Beides sein - Ali Smith - E-Book

Beides sein E-Book

Ali Smith

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Beschreibung

Ali Smith schreibt wie sonst keine. In ihrem preisgekrönten neuen Roman verbindet sie zwei Leben, die über fünfhundert Jahre auseinanderliegen: George, ein Mädchen von heute, das die Faszination der Beobachtung entdeckt, und den Werdegang eines Freskenkünstlers aus der italienischen Renaissance. Mit Witz, sprachlicher Brillanz und einer ansteckenden Freude am Spiel mit Formen, Zeiten, Wahrheiten und Fiktionen erzählt die britische Autorin vom Abenteuer der Kunst, vom Sehen und Gesehenwerden, vom Wunder, ein Mensch zu sein.

»Beides sein« ist ein Roman über die Gegensätze von Mann und Frau, von Leben und Tod, von Vergangenheit und Gegenwart und über die Sehnsucht, diese Gegensätze zu vereinen, da sie erst vereint ein Ganzes bilden. »Beides sein«, das sind zwei Geschichten, die ein Ganzes bilden: Da ist die Geschichte von George, einem Mädchen von heute, das um seine ganz plötzlich verstorbene Mutter trauert. George hält ihre Erinnerungen fest, vor allem die Reise nach Italien, als sie mit ihrer Mutter und ihrem kleineren Bruder Henry den Palazzo Schifanoia in Ferrara besuchten, der mit Fresken ausgemalt ist. Der Künstler der schönsten Fresken in diesem »Palast gegen die Langeweile« aus dem 15. Jahrhundert war Francescho del Cossa. Diese Erinnerungen, die Entdeckung des Sehens und Beobachtens und eine Freundschaft bringen George langsam wieder ins Leben zurück.

Und dann ist da das Leben von Francescho del Cossa, dem Renaissancekünstler, dessen Werdegang zum Hofmaler bei Borsa d’Este alles andere als einfach war und dessen ungewöhnliche Geschichte auf verblüffende, höchst vergnügliche Weise auf die des Mädchens George trifft …

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Seitenzahl: 438

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Zum Buch

»Beides sein« ist ein Roman über die Gegensätze von Mann und Frau, von Leben und Tod, von Vergangenheit und Gegenwart und über die Sehnsucht, diese Gegensätze zu vereinen, da sie erst vereint ein Ganzes bilden. »Beides sein«, das sind zwei Geschichten, die ein Ganzes bilden: Da ist die Geschichte von George, einem Mädchen von heute, das um seine ganz plötzlich verstorbene Mutter trauert. George hält ihre Erinnerungen fest, vor allem die Reise nach Italien, als sie mit ihrer Mutter und ihrem kleineren Bruder Henry den Palazzo Schifanoia in Ferrara besuchten, der mit Fresken ausgemalt ist. Der Künstler der schönsten Fresken in diesem »Palast gegen die Langeweile« aus dem 15. Jahrhundert war Francesco del Cossa. Diese Erinnerungen, die Entdeckung des Sehens und Beobachtens und eine Freundschaft bringen George langsam wieder ins Leben zurück.

Und dann ist da das Leben von Francesco del Cossa, dem Renaissancekünstler, dessen Werdegang zum Hofmaler bei Borso d’Este alles andere als einfach war und dessen ungewöhnliche Geschichte auf verblüffende, höchst vergnügliche Weise auf die des Mädchens George trifft …

Zur Autorin

ALI SMITH wurde 1962 in Inverness geboren und lebt heute in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und kam auf die Shortlist des Man Booker Prize. 2015 gewann der Roman den Baileys Women’s Prize for Fiction und kam auf die Shortlist des Folio Prize.

Zur Übersetzerin

SILVIA MORAWETZ, geb. 1954 in Gera, ist die Übersetzerin von u. a. Janice Galloway, Paul Harding, James Kelman, Hilary Mantel, Joyce Carol Oates und Anne Sexton. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.

Ali Smith

Beides sein

Roman

Aus dem Englischen

von Silvia Morawetz

Luchterhand

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel How to be both

bei Hamish Hamilton, Penguin Random House UK, London.

Die Arbeit an der vorliegenden Übersetzung wurdevom Deutschen Übersetzerfonds e. V. gefördert.

Die Übersetzerin dankt Sylvia Höfer, Heidelberg, für Hinweise zum Italienischen und Albrecht Pohlmann, Halle (Saale), für Hinweise zu den Malmitteln und Verfahren bei der Freskomalerei.

Quellen: Hannah Ahrendt, Menschen in finsteren Zeiten. © 1989 Piper Verlag GmbH, München. Giorgio Bassani, Ferrareser Geschichten. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. © Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. Eugenio Montale, Was bleibt (wenn es bleibt). Ausgewählt, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christoph Ferber. © Dieterich’scheVerlagsbuchhandlung, Mainz 2013.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2014 Ali Smith

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München,

unter Verwendung eines Motivs von Francesco del Cossa.

© akg-images / De Angostini Picture Lib.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-17241-1V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

Besuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

facebook.com/luchterhandverlag

Danksagung

Die Entwürfe für die Vignetten vor beiden Teilen des Buchs sind von Francesco del Cossa und Sarah Wood.

