Im Hotel - Ali Smith - E-Book

Im Hotel E-Book

Ali Smith

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Beschreibung

In einem alten Hotel in einer schottischen Stadt treffen fünf sehr unterschiedliche Frauen aufeinander: die Journalistin Penny, die Im Hotel übernachtet, die warmherzige Rezeptionistin Lise, die Obdachlose Else, die vor dem Hotel bettelt, und die junge Clare, die herausfinden will, was mit ihrer Schwester Sara wirklich passiert ist. Denn das fünfte weibliche Wesen, um das es hier geht, ist der Geist des Zimmermädchens Sara, das vor kurzem Im Hotel verunglückt ist, und dieser Geist versucht starrsinnig, am Leben festzuhalten, was diese eine Nacht für alle fünf Frauen zu einer ganz besonderen macht …

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Ali Smith

Im Hotel

Roman

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz

Gerade erst hat die 19-jährige Sara Wilby als Zimmermädchen im Global Hotel angefangen, einem schon heruntergekommenen Luxushotel in einer schottischen Kleinstadt. Wegen einer dummen Wette, die mit dem alten Speiseaufzug des Hotels zusammenhängt, verliert sie ihr Leben. Wütend wehrt sich jedoch Saras Geist gegen das Nichtsein, gegen das Vergessen, gegen den Verlust der Sprache, des Wissens und der Welt, besucht Saras Begräbnis, belauert ihre Familie, aber vor allem die anderen Personen im Hotel: Saras jüngere Schwester Clare, die überall im Hotel herumschnüffelt und nach Hinweisen auf die Ursachen des Unglücks sucht, die deprimierte, von einem anderen Leben träumende Rezeptionistin Lise, die Obdachlose Else, die täglich vor dem Hotel bettelt und nun von Lise ein Zimmer für eine Nacht angeboten bekommt, und die bornierte Journalistin Penny, die als Gast im Hotel residiert. Alle fünf Frauen treffen in dieser einen Nacht aufeinander, Beziehungen zwischen ihnen entstehen und verändern sich …

ALI SMITH, geboren 1962 in Inverness in Schottland, lebt heute in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Ali Smith ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt.

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Hotel World« bei Hamish Hamilton, London.

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1.Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Januar 2016 btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2001 Ali Smith Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © plainpicture / Kerstin Lakeberg CP · Herstellung: sc

eISBN 978-3-641-19715-5V001

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Daphne Wood für ihre Großzügigkeit

Andrew & Sheena Smith für ihre Liebenswürdigkeit

Sarah Wood für die ganze Welt

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightWidmungVergangenheitHistorisches PräsensFutur KonditionalPerfektZukunft in der VergangenheitGegenwartDANKSAGUNG

Denk dran: Du mußt sterben.

Muriel Spark

Energie ist Ewiges Entzücken.

William Blake

Unwirtlich wirtliche Welt, Ich steck mir deine Sterne ein als Reisegeld Und sag dir, sag dir hiermit Lebewohl. Daß ich dich lassen kann, darf gehen, Ganz gehen, keine Zweifel dran bestehen, Das, sagt mein Vater, ist das Wunder.

Edwin Muir

Herkömmliche Religionen betonen das Beständige, die Modernisten mit ihren mechanistischen Denkweisen betonen das Vorhersehbare, dabei ist der Kosmos ungleich dynamischer als eine am Reißbrett entworfene Welt einerseits oder eine tote Maschine andererseits … jeder Sprung ist ein großes Mysterium.

Charles Jencks

Der Fall ereignet sich immer bei Anbruch des Tages.

Albert Camus

Vergangenheit

Aaaa –

ahhh was für ein Fall was für ein Flug was für ein Schwung was für eine Schwere was für ein Sturz ins Dunkel ins Licht was für ein Hinab was für ein Gleiten Poltern Krachen was für ein Segeln was für ein Schreck was für ein irres Gekreisch was für ein Knall-auf-Fall was für ein Hall was für ein Herz in meinem Mund was für ein Ende.

Was für ein Leben.

Was für eine Zeit.

Was ich fühlte. Da. Hin.

Dies ist die Geschichte, sie fängt am Ende an. Es war Hochsommer, als ich fiel; die Blätter waren an den Bäumen. Jetzt ist tiefer Winter (die Blätter sind schon lange ab), und das ist sie, meine letzte Nacht, und heute nacht wünsche ich mir nichts sehnlicher, als einen Stein im Schuh zu haben. Über das Pflaster hier vor dem Hotel zu gehen und beim Gehen einen Stein in meinem Schuh kullern zu spüren, einen kleinen spitzen Stein. Der drückt sich an verschiedenen Stellen in die Fußsohle, und es tut gerade so weh, daß es noch eine Lust ist, wie das Kratzen einer juckenden Stelle. Stellen Sie sich vor: Irgendwo juckt es. Stellen Sie sich vor: ein Fuß, darunter Straßenpflaster und ein Stein, und den drücke ich mit meinem ganzen Gewicht fest in die Haut meiner Fußsohle oder gegen die Knochen der größeren Zehen oder der kleineren Zehen oder die innere Wölbung des Fußes oder die Ferse oder den kleinen, ballrunden Muskel, der den Körper aufrecht und im Gleichgewicht und in Bewegung hält über der atemberaubend reglos-festen Oberfläche der Welt.

