Sommer - Ali Smith - E-Book

Sommer E-Book

Ali Smith

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Beschreibung

Eine Geschichte über Menschen, denen große Veränderungen bevorstehen. Sie sind eine Familie und glauben doch, Fremde zu sein. Was verbindet diese Menschen? - Der Sommer. Da ist zum Beispiel Sacha, 16, die Probleme mit ihrem kleinen Bruder hat, einem hochbegabten, die Schule schwänzenden Einstein-Fan; und eigentlich will sie die Welt retten, aber ihre Eltern sind ihr da auch keine Hilfe. So weit die Gegenwart. In der Vergangenheit verbringen ein anderer Bruder und eine andere Schwester einen wunderschönen Sommer, obwohl sie wissen, dass die Zeit gegen sie arbeitet …

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Zum Buch:

Sacha ist 16, sie isst kein Fleisch und erledigt alles zu Fuß. Ihr größtes Problem ist der drohende Untergang der Welt und dass sie in ihrer Familie die Einzige ist, die etwas dagegen unternimmt. Ein anderes großes Problem ist ihr Bruder Robert, 13, ein hochbegabter, die Schule schwänzender Einstein-Fan und eine geniale Nervensäge. Ihre Mutter und ihr Vater haben Probleme miteinander, und dann ist da noch das Virus und der Lockdown …. So weit die Gegenwart.

In der Vergangenheit verbringen ein anderer Bruder und eine andere Schwester einen wunderschönen Sommer, obwohl sie wissen, dass die Zeit gegen sie arbeitet …

Eine Geschichte über Menschen, denen große Veränderungen bevorstehen. Sie sind eine Familie und glauben doch, Fremde zu sein. Wo beginnt die Familie? Und was verbindet Menschen, die glauben, nichts miteinander gemein zu haben? – Der Sommer.

»Das grandiose Finale eines herrlichen, ineinander verschlungenen Quartetts.« The Telegraph

Zur Autorin:

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize und stand in Deutschland auf der SWR-Bestenliste, »Frühling« wurde auf die ORF-Bestenliste gewählt. In Großbritannien waren alle Bände des Jahreszeitenquartetts Bestseller.

Zur Übersetzerin:

Silvia Morawetz, mehrfach mit Stipendien ausgezeichnete Übersetzerin, hat u. a. Steven Bloom, Paul Harding, James Kelman, Joyce Carol Oates und Anne Sexton ins Deutsche übertragen.

Ali Smith

Sommer

Roman

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem TitelSummerbei Hamish Hamilton, einem Imprint von Penguin Random House Ltd., London.Virginia Woolf, Zwischen den Akten, übersetzt von Adelheid Dormagen © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M. 1999Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2020 Ali Smith

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Der Verlag konnte nicht alle Rechteinhaber ausfindig machen.

Berechtigte Ansprüche mögen bitte dem Verlag gemeldet werden.

Umschlaggestaltung: buxdesign | München, unter Verwendung einer Illustration von © Ruth Botzenhardt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22300-7V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

für meine SchwesternMaree MorrisonAnne MacLeod

meine FreundePaul BaileyBridget Hannigan

nicht zu vergessenmeine FreundinSarah Daniel

und fürmeine HeidelbeerfreundinSarah Wood

Es war eine Sommernacht, und sie redeten in dem großen Zimmer, die Fenster offen zum Garten hin, über die Senkgrube. Virginia Woolf

Herr, erhalte mein Gedächtnis frisch!Charles Dickens

Wie tief die Dunkelheit auch sei, wir müssen das Licht selbst mitbringen.Stanley Kubrick

Ich dachte mir, dieser Mensch, er oder sie, brächte mich in ein Land, sonnig, hoch oben, wo Glück, wusste ich, nur ein Augenblick war, Feuer, leise knisternd im Kamin, das allen Kummer zu Asche verbrennt, wenn das ginge, der Rest Schlacke, um den wir trauern, wenn Särge so schrecklich nüchtern versinken in Rauch, in Getöse, in Licht, in nahezu nichts. Dieses nicht ganz Nichts, ich preise es, schreibe es.Edwin Morgan

Sie ist warm!William Shakespeare

Eins

Alle sagten:und?

Wie bei und, weiter? Wie bei Achselzucken oder was soll ich da deiner Meinung nach tun? oder das ist mir so was von scheißegal oder find ich gut, mir soll’s recht sein.

Okay, nicht alle sagten es. Ich spreche von gängigen Redensarten wie das machen doch alle. Ich meine, damals, zu dem Zeitpunkt, hörte man diese abschätzige Äußerung dauernd; sie war so was wie ein Lackmus. Ungefähr in der Zeit kam es in Mode, so zu tun, als interessierte einen das nicht. Es kam auch in Mode zu behaupten, diejenigen, die es interessierte oder die sagten, es interessiere sie, seien ent­weder hoffnungslose Loser oder wollten sich nur aufspielen.