Dank an Daniel Chatto, Polly Dunn, Robert Gleeson, Jamie McKendrick, Cathy Moore, Sarah Pickstone, Matthew Reynolds, Kadya Wittenberg und Libbi Wittenberg.

Ein besonders herzlicher Dank geht an Kate Thomson.

Danke, Andrew und Tracy und allen bei Wylie.

Danke, Simon, und danke, Anna.

Danke, Xandra.

Danke, Mary.

Danke, Emma.

Danke, Sarah.

Für Frances Arthurund alle, die sie gezeugt haben,

im Gedenken an Sheila Hamilton,die ein Kunstwerk auf zwei Beinen ist,

und für Sarah Wood,Künstlerin.

Et ricordare suplicando a quella che io sonto francescho del cossa il quale a solo fatto quilti tri canpi verso lanticamara:

FRANCESCO DEL COSSA

die grüne Seele, die das Leben

dort sucht, wo nur Hitze

und Öde drückt, und der Funke, der sagt,

alles beginne, wenn’s schon

zu verkohlen scheine

EUGENIO MONTALE /CHRISTOPH FERBER

J’ai rêvé que sur un grand mur blanc

je lisais mon testament

SYLVIE VARTAN

Was dies Denken leitet, ist die Überzeugung, dass zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, dass aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist, dass in der Meereshut – dem nicht-historischen Element, dem alles geschichtlich Gewordene verfallen soll – neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt.

HANNAH ARENDT

Er verschwand unversehens, wie eine Romanfigur, ohne eine Spur zu hinterlassen.

GIORGIO BASSANI /HERBERT SCHLÜTER

eins

Denk mal einen Moment über dieses moralische Problem nach, sagt Georges Mutter zu George, die vorn auf dem Beifahrersitz sitzt.

Nicht sagt. Sagte.

Georges Mutter ist tot.

Was für ein moralisches Problem?, sagt George.

Der Beifahrersitz in dem Mietwagen ist ungewohnt, er befindet sich nämlich auf der Seite, auf der zu Hause der Fahrersitz ist. Ungefähr so wird es sein, wenn sie selber fährt, nur dass sie, Sie wissen schon, eben nicht selber fährt.

Also gut. Du bist Künstler, sagt ihre Mutter.

Ich?, sagt George. Seit wann? Und ist das ein moralisches Problem?

Haha, sagt ihre Mutter. Mir zuliebe. Stell es dir vor. Du bist Künstler.

Das Gespräch findet vorigen Mai statt, da lebt Georges Mutter noch, offensichtlich. Tot ist sie seit September. Jetzt ist Januar, genauer gesagt, kurz nach Mitternacht am Neujahrstag, was bedeutet, es ist gerade das Jahr nach dem Jahr geworden, in dem Georges Mutter gestorben ist.

Georges Vater ist nicht da. Das ist besser, als wenn er zu Hause ist und weinerlich in der Küche steht oder durchs Haus tigert und Geräte aus- und anschaltet. Henry schläft. Sie ist gerade zu ihm rein und hat nachgesehen; er ist eingeschlafen, obwohl nicht in dem Sinne, in dem manche Leute das Wort verwenden, wenn sie sagen, jemand ist für immer eingeschlafen, Sie wissen schon, tot.

Das wird das erste Jahr seit dem Jahr, in dem ihre Mutter auf die Welt kam, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Das ist so offensichtlich, dass es dämlich ist, daran auch nur zu denken, und doch so schrecklich, dass man nicht nicht daran denken kann. Beides zugleich.

Jedenfalls verbringt George die ersten Minuten des neuen Jahrs damit, nach einem alten Song zu suchen. Let’s Twist Again. Text von Kal Mann. Der Text ist ziemlich schwach. Let’s twist again like we did last summer. Let’s twist again like we did last year. Dann folgt ein Reim, der ist echt lausig, ein Reim, der genau genommen keiner ist.

Do you remember when

Things were really hummin’.

Hummin’ reimt sich nicht auf summer, die Zeile endet nicht mit Fragezeichen und könnte, genau genommen, sogar erinnerst du dich daran, als alles echt gestunken hat bedeuten.

Dann weiter: Let’s twist again, twisting time is here. Oder, so steht es überall auf den Seiten im Internet, twistin’ time.

Immerhin haben sie einen Apostroph gesetzt, sagt die George von vor dem Tod ihrer Mutter.

Es ist mir scheißegal, ob eine Seite im Internet auf grammatische Richtigkeit achtet, sagt die George von danach.

Bei diesem Vorher und Nachher geht es ums Trauern, heißt es immer. Das Trauern verläuft angeblich in mehreren Phasen. Wie viele Trauerphasen es gibt, ist umstritten. Es sollen drei oder fünf sein, manche behaupten auch sieben.

Der Songschreiber hat sich über den Text, wie es aussieht, keine großen Gedanken gemacht. Vielleicht steckte er auch gerade in einer der drei, fünf oder sieben Trauerphasen. Phase neun (oder dreiundzwanzig oder hundertdreiundzwanzig oder ad infinitum, denn nichts wird jemals nicht wieder so sein): In der Phase macht man sich keine Gedanken mehr darum, ob Songtexte einen Sinn haben. Man wird die Songs sogar fast alle hassen.