Denn jetzt, wo es mir den Atem genommen hat, könnte man sagen, fehlt mir so ein Jucken stets und ständig. Sehne ich mich nach nichts anderem. Ich mache mir endlos Gedanken über Kleinigkeiten, um die ich mich nie geschert hätte, nicht für einen Moment, als ich noch am Leben war. Zum Beispiel, damit die Seele Ruh hat, über meinen Sturz. Wie lange hat der gedauert, wie lange ganz genau? Das wüßte ich zu gern, und ich würde das sofort wieder machen, vorausgesetzt, ich hätte Gelegenheit dazu, bekäme sie, die Gelegenheit, das Geschenk von einer Minute Leben, sechzig vollen Sekunden, so vielen. Ich würde es wieder tun, bekäme ich nur einen Teil davon geschenkt, und wieder mit meinem vollen Gewicht dahinter, wenn ich könnte (und diesmal würde ich mich absichtlich runterstürzen aaaa –

ahhh, und diesmal würde ich beim Fliegen zählen, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwa-ahhh), wenn ich ihn noch einmal spüren könnte, den Aufschlag, unten, von vier Stock weiter oben. Vom Kopf bis zu den Zehen: tot. Totes Bein. Toter Arm. Tote Hand. Totes Auge. Tot ich, vier Etagen zwischen mir und der Welt, mehr war nicht nötig, um mich fortzunehmen, das ist das Maß, die Strecke bis zum Tod, das kurze Wiederse –.

Ziemlich hohe Räume, großzügig, ziemlich vornehm. Niemand könnte behaupten, ich hätte keinen feinen Abgang gehabt; die Zimmer waren neu und geschmackvoll ausgestattet mit guten harten, teuren Betten, mit Stuck an den Wänden im ersten und im zweiten und mit einem breiten imposanten Treppenhaus, an dessen Rückseite ich hinabfiel. Einundzwanzig Treppenstufen zwischen den Stockwerken und sechzehn bis ins Kellergeschoß: ich fiel sie alle. Ein ganz schönes Stück von einem dicken Teppich eine Etage weiter oben zum anderen dicken Teppich eine Etage weiter unten, obwohl der Boden im Keller ja Stein ist (die blanke Härte, wie ich weiß) und der Fall kurz war, weniger als eine ganze glorreiche Sekunde pro Etage, meiner Schätzung nach, jetzt, so lange nach dem Schluß-Aus. Das war was! Der Fall. Das Gefühl. Das Auf-und-Los; der Flug bis zum bitteren Ende, ganz bis runter in den Staub.

Staub schmecken, das wär was. Man fände ja jederzeit welchen, nicht wahr, zu jeder beliebigen Zeit, wenn man das wollte, in Zimmerecken, unter den Betten, oben auf den Türkanten: zusammengerollte Haare und getrocknete Fitzel, Flöckchen von was, das mal Haut war, die vielen glorreichen Rückstände atmender Wesen, auf ihren Kern reduziert und zusammengeklebt mit den verbrauchten Resten der Netze und Schüppchen von Motten, den durchsichtigen Schichten des abgebrochenen Flügels einer Schmeißfliege. Sie könnten sich leicht (Sie können das ja, wann immer Sie lustig sind) die Hand mit Staub beschmieren, das kostbare bißchen Staub zwischen Zeigefinger und Daumen zerreiben und zuschauen, wie es den Fingerabdruck färbt, Ihren, der einzigartig ist, der von keinem andern. Und dann könnten Sie den Finger ablecken; ich könnte ihn mit der Zunge ablecken, wenn ich wieder eine Zunge hätte, wenn meine Zunge feucht wäre, und könnte schmecken, was es ist. Wunderschöner Dreck, grau und alt, der Schmier, der vom Leben bleibt, am knochigen Dach eines Mundes klebenbleibt und nach fast nichts schmeckt, was immer noch besser ist als nichts.

Schmecken können, ich würde alles dafür geben. Wenigstens Staub schmecken können.

Denn jetzt, wo ich fast hin bin, bin ich mehr da, als ich es je war. Jetzt, wo ich nichts als Luft bin, möchte ich sie bloß atmen. Jetzt, wo ich für immer verstummt bin, haha, bin ich bloß auf Wörter Wörter Wörter aus. Jetzt, wo ich nicht einfach die Hand ausstrecken und anfassen kann, will ich nichts anderes.

So ging es zu Ende: Ich stieg in den, den. Den Lift für das Essen, sehr kleiner Raum, der an Seilen hängt und wartet über einem Schacht aus nichts, ich hab das Wort vergessen, er hat einen eigenen Namen. Die Seitenwände, Boden und Decke waren alle aus silberfarbenem Metall. Wir waren im obersten Stock, dem dritten; dort, wo vor zweihundert Jahren die Räume der Dienstboten waren, als es die im Haus noch gab; danach war das Haus ein Bordell, und da oben hat man die billigen Mädchen, die kränklicheren oder älteren, hingesteckt zum Verkauf ihrer Waren, und jetzt ist es ein Hotel, und jedes Zimmer kostet jede Nacht Geld, die kleineren Zimmer immer noch ein bißchen weniger, weil die Decken vom Boden aus leichter zu erreichen sind im obersten Stock des Hauses. Ich trug das Geschirr raus und stellte es auf den Teppich. Paßte auf, daß nichts überschwappt. Es war erst mein zweiter Tag. Ich war gut. Ich stieg rein, um zu beweisen, daß ich es konnte; rollte mich zusammen wie eine Schnecke in ihrem Gehäuse, meinen Nacken und meinen Rücken hineingezwängt, fest oben an das Metalldach gepreßt, das Gesicht zwischen den Armen, die Brust zwischen den Schenkeln. Ich bildete einen vollkommenen Kreis, und der Raum schwankte, das Seil riß, der Raum fiel aaaa – ahhh und zerbrach am Boden und ich mit. Die Decke kam runter, der Boden kam rauf, mir entgegen. Mein Rücken machte knack, mein Hals machte knack, mein Gesicht machte knack, mein Kopf machte knack. Der Käfig um mein Herz herum machte knack, und mein Herz kam heraus. Ich glaube, daß es mein Herz war. Es sprang aus meiner Brust heraus und quetschte sich in meinen Mund. So fing es an. Und zum erstenmal (zu spät) erfuhr ich, wie mein Herz schmeckt.

