vom Morgenappell. Seit Beginn der Grundausbildung ist der Ausbildungszug an jedem Werktagmorgen zur Ausgabe des Tagesbefehls vor dem Gebäude angetreten. Er kam auch nicht aus einer Sozialwohnungssiedlung wie die meisten Rekruten. Ich erinnere mich, dass er zur Mittelklasse gehörte und in einer Vorstadt irgendwo im pazifischen Nordwesten lebte. Vielleicht Portland oder SeaTac? Mir ist klar, dass ich mich in den nächsten Tagen mit der Biografie von Private BARDEN, J. vertraut machen muss. Der Zugführer wird bei der Beerdigung anwesend sein, und ich muss ihm ein paar Informationen über den Toten geben.

»Vielen Dank«, sage ich zu Sergeant Simer. »Scheuchen Sie die Frischlinge heute schon früher aus den Federn. Wecken um 04:45. Und Sie können auch schon mal dezent mit dem Zaunpfahl winken, dass etwas im Busch ist. Ich komme zur Befehlsausgabe runter.«

Der Zug ist in einer wie mit dem Laserlineal gezogenen Linie und nach Körpergröße sortiert angetreten. Die Leute tragen standardmäßige NAC-Tarnanzüge, die Stiefel sind auf Hochglanz poliert und der Haarschnitt militärisch korrekt. Meine drei Gruppenführer, die Ausbilder, stehen in Rührt-euch-Stellung vor dem versammelten Zug. Als ich das Gebäude verlasse und mich der versammelten Mannschaft nähere, nehmen die Ausbilder Haltung an.

»Zug, Achtung!«

Vierunddreißig Soldaten schlagen die Hacken zusammen, und der Ausbildungszug nimmt wie ein Mann Haltung an. Ich erwidere den Gruß der Ausbilder und trete vor den Zug.

»Rührt euch.«

Die Rekruten geraten leicht in Bewegung und nehmen eine etwas entspanntere Haltung ein. Dann mustere ich sie für einen Moment wortlos, um sicherzugehen, dass ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe.

»Am Freitagnachmittag standen sechsunddreißig Rekruten vor mir, heute sind es nur noch vierunddreißig. Dafür habe ich einen Rekruten auf der Intensivstation von Salt Lake und einen auf einer Bahre im Leichenschauhaus. Rekrut Barden ist an diesem Wochenende bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er war auf Drogen und hat seine fahrerischen Fähigkeiten mit einem gestohlenen Fahrzeug überschätzt.«

Es regt sich nichts in den Reihen – nach elf Wochen in der Grundausbildung wissen die Leute, dass sie während der Befehlsausgabe keinen Mucks machen dürfen, solange sie nicht dazu aufgefordert werden. Aber ein paar Rekruten wechseln Blicke, und dem schockierten Ausdruck der meisten nach zu urteilen scheint diese Nachricht ihre Wirkung auch nicht zu verfehlen.

Ich lege wieder eine Pause ein, um die Neuigkeit sacken zu lassen.

»Das ist die neue Grundausbildung«, fahre ich dann fort. »Als ich dort stand, wo ihr nun steht, schlief der ganze Zug in einem großen Raum. Sechsunddreißig Betten und Spinde in zwei Achtzehnerreihen. Sechseinhalb Tage Ausbildung die Woche und einen halben Tag Freizeit. Kein Ausgang bis zum Abschluss. Ihr kennt alle die Horrorgeschichten von den Alten.«

Das entlockt ein paar Rekruten ein Grinsen. Aber das vergeht ihnen schnell wieder, als sie sehen, dass das nicht lustig gemeint war.

»Heute bilden wir euch in Gruppen und Schützenteams aus. Ihr belegt eine Stube mit eurem Team, zwei Stuben pro Gruppe. Vier Rekruten pro Stube. Wir machen das deshalb, weil ihr auch in der Flotte beziehungsweise bei der Rauminfanterie so leben und arbeiten werdet und weil wir euch in der uns zur Verfügung stehenden Zeit optimal auf den Dienst vorbereiten wollen. Ihr bekommt sogar Wochenendausgang. Die meisten von euch wissen dieses Privileg auch zu schätzen. Wie gesagt, die meisten.«

Ich verschränke die Arme auf dem Rücken und schreite langsam die Linie der Rekruten ab. Sie kommen mir so jung vor, obwohl der Großteil von ihnen um die zwanzig Jahre alt und damit nur ein halbes Jahrzehnt jünger ist als ich. Aber dieses halbe Jahrzehnt, das uns voneinander trennt, erscheint mir an dem Punkt, wo ich nun stehe, wie eine Ewigkeit.

»Ich bin nicht angepisst, weil die Privates Barden und Perret mal auf den Putz hauen und in der Stadt Spaß haben wollten. Ich bin angepisst, weil sie sich dabei so blöd angestellt haben. Ich bin angepisst, weil Private Barden sich anderthalb Wochen bevor er die Gelegenheit bekommen hätte, dem Commonwealth etwas für die Zeit und Ressourcen zurückzugeben, die wir in seine Ausbildung investiert haben, umgebracht hat. Und ich bin angepisst, weil wir jetzt zwei Leute in Unterzahl sind, wenn wir euch zur Flotte oder zur Rauminfanterie schicken. Dienstposten, die dringend besetzt werden müssten, werden nun nicht besetzt.«

Ich spreche mit der Stimme und im Tonfall eines Schleifers. Dabei wusste ich gar nicht, dass ich diese Qualitäten besaß, bis ich vor einem halben Jahr turnusmäßig den Dienstposten als Zugführer in NACRD Orem antrat. Immer wenn ich mit dieser besonderen Stimme sprechen muss, brauche ich nur Sergeant Burke zu imitieren, meinen damaligen Ausbilder, an dessen abgehackten, gedehnten Tonfall ich mich noch so gut erinnere, als ob ich die Grundausbildung erst vor einer Woche beendet hätte.

»Ich weiß, was die meisten von euch denken«, fahre ich fort. »Ihr seid im PRC die Kings der Straße gewesen, und ihr glaubt jetzt, ihr könntet mit dieser Tour auch in der großen bösen Welt da draußen durchkommen. Aber ich muss euch sagen, dass es hinter diesen Toren viele Arten gibt, zu sterben. Und wenn ihr schon ins Gras beißen müsst, wäre es mir viel lieber, ihr hättet ein Gewehr in der Hand und würdet gegen einen Angriff der Lankies die Stellung halten, statt zugedröhnt frontal gegen einen Hydrobus zu knallen. Es gibt gute und schlechte Arten zu sterben, und ein beschissener Verkehrsunfall kurz vor dem Abschluss der Grundausbildung ist verdammt noch mal eine verdammt schlechte Art.«

Sie sehen mich alle an, diese jungen und ernsten Gesichter. Und bei einigen scheint auch noch diese Underdog-Attitüde durch – dieses Renegatentum, das in den Straßenschluchten der Innenstädte eine Überlebenshilfe war. Aber was auch immer sie sind und welche Gedanken auch immer ihnen in diesem Moment durch den Kopf gehen: Sie sind freiwillig hier und haben sich dafür entschieden, den schmalen Grat zwischen uns und unserem Untergang zu verstärken.

»Also Folgendes«, sage ich. »Der Ausgang wird ab sofort bis zum Ende der Ausbildung eingeschränkt. Ihr könnt in der Basis bleiben oder in die Stadt gehen, aber ihr dürft Orem nicht verlassen. Und wir werden ab heute obligatorische Drogentests durchführen. Falls bei irgendjemandem illegale Substanzen nachgewiesen werden, wird diese Person unehrenhaft entlassen und bekommt eine Fahrt mit der Magnetschwebebahn nach Hause spendiert. Haben wir uns verstanden, Zug?«

»Sir, ja, Sir!«, rufen die rund drei Dutzend Angehörigen des Ausbildungszugs 1526 im Chor. Wenn sie sonst schon nichts gelernt haben, dann immerhin, strammzustehen und aus voller Kehle zu brüllen.