George braucht aber einen Song, zu dem man diesen einen Tanz tanzen kann.

Dass er so offensichtlich wirr und sinnlos ist, ist zweifellos ein Plus. Genau deshalb wird er sich damals so gut verkauft haben und so eine große Sache gewesen sein. Die Leute mögen es, wenn es nicht zu sinnvoll ist.

Meinetwegen, stell ich es mir halt vor, sagt George auf dem Beifahrersitz vorigen Mai in Italien zu genau der gleichen Zeit, zu der George im darauffolgenden Januar zu Hause in England auf einen sinnlosen alten Songtext stiert. Vor dem Autofenster erstreckt sich um sie herum Italien, so heiß und gelb, als wäre es sandgestrahlt worden. Henry sitzt leise schniefend hinten, hat die Augen zu und den Mund offen. Das Band des Sicherheitsgurts geht über seine Stirn, weil er so klein ist.

Du bist Künstler, sagt ihre Mutter, und du arbeitest mit vielen anderen Künstlern an einem Projekt. Und alle Beteiligten bekommen dasselbe als Lohn. Du bist aber der Ansicht, das, was du tust, ist mehr wert, als die Beteiligten, du selbst eingeschlossen, dafür bezahlt bekommen. Also schreibst du dem Mann, der die Arbeit in Auftrag gegeben hat, einen Brief und bittest ihn, dir mehr Geld zu geben, als alle anderen bekommen.

Bin ich denn mehr wert?, sagt George. Bin ich besser als die anderen Künstler?

Spielt das eine Rolle?, sagt ihre Mutter. Kommt es darauf an?

Bin ich es, oder ist es die Arbeit, die mehr wert ist?, sagt George.

Gut. Mach weiter, sagt ihre Mutter.

Ist das echt? Oder bloß hypothetisch?

Spielt das eine Rolle?, sagt ihre Mutter.

Ist es etwas, was in Wirklichkeit bereits entschieden ist, und du willst bloß eine These an mir austesten, obwohl du schon genau weißt, was deine Meinung dazu ist?, sagt George.

Kann sein, sagt ihre Mutter. Aber meine Meinung interessiert mich nicht. Mich interessiert deine.

Du interessierst dich doch sonst für nichts, was mich beschäftigt, sagt George.

Das ist jetzt sehr unreif von dir, George, sagt ihre Mutter.

Ich bin noch unreif, sagt George.

Richtig, ja. Damit wäre das geklärt, sagt ihre Mutter.

Es folgt ein kurzes Schweigen, noch okay, aber wenn sie nicht ein wenig einlenkt, und zwar bald, wird ihre Mutter, die seit Wochen gereizt und launisch ist wegen des Ärgers im Paradies, sprich ihrer Freundschaft mit dieser Lisa Goliard, zu Anfang bloß kühl, dann aber richtig mürrisch und biestig sein.

Passiert es jetzt oder in der Vergangenheit?, sagt George. Ist der Künstler ein Mann oder eine Frau?

Spielen beide eine Rolle?, sagt ihre Mutter.

Spielt beides, sagt George. Beides ist Singular.

Mea maxima, sagt ihre Mutter.

Ich kapiere nicht, warum du dich nie festlegen willst, sagt George. Und das bedeutet nicht das, was du denkst. Wenn du es ohne das culpa sagst, bedeutet es bloß ich bin die Größte oder ich bin die Beste oder mir gebührt das meiste oder mein Äußerstes.

Stimmt doch, sagt ihre Mutter. Ich bin die Größte, die Allergrößte sogar. Aber die allergrößte was?

Vergangenheit oder Gegenwart, sagt George. Mann oder Frau. Beides zusammen geht nicht. Es muss das eine oder das andere sein.

Wer sagt das? Warum muss es so sein?, sagt ihre Mutter.

MANNO, sagt George zu laut.

Nicht, sagt ihre Mutter und deutet mit einer Kopfbewegung nach hinten. Es sei denn, du willst ihn aufwecken. Dann bist du aber auch für die Unterhaltung zuständig.

Ich. Kann. Deine. Moralische. Frage. Erst. Beantworten. Wenn. Ich. Mehr. Details. Kenne, sagt George sotto voce, was auf Italienisch, obwohl George kein Italienisch kann, wörtlich unter der Stimme heißt.

Braucht man für moralisches Handeln Details?, flüstert ihre Mutter genauso leise.

Gott, sagt George.

Braucht man für moralisches Handeln Gott?

Mit dir reden ist, sagt George immer noch unter der Stimme, wie gegen eine Wand reden.

Oh, sehr gut, du, sehr gut, sagt ihre Mutter.

Inwiefern gut?, sagt George.

Weil es genau bei dieser Kunst, bei dem Künstler und dem moralischen Problem um Wände geht, sagt ihre Mutter. Und da fahren wir hin.

Genau, sagt George. Gegen eine Wand.

Ihre Mutter lacht laut auf, und dieses Lachen ist so echt und laut, dass sie hinterher beide nachsehen, ob Henry davon wach wird, wird er aber nicht. Dass ihre Mutter so lacht, kommt in letzter Zeit selten vor und hört sich deshalb fast normal an. George ist so zufrieden, dass sie gleich errötet.

