Asmus Sempers Jugendland - Otto Ernst - E-Book

Asmus Sempers Jugendland E-Book

Otto Ernst

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Beschreibung

Autobiographische Beobachtung des Lebens eines kleinen heranwachsenden Jungens in Ottensen vor der Jahrhundertwende. Es sind die Kindheitserinnerungen Otto Ernsts, Ende des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts und es ist die Beschreibung einer längst vergangen Zeit, die aber aufgrund seiner realitätsnahen Darstellung sich plastisch vor dem Leser auftut und die er lebendiger den je werden läßt.

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Otto Ernst

   Asmus Sempers Jugendland

Inhaltsverzeichnis
Asmus Sempers Jugendland
Erstes Buch.
I. Kapitel
II. Kapitel
III. Kapitel.
IV. Kapitel.
V. Kapitel.
VI. Kapitel.
VII. Kapitel.
VIII. Kapitel.
IX. Kapitel.
X. Kapitel.
XI. Kapitel.
XII. Kapitel.
XIII. Kapitel.
XIV. Kapitel.
XV. Kapitel.
XVI. Kapitel.
XVII. Kapitel.
XVIII. Kapitel.
XIX. Kapitel.
XX. Kapitel.
Zweites Buch.
XXI. Kapitel.
XXII. Kapitel.
XXIII. Kapitel.
XXIV. Kapitel.
XXV. Kapitel.
XXVI. Kapitel.
XXVII. Kapitel.
XXVIII. Kapitel.
Drittes Buch.
XXX. Kapitel.
XXXI. Kapitel.
XXXII. Kapitel.
XXXIII. Kapitel.
XXXIV. Kapitel.
XXXV. Kapitel.
XXXVI. Kapitel.
XXXVII. Kapitel.
XXXVIII. Kapitel.

Her durch Wände und geschlossne Türen Schwebt ein Spiel von leisen, weichen Händen, Oft so zart – ich weiß nicht: ist's des Weltalls Tönend Schweigen, oder ist es Klingen? Ist es Klingen?

Klang es nicht wie längst verwehtes Leben? Ja, es rief wie erste Kindertage, War wie alter Ahnen leises Rufen, Die noch wachen in vergessnen Gräbern, In vergessnen Gräbern.

Meinen Enkel einst umhaucht mein Leben, Wie ein fernes Spiel von leisen Händen – Hörbar kaum, wie Traum von einem Klange, Wird es klingen durch verschlossne Türen – Durch verschlossne Türen.

Erstes Buch.

I. Kapitel

Von Asmussens Umgang mit Barbierbecken, Maurern, Porzellanfrauen, Drehorgeln und Raketen, insonderheit aber mit seinem Vater.

Wenn Asmus Semper mit seinen Gedanken immer weiter in die Vergangenheit zurückging, immer weiter, immer weiter, dann kam er zuletzt an einen Augenblick, da er in einem weißen Kleidchen auf dem Treppenabsatz gesessen und seine Mutter über das Geländer der Treppe hinweg mit einer Nachbarin geplaudert hatte. Darüber hinaus ging's nicht: es war seine früheste Erinnerung. Das war im Grunde sehr wenig; für Asmus Semper aber war es immerhin etwas. Jenen Augenblick umgab für alle Zeiten ein silbernes, luftiges Licht der Frühe, wie wir es sehen, wenn durch fallenden Regen die Sonne bricht – es war der Tagesanbruch seiner Seele.

Das nächste große Ereignis, das seine Spuren für immer in sein Gedächtnis grub, war ein Barbierbecken. Es hing über einer Tür an der Straße. Es funkelte herrlich, wenn der Wind es bewegte, und war wohl das Schönste, was es auf der Welt gab. Und eines Sonntags ging Ludwig Semper, der Vater, in das Haus mit dem herrlichen Becken hinein, und seinen Sohn Asmus trug er auf dem Arm. Ein Mann, der immerfort redete, legte Asmus die Hand auf den Kopf, und dann wischte er dem Vater einen weißen Schaum ins Gesicht. Wenn der Mann redete, sah ihn der Vater immer ganz ruhig mit seinen großen Augen an und sagte: hm! Und dann faßte der Mann den Vater bei der Nase und kratzte den Schaum wieder ab. Und als der Vater mit seinem Asmus wieder draußen war, kamen sie gleich auf einen Platz. Da war es sehr schön, weil es so frei war. Und da standen mehrere Männer in sauberen Röcken; mit denen sprach der Vater. Die Männer in sauberen Röcken waren auch schön, überhaupt war an dem Tage die ganze Welt wunderschön, weil überall Sonntag war.

Hierauf folgte in den Erinnerungen Asmussens ein großes schwarzes Loch, und dann sah er sich plötzlich auf einer Schubkarre sitzen, die sein Bruder Alfred vor sich herschob. Und als die Fahrt zu Ende war, fand sich Asmus in einem anderen Hause. Man war umgezogen.

In dieser Wohnung war es nun ganz herzlich. Gegenüber erschienen nämlich Männer, und die fingen an, ein großes vierkantiges Loch zu graben. Wagen mit lebendigen Pferden davor kamen und brachten die ausgegrabene Erde weg. Die Pferde scharrten mit den Hufen, bissen einander in den Nacken und schüttelten dann die Köpfe, daß das ganze Geschirr klirrte. Zu dieser Zeit faßte Asmus den festen Entschluß, Fuhrmann zu werden, wenn er groß wäre. Hoch oben auf dem Wagen sitzen und immerfort auf die Pferde losschlagen, das dünkte ihn das Schönste auf der Welt. Die Sache wurde aber noch viel hübscher. Es kamen Wagen voll roter Steine; wunderhübsch rot waren sie, und diese Steine wurden auseinandergepackt. O, was für eine Menge Steine! Das waren ja wohl tausend Stück oder vielleicht gar hundert! Es kam aber noch immer besser. Eines Tages kam ein Mann, schüttete weiße Steine in eine Grube, ließ kaltes Wasser darüber laufen, und alles fing an zu kochen! Der kleine Asmus drückte mit seinem Näschen fast die Fensterscheibe ein, so genau sah er zu. Und die Augen riß er auf – sperrangelweit. Und als er zufällig den Mann ansah, der Steine kochen konnte, da stand der da und sah ihn auch an und riß auch die Augen auf und lachte dann und nickte ihm zu. Asmus schämte sich und zog sich ins Zimmer zurück. Als dann aber einer von jenen Frühlingstagen kam, die zu allem Mut machen, ging er hinaus und kam dem Bauwerk immer näher, und als der Steinkocher den Finger in den Mund steckte und dann einen Knall hervorbrachte, wie wenn ein dicker Pfropfen aus einer Flasche fliegt, da waren sie von Stund an Freunde. Asmus sagte »Onkel Steinemann« und der Maurer sagte »Meister«. Der Maurer fragte: »Na, Meister, wo soll ich jetzt'n Stein hinlegen?« und dann sagte Asmus »da«, und nach Hause kam Asmus nur noch zu den Hauptmahlzeiten. »Nun bauen wir die Wohnstube!« rief er dann, wenn er zur Tür hereinkam.