Ein Herz zu haben, das fehlt mir. Das Geräusch, das es früher gemacht hat, fehlt mir, die Wärme, die es aussenden konnte, das Wachsein, das es mir ermöglicht hat. Ich geh hier von Zimmer zu Zimmer und sehe Betten, ruiniert nach der Liebe und nach dem Schlaf, dann Betten, die gesäubert und hergerichtet sind, wieder darauf warten, daß Körper in sie gleiten; frische Bettücher sind zurückgeschlagen, Betten, die den Mund offen haben und sagen Willkommen, beeil dich, steig rein, der Schlaf kommt. Die Betten sind so einladend. Überall im Hotel machen sie jeden Abend den Mund auf für die Körper, die in sie gleiten, gemeinsam oder allein; alle diese Leute mit ihren schlagenden Herzen gleiten an einen Platz, der für sie freigemacht wurde von anderen Leuten, die jetzt weg sind, Gott weiß, wohin, die denselben Platz noch Stunden vorher wärmten.

Ich wollte mich erinnern, wie das war: schlafen mit dem Wissen, daß du wieder aufwachst. Hab sie genau beobachtet, die Körper, und gesehen, was ihre Herzen sie tun lassen. Hab sie hinterher schlafen sehen; ich hab am Fußende befriedigter Betten gesessen, unbefriedigter Betten, schnarchender, achtloser Betten, schlafloser Betten, den Betten von Menschen, die dort aber niemanden gespürt haben, niemanden im Zimmer außer sich selbst.

Beeilung. Der Schlaf kommt. Die Farben vergehen. Der Verkehr, sah ich, war heute farblos, die ganze Winterstraße war verblaßt, zu lange dem Wind und der Sonne ausgesetzt. Heute war sogar die Sonne farblos, der Himmel auch. Ich weiß, was das bedeutet. Ich hab die Plätze gesehen, an denen früher Grün war. Ich sah fast kein Rot mehr, und Blau gar keines. Das Rot wird mir fehlen. Das Blau wird mir fehlen, das Grün. Die Gestalten von Frauen und Männern werden mir fehlen. Der Geruch meiner Füße im Sommer wird mir fehlen. Geruch überhaupt wird mir fehlen. Meine Füße. Der Sommer. Gebäude und wie die Fenster haben. Die leuchtenden Verpackungen um Lebensmittel. Kleine Münzen, die nicht viel wert sind, ihr Gewicht in der Tasche oder in der Hand. Einen Song hören wird mir fehlen, und eine Stimme, die aus dem Radio kommt. Feuer sehen. Gras sehen. Vögel sehen. Ihre Flügel. Ihre glänzenden. Die Dinger, mit denen sie sehen. Die Dinger, mit denen wir sehen, wir haben zwei davon, sie sitzen im Gesicht über der Nase. Das Wort ist mir entfallen. Eben hatte ich es noch. Bei Vögeln sind sie schwarz und wie Perlen. Bei Menschen sind es kleine Löcher, von Farbe umgeben: blau, grün oder braun. Manchmal können sie grau sein, grau ist auch eine Farbe. Das Sehen wird mir fehlen. Mein Fall wird mir fehlen, der mich erledigt, der mich aaaa –

ahhhh zu dem gemacht hat, was ich heute bin. So ein Mist, für immer, für immer und ewig Welt ohne Ende und dann schließlich doch Ende, Amen. Ich würde es immer wieder tun. Ich steige jede Nacht seit meinem Fall vorigen Sommer (meinem letzten) in den obersten Stock, und obwohl der Aufzug jetzt weg ist, Gott weiß, wohin, fortgenommen aus Pietät oder dergleichen (unrühmlich, eine Tragödie, besser, man rührt nicht daran, eine Schattengeschichte; eines Tages kam mein Tod in die Zeitung, war aber am nächsten schon verweht, ein Hotel muß sich rentieren), ist der Schacht noch da, hinter der Treppe mit ihrem gewichtigen Versprechen des von ganz oben bis ganz unten, und ich werfe mich drüber, mehr kann ich nicht tun, schwebe durch die Höhlung, lasse mich auf den Boden nieder wie fader Schnee. Oder, wenn ich mich ins Zeug lege, mich extra bemühe, schnell runterzukommen und auf dem Stein zu landen, ich fliege direkt durch, als ob der Stein Wasser wäre oder ich eine heiße Klinge und der Stein Butter. Ich hinterlasse in nichts einen Abdruck. An mir ist nichts mehr, was noch knack machen kann.

Stellen Sie sich vor, Sie tauchen in Wasser ein, und das Wasser teilt sich rings um Ihre Schultern und macht Platz für Sie. Stellen Sie sich heiß oder kalt vor. Butter, die in erhitztes Brot einzieht, golden auf der Oberfläche, zerfließend. Es gibt ein Wort für erhitztes Brot. Ich kenne es. Ich kannte es. Jetzt ist es weg.