Als wäre das schon ewig her.

Ist es aber nicht – es ist nur ein paar Monate her, dass man Leute, die ihr ganzes oder fast ihr ganzes Leben in diesem Land gelebt hatten, festnahm und mit Abschiebung bedrohte oder gleich abschob: und?

Und dass eine Regierung ihr eigenes Parlament in eine Zwangspause schickte, weil sie nicht das gewünschte Ergebnis bekam: und?

Dass so viele durch ihre Wahlentscheidung Leute an die Macht brachten, die ihnen direkt in die Augen schauten und sie anlogen: und?

Dass ein Kontinent brannte und ein anderer schmolz: und?

Dass die Mächtigen überall auf der Welt anfingen, Menschen aufgrund von Religion, ethnischer Herkunft, Sexualität, intellektuell oder politisch abweichender Meinung herabzusetzen: und?

Doch nein. Stimmt. Das sagten nicht alle.

Bei weitem nicht.

Millionen von Menschen sagten es nicht.

Millionen und Abermillionen, im ganzen Land und auf der ganzen Welt, sahen das Lügen, sahen, wie übel Menschen und dem Planeten mitgespielt wurde, und erhoben die Stimme, auf Demonstrationen, bei Protesten, bei Wahlen, in Wort und Schrift, mischten sich ein, im Radio, im Fernsehen, in den sozialen Medien, Tweet um Tweet, Seite um Seite.

Woraufhin diejenigen, die wussten, was für eine starke Waffe es ist, einfach nur und? zu sagen, es im Radio, im Fernsehen, in sozialen Medien, Tweet um Tweet, Seite um Seite sagten: und?

Ich meine, ich könnte mein ganzes Leben lang aufzählen, mich dazu äußern und anhand von Quellen und Diagrammen, Beispielen und Statistiken darlegen, was, wie die Geschichte verdeutlicht, geschieht, wenn wir gleichgültig sind und welche Folgen die politische Förderung der Gleichgültigkeit hat, was jeder, der das in Abrede stellen will, im Handumdrehen wieder vom Tisch wischen kann mit einem kleinen:

und?

Also.

Stattdessen hier etwas, was ich mal gesehen habe.

Es ist ein Bild aus einem Film, vor ungefähr siebzig Jahren in Großbritannien gedreht, nicht lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der Film wurde in London von einer jungen Künstlerin gedreht, die aus Italien nach London kam, als die Stadt sich wie viele andere wieder aufrappeln musste in diesen fast ein Menschenalter zurückliegenden Jahren, nachdem überall auf der Welt zehnmillionenfach Menschen allen Alters vor ihrer Zeit gestorben waren.

Es ist das Bild eines Mannes mit zwei Koffern in der Hand.

Er ist schmächtig, jung, ein verstörter, vorsichtiger Mensch, schmuck mit Hut und Jackett, leichtfüßig, aber kein Bruder Leichtfuß; auch wenn er nicht zwei Koffer trüge, trägt er unverkennbar an einer Last. Ernst und mager, tief in Gedanken und schrecklich konzentriert zeichnet er sich gegen den Himmel ab, weil er auf dem sehr schmalen Sims balanciert, der um ein Backsteingebäude verläuft, und dort einen wilden Freudentanz aufführt, die kaputten Dächer Londons hinter sich; nein, genauer, die Dächer sind weit unter ihm.

Wie macht er das, so schnell gehen, ohne von der Ge­bäude­kante zu stürzen?

Wie kann das, was er tut, so ungestüm und dabei so anmutig sein, so bezwingend und zugleich so unbekümmert?

Wie macht er das, die beiden Gepäckstücke so durch die Luft schwenken und dabei im Gleichgewicht bleiben? Wie kriegt er das hin, in dem Tempo unmittelbar neben einem jähen Abgrund entlanglaufen?

Warum wagt er alles?

Es wäre sinnlos, Ihnen ein Standbild oder ein Foto davon zu zeigen. Das Bild lebt davon, dass es sich bewegt.

Mehrere Sekunden dauert dieser verrückte Drahtseilakt, bei dem er ausgelassen und fröhlich über der Stadt tänzelt, viel zu schnell im Zickzack an der Dachkante entlangrennt, die nur einen Backstein breit ist.

Also:

Ob ich die Heldin meines eigenen Lebens sein werde, sagt Sachas Mutter.

Dann sagt sie: Sacha, was ist das? Wo ist das her?

Sacha frühstückt im Wohnzimmer und liest dazu auf dem Handy. Der Fernseher läuft, die Lautstärke ein paar Stufen zu hoch eingestellt, und ihre Mutter schreit über den Lärm hinweg.