Es ist ein Glück und ein Unglück, daß die Häuser einmal fertig werden. Für den Architekten und Baumeister Asmus Semper war es nur ein Unglück. Eines Tages stand ein düsterer viereckiger Steinhaufen, wo ehemals freie Luft und flimmerndes Licht gewesen war, und der Freund, der hundert Mal am Tage sein Pfropfen-Kunststück gemacht hatte, war verschwunden und kam nicht wieder. So klein das Herz des kleinen Asmus auch war – die Treulosigkeit des Maurers tat ihm doch weh.

Eigentlich war es aber nur Vergeltung für eigene Treulosigkeit. Um des Maurers willen hatte er seine alte Liebe schmählich verlassen. Diese alte Liebe waren eine alte zarte kleine Witwe und ihre köstlich blaugeblümte Kaffeekanne, die immer dampfend auf dem Tische stand und von Porzellan war wie ihre Besitzerin. Und nicht zu vergessen ein ganz feiner, friedlicher Aniskuchengeruch, der die ganze Wohnung durchdrang und in dem wir eigentlich das Band der Treue zu suchen haben, das Asmussens Herz in die Zauberkreise der Alten zurückzog. Als er aber die abgebrochenen Beziehungen wieder aufnehmen wollte und höchst vergnügt in die Tür trat, wurde er sehr ungnädig empfangen. Die alte kleine Frau war richtig eifersüchtig und putzte ihn gehörig herunter, weil er so lange nicht dagewesen wäre. Nun brauche er überhaupt nicht wiederzukommen. Asmus stand wie angedonnert. Aber er war nicht der Mann, sich einen Schimpf antun zu lassen: er brach in ein erschreckliches Gebrüll aus und rief: »Ich will wieder nach Hau–se – ich will wieder nach Hau–se!« Da holte die erschrockene Witwe eiligst zwei Aniskuchen herbei und drückte ihm in jede Hand einen. Asmus fand die Satisfaktion hinreichend; er biß hinein und aß die Kuchen mit den Tränen, die darauf fielen.

Dieser Nachbarin, die zur Linken wohnte, entsprach eine Nachbarin zur Rechten, eine große vierschrötige Maurersfrau mit einem Mannesgesicht, von der man mit größter Bestimmtheit erzählte, daß sie Tabak kaue. Asmus mochte diese Frau nicht leiden; er mußte immer nach der Backe sehen, hinter der der Tabak saß. Und als er eines Tages ganz richtig und deutlich »Der Postiljong von Longschümoh« gesagt hatte, da sprach die Frau zu seiner Mutter: »Frau Semper, das Kind ist für sein Alter viel zu klug und das ist nicht gut; Sie müssen ihm mehr Schläge geben.« Asmus hörte das und konnte ihr darin nicht beistimmen; auch erhöhte dieser hygienische Rat nicht seine Sympathien für die Maurerin. Als sie ihn aber eines Tages mit in ihre Küche nahm und ihm einen großen Apfel schenkte, da lief er eiligst zu seiner Mutter und rief: »Mamma, Frau Rheder ist doch 'ne süße Frau, sie hat mir 'n Apfel gegeben.«

Außer diesen Dingen und Menschen war aus dieser Zeit nur noch ein Ereignis am Leben geblieben, nämlich das, wie Ludwig Semper, der Vater, auf einem dunklen Vorplatz in eine offenstehende Kellerluke gestürzt war. Der Vater war mit einer unbedenklichen Rippenschrammung davongekommen; aber dem kleinen Asmus schien dies ein großes und schier unbegreifliches Unglück, und es drückte ihm schwer aufs Herz, wenn er den Vater Schmerzen leiden sah. Unbegreiflich war es ihm, daß jemand seinem Vater ein Leid zufügen konnte, sei es nun ein Mensch oder eine Kellerluke. Denn sein Vater war doch genau wie der liebe Gott, den er auf einem Bilde gesehen hatte. Dieselbe breite Stirn mit einem herrlich vollen Kranz von grauen Haaren darum (»er war schon mit 33 Jahren grau« sagte die Mutter), dieselbe kräftige Nase, derselbe große Bart, der den ganzen Mund sehen ließ, diesen Mund, von dem fast alles Gute und Schöne gekommen war, was Asmus bis jetzt erlebt hatte. Von dem Mund und von den großen Augen kam's. Wenn die Augen lachten, dann gingen nach allen Seiten Strahlen von ihnen aus wie von den Kerzen am Tannenbaum. Und wenn Asmus am Abend noch eine Stunde draußen bleiben wollte und die Mutter sagte: Frag' Deinen Vater! und er dann seinen Vater fragte, dann blickte der von seinem Tisch, an dem er Cigarren machte, auf und sah ihn erst ruhig an. Und dann wurde des Vaters Gesicht immer heller, und dann kamen die Strahlen aus den Augen, und dann zog sich der milde Mund ein wenig nach der Seite, und dann wußte Asmus schon: jetzt sagt er gleich »Mein'twegen«, und richtig, dann sagte er »Mein'twegen«. Dann schnellte der kleine Asmus wie eine befreite Sprungfeder in die Höhe und schrie: »Vater sagt »Wein'tnegen!« und dann war er auch schon draußen. Dann sagte die Mutter wahrscheinlich (das wußte Asmus schon): »Du läßt dem Jungen immer seinen Willen«; aber der Vater sah nur stillschweigend nach seinem hopsenden Sohne Asmus hinaus und lachte still in sich hinein, daß seine breiten Schultern hüpften: das wußte Asmus auch schon. Und einem solchen Vater wagte eine heimtückische Kellerluke aufzulauern.