»Ich kann euch nicht hören«, schreie ich zurück, obwohl bei der Geräuschentwicklung der versammelten Truppe die Polyplast-Fensterscheibe fünf Meter hinter mir bereits klappert. Aber so läuft das eben bei uns. Es werden Rituale etabliert, den Leuten eingehämmert und so lange drillmäßig eingeübt, bis sie ihnen zur zweiten Natur werden.

»Sir, ja, Sir!«

»Schon besser«, sage ich. Dann werfe ich einen Blick auf das Chronometer am linken Handgelenk.

»Heute geht’s raus ins Feld«, verkünde ich. »Die Busse fahren um Punkt acht vor dem Block vor. Ihr werdet alle exakt nach Vorschrift ausgerüstet sein. Das ist die letzte Übung, die ihr vor der Beendigung der Grundausbildung durchführt – falls ihr sie besteht. Wenn ihr das nächste Mal in voller Ausrüstung antretet, dann wahrscheinlich zu einem richtigen Kampfeinsatz. Ihr dürft das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Übung ist eine Strapaze, aber glaubt mir, sie ist nichts im Vergleich zu dem, was ihr auf einem realen Schlachtfeld erleben werdet.«

Ich drehe mich zu den Ausbildern um, die rechts hinter mir in Rührt-euch-Stellung verharren.

»Drill-Sergeants, übernehmen Sie Ihre Gruppen. Nach dem Frühstück Herstellung der Marschbereitschaft. Waffenausgabe um 07:00. Marschbereitschaft um 07:50. Vorher noch Ausrüstungskontrolle. Ausführung.«

Ich gehe ins Gebäude zurück, und meine drei Ausbilder übernehmen ihre Gruppen. Sie führen sie wieder in die Zugquartiere und machen ihnen dabei Dampf. Damit wollen sie die Leute darauf trainieren, schnell und unter Stress Kampfbereitschaft herzustellen. Der Zug wird die letzte Woche vor der Abschlussübung der Grundausbildung draußen im großen Übungsgelände in der Wüste verbringen, in der NACRD Orem gelegen ist, und einen groß angelegten Abwehrkampf gegen eine Lanky-Landung simulieren. Die Prioritäten bei unserer Ausbildung haben sich vom Töten von Menschen zum Töten von Lankies verschoben, und ich bin von diesem Paradigmenwechsel eigentlich ganz angetan.

Ich gehe ins Büro zurück und setze mich an den Schreibtisch. Dann rufe ich die Personaldatei des Rekruten BARDEN, J. auf und sehe mir sein Porträt an. Er war schon ein frecher Hund. Hielt sich für cleverer als alle anderen und liebte es, seine Grenzen bei den Ausbildern auszuloten; bei der alten NAC-Grundausbildung hätte er spätestens nach zwei Wochen wieder seine Sachen packen können. Aber wie ich den Rekruten gerade sagte – das hier ist die neue Grundausbildung. Wir können es uns nicht mehr leisten, streng zu sieben. Jedenfalls nicht so willkürlich wie damals, als die Ausbilder einen aus nichtigem Grund oder auch ganz ohne Grund rauswerfen konnten. Beim Anblick des holografischen Porträts von Private BARDEN, J. sage ich mir, dass er noch am Leben wäre, wenn wir die Grundausbildung nach den alten Regeln durchführen würden.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und sehe, dass der Zug in einer engen und präzisen Formation zur Kantine marschiert. Sergeant Lear, der den Zug führt, hat ein Marschlied angestimmt. Zwei von meinen drei Ausbildern haben keine Kampferfahrung. Sergeant Lear ist ein weiblicher Soldat von der Militärpolizei der Flotte, und Sergeant Dietrich kommt von der Versorgung und Logistik. Nur Sergeant Fisher, mein leitender Ausbilder, hat schon Kampferfahrung. Er ist ein Spezialist für schwere Waffen der Rauminfanterie – ein Maschinenkanonen-Schütze. Und er ist der einzige Angehörige meiner Ausbildercrew, dessen Diensterfahrung ansatzweise an meine heranreicht. Seltsamerweise komme ich mit ihm aber nicht so gut zurecht wie mit Lear und Dietrich. Er ist ein mürrischer Typ, leidet offensichtlich an Kampfesmüdigkeit und ist auch noch beratungsresistent. Lear und Dietrich hingegen sind motiviert, umgänglich und lernbegierig. Beim Militär gibt es Vorschriften für alles und jedes – auch für den Tod eines Rekruten. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem solchen Fall befasst bin – und hoffentlich auch das letzte Mal. Es ist schon beschissen genug, Leute auf irgendeinem gottverlassenen Eisbrocken am Arsch des Universums zu verlieren. Aber es ist noch viel beschissener, wenn es sich um Rekruten handelt, die noch in der Grundausbildung waren.

Ich schicke Sergeant Lear auf dem PDP eine Nachricht, dass sie nach dem Frühstück zu mir kommen soll. Dann beginne ich mit der Lektüre der Personaldatei von Private BARDEN, J., um Material für die Grabrede zu sammeln, die der Lieutenant im Laufe dieser Woche auf der Beerdigung halten wird.

Sergeant Lear klopft zwanzig Minuten später an meine offene Tür.

»Mein Gott, Lear, haben Sie Ihr Frühstück unterwegs eingeatmet? Ich sagte doch, nach dem Frühstück und nicht währenddessen.«

»Ich esse schnell, Sergeant Grayson«, sagt sie. »Kein Problem.«

»Kommen Sie rein.« Ich bedeute ihr mit einer ausladenden Geste, auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Sergeant Lear betritt den Raum und setzt sich. Sie macht einen so akkuraten Eindruck wie immer. Sie ist schlank, gut in Form und hat ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der mich an Private Hanson, einen alten Gruppenkameraden von der Territorialarmee erinnert.

»Sie werden mit einer unterbesetzten Gruppe zur Abschlussübung ins Feld ziehen«, sage ich.

»Ja«, erwidert sie. »Barden war der Anführer meines zweiten Schützenteams. Jetzt sind sie in dieser Gruppe nur noch zu dritt.«

»Wird auch nicht das letzte Mal sein, dass sie Löcher in der Gruppe stopfen müssen. Ich kann Ihnen aber keinen Ersatz besorgen. Wir können uns leider niemanden von der Sanitätskompanie ausleihen.«

»Wir schaffen das schon«, sagt Sergeant Lear. »Ich werde Matteo zum Anführer des Schützenteams ernennen. Sie müssen eben irgendwie klarkommen.«

»Erzählen Sie mir etwas über Barden. Der Lieutenant wird bei der Beerdigung in seinem Heimatort anwesend sein. Er braucht ein paar Informationen, um die Grabrede zu halten.«

Lear zuckt die Achseln. »Er war ein renitenter kleiner Mistkerl, aber kein schlechter Mensch. Er hat schnell gelernt. Man musste ihm kaum etwas zweimal sagen und schon gar nicht dreimal. Manchmal ist er ausgeflippt, aber das kann jedem einmal passieren. Er wäre ein guter Rauminfanterist geworden – und er hatte vielleicht sogar das Zeug zum Unteroffizier.«

»Es ist eine Schande«, sage ich. »Eine Woche vor dem Abschluss.«

»Er spielte manchmal den Clown«, sagt Lear. »War immer für einen blöden Witz gut. Aber die Gruppe mochte ihn, würde ich sagen.«

»Na, das ist doch schon mal was. ›Er war ein Mensch mit Humor, beliebt und ein intelligenter und fähiger Rekrut.‹ Das kann der Lieutenant dann zum Besten geben.«

»Ich bin nur froh, dass ich nicht mitkommen muss. Ich hasse Beerdigungen«, sagt Sergeant Lear.