Weiß ich nicht, sagt Sacha.

Sie spricht mit normaler Lautstärke, kann gut sein, dass ihre Mutter sie überhaupt nicht gehört hat. Nicht dass es, so oder so, etwas ausmachen würde.

Heldin meines eigenen Lebens. Ihre Mutter geht im Zimmer hin und her und spricht es vor sich hin. Heldin meines eigenen Lebens, dann kommt irgendwas über eine Stelle, eine Stelle, die jemand einnehmen wird. Wo ist das her?

Als ob das wichtig wäre.

Sacha schüttelt den Kopf, aber nicht so heftig, dass ihr Kopfschütteln auffallen würde.

Ihre Mutter merkt nie was.

Ein Beispiel dafür ist, was gestern Abend wegen des Zitats los war, das Sacha im Netz für den Aufsatz über Vergebung gesucht hatte, den sie für heute für die Stunde bei Merchiston schreiben musste. Aus Anlass des Brexits vor genau einer Woche sollten sie alle einen Aufsatz zum Thema »Vergebung« schreiben. Vergebung ist Sacha äußerst verdächtig. Zu sagen ich vergebe dir ist doch so, als sagte man du stehst unter mir, und ich bin dir moralisch oder geistig überlegen.

Aber das ist die Art Mut zur Wahrheit, für die man bei Merchiston eine Zwei kriegt statt einer Eins, bei dem die ganze Klasse inzwischen geschnallt hat, wie man antworten muss, um die gewünschten Noten zu bekommen.

Darum hat sie gestern Abend, der Aufsatz muss ja heute abgegeben werden, im Netz nach ein paar Zitaten gesucht.

Wie eine Schriftstellerin aus dem vorigen Jahrhundert andächtig schrieb: »Vergebung ist der einzige Weg, den unumkehrbaren Lauf der Geschichte zu ändern.«

Ihre Mutter war in ihr Zimmer gekommen, wieder ohne anzuklopfen, stand da und las über Sachas Schulter hinweg den Bildschirm.

Oh, das ist gut, das Zitat, sagte ihre Mutter, das gefällt mir.

Mir gefällt’s auch, sagte Sacha.

Ist andächtig das richtige Wort?, sagte ihre Mutter. Es klingt eher philosophisch als andächtig. Ist das eine gläubige Schriftstellerin? Wer hat das geschrieben?

Ja, ist sie, sagte Sacha, obwohl sie keine Ahnung hatte, nicht wusste, von wem das stammte, und das Wort andächtig genommen hatte, weil es in dem Satz gut klang. Jetzt aber, wo ihre Mutter ihr auf den Hals atmete und wegen des Verfassers nachbohrte, rief sie Startpage auf und tippte die Wörter unumkehrbar, Lauf und Geschichte ein. Das ­Zitat erschien.

Der Name klingt europäisch, sagte sie.

Ah. Es ist Arendt, Hannah Arendt, sagte ihre Mutter. Arendt über Vergebung, das würde ich gern lesen, das hätte ich jetzt sehr gern.

Ist ja witzig, dachte Sacha, ihr Vater und ihre Mutter machten nämlich nicht den Eindruck, als würden sie sich in absehbarer Zeit irgendwas vergeben.

Ich weiß allerdings nicht, ob ich sie gläubig nennen würde, sagte ihre Mutter. Aus welcher Quelle hast du das?

Brainyquote, sagte Sacha.

Das ist keine Quelle, sagte ihre Mutter. Geben die da die ursprüngliche Quelle an? Schau, nein. Das ist schrecklich.

Die Quelle ist Brainyquote, sagte Sacha. Da hab ich das Zitat gefunden.

Du kannst als Quelle nicht bloß Brainyquote angeben, sagte ihre Mutter.

Doch, kann ich, sagte Sacha.

Du brauchst eine bessere Quellenangabe, sagte ihre Mutter. Sonst weißt du nicht, wo Hannah Arendts Satz ursprünglich gestanden hat.

Sacha hielt den Bildschirm hoch. Drehte ihn in Richtung ihrer Mutter.

Brainyquote. Quotepark. Quotehd. Azquotes. ­Facebook. Goodreads. Picturequotes. Quotefancy. Askideas. Birthday­wishes.expert, sagte sie. Man kriegt all diese Seiten angezeigt, wenn man Teile des Zitats eintippt. Und das sind bloß die Top-Quellen. Es gibt massenhaft Seiten, die diesen Satz von ihr als Zitat haben.

Nein, denn die Seiten behaupten bloß, dass sie sie zitieren, und das genügt nicht, sagte ihre Mutter. Du musst die alle durchgehen, bis du findest, woraus es ursprünglich zitiert wird. Kontext. Das ist wichtig.