Und was du gerade gesagt hast, ist grammatisch nicht richtig, sagt sie.

Ist es doch, sagt ihre Mutter.

Nein, sagt George. Grammatik ist eine endliche Menge von Regeln, und du hast eben gegen eine verstoßen.

Der Ansicht schließe ich mich nicht an, sagt ihre Mutter.

Ich glaub nicht, dass Sprache Ansichtssache ist, sagt George.

Nach meiner Ansicht, sagt ihre Mutter, ist Sprache ein lebendiger Organismus, der sich wandelt und verändert.

Ich fürchte, mit der Ansicht kommst du nicht in den Himmel, sagt George.

Ihre Mutter lacht noch einmal so ungekünstelt.

Nein, hör zu, ein Organismus, sagt ihre Mutter –

(und vor Georges geistigem Auge blitzt der Umschlag eines alten Taschenbuchs auf, das Ein guter Orgasmus ist machbar heißt und das ihre Mutter in einem Schränkchen neben ihrem Bett aufbewahrt, seit der Zeit vor Georges Geburt, der Zeit in ihrem Leben, als sie, sagt ihre Mutter, jung war und leicht unter Apfelzweigen)

− der seinen eigenen Regeln gehorcht und sie nach Belieben ändert. Außerdem ist vollkommen klar, was ich sagen wollte, und darum gibt es an der Grammatik auch nichts auszusetzen, sagt ihre Mutter.

(Ein guter Organismus ist machbar.)

Dann eben grammatisch unelegant, sagt George.

Ich wette, du weißt gar nicht mehr, was ich eigentlich gesagt habe, sagt ihre Mutter.

Da fahren wir hin, sagt George.

Ihre Mutter nimmt in gespielter Verzweiflung beide Hände vom Lenkrad.

Wie konnte es dazu kommen, dass ich, die größte Unpedantin aller großen Unpedantinnen der Welt, so eine Pedantin geboren habe? Und warum war ich nicht schlau genug, sie gleich bei der Geburt zu ertränken?

Ist das das moralische Problem?, sagt George.

Denk mal darüber nach, klar, warum denn nicht, sagt ihre Mutter.

Nein, tut sie nicht.

Nicht sagt ihre Mutter.

Sagte ihre Mutter.

Denn wenn alles gleichzeitig stattfände, wäre das so, als läse man ein Buch, in dem die Zeilen des Textes alle doppelt bedruckt sind, als wären die Seiten alle genau genommen zwei, von denen eine die andere überlagert und unleserlich macht. Denn es ist Neujahr, nicht Mai, und es ist England, nicht Italien, und draußen gießt es in Strömen, und trotzdem hört man die dämlichen Silvesterraketen, die eine nach der anderen explodieren wie in einem kleinen Krieg, denn die Leute stehen im strömenden Regen auf der Straße, während der Regen ihnen in die Champagnergläser prasselt, und sehen sich, den Kopf im Nacken, an, wie ihre (erbärmlich) mickrigen Feuerwerksraketen kurz aufleuchten und dann erlöschen.

Georges Zimmer befindet sich unter dem Dach, und das hat, seit sie es im vorigen Jahr neu machen ließen, eine undichte Stelle in der Schräge am hinteren Ende. Dort kommt, wenn es regnet, jedes Mal ein kleines Rinnsal herein, und es kommt auch jetzt eines rein, Frohes neues Jahr, George! Dir auch ein frohes neues Jahr, Regen, läuft wie an einer Perlenschnur bis dahin, wo der Verputz und die Gipskartonwand aneinanderstoßen, und tropft von dort auf die Bücherstapel, die auf dem Bücherschrank liegen. In den Wochen, die das nun so geht, haben sich die Poster schon ein bisschen gelöst, weil der Kleber auf einem Teil der Wand nicht hält. Darunter eine Ansammlung hellbrauner Flecken, die aussehen wie die Zeichnung des Wurzelgeflechts eines Baums oder eine Karte von Landstraßen oder wie ein tausendfach vergrößerter Schimmelfleck oder wie die Adern, die im Weiß der Augen sichtbar werden, wenn man müde ist – nein, wie nichts von alldem, denn solches Zeug denken ist bloß ein dämliches Spiel. Feuchtigkeit dringt ein und verfärbt die Wand, weiter nichts.

George hat es ihrem Vater nicht gesagt. Die Dachbalken verfaulen, und dann stürzt das Dach ein. Sie wacht, wenn es geregnet hat, jedes Mal mit Schmerzen in der Brust und einer verstopften Nase auf, aber wenn das Dach runterkommt, hat es sich gelohnt, dass sie so oft nicht richtig Luft gekriegt hat.

Ihr Vater kommt nie zu ihr ins Zimmer. Er ahnt nichts davon. Wenn sie Glück hat, bekommt er es erst mit, wenn es zu spät ist.

Es ist bereits zu spät.