Nach diesem Unfall hält die Erinnerung Asmussens wieder einen langen Schlaf, in dem nur einmal leise die Trommeln, Trompeten, Pfeifen und Drehorgeln eines Jahrmarktes von ferne hereinklingen und in dem sonst nur noch eine Rakete aufblitzt, die eines Abends am östlichen Himmel über dem Schützenhofe ins Dunkel emporstieg.

II. Kapitel

Von kurzem Elend und langem Jammer, von Schnedes Esel und Diepenbrocks Mond, besonders aber von dem Semperischen Leichtsinn.

Und die Erinnerung erwacht erst wieder an einem kleinen, schmalen Dorfteiche; vom Geschnatter der Enten und Gänse wacht sie auf. Und wenn sie, im Grase liegend, die Augen aufschlägt, sieht sie zwischen den Stämmen von sieben Bäumen, die am Ufer stehen, drei kleine kümmerliche Häuser stehen, von denen jedes umfallen würde, wenn es der Nachbar nicht stützte. Diese drei Häuschen hießen im Volksmunde das »kurze Elend«, weil die acht oder zehn Häuschen, die im rechten Winkel dazu standen, der »lange Jammer« hießen. Mit dem kurzen Elend darf man es nicht wörtlich nehmen. Die siebenköpfige Familie Semper, die später acht und neunköpfig wurde, hatte meistens Fleisch zu Mittag, und zwar ein halbes Pfund. Das heißt: wenn der Vater Arbeit hatte. Hatte er keine, so gab es zunächst, in der hoffnungsvolleren Zeit, Mehlklöße mit Pflaumen, später ging man zu Kaffee und Brot über, erst zu bezahltem Kaffee und Brot, dann zu geborgtem. Wenn der letzte Kredit und das letzte Fett am Ausgehen waren, schnitt die erfinderische Mutter Kartoffelscheiben aufs trockene Brot, was eigentlich den Teufel durch Beelzebub austreiben heißt. Das erstreckte sich so durch Asmussens ganze Kinderzeit. Wenn man also nicht eigentlich von Elend sprechen kann, so kann man doch auch nicht von kurz reden.

Was die Kartoffeln anlangt, so wurden sie bei Herrn Schnede gekauft, der ganz weit drüben am andern Ufer des fünfzig Schritte breiten Dorfteiches wohnte. An diesen Herrn Schnede dachte der kleine Asmus nicht ohne Groll. Als er sich eines Mittags an einer Kartoffel den Mund verbrannte und darüber klagte, daß immer die Kartoffeln so heiß wären, da sagte die Mutter: »Ja, das sind Schnedes Kartoffeln, die sind immer so heiß.« Seit dem Tage blickte Asmus mit einer gewissen Scheu nach dem alten baufälligen Strohdachhause des Herrn Schnede hinüber.

Nur der Esel konnte den kleinen Semper wieder mit Herrn Schnede versöhnen, der Esel, der jeden Morgen, den Gott werden ließ, den Grünwarenkarren seines Herrn durch das Dorf zog, oder besser gesagt: ziehen sollte. Denn dieser Esel stand immer nach drei Schritten still und war dann nur schwer wieder in Bewegung zu setzen, wie jeder Esel, der einen Gedanken hat. Dergleichen macht einen Esel für zuschauende Kinder sehr interessant, und dieses Schauspiel war um so reizvoller, als Herr Schnede ununterbrochen zu rufen pflegte: Kantüffeln, hüh! – groote Bohnen, hüh! – Kohl, witten Kohl, hüh!!« Er war ein Phantast, dieser Herr Schnede: er zog den Karren mitsamt dem Esel, und es ist kein Wunder, daß er einen feinen Künstler erzeugte, der in späterer Zeit seinem Heimatsflecken Ehre erwarb.

Daneben liebte Asmus von ganzem Herzen Herrn Diepenbrock und seinen Mond. Asmus hatte wiederholt bemerkt, daß der Mond über Diepenbrocks Hause heraufkam, und als er eines linden Abends wieder einmal an der Hand seines Vaters am Dorfteich spazierte, da fragte er:

»Vater, das ist doch Diepenbrocks Mond, nicht?«

»Ja«, sagte der Vater, »das ist Diepenbrocks Mond.« Dabei schütterten seine breiten Schultern wieder heftig auf und ab. Es war ein sehr guter Mann.

Aber auch ein leichtsinniger Mann. Das muß gesagt werden. Jede Woche kam ein Mann daher mit einem Augenschirm und einer Drehorgel, und auf dieser spielte er jahraus, jahrein das Lied:

»Du hast mich niiiie geliebt, Das hat mich seeehr betrübt«

und fast jedesmal gab ihm Ludwig Semper einen Sechsling, selbst wenn die Uhr schon auf Kaffee und Brot stand. Dabei war der Orgeldreher wahrscheinlich lange nicht so blind, wie er sich stellte; aber das war dem leichtsinnigen Ludwig Semper ganz einerlei.

Und wenn es dabei noch geblieben wäre! Nein: am Sonnabend, wenn Ludwig Semper seine Cigarren an den grimmigen Herrn Fabrikanten abgeliefert und Geld bekommen hatte, dann kaufte er ein halbes Pfund Käse und für vier Schillinge Rum. Von dem Käse bekamen auch die Semperschen Kinder, und so kam es ihnen gar nicht zum Bewußtsein, daß sie einen sehr leichtsinnigen Vater hatten.

Am Abend machte dann Ludwig Semper ein stärkeres Glas Grog für sich und ein schwächeres für die Mutter, setzte sich ihr gegenüber, stützte beide Arme auf den Tisch und grübelte, schmunzelte, biß ingrimmig die Zähne aufeinander oder warf leuchtenden Blickes den Kopf empor und schwieg.