Das war so. Bei dem Aufschlag im Keller ging, wer ich war, kaputt, flog an meinem oberen Ende aus mir heraus, wie aus einem Feuer oben Glutpünktchen herausfliegen. Ich ging zum Begräbnis, um zu erfahren, wer ich gewesen bin. Es war schon ein bißchen trübsinnig. Ein kalter Junitag; die Leute hatten Mäntel an. Eigentlich ein sehr nettes Fleckchen, wo sie sie beerdigt haben. Vögel singen in den Bäumen und das Geräusch von Straßenverkehr in der Ferne; dort hörte ich das ganze Spektrum von Tönen. Jetzt sind die Vögel weit weg, und Verkehrsgeräusche gibt es fast keine. Ich schaue ziemlich oft vorbei. Jetzt ist es Winter. Sie haben einen Stein mit ihrem Namen und ihren Daten und einer ovalen Fotografie darauf aufgestellt. Die ist noch nicht verblichen. Sie wird aber verbleichen mit der Zeit; sie kriegt die Spätnachmittagssonne. Auf anderen Steinen ist auch so etwas, dieselbe Art Fotografien, in die dringt der Regen ein, und während die Jahreszeiten um die Steine herumwandern, sie aufheizen und sie abkühlen, entsteht Kondensation und legt sich unter dem Glas auf die Fotos. Der kleine Junge mit der Schulmütze auf dem Kopf, ein Stück weiter drüben auf der hügeligen Wiese; die ältere Dame, die geliebte Ehefrau; der junge Mann in seinem besten, seit fünfundzwanzig Jahren aus der Mode gekommenen Anzug: Alle atmen sie noch hinter ihrem Glas. Ich hoffe, unseres kriegt das mit dem Atmen auch hin. Ihres.

Unter dem Boden, in der Kälte, in den kleinen Gerüchen nach fetter Erde und nach Holz und feucht werdendem Firnis, erlebt sie jetzt so viele aufregende Dinge. Die ernsten, kitzligen Münder von Würmern vielleicht; alles mögliche. Wir waren ein Mädchen, wir sind jung gestorben, das Gegenteil von alt, wir sind es gestorben. Wir hatten einen Namen und neunzehn Sommer; so jedenfalls steht es auf dem Stein. Ihrem/meinem. Sie/ich. Poch-poch? Weee –

heer da? Ich. Du wer? Du-hu höchstpersönlich. Jemand hat die Fotografie von ihr so ausgeschnitten, daß sie hineinpaßt. Ich sehe das Zittern einer sorgsamen Schere am Rand ihres Kopfes. Eines Mädchenkopfes. Dunkle, schulterlange Haare. Der Mund geschlossen, lächelnd. Strahlend und schüchtern, die Dinger, mit denen sie sah. Einst waren sie grünlichblau. Der Kopf in dem Glasoval ist derselbe wie in den Rahmen in den verschiedenen Zimmern des Hauses, einer im vorderen Zimmer, einer im Elternzimmer, einer in der Diele. Ich suchte mir bei der Beerdigung die traurigsten Leute aus und folgte ihnen, um zu sehen, wo sie wohnten. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Sie saßen in der Kirche ganz vorn. Ganz sicher war ich nicht. Ich mußte raten. Das sind unsere, diese Leute, dachte ich, und ich hatte recht. Nach dem Begräbnis sind wir nach Hause gegangen. Das Haus ist klein, es hat kein oberes Stockwerk, keinen Platz für einen guten Fall. Ein Stuhl kann in dem Haus fast eine ganze Wand einnehmen. Eine Couch und zwei Sessel, und ein Raum ist so voll, daß die darauf Sitzenden kaum wissen, wo sie die Beine lassen sollen.

Zwei Häuser weiter hat mich ein Hund angebellt. Eine Katze hat sich, wo ihre Fußgelenke waren, durch mich durchgeschoben, an der Luft entlangstreichend. Es kamen noch mehr Trauergäste, das Haus wurde noch kleiner. Ich hab zugesehen, wie sie Tee getrunken haben in der fehlenden Geräumigkeit, in der sie gewohnt hat. Ich bin in ihr Zimmer gegangen. Von den zwei Betten war es bereits voll. Ich schwebte eine Weile über einem Bett. Ging wieder rüber ins andere Zimmer. Schwebte über den Traurigen. Schwebte über dem Fernseher. Schwebte über dem Staubsauger.

Sie aßen den Lachs, den Salat und die kleinen Sandwiches, und als sie gingen, schüttelten sie dem Mann an der Tür die Hand, dem Vater. Sie waren erleichtert zu gehen. Die Schwärze über den Köpfen löste sich bei den meisten auf, als sie am Gartentor angelangt waren und das Schloß hinter sich zuschnappen ließen. Ich ging wieder rein und sah mir die Hinterbliebenen an. Es waren drei. Die Frau war die traurigste. Sie saß in einem Sessel, und die ungesprochenen Worte, die ihr um den Kopf hingen, sagten: Das ist zwar mein Zuhause, wo ich seit zweiundzwanzig Jahren lebe und wo ich von der Familie und von vertrauten Dingen umgeben bin, aber ich weiß trotzdem nicht mehr richtig, wo in der Welt ich eigentlich bin. Der Mann machte Tee und räumte das Geschirr ab. Den ganzen Nachmittag räumte er, während Tee getrunken wurde oder sich Haut bildete, Tassen auf ein Tablett und trug es rüber in die Küche, füllte einen Kessel und machte neuen Tee, kam mit vollen Tassen wieder rüber. In der Küche stand er, machte eine Schranktür auf, nahm nichts aus dem Schrank heraus und machte die Tür wieder zu. Das noch lebende Kind war ein Mädchen, noch eines. Sie hatte einen Anfall von Zorn, der von ihrem blonden Haaransatz ausging, quer über ihre Stirn zog und mitten über ihr Gesicht abwärts verlief, ihr Kinn halbierte, ihren Hals, ihre Brust, bis ganz hinunter in ihren Unterleib, wo er sich zu einem schwarzen Knoten verknäulte. Dieser Knoten hielt ihre beiden Hälften nur knapp zusammen. Sie saß mit hochgezogenen Beinen unter der gerahmten Fotografie des gestorbenen Mädchens. Wir hatten darauf eine Krawatte um, schüchtern, und hielten eine Trophäe in Gestalt eines Schwimmers in den Händen.