»Mir geht’s genauso«, pflichte ich ihr bei. »Ich bin in der letzten Zeit verdammt noch mal auf zu vielen gewesen.«

2

SIMULIERTE WELTEN

Der Zug tritt fünf Minuten vor der befohlenen Zeit im Kampfanzug und mit voller Bewaffnung an. Als ich das Gebäude verlasse, trage auch ich einen Panzeranzug – nicht etwa den HEBA-Insektenanzug, sondern den standardmäßigen Hartschalenanzug der Flotte aus einem Kompositwerkstoff. Mein einziger Ausrüstungsgegenstand, der jünger ist als ein halbes Jahrzehnt und keine Verschleißspuren aufweist, ist das Gewehr – ein neues M-90. Wir haben das Konstruktionsprinzip der russischen Lanky-Büchsen übernommen und es dann nach westlichen Kriterien stark modifiziert. Die russischen Waffen sind Einzellader, wohingegen unsere modifizierte Version ein schwerer Selbstlader mit einem Fünf-Schuss-Magazin ist. Das ist mehr als die doppelte Kapazität der alten doppelläufigen M-80-Gewehre, die wir zuvor benutzten. Diese neuartige »Querbefruchtung« mit Ideen und Konstruktionsmerkmalen von Instanzen, die bis vor Kurzem noch Feinde waren, ist ebenso radikal wie seltsam, aber die Ergebnisse sprechen für sich.

»Das ist eure Abschlussübung«, sage ich, nachdem die Gruppenführer den Rekruten »Habt acht!« befohlen haben. »Wir gehen an Bord der ›Landungsschiffe‹ …« Ich deute auf die Busse, die auf der Straße vor dem Kompaniegebäude vorgefahren sind. »… und führen eine simulierte Landung auf dem zehn Kilometer von der Basis entfernten Truppenübungsplatz durch. Bei dieser Übung seid ihr auf einem zwanzig Lichtjahre entfernten Kolonialmond – ein durchaus realistisches Szenario. Ob ihr die Übung überlebt oder da draußen einen glorreichen Tod für das Commonwealth sterbt, ist für das Bestehen der Prüfung unerheblich. Es kommt vielmehr darauf an, dass ihr eure Befehle befolgt und die Fertigkeiten anwendet, die ihr in der Ausbildung erworben habt. Stellt euch vor, die Feinde wären reale Lankies, die gekommen sind, um eure Familien zu töten und eure Heimatwelt zu besetzen. Und zeigt ihnen dann, weshalb es keine gute Idee ist, den haarlosen Primaten von Sol Drei ans Bein zu pinkeln.«

Der Zug quittiert das mit einem kurzen, aggressiven Lachen. Als ob sie eine Unimannschaft wären, die bei einem Wettkampf einem anderen Team in den Arsch treten will. Sie wissen jedoch, dass sie bei dieser Übung nicht ernsthaft gefährdet sind. Es handelt sich um eine komplexe Simulation mit dem kompletten sensorischen Erlebnispaket eines realen Gefechts, nur eben ohne Gefahr für Leib und Leben. Was mich betrifft, so wäre ich bei realen Gefechtslandungen noch aufgeregter und mit mehr Adrenalin vollgepumpt, wenn ich wüsste, dass ich dabei nicht sterben kann.

Ich trete zurück, und die Ausbilder übernehmen ihre Gruppen. Wir setzen die Busse so ein, wie wir es im Ernstfall mit Landungsschiffen tun würden: jeweils ein Fahrzeug pro Zug. Also besteigen wir den uns zugewiesenen Bus, während die anderen Züge der Ausbildungskompanie in die anderen drei Busse einsteigen. Als Zug-Sergeant steige ich zuletzt ein und setze mich auf den Klappsitz hinter dem Pilotensitz. In einer Gefechtssituation würde der Zugführer, Lieutenant Lewis, vorne sitzen, aber unser Lieutenant ist heute Morgen beim Stab des Ausbildungsbataillons. Das hat zweifellos mit unserem toten Rekruten zu tun. Ich beneide ihn nicht um diese Aufgabe.

Wir fahren durch die Basis, passieren die große Sicherheitsschleuse am Haupttor, und dann geht’s in die Wüste hinaus. NACRD Orem ist so isoliert, wie eine militärische Einrichtung es dieser Tage nur sein kann. Die Basis befindet sich mitten in der Wüste, fast hundert Kilometer von der Salt Lake City-Metroplex entfernt am Standort eines ehemaligen Militärdepots. Hier draußen gibt es nichts außer Sand und Gestrüpp, und niemand fühlt sich gestört, wenn wir mit unseren lauten Spielzeugen spielen. Vor über sechs Jahren – die mir heute wie eine halbe Ewigkeit vorkommen – passierte ich dieselbe Sicherheitsschleuse in Gegenrichtung, um Soldat zu werden. Ich dachte, ich wüsste, worauf ich mich einließ, aber das war der sprichwörtliche Irrtum vom Amt.

Wir haben hier draußen in der staubigen Geröllwüste ein paar Satelliten-Ausbildungseinrichtungen angelegt. Fernab von Salt Lake hat die Gegend die Anmutung eines Kolonialplaneten und ist damit die perfekte Kulisse für die Übung außerirdischer Kampfeinsätze. Der Zugbus bringt uns zum Truppenübungsplatz 38, der Nachbildung einer typischen Kolonialstadt mit einem teilweisen Übungsaufbau einer Terraformingstation. Als wir in die Einrichtung einfahren, erheben die Ausbilder sich von ihren Sitzen und nehmen im Gang des Busses Absprunghaltung ein.

»Zug auf!«, rufen sie. Die Rekruten erheben sich von den Klappsitzen. Sie stellen sich mit dem Gewehr in der Hand im Gang auf und schließen die Helmvisiere.

»Ausrüstungskontrolle!«

Ich beobachte aufmerksam, wie die Rekruten gegenseitig ihre Rüstungen kontrollieren. Die Ausbilder haben ihre Sache gut gemacht. Die Rekruten haben den richtigen Ablauf drauf und sind schnell und gründlich.

»Waffen laden!«

Alle dreiunddreißig Rekruten betätigen die Gewehrverschlüsse und laden simulierte Explosivgas-Patronen vom Kaliber 15 mm in die Kammer. Diese Übungsmunition besteht aus einem Computermodul und einer Kartusche mit Kohlendioxid, das in den Gaszylinder des Kolbens gepresst wird, um den Rückstoß des echten Gewehrs M-90 zu simulieren. Ich erhebe mich vom Sitz, kontrolliere schnell die Ausrüstung und lade dann auch eine Patrone in die Kammer. Außer dem M-90 habe ich noch eine Pistole am Mann – wie bei einer echten Gefechtslandung im Einsatz gegen die Lankies. Aber ich vermisse die Administratorkonsole, die seit einem halben Jahrzehnt mein ständiger Begleiter bei Flotteneinsätzen gewesen ist. Ohne sie habe ich das Gefühl, dass mir etwas fehlt.

Schließlich hält der Bus im Zentrum der Kolonial-Übungsstadt an. Die Heckklappe öffnet sich – nicht mit dem hydraulischen Wimmern einer von Stellmotoren angetriebenen Schiffsluke, sondern mit dem Zischen pneumatischer Zylinder. Dann stürmt der Zug, angeführt von den Ausbildern, in den sonnigen Apriltag hinaus. Ich bleibe für einen Moment in der offenen Heckluke stehen und beobachte die Leute beim weiteren Vorgehen. Sie teilen sich in Gruppen und Schützenteams auf und nehmen dann lehrbuchmäßig Deckungspositionen ein. Das Datendisplay auf meinem Visier zeigt, dass der gesamte Zug ausschwärmt und eine Rundumsicherung um das »Landungsschiff« vornimmt.