Das Schweigen war eine Lieblingsbeschäftigung derer vom Hause Semper. Von Zeit zu Zeit hängten sie vor den Eingang ihrer Seele ein Schild, darauf stand: »Nicht zu Hause«. Und dann zogen sie sich für Tage, mitunter für Wochen in ihr innerstes Gemach zurück, verkehrten allein mit den geheimsten Schätzen ihrer Seele und sprachen zu den Menschen nur mit den Lippen. Wenn sie dann erquickt und beruhigt wieder in die Menschheit hinaustraten, waren sie munter und mitteilsam wie junge Vögel. Schon Carsten Semper, Asmussens Großvater, hatte es geliebt, mit seinen siebzehn Napoleonbildern allein zu sein und mit dem stummen Helden, der die Brust mit gekreuzten Armen wie mit ehernen Klammern verdeckte, schweigend zu träumen von Lodi und Arcole, von Austerlitz und den Pyramiden. Ludwig Semper, sein Sohn, hatte schon einen ausgedehnteren Geheimverkehr.

Sein Vater Carsten war ein kleiner Kaufmann in Schleswig gewesen und hatte ihn das Gymnasium besuchen lassen, damit er »auf den Pastor« studiere. Die große Diele des Semperschen Ladens hatte feierabends und Sonntags morgens die Honoratioren der Stadt gesehen; sie hatten kräftiges Schwarzbrot und rosenrot und weißen Speck gegessen, alten Bommerlunder und Lütjenburger dazu getrunken, so viel sie mochten, und spottwenig dafür bezahlt, sehr wenig und noch weniger. Vielleicht aus diesem Grunde, vielleicht auch, weil sich Napoleonbegeisterung und ein Handel mit Schwefelfaden schwer in einander finden, war Carsten Sempers Geld und Geschäft zu Ende, als Ludwig Semper noch kaum mit dem Gymnasium zu Ende war. Ludwig mußte in die Welt hinaus und suchen, wo er zu essen fände, so viel zu essen, daß womöglich für seine Eltern hin und wieder einige Speziestaler abfielen. Er fand denn auch eine Stellung bei einem Küfer, wo er lernte, die Weine zu schönen und zu verschneiden. Aber der gute Küfer hatte bei seinen Weinen kaum sein Brot und mußte den Gehilfen bald wieder entlassen. Kämpfen und zähe sein war nun nicht Ludwig Sempers Sache. Er traf einen fidelen Gesellen, der zu ihm sagte: »Komm mit und lern' Cigarren machen; es ist bald gelernt, du findest hier reichlich Arbeit, hast dein Brot und kannst bei der Arbeit nachdenken, soviel du willst.« Ludwig Semper dachte: Ich will es tun; morgen oder übermorgen find' ich schon was Besseres. Und dieses Morgen und Uebermorgen währte bis an sein Ende – da fand er Besseres.

Nur einmal wurde diese glänzende Karriere unterbrochen. Im Jahre 1848 mußte Ludwig Semper in den Krieg für die Befreiung Schleswig-Holsteins ziehen. Er focht bei Kolding und Idstedt und kehrte im Jahre 50 an das Cigarrenbrett zurück. Natürlich hatte er noch kurz vor Ausbruch des Krieges geheiratet; denn, wie ein neuer Tacitus berichtet: Die Deutschen heiraten sehr früh. Die junge Frau Semper wußte zwar nichts von Vergil und Xenophon und hätte leichtlich fragen können, wo sie wohnten und welches Gewerbe sie betrieben; dafür aber verstand sie sich vorzüglich auf die Krankenpflege. Als Ludwig Semper verwundet nach Kiel gebracht worden war, war sie seine Pflegerin geworden, und er mochte sich sagen, daß man mit einer guten Krankenpflegerin nie ganz schlecht fahren könne. Es ist aber keineswegs sicher, daß er sich das gesagt habe; denn in Herzenssachen pflegte Ludwig Semper nicht erst nachzudenken, sondern schnell zu handeln. So kam es, daß, als der Krieg begann, schon ein junger Semper zu erwarten stand.

Und als der Vater Flinte und Tschako ergreifen mußte, da besann sich die schnelle, muntere zwanzigjährige Mutter nicht lange und wurde wieder Krankenhüterin. Acht Tage, nachdem sie einer kleinen Semperin das Leben gegeben hatte, stand sie auf, um des Tages zu nähen und nachts im Kinderhospital zu wachen. Und dabei wachte sie so zuverlässig, daß die Aerzte ihr stets die schwierigsten Fälle überwiesen.

Wäre Ludwig Semper ein Streber gewesen, so hätte er nach dem Kriege vielleicht Gelegenheit gefunden, in eine höhere Gesellschaftssphäre hinaufzuglimmen; da aber niemand kam und ihm etwas anbot und überdies infolge eines Urlaubs abermals eine kleine Schleswig-Holsteinerin angekommen war, so war er nur froh, alsbald wieder Cigarren machen und dabei grübeln zu können. Der neue Tacitus sagt auch, daß die Deutschen gewöhnlich viele Kinder hätten. Ludwig Semper und seine Frau Rebekka waren deutsch wie wenige; sie bekamen im Laufe der Jahre gar manches Kind, und ungefähr das neunte oder zehnte nannten sie Asmus.

III. Kapitel.

Wie es nach Hafersuppe roch und die weißen Soldaten kamen und Asmus in Leonhards Cylinder promovierte und auf Erden nichts als Licht war.

Noch im »Kurzen Elend« war es, wie Asmus eines Morgens mit Verwunderung bemerkte, daß nicht seine Mutter, sondern sein Vater ihn auf den Schoß nahm und ihm die Stiefelchen anzog. Im ganzen Hause roch es nach Hafersuppe. Es währte auch nicht lange, da erklärte ihm sein Vater, daß er wieder einen kleinen Bruder bekommen habe. Von nun an, wenn es im Hause nach Hafersuppe roch, dachte Asmus: »Aha!«

»Wo ist Mutter denn?« fragte Asmus.

»Mutter liegt zu Bett.«

»Warum?«

»Der Storch hat sie ins Bein gebissen.« Asmus schwieg einen Augenblick. Dann sprach er: »Wenn der Storch uns jetzt wieder 'n Bruder bringt, dann soll er Mutter aber nicht ins Bein beißen.«

Ludwig Semper sagte nichts. Er dachte nach über das Kunststück, den Lohn für die Wärterin und Hebamme zusammenzubringen.