Es war noch Lachs auf dem Teller. Wie der wohl schmecken mochte? Der Mann kam rüber, trug ihn weg, kratzte ihn hinter dem Haus in eine Plastiktüte. Es war Abfall. Er hätte ihn aufheben können. Sie hätten ihn später essen können oder morgen, und er hätte genauso gut geschmeckt, besser; ich wollte ihn das wissen lassen. Schaute ihn traurig an, dann schüchtern, dann sah er mich. Ließ die Plastiktüte fallen. Sie fiel raschelnd auf die kaputten Steinfliesen. Sein Mund ging auf. Es kam kein Ton heraus (ich hörte damals noch perfekt). Ich winkte ihm mit der Schwimmtrophäe zu. Er erbleichte. Lächelte. Schüttelte den Kopf und sah durch mich hindurch, und dann war ich wieder weg, und er warf den Lachs fort. Eine ganze Fischhälfte, und die Gräten hätten sich leicht herauslösen lassen, er war perfekt zubereitet. Von einem wunderschönen Rosa. Das war im vorigen Sommer, in meinem (plötzlich) letzten. Ich sah damals noch das ganze Spektrum der Rottöne.

Deshalb übte ich mit dem Schulfoto, das auf dem Fernseher stand. Das Gesicht Unschuld und Müdigkeit, das Alter dreizehn, ein leichtes Schielen in den, den. Den Dingern, mit denen sie sah. Das Rote darin brachte ich auf einem anderen Bild perfekt heraus, einem mit anderen Mädchen, und bei allen, die vorher nur verschwommen zu sehen waren, holte ich rote Lichter und eine spöttische Verwegenheit aus den Gesichtern und Getränken heraus, die sie in den Händen hatten. Ich vergewisserte mich, daß ich das richtige Mädchen darstellte. Hinten, versteckt, da war sie. Mühselig war die Arbeit an der Wärme ihres Blicks bei dem Bild, das auf dem Kaminsims stand, dem, wo sie den Arm um die Schultern der Frau legt, die jetzt so verloren in dem Sessel sitzt. Ihrer Mutter.

Dasselbe machte ich bei dem Oval auf dem Grabstein, ohne es zu wollen; es war leicht: ein feines Lächeln, bloß eben ernst; ein Paßfoto für den Eintritt in andere Welten. Am liebsten retuschierte ich aber bei dem, wo die hinterbliebene Schwester mit drauf ist, einem Foto, das die Schwester in ihrem Portemonnaie aufbewahrte und erst ansah, nachdem ihre Eltern im Bett lagen oder sie selbst in einem abschließbaren Zimmer war. Sie zwei saßen auf einer Couch, aber das tote Mädchen war gerade dabei, etwas zu sagen, und schaute von der Kamera weg. Das war mein Meisterstück, die Richtung der Bewegung, der lachende Blick, das, was gleich noch gesagt wurde. Es kostete mich schon Mühe, so mühelos zu schauen.

Vom Sommer bis zum Herbst tat ich, was ich kann. Ich erschien dem Vater. Ich erschien der Mutter. Der Vater tat so, als könne er nichts sehen. Je mehr er sah, desto mehr sah er weg. Eine Wand wuchs zentimeterweise von seinen Schultern rings um seinen Kopf; jedesmal, wenn ich kam, setzte er eine neue Reihe Ziegel obendrauf. Im Herbst überragte die Wand seinen Kopf bereits weit, schwankte, war schlecht gemauert und bedenklich schief, reichte im Wohnzimmer fast bis zur Decke, schlug gegen den Lampenschirm und brachte, wenn er durchs Zimmer ging, jedesmal Licht und Schatten zum Schaukeln.

Zu der Mutter kam ich nur zweimal. Es brachte sie zum Weinen, machte sie elend, schreckhaft und ängstlich. Es war unangenehm. Beide Male endeten in Tränen und wochenlanger Schlaflosigkeit. Es war netter, es bleibenzulassen, und so ließ ich sie in Ruhe.

Die Schwester aber laugte mich richtig aus. Ein schrecklicher Durst war das, ihr konnte ich gar nicht oft genug erscheinen. Mit der Trophäe, mit den roten Lichtern, die aus meinem Gesicht kamen, mit dem Paßfotolächeln, mit dem noch zu sagen Gewesenen, den lachenden Dingern. Was für ein Gesicht ich auch zog, es wurde geleert und versickerte in dem Bruch, der ihren Körper längs teilte. Der Sommer verging, der Herbst kam, und sie war immer noch dunkel vor Durst; falls überhaupt, hatte sie noch mehr Durst, sie wollte mehr, und die Farben verblaßten. Als es Winter wurde, hörte ich auf. (Seitdem finde ich es leichter, Menschen zu erscheinen, die nicht erkennen, was sie sehen. Ich schaute in das zerrissene Gesicht des traurigen Mädchens und wußte Bescheid. Angesichts von soviel Bedeutung ist es leichter, kein Gesicht zu haben.)