Bei einer realen Gefechtsfeld-Dislozierung würde ich als dienstältester Unteroffizier des Zugs Gruppe Eins anführen. Bei Übungen habe ich das anfangs auch gemacht, um ein Gefühl für die Rekruten und meine Ausbilder zu bekommen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die Ausbilder alles im Griff hatten, beschränkte ich mich auf eine Rolle als Beobachter im Hintergrund. Ich hatte nämlich festgestellt, dass alle zu sehr auf mich fixiert waren. Ich war schon im Kampfeinsatz gegen die SRA und die Lankies, zwei meiner drei Ausbilder aber nicht. Deshalb war es nur natürlich, dass sie sich an mir ein Beispiel nehmen wollten. Meine Rekruten und Sergeants müssen aber in der Lage sein, selbstständig zu handeln. Also gehe ich, während der Zug in der Übungsstadt ausschwärmt, zur Operationszentrale der Trainingsanlage, die aus einem kleinen Bunker im Zentrum der Einrichtung besteht. Der Computer erkennt meine elektronische Signatur, öffnet das Panzerschott für mich, und ich betrete das Gebäude.

Die Operationszentrale besteht aus zwei Räumen, die mit Holobildschirmen und Computerkonsolen angefüllt sind. Dann gibt es noch ein paar Stühle mit Rückenlehnen aus einem Netzmaterial, das speziell für Soldaten im Kampfanzug entwickelt wurde. Ich lasse mich auf eine Sitzgelegenheit fallen und schalte die Displays und Konsolen vor mir ein. Die Einrichtung ist mit optischen und Datensensoren förmlich gespickt, und ich kann die Angehörigen des Zugs praktisch aus jeder Perspektive überwachen. Ihre Anzugscomputer sind mit dem autonomen TacLink-Netzwerk der Anlage gekoppelt; so kann ich nicht nur sehen und hören, was auch sie sehen und hören, sondern ich kann für sie auch noch andere Dinge simulieren. Die Anlage ist eine riesige Simulator-Bühne, und ich bin der Regisseur. Wenn sie gegen eine Rotte von SRA-Landungsschiffen und eine Kompanie russischer Marines kämpfen sollen, kann ich das simulieren, und das Szenario wird dann auf den Displays und in den Headphones der Leute real. Aber bei dieser Übung geht es nicht um unsere alten sino-russischen Feinde. Heute steht die Bekämpfung von Lankies auf dem Plan. Also bekommen sie auch Lankies.

Ich kontrolliere das taktische Display und öffne den Gruppenführer-Kanal.

»Gruppenführer, Abschnittsverteidigung vorbereiten. Der wahrscheinliche Bedrohungsvektor ist eins-acht-null Grad.«

Die Gruppen-Sergeants senden ihre Bestätigungen. Der Zug hat beschlossen, auf dem Dach der Terraformingstation Stellung zu beziehen. Es ragt fünfundzwanzig Meter über den Wüstenboden auf, und man hat dort oben ein ausgezeichnetes Schussfeld. Im Kampf gegen die SRA hätte man sich in einer so exponierten Position Luftangriffen oder Artilleriebeschuss ausgesetzt. Bei Lankies kommt es aber auf ein möglichst großes Blick- und Schussfeld an. Es gibt kaum einen Spielraum für Fehler beim Kampf gegen Kreaturen, die einen Kilometer in weniger als einer Minute zurücklegen können.

Ich überprüfe die optischen Parameter, die ich an den Zug sende: Simuliert wird der dunkle, regnerische Himmel einer Kolonialwelt, deren atmosphärischer Kohlendioxidgehalt gegen einen entsprechend hohen Sauerstoffanteil ausgetauscht wird. Die Rekruten und ihre Ausbilder wissen das nicht – aber das Szenario, mit dem ich sie heute konfrontiere, ist eine Neuauflage unseres Erstkontakts mit den Lankies, der vor mittlerweile fast sieben Jahren auf einem entlegenen Planeten namens Willoughby stattfand. Eigentlich ist es ein sonniger Wüstentag. Mit den geschlossenen Visieren und den klimageregelten Panzeranzügen ist mein Ausbildungszug in diesem Moment aber auf Willoughby. Die Leute bekommen ihre visuellen und akustischen Eindrücke quasi vorgekaut.

Sie wissen alle, dass es sich nur um eine Simulation handelt; dennoch sehe ich, dass der Herzschlag der Leute sich deutlich beschleunigt, als ich den ersten Lanky aus den Nebelschwaden im Westen heraustreten und mit langsamen, donnernden Schritten Richtung Terraformer stampfen lasse. Ein fünfundzwanzig Meter großer Koloss mit regennasser Haut im Farbton »Eierschale«. Mit so dürren Gliedmaßen, dass sie kaum imstande zu sein scheinen, das Ding zu tragen, und mit Gelenken, die nach unserer anatomischen Prämisse überhaupt nicht funktionieren dürften. Selbst mit Waffen, die für ihre Bekämpfung geeignet sind, sind sie furchterregende Gegner, die einem alten Horrorfilm entsprungen zu sein scheinen. Ich schaudere bei dem Gedanken, dass wir an jenem Tag völlig unvorbereitet in den Kampf gegen sie zogen. Wir hatten keine Ahnung, was da auf uns zukommen würde, und unsere Waffen waren nicht ansatzweise dafür konzipiert, so große und zähe Gegner zu töten.

Der Zug formiert sich auf dem Dach zu einer langen Schützenlinie. Das ist die neue Doktrin zur Bekämpfung von Lankies im Stellungskampf. Die Gruppenführer erteilen mit lauter Stimme Befehle, und dann nehmen die Gruppen ihre Positionen ein. Sie machen das gar nicht einmal schlecht für einen Haufen Jungspunde, die noch vor elf Wochen militärisch unbeleckte Zivilisten waren. In einem regulären Schützenzug der Rauminfanterie wäre Gruppe Drei die Gruppe mit der schweren Bewaffnung und würde nun zwei Maschinenkanonen mit Magazinzuführung an den Flanken des Zugs aufstellen. Aber unser Ausbildungszug ist noch nicht an diesen Waffen ausgebildet worden. Die Leute sind bisher nur mit dem halb automatischen Anti-GFO-Gewehr M-90 vertraut. »GFO« steht für »Großer Feindlicher Organismus« und ist die neue taktische Abkürzung für Lankies. Während der simulierte Lanky auf die Übungs-Terraformingstation zustapft, markieren alle Zielerfassungslaser die sich nähernde Kreatur mit einem Schwarm grüner Punkte, die nur auf den Helmvisier-Displays sichtbar sind.

»Alle Gruppen, auf meinen Befehl«, ruft Sergeant Fisher. »Beschuss auf die Körpermitte. Keine Munition verschwenden. Drei, zwei, eins, Feuer!«

Der Zug eröffnet mehr oder weniger gleichzeitig das Feuer, und es ertönt ein Stakkato von Gewehrschüssen. Die neuen M-90 sind kompakter und leichter als die alten doppelläufigen M-80 und mit ihrer höheren Kadenz viel wirkungsvoller; dafür sind sie aber auch deutlich lauter. Auf den letzten Drücker, kurz bevor der Sergeant den Feuerbefehl erteilt, erlaube ich mir einen kleinen Scherz: Ich veranlasse den Lanky, den Kopf zu senken, sodass er mit dem massiven knochenschildartigen Vorsprung am Kopf den größten Teil des Oberkörpers abschirmt. Dreiunddreißig simulierte Explosivgasprojektile fliegen vom Dach los. Die meisten zerbröseln am Kopfschild des Lankies und prallen an ihm ab wie Kieselsteine, die gegen eine Betonwand geworfen wurden. Der Lanky stößt ein lautes Heulen aus, schüttelt den Kopf und marschiert unbeirrt weiter. Wenn sie Tempo machen, bewegen sie sich mit raumgreifenden Schritten, bei denen sie leicht Schrittweiten von zehn Metern erreichen. Und die dreihundert Meter zwischen dem Terraforming-Gebäude und dem Lanky verkürzen sich auf zweihundert, bevor der Zug die nächste Salve abfeuert.