Der Gipfel der Ironie ist, dass ihr Vater im Moment bei einer Dachdeckerfirma beschäftigt ist. Zu seinem Job gehört, dass er mit einer kleinen rotierenden Kamera, an der ein Lämpchen dran ist, zu den Leuten nach Hause geht. Er befestigt die Kamera an einer Stange, an der normalerweise eine Kaminbürste sitzt, verbindet sie mit dem tragbaren Monitor und schiebt sie im Schornstein bis ganz nach oben. Dann kann jeder oder jede, der oder die es wissen will und £ 120 übrig hat, sehen, wie es in seinem oder ihrem Schornstein aussieht. Wenn der- oder diejenige, der oder die das wissen will, noch £ 150 mehr übrig hat, kann ihr Vater das Zustandsbild auch als Datei zur Verfügung stellen, und er oder sie kann sich den Schornstein, den er oder sie hat, von innen ansehen, wann immer er oder sie will.

Alle anderen sagen inzwischen: wann sie wollen. Sie. Könnte George doch auch machen.

Wann immer sie wollen.

Jedenfalls wird sich Georges Zimmer, vorausgesetzt, das Wetter ist oft genug schlecht und die undichte Stelle bleibt lange genug unbemerkt, dem Himmel und dem vielen Regen öffnen, dessen Menge die im Fernsehen immer biblisch nennen. Schon lange vor Weihnachten ging das los, dass sie jeden Abend in den Nachrichten bringen, welche Gegenden überall im Land überschwemmt sind (bei ihnen ist jedoch nichts überschwemmt, sagt ihr Vater, weil das aus dem Mittelalter stammende Abwassersystem dieser Stadt noch so gut ist wie eh und je). Ihr Zimmer wird bedeckt sein von der grauen Schmiere und den Schmutzpartikeln, die der Regen aufgenommen hat und weiterträgt, dem Schmutz, der aufgrund der bloßen Tatsache, dass es Leben auf der Erde gibt, in der Luft liegt. Alles in diesem Zimmer wird verfaulen. Sie wird das Vergnügen haben, mitanzusehen, wenn sich die Dielenbretter an den Enden aufbiegen, sich verziehen, an den genagelten Stellen splittern und sich vom Kleber lösen.

Sie wird im Bett liegen, die Decken von sich geworfen, und die Sterne werden direkt über ihr sein, nichts zwischen ihr und ihren längst erloschenen Augen.

George (zu ihrem Vater): Glaubst du, dass wir noch Erinnerungen haben, wenn wir sterben?

Georges Vater (zu George): Nein.

George (zu Mrs Rock, der Schulpsychologin): (genau dieselbe Frage)

Mrs Rock (zu George): Glaubst du, wir brauchen noch Erinnerungen, wenn wir gestorben sind?

Oh, sehr schlau, sehr schlau, sie halten sich für oberschlau, wenn sie Fragen immer mit Gegenfragen beantworten. Dabei ist Mrs Rock im Allgemeinen echt nett. Mrs Rock, die rockt, wie ihr das wohl sagen würdet, sagen die Lehrer an der Schule immer, als dächten sie, da sei ihnen ja gerade etwas ganz Tolles eingefallen, wenn sie George den Rat geben, mit Mrs Rock zu sprechen, sie rockt, weißt du, sagen sie nach einem Räuspern und wollen von George wissen, wie es ihr geht, und sagen es gleich noch mal, wenn sie von George hören, dass sie schon mit ihr redet, dass sie die wöchentliche Doppelstunde Sport tauschen und zu Rock Sessions gehen darf! Sie lachen erst einmal über Georges Witz, schauen aber gleich ganz betreten, weil sie gelacht haben, statt bei ihr besonders einfühlsam zu sein und eine Leichenbittermiene zu ziehen – haben sie überhaupt richtig gehört, hat George wirklich einen Witz gemacht, gehört sich das, wo sie doch traurig sein soll und so weiter?

Wie fühlst du dich?, sagte Mrs Rock.

Ich bin okay, sagte George. Aber ich glaub, nur weil ich nichts davon merke.

Du bist okay, weil du nicht merkst, dass du okay bist?, sagte Mrs Rock.

Sie haben gefragt, wie ich mich fühle, sagte George. Ich glaub, ich bin okay, weil ich nichts davon merke, dass ich etwas fühle.

Du merkst nicht, dass du etwas fühlst?, sagte Mrs Rock.

Oder wenn, dann nur wie von weit weg, sagte George.

Wenn du etwas fühlst, dann wie von weit weg?, sagte Mrs Rock.

Wie bei einem Geräusch, das man ständig im Ohr hat, weil jemand ein Loch in die Mauer bohrt, nicht in die eigene Mauer, aber in eine ganz in der Nähe, sagte George. Wie wenn man zum Beispiel eines Morgens von Lärm aufwacht, weil jemand in der Straße etwas an seinem Haus machen lässt und man nicht bloß hört, dass irgendwo gebohrt wird, sondern es bei sich zu Hause auch spürt, obwohl es in Wirklichkeit ein paar Häuser weiter weg stattfindet.

So ist das?, sagte Mrs Rock.

Was?, sagte George.

Ähm, sagte Mrs Rock.

Jedenfalls lautet die Antwort ja, in beiden Fällen, sagte George. Es ist weit weg, und es ist wie dieses Bohren. Und Syntax ist mir inzwischen sowieso egal. Tut mir leid, dass ich Sie mit dem letzten Was verunsichert habe.