Ja, aber das brauche ich nicht zu wissen, sagte Sacha.

Aber sicher doch, sagte ihre Mutter. Schau nach, ob eine dieser Seiten eine Primärquelle angibt.

Das Internet ist eine Primärquelle, sagte Sacha.

Ihre Mutter ging hinaus.

Für ungefähr zehn Minuten wurde es still.

Sacha begann, wieder normal zu atmen.

Dann rief ihre Mutter, die offenbar am Küchen-Laptop bei Brainyquote, Quotepark und so weiter nachgesehen hatte, die Treppe herauf, als hätten Brainyquote, Quotepark und so weiter sie persönlich beleidigt:

Keine dieser Seiten, keine einzige, gibt eine Primärquelle an, Sach. Ich finde keine Angabe, wo Arendt das geschrieben hat. Du solltest das Zitat lieber nicht verwenden. Das geht nicht.

Genau, danke, rief Sacha aus ihrem Zimmer zurück.

Dann machte sie dort weiter, wo sie gerade war, trotz ihrer Mutter.

Es könnte sein, dass das nicht mal von Arendt ist, rief ihre Mutter, die die halbe Treppe heraufgekommen war.

Sie schrie, als könnte niemand sie hören.

Es ist nicht zuverlässig, schrie ihre Mutter.

Wer ist darauf angewiesen, dass Hausaufgaben zuverlässig sind?, sagte Sacha.

Ich, rief ihre Mutter. Du auch. Alle menschlichen Wesen, die mit Quellen arbeiten.

Es war eine Ersatzhandlung der Generation ihrer Mutter, sich über so was Gedanken zu machen statt darüber, was wirklich auf der Welt passierte. Trotzdem, nur für den Fall, dass ihre Mutter nicht ganz unrecht hatte –

Wie wäre es, wenn ich drunterschreibe, im Internet steht, es wäre von Hannah, ähm, sagte Sacha.

Sie schaute im Netz noch einmal nach dem Nachnamen der Person, die das gesagt hatte.

Das genügt nicht, rief ihre Mutter und kam wieder ungebeten ins Zimmer. Weil es keinen Beleg dafür gibt, dass Hannah Arendt das überhaupt geschrieben hat. Was, wenn es jemand anders war, jemand, der die Anerkennung nun nicht bekommt? Oder was, wenn es niemand in einer Originalquelle gesagt hat, wenn sich irgendwer bloß irgendwo ausgedacht hat, dass es von Hannah Arendt ist, und es ins Netz stellte, und dann hat es sich durch all diese Seiten verbreitet?

Dann würde Hannah Arendt, wer immer das ist, sich freuen, sagte Sacha (mit normaler Lautstärke, damit ihre Mutter merkte, wie laut sie selber war). Das ist doch ein guter Satz.

Du kannst nicht für Hannah Arendt sprechen, sagte ihre Mutter (Tatsache, weniger laut, na also). Wie würde es dir gefallen, wenn das Internet irgendwas zitieren und behaupten würde, Sacha Greenlaw hätte das gesagt?

Von mir aus. Ich würde mich freuen, dass irgendwo jemand dachte, ich hätte etwas Gutes gesagt, sagte Sacha.

Oh, verstehe. Der Beifall, darum geht’s. Du führst dich auf, als wärst du in Roberts Alter, sagte ihre Mutter.

Nein, tu ich nicht, sagte Sacha. Wenn ich erst dreizehn wäre oder zufällig Robert, lieber Gott, bitte nicht, hätte ich gesagt: husch, husch, zurück mit dir ins Zeitalter unsinniger pädagogischer Pedanterie.

Komm schon, Sach, sagte ihre Mutter. Quellen. Das ist wichtig. Überleg mal, warum.

Ich glaube, sagte Sacha und wandte sich ihrer Mutter zu, für meine Arbeitsebene ist das genau angemessen.

Das Aufmerksamkeitsniveau, von dem ich spreche, braucht man überall, sagte ihre Mutter und wurde wieder lauter (als bedeutete lauter, sie hätte mehr recht). Und was du für deine Arbeitsebene angemessen findest, ist nichts anderes als eine weit verbreitete Masche.

Ihre Mutter fuchtelte in Sachas Zimmer jetzt so heftig mit den Armen, dass sogar der Lampenschirm ins Schaukeln geriet.

Was, wenn du eines Tages aufwachen würdest und überall im Netz stünde, du hättest irgendwas gesagt, was du in tausend Jahren nicht sagen würdest?, sagte ihre Mutter.

Ich würde einfach allen sagen, dass ich das nie gesagt habe.

Und was, wenn du ins Netz gehen und feststellen würdest, dass Tausende von Leuten trotzdem wütend auf dich sind?, sagte ihre Mutter. Was, wenn dir das Gleiche passieren würde wie deinem kleinen Bruder?