Diesmal lasse ich den Lanky ins Abwehrfeuer laufen. Fast drei Dutzend Projektile treffen den Lanky in der Körpermitte, und die Brust der Kreatur wölbt sich vor und explodiert mit einem schmatzenden gedämpften Knall. Der Lanky bleibt noch einen Augenblick lang stehen, doch dann bricht das Ding ein und fällt mit sich verheddernden Gliedmaßen schwer auf den Boden. Die Soldaten des Zugs jubeln über ihren Erfolg.

Die neuen Gewehre verschießen auch neue Munition, die von der F&E-Abteilung auf dem Testgelände von Aberdeen entwickelt wurde. Da uns nach der Schlacht um die Erde im letzten Jahr Dutzende Lanky-Kadaver zur Verfügung standen, hatte F&E auch keinen Mangel an ballistischem Testmaterial. Die Lanky-Haut ist dick und unglaublich zäh – sogar die Hälfte der alten panzerbrechenden Projektile unserer Maschinenkanonen war daran abgeprallt – , aber sie ist nicht undurchdringlich. Wie sich herausstellte, ist der Beschuss eines Lankies mit Granaten und Nadelgeschossen praktisch wirkungslos. Die neue Munition ist aber echtes Teufelszeug: Unterkaliber-Treibspiegelmunition, die wie Injektionsnadeln funktioniert. Sie trifft den Lanky, perforiert die Haut, setzt einen Liter Explosivgas frei und zündet die ganze Chose. Der Lanky vor dem Terraformer rollt auf die Seite und bleibt mit von ein paar Litern aerosoliertem Sprengstoff zerfetztem Oberkörper reglos liegen. Ich habe noch nie gesehen, was ein solches Geschoss bei einem Menschen anrichtet, und ich werde das hoffentlich auch niemals sehen. Wenn man bedenkt, dass diese Munition einen Hundert-Tonnen-Lanky schon mit ein paar gut platzierten Schüssen umhauen kann …

Zumindest in der Theorie, sage ich mir. Wir haben die neue Munition zwar an Lanky-Kadavern getestet, aber wir hatten noch keine Gelegenheit, sie auch im Kampf einzusetzen. Unsere Annahmen basieren bislang auf dem Beschuss von totem Fleisch. Aber wenn die Gasmunition einen toten Lanky derart zerfleischt, habe ich keinen Grund zu der Annahme, dass es sich bei einem lebendigen Exemplar anders verhalten würde.

Die Soldaten auf dem Dach bejubeln noch ihren Sieg, als ich die nächste Welle losschicke. Die Jubelrufe verhallen, als sie die entfernten, donnernden Schritte im nebligen Dunst hören. Wieder baue ich eine kleine Schikane ein: Als dieses Szenario vor über sechs Jahren Realität für mich war, bestand die zweite Welle aus drei Lankies. Wir waren damals nur eine Gruppe, hatten nur Nadelgeschossgewehre und somit nicht die geringste Chance, diese Dinger am Abriss des Terraformers zu hindern. Weil diese Soldaten aber ein ganzer Zug und auch viel besser bewaffnet sind, schicke ich nicht drei, sondern sechs weitere Lankies rein. Ich will es ein bisschen spannend machen.

Die Gruppenführer rufen wieder ihre Befehle, und der Zug eröffnet das Feuer auf die Neuankömmlinge. Ich studiere die Kameraübertragungen und das taktische Display, während sie die Schützenlinie neu formieren und Teams zur Bekämpfung der einzelnen Lankies bilden. Sie handeln ganz nach Vorschrift. Zwei Schützenteams pro Gruppe, drei Gruppen pro Zug, vier Gewehre pro Lanky und fünf Schuss für das Gewehr, bevor nachgeladen werden muss. Ich lasse die Lankies mit der schnellsten uns bekannten Geschwindigkeit vorrücken – einen Kilometer pro Minute. Das bedeutet, dass der Zug sich kaum einen Fehler leisten darf. Die alarmierten und kampfbereiten Lankies rücken mit gesenkten Kopfschilden vor und schütteln heftig die Köpfe, als ob sie durch einen Hagelsturm gingen, während der Zug sie unter Beschuss nimmt. Die Kopfschilde sind zu massiv, als dass man ihnen mit Handfeuerwaffen etwas anhaben könnte; selbst panzerbrechende MARS-Raketen zerbröseln daran, und die meisten Gewehrprojektile verpuffen in kleinen Wolken aerosolierender Gase.

»Auf die Gelenke zielen«, ruft Sergeant Fisher auf seinem Gruppenkanal. Die Rekruten verlagern den Beschuss, aber viele Schüsse verfehlen die im Verhältnis zum Kopf viel kleineren Gelenke der Lanky-Leiber.

Doch nicht so leicht wie ein unbewegliches Ziel, das nicht auf einen zustürmt, was?, sage ich mir und lächele insgeheim. Jeder einzelne dieser Rekruten kann mit diesen computerisierten Gewehren auf fünfhundert Meter ein Ziel von der Größe eines Kürbisses treffen. Das Zielen fällt einem jedoch viel schwerer, wenn man Todesangst hat und außer Atem ist.

Die Lankies marschieren mit gesenkten Köpfen ins Gewehrfeuer. Projektile zerbersten an ihren Schilden, und Splitter wirbeln den Staub vor ihren dreizehigen Füßen auf. Je näher sie dem Terraformer kommen, desto präziser wird auch das Gewehrfeuer der drei Gruppen. Bei zweihundert Metern fällt ein Lanky mit einem Heulen und steht dann nicht mehr auf; die Beingelenke wurden ihm durch ein halbes Dutzend Explosivgasgeschosse zertrümmert. Bei hundert Metern geht ein weiterer schreiend und mit schlegelnden Gliedmaßen zu Boden, und Nummer drei erwischt es kurz vor dem Terraformer. Die anderen drei erreichen Sekunden später das Gebäude. Zwei rennen einfach gegen die Wand, und simulierte Trümmerstücke fliegen durch die Gegend. Der Dritte hakt sich mit den Fingern in der Dachkante ein und zieht sich hoch. Die Gruppen weichen vor dem Lanky zurück. Sie schießen noch immer gezielt, aber sie haben den Rückzug etwas zu spät angetreten. Die Lankies können sich viel schneller bewegen, als die Größe und die bizarre Physiologie es vermuten lassen. Der Lanky holt mit einem dürren Arm aus und wischt fast beiläufig über den Abschnitt, der von Gruppe Zwei gehalten wird. Sechs der zehn Symbole auf dem taktischen Display erlöschen, als der Lanky mit einem simulierten tödlichen Hieb innerhalb eines Wimpernschlags über die Hälfte der Gruppe auslöscht. Da der Lanky aber letztlich nur im Computer existiert, werden den »toten« Soldaten nicht mit einer Aufprallenergie von 1000000 Joule fast alle Knochen im Leib gebrochen. Stattdessen unterbrechen die Anzugscomputer nur die optische und akustische Übertragung und verriegeln die geschlossenen Visiere, sodass die Leute blind und taub im Anzug stecken; zudem werden die Servo-unterstützten Gelenke der Panzeranzüge deaktiviert. Die sechs »toten« Rekruten fallen dort, wo sie den simulierten Tod gestorben sind – und sie werden auch dort bleiben, bis ich dem Computer sage, dass er sie wiederbeleben soll.

Der Rest des Zuges wendet die vorschriftsmäßige Deckung-Rückzug-Taktik an und zieht sich hastig über das weitläufige Dach zurück, bis die Leute die einzige Zugangstür zum Inneren der Terraformingstation erreichen. Auf diese kurze Distanz entfaltet das Feuer aus den M-90ern eine verheerende Wirkung. Obwohl die meisten Gasprojektile auf den undurchdringlichen Kopfschild des Lankies treffen, kommen ein paar Projektile durch und reißen Stücke aus den Gliedmaßen heraus. Schließlich treffen drei oder vier Geschosse den Lanky fast gleichzeitig im Oberkörper und explodieren. Das Alien stößt ein ohrenbetäubendes Heulen aus und rutscht tödlich getroffen vom Dach hinunter. Dann entscheidet der Computer, dass die zwei anderen Lankies die strukturelle Integrität des Gebäudes stark genug verletzt haben, um die Vorderseite zum Einsturz zu bringen. Der halbe Zug befindet sich bereits im verstärkten Treppenhaus, aber die andere Hälfte ist noch auf dem Dach. Das kippt plötzlich um siebenundzwanzig Grad, und ein Dutzend weiterer Symbole erlischt auf dem taktischen Display, als der Computer die von ihnen dargestellten Personen für tot erklärt.