»Darf ich den kleinen Bruder mal sehen?« fragte Asmus.

Er wurde in das wunderbare Zimmer geführt. Die Mutter lächelte ihn besonders zärtlich an, weil sie sich nun wohl acht Tage lang nicht um ihn kümmern konnte, und hob die Bettdecke von einem warmen Wickelpüppchen, das wunderliche Gesichter schnitt.

»O, er hat schon Finger!« rief Asmus begeistert.

Das alles geschah ungefähr um die Zeit, als eines Morgens von der Stelle her, wo mittags immer die Sonne stand, ein wunderherrliches Klingen kam. Kaum war die erste Flocke dieses Klingens in das Sempersche Haus geweht, als auch schon Asmus vor der Tür stand. Denn einem schönen Klange war er folgsamer als den Eltern. Und das Klingen wurde immer heller und größer, und als es endlich um die Ecke kam, da war's ein weißes, goldnes, silbernes, ein herrlich funkelnd Klingen.

»Die Oestreicher kommen!« schrie Asmus ins Haus, und dann war er wieder draußen. Oesterreicher, das wußte er schon, sind weiße Soldaten. Die Oesterreicher zogen damals fort aus Schleswig-Holstein. Sie waren sehr vergnügt dabei und spielten den Marsch:

»Schön ist mein Madl; aber Geld hat sie nit; Was tu' ich mit dem Gelde, wenn sie mich nur liebt!«

und bei »Schön« und »Geld« und »tu« und »sie« machte die große Trommel, die so groß war, daß man sieben Asmusse aufrecht darin hätte verpacken können, »bumm – bumm – bumm – bumm!«

Es waren viele, viele Soldaten; aber schließlich kamen doch die letzten, und die Musik klang so fern, daß Asmus den Kopf auf die Seite neigte und doch nicht hören konnte, ob sie noch klinge oder nicht, und dann war alles vorbei und die tausend Soldaten waren nur noch eine weiße, goldne, klingende Erinnerung.

Dann ging er wieder ins Haus und an die Arbeit. Ein Tischler hatte es Asmus angetan, und darum hatte er das Tischlerhandwerk ergriffen. Er saß auf dem Fußboden und hatte einen alten Schemel vor sich, und in diesen Schemel schlug er mit einem Hammer seit vielen Tage alle Nägel hinein, deren er habhaft werden konnte. Wenn einer sich krümmte und nicht hinein wollte, dann rief er: »Nale patzig!« was so viel bedeuten sollte wie »der Nagel ist widerspenstig und aufsässig.« Eines Tages aber fiel Asmus Semper bei seiner Arbeit um, obwohl er doch auf dem Boden saß. Er verfiel in Zuckungen, und als er wieder erwachte, da hörte er, wie seine Eltern immer wieder das Wort »Krämpfe« sagten. Sein Vater lachte gar nicht mehr, und seine Mutter war sehr lieb mit ihm. Und dann kam mit einem Mal ein Mann, den nannten sie immer »Doktor Krause«. Der nahm den ausgezogenen Asmus auf die Knie, faßte seine Hand an, setzte ihm ein Blasrohr auf die Brust und auf den Rücken, sprach etwas mit einer trocknen, schnarrenden Stimme, schrieb etwas auf und ging. Die »Krämpfe« kamen immer wieder, und eigentlich waren sie etwas sehr Schönes. Denn weil er Krämpfe hatte, bekam Asmus immer in einem Teelöffel etwas ganz wundervoll Süßes, und hinterher gab es Selterswasser. Das schmeckte nicht gerade schön, aber unterhaltend. Es sprang wie wild im Glase umher, und wenn man davon trank, dann tanzte es auf der Zunge noch immer weiter. Aber freilich: das Beste an den Krämpfen war der Doktor Krause. Der trug immer den Kopf im Nacken und guckte in den Himmel. Auf dem Kopfe hatte er einen Hut, der war so schwarz und lang und rund wie ein Ofenrohr, nur daß ein Ofenrohr nicht so rauh ist. Auf dem Rücken hielt er einen Spazierstock, und auf die Krücke dieses Stockes legte er seinen Kopf. Das war der Mann, der die Krankheiten wegmachte, und nun war Asmussens Entschluß gefaßt: er wollte Doktor Krause werden.

Den Stock, der dazu gehörte, fand er bald; in den Himmel gucken, das konnte er auch; aber der Cylinder, der Cylinder! Asmus bat seinen Vater, ihm einen Cylinder zu kaufen; aber so leichtsinnig Ludwig Semper auch war, so weit ging doch seine Freigebigkeit und übrigens auch seine Kasse nicht. Der junge Semper mußte also mit einem gedachten Cylinder promovieren, und es ging vorzüglich. Wenn die Nachbarn an goldnen Sommertagen vor der Tür standen, trat Asmus genau in Haltung und Gang des Doktor Krause an sie heran und sagte mit der Stimme des Doktors, die er in seiner kindlichen Stimmlage überraschend nachahmte: »Guten Tag. Ich bin Doktor Krause. Haben Sie Leibschmerzen?« und bald erwarb er sich eine ausgedehnte Praxis mit auskömmlichen Honoraren an Aepfeln, Bonbons und Pfeffernüssen. Sein einträglichster Patient aber war ein junges schönes Mädchen; denn das empfing ihn stets mit einem Lächeln, das ihm tief ins Herz drang. Er wußte nicht, daß Frauenlächeln anders ist als Manneslächeln; aber er fühlte es, und sie war seine erste Liebe. Fräulein Johanna pflegte den kleinen Arzt auf den Arm zu nehmen und ihn zu küssen, obwohl er für seine Verhältnisse einen etwas zu großen Kopf und obendrein ein wenig Excelsiornase hatte. Es muß bei dieser Gelegenheit auch gesagt werden, daß der alte Semper, obwohl er hübschere Kinder hatte als den Asmus und obwohl er allen seinen Kindern ein milder Patriarch war, dennoch den Asmus so entschieden verzog, daß es der Junge selbst merkte. Das vierjährige kleine Herz des Knaben erwiderte diese Zuneigung mit einer fast feurigen Dankbarkeit. Es mußte vom Uranfang her zwischen diesen beiden Menschen eine Gemeinschaft bestehen, die noch stärker ist als das Blut und die nur höhere Geister kennen.