Über mir singen die Vögel, immer weiter weg. Jeden Tag ein bißchen weiter, gedämpfter, wie Watte in den Ohren. (Stellen Sie sich Watte vor. Rauhfädig reibend.) Ich ließ mich knapp über dem Gras auf der kuschlig weichen Luft nieder. Es war ein Samstagnachmittag; es langweilte mich, die Familie aus der Fassung zu bringen, es langweilte mich, zufälligen Personen zu erscheinen, die nicht wußten, wer wir waren. Das Laub an den Bäumen verblaßte. Das Gras, hübsch und neu, ergraute für den Winter, und sie lag unter dem durchgeweichten Teppich, einen reichlichen Meter Erde über ihr aufgehäuft und gut durchmischt. Ich sah mir das Paßfoto in dem Oval an, das Gesicht der Gestalt, die wir zusammen angenommen hatten. Tief unter der Schicht Erde schlief sie. Sie konnte nicht raufkommen. Aber ich konnte runter. Runter durch Lehm, und die gelegten Eier vielbeiniger Tiere und die Termiten, die grabenden, dicken Maden, sie alle warteten schon darauf, daß sie aufbrachen in der Jahreszeit nach dem Winter, mir ist das Wort dafür entfallen, der Jahreszeit, wenn die Blumen wieder ihre Köpfe aus der Erde schieben, ohne sich um was zu scheren.

Ich ging runter, viel tiefer als verdutzte Blumenzwiebeln, bis ich durch den Deckel des hölzernen Raumes kam, glatt und teuer außen, spanplattenbillig innen. Ein letztes Mal schlüpfte ich in unsere alte Gestalt, hievte mir ihre Schultern über, schob mich in ihre Beine und Arme und durch ihre schartigen Rippen, aber der Sitz war schlecht, sie war zerbrochen und faulte, und so lag ich halb in und halb außer ihr unter den Rüschenvolants im Innern des Raumes, kalt, glaub ich, und sinnlos rosa im Dunkeln.

Die Dinger, mit denen sie sah, waren schwarz geworden. Ihr Mund war zugeklebt. Hallo, sagte sie durch den Kleber. Du wieder. Was hast du vor?

Wie geht’s? sagte ich. Gut geschlafen?

(Sie hörte mich!) Bis jetzt prima, sagte sie. Und? Was ist? Besser, es ist was Gescheites.

Ich möchte bloß was, flüsterte ich, an die Oberfläche mitnehmen. Bloß das eine Ding. Heute ist Samstag. Wußtest du das? Deine Schwester hat vorige Woche über deinem Kopf Krokusse gepflanzt, wußtest du das?

Wer? sagte sie. Was? Hau ab. Laß mich in Ruhe. Ich bin tot, Herrgott noch mal.

Ich muß etwas wissen, sagte ich. Erinnerst du dich an den Sturz? Weißt du noch, wie lange der gedauert hat? Erinnerst du dich, was davor passiert ist? Bitte.

Schweigen. (Ich wußte aber, daß sie mich hörte.)

Ich geh erst wieder, sagte ich, wenn du es mir gesagt hast. Ich geh nicht, ehe ich es nicht habe.

Schweigen. Also wartete ich. Tagelang lag ich mit ihr zusammen in der Kiste. Natürlich hab ich sie geärgert. Hab an ihren Stichen herumgespielt. Bin in sie rein- und wieder rausgeschlüpft, zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Ich sang Songs aus West-End-Musicals (oh, was für ein wunderschöner Morgen; nur ein Zimmerchen irgendwo / mit ’nem Sofa drin, sowieso; was in aller Welt hat sie veranlaßt fortzugehn; ich bin gewöhnt an ihr Gesicht), sang sie ihr so lange an den Hinterkopf, bis Beschwerden aus den Nachbargräbern kamen und ich aufhören mußte. Statt dessen steckte ich ihr dann Finger in die zugestöpselte Nase, zwickte sie in die Ohrläppchen.

Ich verpaßte drei volle Sonnenauf- und -untergänge (Tage, die mir durchaus kostbar waren, wenn schon nicht ihr, die jetzt dalag, die Taschen voll mit Erde und eine Staubschicht Erde über sich, so gemütlich und sicher in ihrem Schacht von Tagen und Nächten und immer so weiter und weiter ohne Schluß-Aus unten, in einem Keller), bevor sie schließlich, ohne mit der Wimper zu zucken, sagte: Schon gut, schon gut. Ich sag’s dir. Wenn du versprichst, daß du dann gehst und mich in Ruhe läßt.

Okay, tu ich, abgemacht, sagte ich.

Schwörst du’s? sagte sie.

Beim Leben deiner Mutter.

O Gott. Meine Mutter. Regel Nummer eins: Erinner mich nicht an die, sagte sie. Und Nummer zwei: nur der Sturz, nicht mehr, sonst nichts.

Okay, sagte ich. Mehr will ich gar nicht.

Wieviel weißt du schon? sagte sie durch fest aufeinandergepreßte Zähne. Wie weit muß ich zurückgehen?