Mrs Rock sah nun wirklich verwirrt aus.

Sie schrieb etwas in ihren Notizblock. George sah ihr dabei zu. Mrs Rock sah wieder zu George auf. George zuckte die Achseln und machte die Augen zu.

Denn wie kann es sein, dachte George, als sie, es war noch vor Weihnachten, auf dem übertrieben bequemen Stuhl in Mrs Rocks Besprechungszimmer saß und die Augen zuhatte, dass es jetzt im Fernsehen einen Werbeclip mit sich selbst schälenden tanzenden Bananen und tanzenden Teebeuteln gibt und ihre Mutter den Clip nie wird sehen können? Wie kann die Welt so geschmacklos sein?

Wie kann es sein, dass dieser Werbeclip auf der Welt ist, ihre Mutter aber nicht?

Diese Gedanken sprach sie aber nicht aus, denn es war zwecklos.

Es geht nicht ums Aussprechen.

Es geht um das Loch, das im Dach entstehen wird, so dass mehr Kälte ins Haus eindringen kann, wodurch sich, zwangsläufig, die Bausubstanz des Hauses verändert, weswegen George dann jede Nacht im Bett liegen und in den schwarzen Himmel sehen kann.

Es ist vorigen August. Ihre Mutter sitzt im Esszimmer am Tisch und liest laut aus dem Internet vor.

Wer Meteore beobachten will, sagt ihre Mutter, hat heute Nacht Glück. Bei dem klaren Himmel, der für den Perseidenschauer für fast ganz Großbritannien vorhergesagt ist, dürften zwischen dem späten Montagabend und dem frühen Dienstagmorgen bis zu sechzig Sternschnuppen pro Stunde zu sehen sein.

Sechzig Sternschnuppen!, sagt Henry.

Er rennt wie ein Wilder um den runden Tisch herum und macht dabei Iiiie.

Sarah Pennock, die Wettermoderatorin von Sky News, sagte, sagt ihre Mutter, die Schauerneigung wird im Laufe der Nacht zurückgehen, und man wird vielerorts Gelegenheit haben, das Himmelsschauspiel zu verfolgen.

Dann lacht ihre Mutter.

Sagt: Sky News!

Henry. Kopfschmerzen. Es reicht, sagt ihr Vater.

Er bekommt Henry zu fassen, hebt ihn hoch und hält ihn mit dem Kopf nach unten.

Iiiiie, sagt Henry. Es ist mir schnuppe, dass du mich verkehrt herum hältst, ich bin nämlich ein Stern, iiiiie.

Ist doch bloß Luftverschmutzung, sagt George.

Wenn du erst mal siehst, wie die so schön an deinem Kopf vorbeiziehen, sagst du das nicht mehr, sagt ihre Mutter.

Über, sagt George.

Jeder Meteor ist ein Staubteilchen eines Kometen und verglüht, wenn er mit einer Geschwindigkeit von sechsunddreißig Meilen pro Sekunde auf die Atmosphäre trifft, liest ihre Mutter vor.

Ist ja nicht sehr schnell, sagt Henry, der immer noch verkehrt herum hängt, unter seinem Pullover hervor, der umgeschlagen und ihm übers Gesicht gerutscht ist. Autos fahren schon mit dreißig.

Pro Sekunde, nicht pro Stunde, sagt George.

Einhundertvierzigtausend Meilen pro Stunde, liest ihre Mutter vor.

Eigentlich echt langsam, sagt Henry.

Er beginnt zu singen.

Sterne und Laterne, Sterne und Laterne.

Ziemlich aufregend, sagt ihre Mutter.

Es ist echt kalt heute Abend, sagt George.

Sei nicht so langweilig, George, sagt ihre Mutter.

I-ja, sagt George, denn als dieses Gespräch stattfindet, hat sie ihre Mutter und ihren Vater bereits mehrfach aufgefordert, sie, wenn sie ihren Namen verwenden, wenigstens mit vollem Namen anzusprechen.

Ihre Mutter prustet los.

Was ist?, sagt George.

Wie du das sagst. Es hört sich an wie etwas, was in meiner Jugend schon komisch klang, sagt ihre Mutter. So haben wir immer die reichen Kinder nachgeäfft. Weißt du noch, Nathan?

Nein, sagt ihr Vater.

I-ja, George, i-ja, sagt ihre Mutter und mimt ein piekfeines Mädchen von früher.

George hat die Wahl: reagieren oder ignorieren. Sie entscheidet sich für ignorieren.

Wir werden sowieso nichts sehen, sagt sie. Dafür ist es hier viel zu hell.

Die Lampen schalten wir doch alle aus, sagt ihre Mutter.

Ich meine nicht unser Licht. Ich meine alle Lichter von ganz Cambridge, sagt George.

Die schalten wir auch alle aus, sagt ihre Mutter. Am hellsten gegen Mitternacht. Jetzt hab ich’s. Wir setzen uns alle ins Auto und fahren raus aus der Stadt, bis hinter Fulbourn, und schauen es uns von dort an. Nathan, was meinst du?

Ich muss um sechs raus, Carol, sagt ihr Vater.