Wenn er aber von seinen Eltern und besonders von seinem Vater absah, der ja wie der liebe Gott war, dann gab es für Asmus nichts Schöneres auf der Welt als das schöne junge Mädchen, die große Roßkastanie vor dem Elternhause und den Dorfteich, wenn er zwischen den alten Weidenstämmen hindurchlugte. Das Häßlichste und Schrecklichste auf der Welt aber waren Kunigunde von Turneck und Rudenz. Das waren Ueberreste eines vergangenen Puppentheaters, die über dem Arbeitstische des Vaters an der Wand hingen. Es waren Figuren mit schändlich verschmierten Gesichtern und niederträchtigen Federhüten. Kleine Kinder entsetzen sich vor allem, was an der Erscheinung eines Menschen grotesk und tierisch aussieht; darum schreien sie, wenn Männer mit großen Bärten oder Frauen mit Federhüten sie auf den Arm nehmen wollen. Ludwig Semper brauchte nur eines dieser indianisch geschmückten Malefizgesichter vom Haken zu nehmen, und Asmus betrug sich so gesittet, wie man nur wünschen konnte. Er konnt' es später in der Schule den Römern so gut nachempfinden, daß sie sich vor den tierkopfgeschmückten Germanen entsetzten.

Rudenz und Kunigunde wirkten wie Teufel und Gespenster und viel stärker als der Kochlöffel und die Feuerzange der Mutter. Frau Rebekka Semper war rasch zum Zorn; sie erklärte dies nach einer unsicheren Physiologie damit, daß bei kleinen Menschen das Blut schneller in den Kopf steige als bei langen. Und wenn ihr Blut wieder einmal oben war, dann schlug sie mit dem, was sie gerade in der Hand hatte, und sie schlug nicht nach dem Grade des Verbrechens, sondern nach dem ihres Blutes. Da gab es für Asmus zuweilen Zeiten, trübe, bange Zeiten, da er seine Mutter nicht lieben konnte. Kinder haben das feinste Gerechtigkeitsgefühl; sie lieben auch den strengsten Zuchtmeister, wenn er gerecht ist.

Wenn man das Glück nur erwarten kann, so kommt es auch, und so kam denn auch für Asmus der Tag, da er als Doktor Krause in einem wirklichen und wahrhaftigen Cylinderhut ordinieren durfte. Freilich mußte er seine Praxis auf das Haus beschränken; denn der herrliche Hut war für vier Schillinge vom Hutmacher geliehen und mußte geschont werden. Zu jener Zeit konnte man den in der Taufe mit Gott geschlossenen Bund nur in Cylinder und Gehrock befestigen. Asmus riß vor Staunen und Ehrfurcht Mund und Augen auf, als sein ältester Bruder, ein kleiner, zarter und hübscher Bursche, in solcher Gewandung in die Tür trat. Leonhard, das Sorgenkind der Familie Semper, war konfirmiert worden. Außer dem blanken Hute und der Gestalt des Bruders blieb von diesem Tage nichts in Asmussens Erinnerung haften; das Fest war offenbar aus allgemeinem Vermögensmangel nicht gefeiert worden, nicht durch Rosinenreis, nicht durch Käse und Grog. An einem andern Tage aber muß in dem kleinen Mittelhause des »Kurzen Elends« Springflut gewesen sein. Wochen hindurch hatte der kleine Semper ein Wort durch alle Räume klingen hören, mit dem er unzwingbare Dämmerreste einer Vorstellung vergeblich zu verbinden strebte und das ihn doch mit wundersamer Hoffnung und feierlichem Entzücken rührte. Die Geschwister taten heimlich gegen ihn und gegen einander; Ludwig der Vater sah seinen Asmus noch öfter als sonst mit lächelndem Schweigen an und glänzte dann mit seinen Sonnenaugen durchs Fenster in die Ferne hinaus; Mutter Rebekka blickte ihrem Zweitjüngsten mit vielversprechendem Zwinkern in die unschuldoffenen Augen, und eines Abends stand sie gar am Herde und buk, als wenn Feuer und Fett nichts kosteten, einen Kirchturm von Apfelkuchen. All' ihr Blut war wieder oben im Kopfe; aber es tat nichts. Und wie noch die Geschwister miteinander plauderten und das eine von ihnen gerade sang:

»Vom Himmel hoch, da komm' ich her –«

da ging ganz von selbst eine Tür auf und dann – dann war auf Erden nichts als Licht. Noch in späten Jahren, wenn Asmus Semper in die Vergangenheit zurückblickte, war dieser Weihnachtsabend nur ein einsames, strahlenumkränztes Licht, das aus der Dämmerung eines tiefverlorenen, tiefvergessenen Tales emporschimmerte.

Im »Kurzen Elend« wohnte man zu ebener Erde; die Roßkastanie streckte ihre Kerzen zum Fenster herein; von der Kastanie bis zu den Weiden des Dorfteiches konnte eine Ente mit drei und einem halben Flügelschlage flattern, und mit dem blinkenden Bande des Teiches war dann die Welt des Asmus Semper zugebunden. Nur wenn er sich bückte und unter den tiefen Kronen der Weiden hindurchsah, dann lag jenseits der Welt noch das Strohdachhaus des Herrn Schnede – dann war's ganz aus.

Und eines Morgens war die ganze Welt wie Rauch verflogen; Asmus stand irgendwo hoch oben, und seine Augen gingen immer weiter, immer weiter über endlose Wiesen und durch endlose Himmelsbläue; sie wandelten in einem Paradiese des Raumes, wo sie rot und weiße Wolkenschmetterlinge fangen konnten, ohne je ans Ende zu gelangen. Sempers waren wieder umgezogen, und nun wohnten sie im »Düstern langen Balken«.

IV. Kapitel.

Vom düstern langen Balken und von absonderlichen Augen, von einem sagenhaften Pferd und einem geheimnisvollen Vorhang.