Gegen solche Herdenbildungen kann man nichts machen, sagte Sacha. Deswegen ist es mir egal, wer was glaubt. Ich würde ja wissen, was ich wirklich gesagt habe. Und für mich bin ich die Quelle. Belästige mal ihn. Ich hab keine Zeit für so was.

Würde ich ja. Aber er ist nicht da, sagte ihre Mutter.

Es ist zehn Uhr, sagte Sacha. Er ist dreizehn. Was für eine Mutter bist du?

Eine, die unüberwindlicher Schwierigkeiten zum Trotz für ihre beiden Kinder tut, was sie kann, sagte ihre Mutter.

Das muss ich morgen aber als Erstes abgeben, sagte Sacha.

Was, wenn dein guter Ruf zerstört wäre und du dich nirgendwo mehr blicken lassen könntest, weil du für alle eine Schande und eine Lügnerin wärst?, sagte ihre Mutter.

Ich würde ihnen vergeben.

Du würdest was?, sagte ihre Mutter.

Vergebung, sagte Sacha, ist der einzige Weg, den unumkehrbaren Lauf der Geschichte zu ändern.

Eine kurze Pause trat ein, fast wie im Theater, wenn Leute in einem Stück innehalten. Dann platzte ihre Mutter laut heraus vor Lachen.

Da lachte Sacha auch.

Ihre Mutter kam herüber und umarmte Sacha am Schreib­tisch.

Mein kluges Mädchen, sagte ihre Mutter.

Sachas Brust füllte sich mit der Wärme, nach der sie, als sie noch sehr klein war, ihre Mutter einmal gefragt hatte, weil die sich so schön anfühlte, und ihre Mutter sagte das ist dein innerer Sommer.

Du musst aber noch klüger als klug sein, sagte ihre Mutter jetzt, die Arme immer noch fest um sie gelegt. Kluge Mädchen müssen klüger sein als, als.

Das genau angemessene Klugheitsniveau, sagte Sacha in die Rippen ihrer Mutter.

Das war gestern Abend. Jetzt ist heute Morgen. Sacha ist hier reingekommen und wollte in Ruhe frühstücken und sich nebenbei auf dem Handy die Nachrichten und die Face­book-Posts von allen ansehen. Doch an Ruhe ist nicht zu denken. Ihre Mutter tigert durchs Wohnzimmer, schreit Wörter und schwenkt eine Kaffeetasse durch die Luft, aus der ab und zu was aufs Parkett schwappt; Sacha musste ihre Tasche schon zweimal woanders hinstellen.

Der Fernseher ist zu laut aufgedreht, und die Nachrichtensprecher im Studio und draußen in der Welt schreien auch ihr übliches wirres Zeug. Seit Sacha die Sendung gesehen hat, in der Promis in Kostümen mit großen Masken auf dem Kopf ein Lied gesungen haben und eine Jury und ein Publikum raten sollten, wer sich hinter der Maske verbirgt, fällt ihr auf, dass eigentlich jeder und alles im Fernsehen so ist, als trügen sie eine Maske. Einmal dieser Gedanke, und man sieht es immer.

Maske ab! Ausziehen!, rufen Jury und Publikum dem Promi zu, der verloren hat und die Maske absetzen muss, damit die Leute endlich sehen, wer die ganze Zeit darunter versteckt war.

Ausziehen! Sacha hat mal eine Horde Männer gesehen, die das einem Mädchen in der Nähe des Piers zugerufen haben.

Ob ich, sagt ihre Mutter, die Heldin meines eigenen Lebens sein werde. Oder ob jemand anders diese Stelle, diese Stelle einnehmen wird. Einnimmt.

Schau doch einfach nach, sagt Sacha.

Nein.

Ich schau für dich nach, sagt Sacha.

Nein, lass, sagt ihre Mutter.

In diesem lass steckt die ganze Verbitterung ihrer Mutter; in letzter Zeit vergisst sie dauernd was, will aber dauernd nicht online danach suchen. Ich bin so hibbelig. Das sind die Wechseljahre. Als könnte man dem Unausweichlichen widerstehen, indem man ihm seinen Namen zuschreit. Sie möchte, dass sie sich die Sachen besser merkt, statt sie nachzuschlagen. Das führt praktisch dazu, dass ihre Mutter eine halbe Stunde lang alle nervt und dann ins Netz geht und nachschlägt, was sie sich nicht gemerkt hat.

Ob jemand anders, sagt sie, ob jemand anders diese Stelle einnehmen wird. Herrgott noch mal, Sach. Stell das leiser, damit ich mich beim Nachdenken höre. Damit ich höre, dass ich nicht nachdenke.