Gut, okay, sagt ihre Mutter. Du bleibst mit Henry zu Hause, und ich und George, ich meine Georg-i-ja, fahren.

Georgia und ich, sagt George. Und ich fahr nicht mit.

Macht drei von euch Georg-i-jas, die nicht mitfahren, sagt ihre Mutter. Okay. Ihr drei und euer Vater könnt mit Henry zu Hause bleiben, und ich fahre allein. Nathan, sein Gesicht ist schon ganz rot, lass ihn runter.

Nein, denn ich will die sechzig Sterne sehen, sagt Henry, noch immer mit dem Kopf nach unten. Ich möchte sie mehr sehen als jeder andere hier im Zimmer.

Hier steht, es könnte sogar Feuerkugeln geben, sagt ihre Mutter.

Feuerkugeln möchte ich sogar sehr gern sehen, sagt Henry.

Das ist bloß Luftverschmutzung. Und Satelliten, sagt George. Was soll das bringen?

Miss Maulig, sagt ihr Vater und schüttelt Henry in der Luft.

Ms Maulig, sagt ihre Mutter.

Entschuldige meine grundstürzende politische Inkorrektheit, sagt ihr Vater.

Er sagt es leise und meint es lustig und gemein zugleich.

Ich ziehe Miss vor, sagt George. So lange, bis ich Doktor Maulig bin jedenfalls.

Zu jung, um zu begreifen, was es politisch bedeutet, sich nicht schon in der Anrede als verheiratet oder unverheiratet kennzeichnen lassen zu wollen, sagt ihre Mutter.

Das könnte auf George gemünzt gewesen sein oder auf ihren Vater. Ihr Vater ist zehn Jahre jünger als ihre Mutter, und das heißt, wie ihre Mutter öfter sagt, dass sie unter völlig verschiedenen Umständen aufgewachsen sind. Es macht nämlich viel aus, ob man unter Thatcher seine Kindheit verbracht hat oder aber schon seine späte Jugend.

(Thatcher war Premierministerin, irgendwann nach Churchill und lange bevor George auf die Welt kam, und brachte in einer der erfolgreichsten Denoncen von Georges Mutter ein Baby namens Blair auf die Welt – an den erinnert sich George noch aus ihrer Kindheit, der war auch Premierminister –, Baby Blair stand also nackt, bis auf die Windelhose, die er anhatte, obwohl er körperlich voll entwickelt war, auf einer Granate, der Wind aus Thatchers dicken Backen verwehte ihm das Haar, und er hielt sich eine Hand vor die Genitalien und die andere schüchtern an die Brust, und unter der Karikatur stand: Die Geburt aus dem Knall. Diese Denonce, das weiß George noch, war überall. Es war lustig, sie in sämtlichen Zeitungen und im Netz zu sehen, weil sie ja wusste, dass ihre Mutter die entscheidende Taste gedrückt und sie in die Welt hinausgeschickt hatte, das aber niemandem erzählen konnte.)

Rein praktisch bedeutet der Altersunterschied zwischen ihren Eltern jedoch, dass sie sich zweimal getrennt haben, auch wenn sie beide Male wieder zusammengekommen sind.

Die Zeiten, in denen du mir meinen Feminismus wenigstens nachsehen konntest, sind wohl auch lange vorbei, aber ich beklage mich nicht, denn erstens würde das nichts ändern, und zweitens lehrt die Geschichte des Feminismus, dass man Nachsicht sowieso nicht erwarten darf, und wenn du den Jungen herunterlässt, pass auf, dass er nicht zu fest mit dem Kopf aufschlägt, sonst bricht er sich nämlich den Hals, sagt ihre Mutter, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Und George. Oder wie immer du heißt. Wenn du das verpasst und es dir nicht mit mir ansiehst, wirst du es dein ganzes Leben bereuen.

Werd ich nicht, sagt George.

Nicht sagt. Sagte.

Es gab einen Nachruf im Independent, denn auch wenn Georges Mutter nicht so berühmt war wie die Leute, die normalerweise einen Nachruf kriegen, und auch wenn sie an der Uni nicht mehr fest angestellt war, hatte sie weiter einen ziemlich wichtigen Job bei einer Denkfabrik und veröffentlichte ab und zu Kolumnen im Guardian oder im Telegraph und manchmal sogar in den Europa-Ausgaben amerikanischer Zeitungen, und nachdem das mit der Internet-Guerilla in der Presse offengelegt wurde, wussten noch viel mehr Leute, wer sie war. Dr. Carol Martineau Ökonomin Journalistin Interventionistische Netz-Aktivistin (19. November 1962 − 10. September 2013) 50 Jahre alt. Im ersten Absatz heißt es Renaissance-Frau. Es heißt Kindheit schottische Cairngorms Ausbildung Edinburgh Bristol London. Es heißt Artikel und Vorträge Ideologie Lohngefüge Verteilungsungerechtigkeit ideologische Folgen Ausbreitung der Armut in Großbritannien. Es heißt Doktorarbeit bestätigt durch IWF wachsende Ungleichheit und Rückgang von Wachstum und Stabilität. Erwähnt wird ihr Steckenpferd Interessen der Wirtschaftsführer Arbeitnehmerschaft Billiglöhne. Es heißt Martineau vor drei Jahren enttarnt Mitbegründerin der Anonymen Netz-Interventionisten einflussreiche satirische Kunstbewegung. Tausende Unterstützer Nachahmer.