Also, ich weiß von dem Geschirr, das du aus dem kleinen Zimmer geholt hast. Ich weiß, daß du aufgepaßt hast. Ich weiß von dem Zusammenrollen in dem Raum, daß du die Beine eingezogen hast wie ein noch Ungeborenes, aber ich weiß nicht mehr, warum. Und ich erinnere mich an den Fall, aaaa –

ahhhh, da kannst du Gift drauf nehmen.

Ich strampelte mit unseren Beinen gegen die Holzwände. Spürte, daß ihr das nicht paßte. Mit dem Seufzer einer Toten sagte sie: Ein Raum war das keiner. Dafür war es zu klein. Es war ein Speiseaufzug, weißt du noch? –

(Das ist der Name, der Name dafür; das ist es; Speiseaufzug, Speiseaufzug, Speiseaufzug.)

– und das ist die Geschichte, wenn du unbedingt eine hören mußt. Daß du glücklich bist, merkst du erst den Bruchteil einer Sekunde, bevor es zu spät ist.

Zu spät? Zu spät, wofür? sagte ich.

Unterbrich mich nicht, sagte sie. Es ist meine Geschichte, hier kommt sie: Hörst du zu? Ich hab mich verliebt. Ziemlich heftig verliebt. Es hat mich erwischt. Es hat mich glücklich gemacht, und dann hat es mich unglücklich gemacht. Was tun? Mein ganzes Leben lang hatte ich erwartet, daß ich mich mal in einen Jungen verliebe oder in den einen oder anderen Mann, und ich hab gewartet und nach ihm Ausschau gehalten. Und dann ist eines Tages meine Uhr stehengeblieben. Ich dachte, ich hätte vielleicht Wasser reingekriegt, und bin damit in den Uhrenladen gegenüber dem Markt. Du weißt, welchen?

Nein, aber den find ich schon, sagte ich.

Gut, sagte sie. Die Zeiger meiner Uhr standen auf zehn vor zwei, aber das war nicht die richtige Zeit. Ich hab sie vom Arm abgebunden und sie auf die Ladentheke gelegt, und die Frau hinter der Ladentheke hat sie genommen, um sie sich genauer anzusehen. Sie hat sie in den Händen gehalten. Ihre Hände waren ernst, ich schaute hoch, wollte ihr am Gesicht ablesen, was mich das kosten würde, und als ich das tat, sah ich, wie sie die Stirn runzelte, während sie auf meine Uhr pochte, sie drehte und schüttelte, sah die Konzentration über ihr Gesicht wandern, während sie meine Uhr mit dem Zifferblatt nach oben in den Händen hielt, und da überkam es mich. Ich verliebte mich. Sie verkauft Uhren, alle möglichen Sorten, und Uhrenarmbänder und Uhrenbatterien. Sie schickt die Uhren der Leute weg zum Reinigen, damit sie anschließend wieder gehen. Sie steht da, von Uhren umgeben, Uhren in Schränken, Uhren in Vitrinen, Uhren die Wände rauf und runter, ich hatte keine Ahnung, daß es so viele unterschiedliche Arten von Uhren gibt, aus denen man auswählen kann, und allesamt angehalten, die Zeiger zeigten auf verschiedene mögliche Tageszeiten. Die einzige funktionierende Uhr in dem Geschäft an dem Vormittag war die eine, die an ihrem Arm in die warme Unterseite des Handgelenks der Verkäuferin tickte. Sie machte meine tote Uhr hinten auf und prüfte die Batterie. Sekonda.

Heißt sie so? fragte ich.

Ich warne dich, sagte sie zu mir durch ihren sich nicht öffnenden Mund. Ich erzähle dir das bloß einmal, denk dran. Wir haben eine Abmachung. Sekonda war das Wort, das auf der Uhr stand, die Bezeichnung für die Uhrenmarke. Das war das erste Wort, das sie zu mir sagte. Sekonda? Genau so, mit einem Fragezeichen dahinter. Meine ist auch eine Sekonda, sagte sie. Sie drehte die Handfläche ihrer Hand nach oben und zeigte mir das Zifferblatt ihrer Uhr. Die hatte römische Zahlen. Dann sagte sie: Die muß ich einschicken. Das wird drei Wochen dauern, vielleicht noch länger. Und um die fünfunddreißig Pfund kosten. Das ist ein Durchschnittswert, am Ende könnte es noch teurer werden, das kann ich unmöglich vorher wissen. Sie könnten sich für weniger eine neue Uhr kaufen. Also, soll ich mich darum kümmern? Ja, sagte ich; mir fiel kein anderes Wort ein, das ich zu ihr hätte sagen können. Die muß von Spezialisten repariert werden, sagte sie. Die Sekonda-Uhren werden alle eingeschickt. Die können wir hier nicht reparieren. Ja, sagte ich, ja, und nahm den Auftragsschein, den sie mir hinhielt, verließ das Geschäft, die Glocke über der Tür läutete mir noch hinterher.

Draußen vor dem Geschäft lehnte ich mich an die Mauer, die läutende Türglocke in den Ohren. Ich hielt mir die Seiten. Wußte nicht, was mit mir los war. Ich überlegte, wie ich es anstellen konnte, wieder in das Geschäft hineinzugehen und zu sagen: Ihre Uhr ist viel hübscher als meine, ich hätte gern eine mit diesen römischen Zahlen, verkaufen Sie mir genau so eine, wie Sie haben. Ich rührte mich aber nicht von der Stelle. Konnte mich nicht von der Stelle rühren. Stand draußen vor dem Geschäft und horchte auf mein tickendes Herz. Ich kam mir komisch vor, anders.