Geht nicht. Er hat sie woanders hingelegt, sagt Sacha.

Robert ist schon zur Schule gegangen. Einer seiner neues­ten Scherze ist, dass er den Ton am Fernseher ein paar Stufen zu laut einstellt und die Fernbedienung versteckt, weil sie den Apparat nur mit der Fernbedienung dazu bewegen können, irgendwas zu machen. Der An/Aus-Schalter oben funktioniert nicht mehr (der Fernseher ist schon ziemlich alt; ihr Vater hat den neuen nach nebenan mitgenommen, als er ausgezogen ist). Wenn man ihn ausstöpselt, kriegt man ihn eventuell gar nicht mehr zum Laufen. Deshalb lassen sie ihn ständig an.

Im Moment ist das zu Laute auf dem Bildschirm ein Bericht über eine Kundgebung von Evangelikalen, der in den Nachrichten kommt und irgendwas mit dem amerikanischen Präsidenten zu tun hat.

Ruf ihn an, sagt ihre Mutter. Vielleicht ist er ja bei eurem Vater.

Der Vater von nebenan. Wie eine Fernsehserie aus der Generation ihrer Mutter.

Ist er nicht, sagt Sacha.

Nur für alle Fälle, sagt ihre Mutter.

Sacha wählt Roberts Handynummer. Prompt meldet sich die Mailbox.

Ausgeschaltet, sagt Sacha.

Na klar, sagt ihre Mutter. Ich klopf mal an die Wand.

Er wird nicht dort sein, sagt Sacha.

Ashley lässt Robert nicht mehr rein, seit er 1. die kleine Harfe gestohlen hat, auf der sie ihre walisischen Lieder spielt, 2. sie bei Cash Converters verkauft und ihr das Geld dafür in einem Umschlag gegeben hat, als tue er ihr einen Gefallen, und 3. zu ihr gesagt hat (obwohl sie Walisin und damit genauso Britin ist), von jetzt an wäre sie in diesem Land nur noch als Touristin willkommen.

Und Mercy erobert den Bibelgürtel im Dollarsturm, sagt der Fernsehreporter. Man nennt sie die große weiße Hoffnung.

Stimmt, in den Bildern über die Mercy Bucks Church of the Spirit sieht Sacha nicht einen, der nicht weiß wäre.

Er gab mir den Auftrag, es Ihnen zu sagen. Er spricht direkt zu mir. Er spricht jetzt zu mir. Ich höre seine heilige Stimme, die heilige Stimme des allmächtigen Gottes, die aus seinem heiligen Mund zu mir spricht, er ist hier, er sagt es in diesem Augenblick, mercy, mercy (mercy, mercy!, rufen die Leute in der Kirche oder vielleicht auch Mercy, Mercy, denn das ist ihr Name).

Wer ist das?, sagt Sachas Mutter, die wieder durchs Zimmer geht und vor dem Fernseher stehen bleibt.

Das ist eine große weiße Hoffnung, sagt Sacha. Gott spricht mit der heiligen Stimme aus seinem heiligen Mund ihr direkt ins Ohr.

Mercy Bucks, sagt ihre Mutter. Der Name ist erfunden. Und der Akzent, schrecklich. Sie sieht aus wie Claire Dunn, ganz genauso. Wie Claire Dunn, dreißig Jahre älter. Was sie, machen wir uns nichts vor, jetzt ist.

Du glaubst bei irgendwelchen Leuten im Fernsehen doch immer, dass du sie kennst.

Nein, ich erkenne sie wieder. Ich habe mit ihr gearbeitet. Wenn es Claire ist, hat sie sich die Nase machen lassen, sagt ihre Mutter. Die Nase ist anders.

Die Nase ist anders, weil das jemand ist, den du nicht kennst, sagt Sacha.

Sie sieht ihre Mutter von der Seite an. Wenn ihre Mutter von früher anfängt, von ihrer Zeit als Schauspielerin, bedeutet das meistens, dass sie nicht stabil ist. Sachas Mutter hat mal als Schauspielerin gearbeitet, das war, bevor sie ihren Vater kennenlernte und bevor sie was mit Werbung machte, was sie aufgab, als sie Sacha und ihren Bruder bekam. Es hängt auch noch mit Sachen zusammen, über die in der Familie nicht gesprochen werden darf, dabei geht es um die Mutter ihrer Mutter, die gestorben ist, als ihre Mutter gerade mal so alt war wie Robert, weil sie zu viele Tabletten genommen hat, ein Versehen, sagt ihre Mutter, in Wahrheit vermutlich aber nicht, was auch alle wissen, ihre Mutter eingeschlossen, aber nicht aussprechen. (Nicht mal Robert.)

Ihre Mutter macht aber keinen instabilen Eindruck. Sie sieht nur ein bisschen müde aus.