Es heißt tragische unvermutete allergische Reaktion Standard-Antibiotikum.

Als Letztes steht da hinterlässt. Das bedeutet, sie ist tot. Ehemann Nathan Cook und ihre beiden gemeinsamen Kinder.

Das alles bedeutet tot.

Das alles bedeutet, Georges Mutter ist vom Angesicht der Erde verschwunden oder, genauer gesagt, in sie hinein.

Als Georges Mutter noch lebte (jetzt kann sie es nicht mehr, weil sie, Sie wissen schon, tot ist), hat sie jeden Tag vor der Arbeit Übungen gemacht, Stretching und einige andere Sachen, um sich fit zu halten. Und zum Schluss ist sie jedes Mal zur Musik eines Songs von der Playlist auf ihrem Handy durchs Wohnzimmer getanzt.

Das mit den Übungen hatte sie vor ein paar Jahren angefangen. Und hatte jeden Tag weggesteckt, dass alle über sie lachten, wenn sie zwischen den Möbeln herumturnte, die Kopfhörer größer als ihre Ohren.

Sie wird, das hat sich George vorgenommen, vom ersten Tag des Jahres an, in dem ihre Mutter nicht mehr lebt, nicht nur täglich etwas Schwarzes am Körper tragen, sondern ihrer Mutter zu Ehren auch den Tanz aus den Sechzigern tanzen. Problematisch ist das nur insofern, als George sich dafür Songs anhören muss, und Songs anhören ist eines der Dinge, die sie nicht mehr kann, ohne in eine Traurigkeit zu verfallen, bei der ihr die ganze Brust wehtut.

Das Handy von Georges Mutter ist in der Panik und allem, was danach kam, verschwunden. Es hat sich nicht wieder eingefunden, obwohl ihre anderen Sachen alle noch genau da im Haus waren, wo sie sie zuletzt hatte. Sie wird das Handy bei sich gehabt haben. Es ist zwischen Bahnhof und Krankenhaus verloren gegangen. Die Nummer ist gesperrt worden, vermutlich von ihrem Vater. Wenn man sie wählt, hört man die Stimme auf dem Band sagen, diese Nummer sei derzeit nicht vergeben.

Vermutlich hat jemand, der bei der Überwachung arbeitet, das Handy ihrer Mutter genommen.

Georges Vater: George, ich hab es dir schon gesagt. Ich will so einen paranoiden Unsinn von dir nicht mehr hören.

Mrs Rock: Du glaubst also, jemand, der bei der Überwachung arbeitet, hat das Handy deiner Mutter genommen?

Die Playlists ihrer Mutter waren alle auf dem Handy. Ihre Mutter war bei ihrem Handy sehr eigen. George hat nur ein-, zweimal kurz reingesehen (und beide Male hinterher ein schlechtes Gewissen gehabt, aus unterschiedlichen Gründen). Die Playlists hat sie sich nicht mal angesehen, sondern nur ein paar E-Mails und SMS. Auf die Idee, nach der Musik zu suchen, ist sie gar nicht gekommen. Das war die Musik ihrer Mutter. Und damit sowieso Blech. Jetzt hat George keine Ahnung und wird auch nie mehr erfahren, welchen Song oder welche Songs ihre Mutter jeden Tag zum Tanzen oder im Zug oder draußen auf der Straße gehört hat.

Der Tanz, mit dem ihre Mutter die Übungen abschloss, war aber immer der alte aus den Sechzigern, für den man im Internet Anleitungen und sogar mehrere passende Songs findet.

Es gibt einen Ausschnitt aus einem Super-8-Film, den ihre Mutter überspielt hat, da tanzt sie den Tanz ungefähr 1965 als kleines Mädchen mit ihrer Mutter, Georges Großmutter. George hat diesen Filmschnipsel bei sich auf dem Laptop und dem Handy.

Es ist eine Großmutter, die schon lange tot war, als George auf die Welt kam. George kennt sie aber von alten Fotos. Sie sieht aus wie jemand aus einer anderen Zeit. Ist sie ja auch. Sie ist sehr jung, sieht streng aus, aber hübsch, eine Fremde mit dunklem, oben auf dem Kopf aufgetürmtem Haar. Das Stück Film hat lauter flackernde Streifen und Schatten am oberen Rand, wo meistens das Gesicht der Großmutter ist, denn im Fokus steht Georges Mutter, die zu der Zeit wesentlich kleiner ist als Henry heute. Sie muss gerade mal drei gewesen sein und hat eine Strickjacke aus rosa Wolle an, das Farbigste in dem Film. George kann, wenn sie den Film anhält, sogar die Knebelverschlüsse an der Strickjacke erkennen, die schwarz sind, und hinter dem Kind, das ihre Mutter ist, steht ein Fernseher auf dünnen schrägen Beinen, die Sorte, bei denen sich der Bildschirm so nach vorn wölbt wie der Bauch bei dicken alten Leuten.

ENDE DER LESEPROBE