Die Simulation ist nahezu perfekt. Alle sensorischen Details sind absolut authentisch – das Heulen der Lankies und der Donnerhall ihrer Schritte, der bleierne Himmel, die Regenschauer und der dichte Nebel einer von Lankies besetzten Welt. Ich habe keinen Zweifel, dass die Rekruten wirklich das Gefühl haben, sich auf einer Kolonialwelt zu befinden und einen gerechten Krieg für die Menschheit zu führen. Aber sie ist eben nur nahezu perfekt. Ich habe dieses Szenario schon oft in der Wirklichkeit erlebt, deshalb weiß ich auch, woran es der Simulation fehlt. Der Computer kann ein noch so reales Szenario für die Rekruten erzeugen und die Wüste von Utah in eine weit entfernte Lanky-Welt verwandeln, ohne dass die Prozessoren virtuell ins Schwitzen kommen – die Leute wissen, dass sie de facto nicht in Gefahr sind. Sie schauen eben nicht im Bewusstsein zu diesem aschgrauen Himmel auf, dass die Heimat dreißig Lichtjahre entfernt ist und dass sie die einzigen Menschen im gesamten Sternensystem sind, über ein Dutzend Lichtjahre von den nächsten Angehörigen ihrer eigenen Spezies getrennt. Sie haben nicht diese kalte Gewissheit im Hinterkopf, dass im Fall einer Niederlage niemand da sein wird, der die Hundemarken einsammelt und dass die Menschheit vielleicht erst in Jahrzehnten von ihrem Tod erfahren wird. Falls überhaupt.

Die übrigen Gruppen tun ihr Bestes, um die Situation in den Griff zu bekommen. Gruppe Eins geht in den Kellerbunker und verlässt ihn wieder durch den Notausgang an der Ostseite des Terraformers. Gruppe Drei zieht sich zur Rückseite des Gebäudes zurück und fordert vom imaginären Träger in der Umlaufbahn Luftunterstützung an. Ich beschließe, die Hürden für den Zug noch etwas höher zu legen.

»Charlie Eins-Neun, negativ für Luftunterstützung. Alle Einheiten sind im Einsatz.«

Der Sergeant von Gruppe Drei flucht auf dem Gruppenkanal und sendet eine Antwort.

»Verstanden, ENTERPRISE TacOps. Bitte um leichten kinetischen Schlag auf die markierten Koordinaten.«

Ich nehme die Anforderung zur Kenntnis und spiele zunächst mit dem Gedanken, sie ebenfalls abzulehnen. Doch dann sage ich mir, dass ich dieser Ausbildungs-Gruppe heute schon genug Bälle mit Effet zugespielt habe. Aber eine kleine letzte Hürde muss doch noch sein.

»Charlie Eins-Neun, Sensor-Array der ENTERPRISE ist im Gefecht beschädigt worden. Geben Sie mir eine Zehn-Sekunden-Zielmarkierung, laden Sie die ZRP-Daten hoch, und ich schicke Ihnen zwei kinetische Sprengköpfe.«

»TacOps, verstanden. Stand-by für ZRP-Daten.«

Ich habe eine manuelle Zielmarkierung verlangt. Das heißt, dass jemand nach draußen gehen muss. Und dann muss er die Gruppe der Lankies, die die Station einreißt, mit bloßem Auge beobachten und von den Helmsensoren erfassen lassen.

Auf dem taktischen Display sehe ich, dass ein Schützenteam von Gruppe Drei das Gebäude durch die Tür des Notausgangs an der Rückseite der Terraformingstation verlässt. Der Ausgang befindet sich am anderen Ende des Teils, den die Lankies niederreißen. Ich muss grinsen, als ich sehe, dass die Symbole sich mit einer so hohen Geschwindigkeit bewegen, die ein Soldat im Kampfanzug zu Fuß niemals erreichen kann. Die Übungsstation entspricht in allen Einzelheiten dem Vorbild, bis hin zu Elektro-Quads für Patrouillen an der Peripherie der Anlage. Ich wechsle auf die optische Übertragung und sehe zwei Soldaten auf jedem Fahrzeug – einer auf dem Fahrersitz, der andere mit dem Rücken zu ihm auf dem Sozius. Wobei diese Soldaten Beifahrer »mit erweitertem Aufgabenbereich« sind …

Die Quads beschleunigen und fahren an der Längsseite des Gebäudes entlang. Etwa in der Mitte biegen sie in die Wüste ab und umfahren die entgegengesetzte Seite des Gebäudes in einem großen Bogen, um nicht in die unmittelbare Nähe der Lankies zu gelangen. Dann aktivieren die Leute die im Helm integrierten Marker und setzen Zielmarkierungen in der Gruppe der Lankies, die gerade die Vorderseite des Gebäudes einreißen.

»TacOps, ZRP-Daten werden hochgeladen.«

»Charlie Eins-Neun, wir empfangen gute Daten«, erwidere ich. »Stand-by für kinetischen Start in sieben-null Sekunden. Das Zielgebiet räumen.«

Die Lankies scheinen unsere Fahrzeuge irgendwie zu spüren. Sie reagieren viel eher auf etwas mit einem Elektromotor oder einem Fusionsreaktor als auf Soldaten im Kampfanzug. Zwei Lankies bemerken die Quads, stellen ihre Tätigkeit ein und nehmen die Verfolgung der Allradfahrzeuge auf. Die Aliens setzen ihre enorme Masse in Bewegung. Zuerst langsam und dann mit immer weiteren Schritten und zunehmender Geschwindigkeit. Die Fahrer der Quads geben Gas und fahren in die Wüste hinaus. Trotz Höchstgeschwindigkeit können sie kaum einen Vorsprung vor den Lankies herausholen. Die Beifahrer leeren die Magazine ihrer Gewehre in Richtung der Verfolger. Auf einem kleinen Fahrzeug, das mit Höchstgeschwindigkeit über Stock und Stein hoppelt, ist der Zielerfassungscomputer auch keine große Hilfe. Die meisten Projektile gehen fehl oder wirbeln vor oder neben den Lankies Staub auf. Doch dann wird der nächste Lanky von ein paar Geschossen getroffen und bricht in vollem Lauf in der unteren linken Extremität ein. Der Lanky fällt auf den Wüstenboden und wirbelt eine riesige Staub- und Kieselsteinwolke auf.

Für Rekruten ist das ein ganz guter Plan, und die Ausführung geht auch in Ordnung. Aber die Sache hat trotzdem einen Haken – die Lankies teilen sich auf. Die beiden Verfolger der Quads haben sich von der Zielmarkierung für den kinetischen Schlag entfernt. Als die Railgun-Granate des simulierten Trägers ENTERPRISE eine Minute später vor der Terraformingstation einschlägt, zerstört der Viertel-Tonnen-Gefechtskopf die ohnehin schon ruinierte Fassade der Station und tötet die zwei Lankies, die sich einen Weg durch die Trümmer gebahnt haben. Der noch verbliebene Lanky, der in vollem Lauf die zwei Quads verfolgt, bleibt stehen und dreht sich um. Er ist schon über fünfhundert Meter von der Station entfernt und hat vom kinetischen Schlag nichts abbekommen. Die zwei Quads bremsen, und die Schützen auf dem Sozius laden ihre Waffen nach. Dann wagt Gruppe Eins sich aus dem Schutz des Kellerbunkers hervor und bildet an der Ostflanke des Gebäudes eine Schützenlinie. Der Lanky scheint nicht zu wissen, was er nun tun soll. Er wird aber gleich merken, was es bedeutet, zwischen Hammer und Amboss zu stecken. Die Quad-Teams setzen sich wieder in Bewegung und fahren einen großen Bogen. Dann wird der Lanky aus drei Richtungen unter Beschuss genommen. Ich stelle zufrieden fest, wie der konzentrierte Beschuss den Lanky trifft und ihn wie ein Alien-Äquivalent eines irdischen Mammutbaums fällt.