Der Bericht endet mit einem Schwenk der Kamera zu dem Zählautomaten, der hinter Mercy Bucks auf die Wand projiziert ist und anzeigt, dass die Summe des gespendeten Geldes sekündlich um Hunderte von Dollar steigt.

Als Nächstes berichten sie in den Nachrichten von den Buschfeuern in Australien.

Die hatten einen heißen Januar, sagt ihre Mutter.

Den heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnung, sagt Sacha. Und jetzt haben wir Februar, und die Brände wüten immer noch.

Ruf mal die Nachrichten in der Mediathek auf, sagt ihre Mutter. Sehen wir uns Claire noch mal an.

Sacha hebt die Hände hoch und dreht sie um.

Kann ich nicht, sagt sie.

Ihre Mutter tastet in den Polsterritzen der Couch nach der Fernbedienung. Sieht hinter den Sachen im Regal nach. Dann steht sie ratlos mitten im Zimmer.

Sacha kann es nicht leiden, wenn ihre Mutter ratlos ist.

Wahrscheinlich in seinem Zimmer, sagt Sacha.

Oder er hat sie in die Schule mitgenommen, sagt ihre Mutter.

Sacha geht in die Diele und zieht den Mantel an. Wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel.

Ich krieg die Mediathek nicht an, ruft ihre Mutter aus der Küche.

Ich muss los, ruft Sacha zurück.

Geht bei dem Anflug von Panik in der Stimme ihrer Mutter aber noch mal in die Küche zurück.

Stimmt; der iPlayer von BBC springt nicht an; es liegt nicht bloß daran, dass ihre Mutter zu nichts zu gebrauchen ist. Doch Sacha kann den Tag für ihre Mutter retten und trotzdem zur Schule gehen, denn Pastorin Mercy Bucks hat einen eigenen YouTube-Kanal.

MERCYBUCKSRETTET

In sämtlichen Titeln der Videos von Mercy Bucks kommt das Wort weiß vor.

Weiß auf der Haut seines Körpers.

Siehe, eine weiße Wolke.

Die Äste sind weiß geworden.

Sacha klickt auf das neueste Video, gestern hochgeladen. Ein großer weißer Thron. 44 400-mal gesehen.

In einer modernen Kirche mit hoher Decke leuchten die Worte Reich durch das Evangelium in Neonlicht hinter der Gestalt der Mercy Bucks.

Denkt mal Erstes Buch der Könige 21, 2 und Matthäus 6, 33 zusammen, sagt Mercy. Ich will dir Silber dafür geben, soviel er wert ist und Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes. Nur so wird irgendetwas im Leben wirklich einen Sinn ­ergeben, denn Gott ist der Chef unseres Unternehmens. Gott ist der oberste Bilanzbuchhalter. Und Gott weiß alles. Gott kennt dich. Gott weiß, was du hast und was du nicht hast. Glaubt nur nicht, Gott könnte nicht Einblick nehmen in das geheimste verschlüsselte Bankkonto. Gott rechnet bis auf Heller und Pfennig genau. Er sieht genau, um wie viel Wechselgeld du ihn betrügen willst. Sieht genau, wie viel du in Gottes Namen zu geben bereit bist, um ein Mensch zu werden, der geistige Güter besitzt. Denn Gott schaut wohlgefällig auf die herab, die Ersparnisse opfern. Gott belohnt diejenigen, die Gott geben, was Gottes ist. Gott beschenkt diejenigen, die sich als würdig erweisen. Gott lässt Wohl­taten herabregnen auf diejenigen, die für Gottes gute Kirche spenden.

Das alles leiert Mercy Bucks herunter, und die Gemeinde wiegt sich unter dem Fernsehlicht dazu, als wäre es ein Rockkonzert, die Fäuste mit den Handys in die Höhe gereckt, und bricht zu der alten Melodie von Glory Glory in Gesang aus: Mercy Mercy Hallelujah.

Mercy bringt sie mit erhobener Hand zum Schweigen.

Und Gott spricht, niemand, keiner, der wirklich glaubt, kann je etwas Schlechtes oder Abwertendes über unseren Präsidenten sagen, sagt sie.

Sacha fängt an zu lachen.

Gott sagt, jeder, der so etwas sagt, spricht mit böser Zunge, sagt Mercy. Gott weiß, dass das Impeachment-Verfahren böse war. Gott hat den Namen unseres Präsidenten mit jedem Atemzug, den unser Präsident tut, reingewaschen! Ich kenne Gott. Gott kennt mich. Glaubt mir. Glaubt mir. Ich bin eine Frau, die per Hotline mit Gott verbunden ist, ich habe Gottes Durchwahl, und Gott hat mir den Auftrag gegeben, euch zu sagen, ihr sollt unseren großen, großen Präsidenten unterstützen, der hier auf Erden ist, um ein großes Werk zu vollbringen, ein großes, großes Werk, mit dem Gott der Vater und Jesus der Heiland ihn persönlich betraut haben –

Sacha lacht auf ihrem Stuhl so sehr, dass sie fast damit umkippt. Ihre Mutter schüttelt den Kopf.