Dann begriff ich es. Ich hatte mich verliebt, und zwar in die Verkäuferin in dem Uhrengeschäft. Ich war glücklich. Und ich hatte einen Auftragsschein.

(Ich streckte mich lang auf ihr aus in dem Kasten unter der Erde. Viel Platz war nicht; ein Glück, daß ich so unkörperlich bin. Über der Geschichte hatte ich ganz vergessen, daß wir ja tot waren. Doch ich schaute und sah, daß ihre Mundwinkel verbissen herunterhingen.)

Ich knäulte also den Auftragsschein in der Hand zusammen, sagte sie. Behielt die Hand in der Tasche und den warmen Schein in der Hand. Drei volle Stunden lief ich an dem Tag durch die Straßen, als gehörten sie mir, als gehörte mir die ganze Welt.

Dann ging ich schwimmen.

Es war ein warmer Tag im Mai; ich ging in ein Freibad. Du weißt schon, welches, dort, wo sie diese altmodischen Kabinen haben, mit den Holztüren, die auf- und zuschwingen wie die Saloontüren in einem Western.

Western hatten wir früher sehr gern, weißt du noch? sagte ich.

Keine Nostalgie, sagte sie. Grundregel. Wo war ich gleich? Ja. Geh dir auch das Schwimmbad ansehen. An dem Tag bin ich geschwommen, als ob ich dafür geboren wäre. Ich war glücklich, und das Wasser schob mich vorwärts. Ich ging zurück in meine Kabine, schlang mir mein Handtuch um den Nacken. Ich rubbelte mir die Haare trocken, da hörte ich, daß irgend etwas war, irgendein Tumult am Schwimmbecken. Ich sah hinaus. Zwei kleine Jungen zeigten auf mich. Ein paar Leute beugten sich über die Seite und gestikulierten auch von den Sitzplätzen oben in meine Richtung. Ein Mädchen, hoch oben am Himmel auf dem Sprungbrett, schaute, die Leute guckten von unten und von oben, um das ganze Becken herum, sogar die im Becken lehnten sich über den Rand und atmeten Wasser durch die Nase aus; manche lachten. Mir lief es kalt den Rücken runter.

Doch das Kalte war bloß Wasser aus meinen Haaren; die Leute guckten und zeigten nicht auf mich. Natürlich nicht. Sie guckten auf etwas nicht weit von mir, neben mir. Ich steckte meinen Kopf weiter heraus, um nachzusehen, und sah das:

Eine Frau in mittleren Jahren drei Kabinen weiter wollte die Kabinentür hinter sich zumachen. Bloß wollten die Türen nicht zugehen. So füllig war die Frau gar nicht, aber die Kabinen auf der Damenseite des Beckens sind klein, und ihr Bauch stand vor, hielt die Tür auf. Sie trat heraus und wollte andersherum reingehen, aber die Türen gingen immer noch nicht zu. Sie blieben an ihrem Hintern hängen. Die Frau kam noch einmal heraus und probierte, seitlich reinzugehen, aber das war noch schlimmer. Dieses Rein und Raus ging offenbar schon eine ganze Weile.

Ich ging noch einmal ins Wasser und schwamm rüber auf die andere Seite. Die Leute machten mir Platz, rutschten ein Stück zur Seite, damit ich mich zu ihnen auf den Beckenrand setzen, die Beine im Wasser, und wie sie gucken konnte.

Ich sah jetzt wie sie. Die Frau hatte es inzwischen aufgegeben, die Kabine zumachen zu wollen, und angefangen, sich bei offenen Türen auszuziehen, aber es war zu eng in der Kabine, als daß sie die Arme hätte heben oder sich hätte bücken können, und so stand sie draußen. Sie zog ihre Schuhe aus. Sie bückte sich und schälte ihre Strumpfhose ab, und wir sahen das obere Stück ihrer Beine. Jemand pfiff bewundernd. Alle lachten. Die Frau hob die Arme über den Kopf, um ihr Oberteil abzustreifen. Ihr Gesicht kam wieder unter den Sachen hervor, es war rot und erhitzt. Sie stand jetzt in der Unterwäsche da. Wir feuerten den Bademeister an, der um das Becken herumrannte und sie davon abhalten wollte, alles auszuziehen. Ein anderer Bademeister hob ihre Sachen von den Bodenfliesen auf. Zu beiden Seiten einen Bademeister wie bei einer Polizeistreife, die einen Ladendieb in die Mitte nimmt, oder wie jemand, der in ein Gericht gebracht wird, wurde die Frau unter Johlen und Klatschen weggeführt. Sie war barfuß, hatte ihren Rock und oben bloß noch die Unterwäsche an. Wir sahen, wie sich die Haut unter ihren Armen wölbte. Ein Mann rief ihr zu, sie solle sich was überziehen. Ich hörte zustimmendes Frauengemurmel. Wenn die ins Becken steigt, paßt das Wasser nicht mehr rein, geschweige denn wir andern, sagte der Mann neben mir; er betrachtete jetzt meinen nassen Hals, und ich nickte und lächelte, denn er flirtete mit mir, und rutschte wieder ins Wasser.

Hinterher waren alle um das Schwimmbecken herum high. Ich hörte sie, während ich mich wieder anzog, obwohl meine Haut noch so naß war, daß meine Sachen klebten und daran festhingen. Auf dem Weg hinaus sagten mehrere Leute mir auf Wiedersehen, so als wären wir alte Freunde, als kennten wir uns alle gut, als hätten wir zusammen etwas durchgestanden.