Als der Staub sich wieder legt, hat der Zug achtzehn seiner dreiunddreißig Angehörigen verloren; er wurde also um mehr als die Hälfte dezimiert. Aber er hat alle sechs Lanky-Angreifer vernichtet! Der Terraformer, den sie verteidigen sollten, ist halb zerstört – natürlich nur in der Simulation auf den Helmvisieren und nicht in Wirklichkeit –, aber ich habe ohnehin nicht einkalkuliert, dass das Gebäude diesen Kampf überstehen würde, also gibt das bei der Bewertung der Simulation auch keinen Punktabzug. Im Feld wäre es für einen erfahrenen Rauminfanterie-Zug allerdings einer Niederlage gleichgekommen, wenn die Hälfte des Zugs gefallen und die Anlage zerstört worden ist. Doch sind das Rekruten, noch nicht einmal voll ausgebildete Soldaten, die sich vor kaum einem Vierteljahr vom Zivilleben verabschiedet haben. Alles in allem haben sie sich tapfer geschlagen. Dennoch frage ich mich, wie viele von ihnen ich einem grausamen und überaus realen Tod auf irgendeiner Kolonialwelt überantworten würde, wenn ich diesen Zug die Grundausbildung bestehen lasse.

Die Vitalzeichen des Zuges sind gut, und viele sind wegen des Sieges in Hochstimmung. Zweifellos glauben sie, das sei schon das Ende der Abschlussübung – aber es ist erst der Anfang.

»Gruppenführer, Gruppen sammeln und Rückmarsch vorbereiten«, funke ich auf dem Zugkanal und entsperre die Anzugsgelenke der »toten« Soldaten. Dann aktualisiere ich auf TacLink die Koordinaten für den nächsten Wegepunkt. Der ist allerdings nicht der Stellplatz des Busses, mit dem sie gekommen sind, sondern der Parkplatz vor dem Zuggebäude in NACRD Orem – vierzig Kilometer im Nordosten.

Ich lächle, als ich das Stöhnen und die gemurmelten Flüche auf den verschiedenen Gruppenkanälen höre. Ich habe selbst schon in ihren Schuhen gesteckt, und ich habe meine Ausbilder genauso gehasst, wie diese Rekruten jetzt mich hassen. Aber die besiedelte Galaxis hält noch viel größere Erschwernisse bereit als einen überraschenden Vierzigkilometermarsch in voller Kampfausrüstung. Und ich würde ihnen auch keinen Gefallen tun, wenn ich es ihnen zu leicht machen und sie in diesem Glauben lassen würde. Sie werden die ganze Woche draußen im Feld sein, und sie werden das wohl auch hassen, aber sie werden dadurch zu besseren Soldaten. Und vielleicht werden sie auch lange genug leben, um mir eines Tages dankbar dafür zu sein.

3

ABSCHLUSSTAG

Am Abschlusstag ist das Wetter genauso lausig wie unsere Chancen gegen die Lankies. Statt einer großen, pompösen Zeremonie auf dem Exerzierplatz findet in einem der großen Fahrzeughangars eine »abgespeckte« Abschlussfeier statt. Jeder überlebende Angehörige des Zugs hat die Grundausbildung bestanden – anders als bei der, die ich kannte. Zur Feierlichkeit sind Familienangehörige angereist, was definitiv im Gegensatz zur alten Grundausbildung steht. Wir treten vor dem Kommandeur des Ausbildungsbataillons an, und der hält eine lange Rede. Ich stehe in Ausbilderuniform neben dem Zugführer und versuche einen schneidigen und soldatischen Eindruck zu machen, während ich gegen einen Kater ankämpfe. Der ist die Quittung für die Party, die die Ausbilder gestern Abend anlässlich des Abschlusses der Grundausbildung gefeiert haben.

»Ich schwöre und gelobe, dem Nordamerikanischen Commonwealth treu zu dienen und seine Gesetze und die Freiheit seiner Bürger tapfer zu verteidigen.«

Die Rekruten wiederholen den Fahneneid mit lauten und klaren Stimmen, die in dem großen Hangar widerhallen. Und sie sehen auch alle so aus, als ob es ihnen ernst damit wäre. Ich habe den gleichen Eid vor über sechs Jahren gesprochen und dann noch einmal im letzten Jahr bei meiner weiteren Verpflichtung. Es muss mir wohl auch ernst damit gewesen sein, denn ich bin noch immer hier und trage die Uniform – trotz allem, was seitdem geschehen ist.

»Willkommen bei den Streitkräften des Nordamerikanischen Commonwealth«, sagt der Bataillonskommandeur, und die Rekruten und ihre Angehörigen jubeln. Meine Ausbilder, die in Rührt-euch-Stellung vor ihren Gruppen stehen, haben diese stoische Miene aufgesetzt, die für Drill-Sergeants typisch ist.

»Zug-Sergeants, übernehmen Sie Ihre Züge und entlassen Sie sie in die Freiheit.«

Ich trete vor den Zug, und meine Ausbilder nehmen Haltung an.

»Achtung!«

Der Zug reagiert mit eingeübter Präzision. Wenn die Leute auch noch längst keine vollwertigen Infanteristen sind, so wirken sie doch zumindest nach einem Vierteljahr täglichen Exerzierens bereits wie Soldaten.

»Ausbildungszug 1526 – gut gemacht«, sage ich mit meiner Zug-Sergeant-Stimme. »Die Getränke gehen heute Abend aufs Haus. Ich wünsche euch einen schönen Urlaub, Soldaten. Ihr habt ihn euch verdient. Zug weg-treten.«

Ich verfolge, wie die Formation sich auflöst und die Rekruten von Zug 1526 – keine Zivilisten mehr, aber auch noch keine voll ausgebildeten und einsatzfähigen Soldaten – zu ihren Familien rennen. Etwa ein Drittel der Leute bleiben, wo sie sind, und unterhalten sich. Das sind die Rekruten, deren Angehörige die Reise nicht antreten konnten oder wollten. Das Image des neuen und reformierten Militärs nach dem Exodus hat sich in dem einen Jahr seit der Schlacht um die Erde deutlich verbessert. Dennoch betrachten noch immer viele Leute die Streitkräfte als Unterdrückungsapparat, als Schließer und Aufseher eines riesigen Gulags, in den das ganze Land sich verwandelt hat. Als ehemaliger PRC-Bewohner, der auch über das volle Ausmaß der Feigheit und des Verrats der alten Führung informiert war, kann ich es den Leuten nicht einmal verdenken, wenn sie das Militär noch immer hassen.

Meine drei Ausbilder kommen zu mir herüber, und dann gehen wir gemeinsam zur Schar der Rekruten und Familienangehörigen. Wir nehmen uns die Zeit, Hände zu schütteln und Fragen zu beantworten. Dann gesellen wir uns noch zu einem Fotoshooting dazu, bei dem die Zivilisten Bilder von ihren Liebsten machen, wie sie mit ihren Ausbildern Hände schütteln.

»Dreißig Minuten«, sage ich meinen Sergeants. »Dann bittet sie höflich, wieder in die Busse einzusteigen. Eine Stunde ›Haus der offenen Tür‹ im Zuggebäude. Die Versetzungen in die jeweiligen Einheiten geben wir nach dem Mittagessen bekannt.«

»Verstanden«, erwidert Sergeant Lear. »Und dann brauche ich erst mal einen gottverdammten Drink.«

Ich lasse den Blick über die durchmischte Menge der Rekruten und ihrer Familien schweifen und frage mich, wann wohl die ersten Namen auf Verlustmeldungen über das MilNet reinkommen.