Ob an der Stelle des »Düstern langen Balkens« einmal fröhliche Paare sich im Tanze geschwungen und Becher und Glas geklungen hatten und ob der Volksmund einem solchen Schenk- und Tanzboden den merkwürdigen Namen gegeben hatte? Wohl möglich; denn die Leute der Gegend liebten es, ihren Belustigungsstätten seltsame Namen zu geben, wie: »Zum langen Handtuch«, »Zum schmierigen Löffel« und »Zum verbrannten Pfannkuchen«. Oder ob hier einst eine Richtstätte gewesen und die Bewohner der Stadt Altenberg an finsteren Abenden nach den düsteren langen Balken des Galgens hinübergeschaut hatten? Oder ob man ins Nordische zurückgehen muß, wo ein Wort balkr so viel bedeutete wie Gehege und Scheidelinie? Möchte schon sein; denn der »Düstere lange Balken« lag dort, wo die Wohnungen der Altenberger Menschen aufhörten und Schaf und Rind und Pferd auf endlosen Weiden stille Tage lebten. Woher aber auch der Name kommen mochte, jedenfalls war er da, und der lang gewundene, schmale, zwischen Hecken hinlaufende, an schönen Regentagen unendlich weiche Weg hieß wahrhaftig der »Düstere lange Balken«.

An diesem weltverlassenen Wege lag ein einziges, hohes und finsteres Haus, das zur Hälfte aus einer Zimmererwerkstatt bestand. In dieser Werkstatt und auf dem Platze daneben meißelten jahraus, jahrein die Ratten und Mäuse, und nur ganz selten tauchten auch Menschen dort auf. In dem übrigen Teile des Hauses konnten zwei Familien Platz finden, wenn sie wenig Platz, weniger Bequemlichkeit verlangten und sich mit den kahlschwänzigen Nagetieren zu stellen wußten.

Gleich am ersten Tage nach dem Einzug der Semper war Asmus verschwunden. Man durchsuchte das ganze Haus und fand ihn endlich auf dem Boden.

Auf dem Boden war Platz! Kammern und Gänge und Winkel und Ecken – er wußte nicht, wieviele! Er spazierte umher und konnte sich nicht sattsehen an den leeren Räumen. Jede Kammer, jeder Balken, jede Wand, jedes Fenster schaute ihn anders an. Sie hatten alle Gesichter, nur andere als die Menschen. Aber durchs Fenster über die Wiesen sehen – o! o! Da war ein Busch, der sich über die Wiese neigte, und unter dem Busch lag Schatten. Wie schön war das! An einer Stelle hob sich die Wiese zu einem Hügel – wie schön! Und ganz weit hinten war eine breite Oeffnung in der Hecke, und durch die Oeffnung sah man auf eine andere Wiese. Wie war das lieblich und gut!

Seine Geschwister hatten ihn einmal ausgelacht. Sie waren alle mit dem Vater über Feld gegangen, und wenn die andern gerufen hatten: »Ein Hase!« »Ein Storch!« »Ein Kirchturm!« »Ein Drachen!« – dann hatte Asmus gerufen: »Wo? Wo?« Immer hatte er nichts gesehen. Aber als sie alle still gewesen waren. da hatte er plötzlich gerufen: »Vater, hier sieht es gerade so aus wie Dein Geburtstag!« Und das hatte ein Gelächter gegeben! Ein Kornfeld am Waldrand sollte aussehen wie Vaters Geburtstag! Aber Ludwig Semper sagte zu den Kindern: »Darüber braucht Ihr nicht zu lachen.« In Zukunft sagte Asmus nur noch, wenn er mit seinem Vater allein spazieren ging: »Du, Vater, hier sieht es so aus wie einmal Sonnabend!« oder: »Hier ist es so, wie bei Isaak, als Esau ihm das Wildpret brachte.« Diese Geschichte hatte ihm sein Bruder Alfred aus der Schule mitgebracht. Und Ludwig Semper sah dann seinem Söhnchen Asmus in die weit offenen Augen und sagte: »Hm.«

Eines Tages, als Asmus wieder am Fenster saß, bemerkte er, daß fern am Rande einer Wiese von Zeit zu Zeit goldene Punkte aufsprangen und wieder verschwanden. Und gleich darauf hörte er Musik – aber es war keine schöne Musik. Es waren die stammelnden Töne und Mißtöne signalübender Soldaten. Sobald er hörte, daß es Soldaten seien, rutschte Asmus sachte vom Stuhl, klemmte sich bedächtig durch die Tür und stürmte die Treppen hinunter. Aber die letzten zehn Stufen ging es schneller als er wollte; der Kopf lief den Füßen voran und schlug unten auf die eisenbeschlagene Kante eines Sandsteins. Dort blieb Asmus liegen und sagte nichts. Seine Mutter, vom Gepolter herbeigerufen, hob ihn auf und trug ihn jammernd nach oben. An der Stirn klaffte eine breite und tiefe Wunde. Als sie notdürftig verbunden war, eilte die Mutter mit ihm nach dem Altenberger Krankenhause; denn dort wurden die Menschen zu gewissen Zeiten umsonst kuriert. Sie mußten in einen großen, hohen Saal eintreten, wo es ringsherum von tausend blanken Messern und Scheren und Zangen und Stangen blitzte. Asmus glaubte, daß alle für ihn bestimmt seien, und ihm wurde sehr beklommen und bang ums Herz. Er wurde auf einen großen Tisch gelegt, und der Arzt nähte die klaffende Spalte zu. Es tat sehr weh; aber Asmus ließ nur ein ganz leises Stöhnen durch die zusammengebissenen Zähnchen hindurch. Und endlich hob ihn der Arzt vom Tische herunter, klopfte ihm die Wangen und sagte: »Du bist 'n fixer Kerl; hier hast du'n Schilling, weil du nicht geweint hast; laß deine Mama dir Bontjes dafür kaufen!«