»Ich auch«, sage ich.

Am späten Nachmittag, als die ehemaligen Rekruten ihre Urlaubswoche nach der Grundausbildung angetreten haben, bin ich wieder im Büro, schließe Berichte ab und unterschreibe Versetzungen. Wie in den letzten zwei Ausbildungszyklen ist das Verhältnis 40/40/20 für die Flotte, Rauminfanterie und die Heimatverteidigung. Wir haben viele Schiffe der Reserveflotte wieder reaktiviert. Sie müssen bemannt werden, und viele Rauminfanterie-Regimenter müssen nach dem Mars-Desaster wieder aufgefüllt werden. Da nun die Lazarus-Brigade die Hauptlast bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in den PRC trägt, ist die Heimatverteidigung hier eher überflüssig; also bekommt sie fürs Erste auch nur Wartungspersonal.

Trotz meiner geschärften Veteranen-Sinne bemerke ich Sergeant Lear erst, als sie sich räuspert. Ich blicke vom Bildschirm auf.

»Ich dachte, Sie wären schon im Urlaub, Lear. Wusste gar nicht, dass außer mir noch jemand hier ist.«

»Nach Montana muss ich zweimal mit dem Shuttle umsteigen«, sagt sie. »Wenn ich mittags aufbreche, sitze ich über Nacht in irgendeinem beschissenen Transitquartier fest. Ich werde morgen mit dem ersten Vogel von Salt Lake abfliegen.«

»Ja, diese Transitunterkünfte sind scheiße.«

Ich sehe sie erwartungsvoll an, aber sie kommt nicht ins Büro und setzt sich nicht auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.

»Was liegt an?«, frage ich. »Sind Sie auf einen Ausbilderposten für den Grundausbildungszyklus 1601 scharf?«

Sergeant Lear schüttelt mit einem knappen Lächeln den Kopf.

»Überhaupt nicht. Sie, äh, möchten Sie vielleicht auf einen Drink in den Unteroffiziersklub kommen, falls Sie nicht zu beschäftigt sind? Es ist schon nach 17:00 Uhr.«

»Stimmt«, sage ich. 17:00 ist die magische Stunde, zu der der Alkoholausschank beginnt – oder zumindest des Zeugs, das in einer Militäreinrichtung in einem finanziell klammen Land als Alkohol durchgeht. Bei meinem Eintritt in die Streitkräfte war die gute Verpflegung ein Anreiz, die Grundausbildung durchzuhalten. Heute jedoch, wo das Militär nicht mehr so wählerisch sein kann, sind die kulinarischen Standards etwas heruntergesetzt worden – um es mal euphemistisch auszudrücken.

Ich blicke wieder auf den Bildschirm, wo ein halbes Dutzend Versetzungen von Absolventen der Grundausbildung noch auf meine elektronische Signatur wartet. Ich könnte das jetzt abbrechen, aber dann müsste ich diesen langweiligen Prozess morgen von vorn beginnen und wahrscheinlich auch noch mit einem Kater.

»Wieso gehen Sie nicht schon mal vor und reservieren uns einen Tisch, Sergeant Lear? Werde wohl noch zehn Minuten für diesen Verwaltungsscheiß hier brauchen. Ich komme dann rüber, wenn ich fertig bin.«

»Verstanden«, sagt sie. Dann schlägt sie mit der flachen Hand auf den Türrahmen und geht. Ich lausche dem Geräusch ihrer Stiefelsohlen auf dem verschlissenen, aber sauberen Boden, während sie den Gang entlanggeht.

»Gut«, seufze ich und konzentriere mich mit einiger Willensanstrengung wieder auf den Bildschirm.

Als ich dann etwas später zu Sergeant Lears Tisch im Unteroffiziersklub gehe, hat sie schon zwei Flaschen Bier bereitgestellt. Ich nehme ihr gegenüber Platz und ziehe den Verschluss meiner Flasche ab. Sie sieht zu, wie ich einen Schluck nehme.

»Danke. Das habe ich jetzt gebraucht.«

»Keinen Bock auf eine Modenschau, was?«, fragt Lear.

»Keinen Bock auf so einen Quatsch«, erwidere ich, und sie lacht.

»Sie halten das alles für Quatsch?«

»Die Ausbildung? Nein. Natürlich nicht. Aber ich halte es für falsch, die Anfänger überstürzt in die regulären Streitkräfte zu übernehmen und ihnen damit das Gefühl zu vermitteln, keine Ahnung von dem ganzen Scheiß zu haben. In der kurzen Zeit, die wir haben, können wir ihnen gerade einmal beibringen, keine Gefahr für andere darzustellen. Dafür gibt es eine verdammte Parade zum Bestehen der Grundausbildung, und die Familien applaudieren auch noch. Bei dem ganzen Bohei müssen sie sich jetzt doch wie Superhelden vorkommen.«

»Sie haben sich aber ganz gut geschlagen«, sagt Sergeant Lear. »Sie wissen doch, was für Material wir dieser Tage von den PRC bekommen. Die meisten von ihnen wären vor dem Exodus allein schon an ihrer Einstellung gescheitert. Aber es gibt trotzdem ein paar zähe Typen in jeder Gruppe.«

»Zäh«, wiederhole ich. »Nach PRC-Kriterien ganz bestimmt. Zum Beispiel wissen sie, wie man einen Schlag einsteckt und ein Hydrocar klaut. Es erfordert aber eine andere Qualität von Zähigkeit, im Kampf zu bestehen, wenn man nur noch zehn Prozent Sauerstoff und drei MARS-Raketen hat und wenn ein halbes Dutzend Lankies im Anmarsch ist, um einen in den verdammten Staub zu stampfen.«

Sergeant Lear rutscht auf dem Sitz herum und wirft einen Blick auf das Etikett ihrer Bierflasche. Dann räuspert sie sich und sieht mich wieder an.

»Sergeant Grayson, ich wollte Sie um einen Gefallen bitten. Wäre es vielleicht möglich, dass Sie mir eine Empfehlung für meinen Versetzungsantrag schreiben?«

»Sie haben eine Versetzung beantragt? Wie viele Dienstzeiten haben Sie als Ausbilder schon hinter sich – drei?«

»Das war Nummer vier«, sagt sie. »Ich bin jetzt schon wieder ein ganzes Jahr dabei. Nach dieser Dienstzeit steht meine Beförderung zum Staff Sergeant an.«

»Also ein Dienstposten als Ausbildungsleiter«, sage ich. »Aber das wollen Sie nicht.«

Sie schüttelt den Kopf und nimmt noch einen Schluck aus der Flasche.

»Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass Sie eine Versetzung zu einer Kampfeinheit beantragt haben, Lear.«

Ich interpretiere ihr Achselzucken als eine Bestätigung.

»Shit«, sage ich. »Ich dachte, Sie hätten mehr Verstand. Sie wollen wieder zur Flotte zurück? Dienst auf einem Schiff tun? Sie sind doch bei der MP, oder?«

Sergeant Lear nickt. »Master-at-Arms.«

»Sind Sie noch ganz bei Trost? Sie wissen doch, wie viele Schiffe wir in den letzten anderthalb Jahren verloren haben.«

»Den Großteil der Flotte«, sagt sie.

»Den Großteil der Flotte«, wiederhole ich. »Und das sind fast alle guten Schiffe. Es werden jetzt schon fünfzig Jahre alte eingemottete Fregatten reaktiviert und mit Ersatzmannschaften und neuen Leuten bemannt, die noch nie eine Alcubierre-Transition durchgeführt haben. Und weil alle Atomsprengköpfe für die Orion-Raketen gebraucht werden, haben die meisten der alten Scheißeimer nicht einmal eine Raketenbewaffnung. Wollen Sie wirklich die frische Luft und die freien Wochenenden für den Wachdienst in einem lecken Relikt eintauschen, das in der Umlaufbahn Pirouetten dreht, nur um die Zivilisten am Boden zu beruhigen?«