War das ein herrliches Krankenhaus! Man bezahlte nichts und kriegte noch Geld für Bonbons dazu! Was für liebe Männer waren die Aerzte! Was für ein schöner Tag! Aus dem Schmerzensmorgen war ein Freudentag geworden; er fühlte keine Wunde mehr am Kopfe; er fühlte nur einen Schilling in der Hand, einen ganzen, großen Schilling. Und wenn das Glück einmal kommt, dann kommt es gleich in Haufen. Was kam da die Straße herauf mit »Tsching und Bumm und Ratatsching?« Oesterreicher! O, o, Oesterreicher! Es waren aber inzwischen Preußen geworden. Und das mußte man schon sagen: die Preußen waren noch viel schöner als die Oesterreicher. Sie waren alle zu Pferde, hatten blaue Röcke mit silbernen Schnüren, und die Hüte hatten oben einen platten Deckel, von dem hingen ebenfalls Schnüre herab, und Säbel und Lanzen hatten sie, und oben an den Lanzen noch kleine Fähnlein! Und einer von ihnen – wahrhaftig, es war kein Zweifel möglich – einer lachte ihm zu! Asmus war zu Mute, als hätte der hohe Herrgott selber aus seinem Himmel ihm zugelächelt. Sie zogen gar nicht weit vom Semperschen Hause vorüber, und als Asmus vernommen hatte, daß sie fast jeden Morgen diese Straße ritten, da hatte er eine Lebensaufgabe. Und als er sie zwei oder drei Mal hatte Revue passieren lassen, da war sein Entschluß gefaßt. Jeden Sonnabend lieferte sein Vater Cigarren ab, und dann hatte er zwei, drei Tage lang Geld, das wußte Asmus. Gewöhnlich brachte der Vater dann auch ein paar Bonbons oder ein paar Aepfel mit. Das nächste Mal sollte er ihm ein Pferd mitbringen! Ja, ein Pferd!

»Vater!« rief er, als er atemlos zur Tür hereinstürzte, »wenn du wieder ablieferst, dann bring mir mal keinen Apfel mit, bring' mir dafür lieber 'n Pferd mit!«

Ludwig Semper fragte nicht erst verwundert: »Ein Pferd?«, denn er wußte, daß in einem kleinen Kinderherzen endlose Weidefluren sind; er sagte ohne weiteres zu, und seine Schultern hüpften wieder auf und ab. Jetzt sprach und träumte Asmus nichts anderes mehr als Roß und Reiten. Obwohl noch gar kein Pferd vorhanden war, so war doch das Haus schon voll Gestampfes und Gewiehers. Draußen auf der Wiese sollte das Pferd grasen, und oben auf dem Boden sollte es schlafen. Am nächsten Sonnabend von neun bis zwölf Uhr stand Asmus unten am Wege und harrte des dahergaloppierenden Vaters.

»Wiebke Wiese!« schrie er – denn des Mitwohners Töchterchen und seine Spielkameradin hieß Wiebke Wiese – »Wiebke Wiese, geh' weg da; sonst, wenn mein Vater kommt, reitet er dich über!« Und sie traten auf die Seite und ließen die Fahrstraße frei. Aber um mittag kam Ludwig Semper ganz gewöhnlich auf seinen eigenen Beinen daher.

»Wo hast du das Pferd?« rief Asmus.

»Die Knochen sind noch nicht fertig«, versetzte Ludwig Semper bedauernd.

Das befriedigte Asmus vollkommen. Ein Pferd ohne Knochen, – das sah er ein – das wäre nichts Rechtes gewesen. Und Ludwig Semper tat recht an dieser Antwort; denn nun hatte sein Sohn noch eine ganze Woche voll Reitens und Jagens, voll Wieherns und Bäumens.

Den Sonnabend darauf stand Asmus wieder am Wege und rief: »Wiebke, nimm dich in acht!« Aber Semper der Vater kam wieder zu Fuße gegangen.

»Wo ist das Pferd?« fragte der Sohn.

»Die Haut ist noch nicht fertig«, erwiderte der Vater; »aber ich hab' dir dafür was anderes mitgebracht.«

Und nun zog er einen Bilderbogen hervor, aus dem waren wohl zwanzig Pferde, und rote Husaren noch obendrauf. Das übertraf freilich die kühnsten Erwartungen. Im selben Augenblick war das lebendige Pferd tot für immer, und die zwanzig wurden lebendig.

Aber ein seltsamer Klang fiel eines Morgens in sein Soldatenspiel. »Auf der Exerzierweide liegt ein Ulan«, hieß es, »der hat sich totgeschossen. In den Kopf hat er sich geschossen, daß das ganze Gehirn herausgeschleudert wurde.« Unbemerkt von den Eltern lief Asmus nach der Wiese an der großen Allee, und hier umstanden viele Leute den Toten. Dieser aber war mit einem großen Laken zugedeckt worden, und Asmus sah durch die Decke nur die ungenauen Umrisse eines menschlichen Körpers. Mit einem ungekannten Grauen blickte er darauf hin.

»Harr ick doch in min Leben ni dacht, dat 'n Minsch so 'n groten Brägen harr!« sagte ein dicker Mann. »So 'n Brägen harr 'e«, rief er lächelnd und zeigte, wie groß das Gehirn des Toten gewesen wäre. Als der tote Ulan auf einem Wagen davongeführt worden war und die Zuschauer sich zerstreut hatten, ging Asmus auf seinen kleinen Beinen merkwürdig langsam nach Hause. Warum hatte er sich totgeschossen? Er hatte doch ein Pferd und einen Säbel und eine Lanze und einen wunderhübschen Hut mit Schnüren daran! Ob es wohl der Ulan war, der ihm einmal zugelacht hatte?

Der Vorhang, der ihm das Leben verbarg, hatte sich bewegt, und durch einen schmalen Spalt hatte Asmus einen flüchtigen Blick getan, ohne zu wissen, was er sah. Aber das ahnte ihm, daß es ein Vorhang war, was er bisher für die Grenzen der Welt gehalten hatte, und daß hinter diesem Vorhang noch etwas anderes wäre, als was er kannte.

V. Kapitel.

Von seriösen und komischen Opern und Sachen sowie von einem auffälligen Benehmen des Johannes.

An den Grenzen der Welt war es überhaupt am schönsten, am wunderbarsten. Stundenlang konnte man am Fenster sitzen oder auf dem Wiesenhügel und nach den Grenzen der Welt hinblicken und sich ausdenken, was dort wohl wäre, was dort wohl jetzt geschähe, ob man wohl dort hinkommen könne. Ganz weit hinten in der Ferne fuhr mehrmals am Tage eine Schlange vorüber, die stieß Rauch aus, und wenn der Wind herüberstand, dann konnte man sie kreischen hören. Das nannten die Erwachsenen die Eisenbahn. »Ob man die wohl auch aus der Nähe sehen kann?« dachte Asmus. »Dann möchte ich wohl damit spielen.«