Wir haben uns an das permanente Übertreiben schon so gewöhnt, dass sie beim Übertreiben noch viel dicker auftragen müssen, sagt ihre Mutter.

Ja. Aber was für eine Heuchlerin, sagt Sacha.

S’war immer gleich, sagt ihre Mutter. Seitdem die Schwal­ben ziehen.

Ihre Mutter spricht jetzt Zeilen aus ihrer Schauspielerzeit. Wirklich mitgespielt hat sie aber wohl bloß in einer Reklame für Flüssigwaschmittel, die im Fernsehen lief, bevor sie ihre Mutter wurde. Sacha hat die Aufnahme mal vorgeführt bekommen, als sie noch klein war, im Schrank liegt ein Video davon, heute nicht mehr ansehbar, weil es keine lebenden Videogeräte mehr gibt. Eine junge Frau, eine Fremde, schlank, Haare gestylt, unglaublich, es ist wirklich ihre Mutter, vor langer Zeit, beugt sich in einer Küche zu einem kleinen Jungen hinab, der eine Polizistenmütze aufhat und der Frau, die seine Mutter sein soll, erklärt, dass sie ein Verbrechen begeht, wenn sie den Teller, den sie ihm gerade abgenommen hat, nicht sauberkriegt.

− darum spendet, spendet, spendet, tut das Rechte und helft mir, dem Herrn den Weg zu bereiten, denn, oh, lieber Gott, ich bitte Tag für Tag um dreierlei, seht mich, wie ich bin, liebt mich von Herzen, folgt mir in den sozialen Medien und spendet Tag für Tag für Tag für Tag –

Das sind bloß ein paar Zitate aus Godspell, sagt ihre Mutter.

Was ist Godspell?

Ein altes Musical, sagt ihre Mutter. Godspell haben wir zusammen gemacht. Viel Lärmen auch. Danach kam die Shakespeare/Dickens-Sommertournee, mit der sind wir durch die östlichen Grafschaften getingelt.

Die Kamera zeigt mittlerweile einzelne Zuhörer aus Mercys Publikum in Großaufnahme. Einige sehen stolz aus. Einige geknickt. Einige verzweifelt. Einige von Hoffnung erleuchtet. Alle machen den Eindruck, arm zu sein. Die meisten schwenken ihre Handys in der Luft. Andere benutzen ihre Handys zum Spenden. Auf dem Bildschirm erscheint Mercys weichgezeichnetes Gesicht in Großaufnahme.

Yep, sagt ihre Mutter. Definitiv.

Soll ich auf stumm schalten, oder möchtest du es dir weiter ansehen?, sagt Sacha.

− seid ihr traurig? Ich sehe euch, seid ihr einsam? Seid ihr verängstigt? Seid ihr bedrückt? Ich sehe euch, seid ihr in Sünde verstrickt? Ich sehe euch, habt ihr Angst vorm Leben? Will euch keiner Arbeit geben? Seid ihr innerlich geschrumpft? Seid ihr abgestumpft? Seid ihr nur noch wandelnde Schatten, ein Geist? Dann höret, denn Gott spricht durch mich, ihr müsst, ihr müsst –

Sacha bewegt den Cursorpfeil und klickt die Seite weg.

Ihr müsst euch erneuern im Glauben, sagt ihre Mutter.

− euch erneuern im Glauben, sagt Mercy Bucks den Bruchteil einer Sekunde nach ihrer Mutter, den Bruchteil einer Sekunde bevor sie vom Bildschirm verschwindet.

Ihre Mutter nickt.

Wintermärchen, Sommer 89. Ich war die Hermione, sie die Zweitbesetzung. Sacha, du kommst wirklich zu spät. Soll ich dich fahren? Ach nein, ich Dummerchen. Ms Auto-Embargo 2020, hab ich vergessen.

Von wegen, sagt Sacha. Du kannst bloß nicht akzeptieren, dass sich andere auch darum bemühen, zu Helden zu werden.

Ich weiß ja nicht, ob ich die Weigerung, mit etwas zu fahren, was von einem Verbrennungsmotor angetrieben wird, Heldentum nennen würde. Grundsatz, das ja. Aber Heldentum?

Was ist Wintermärchen Sommer 89?, sagt Sacha.

Das Wintermärchen ist ein Stück von Shakespeare, sagt ihre Mutter.

Das weiß ich, sagt Sacha (obwohl sie es nicht wusste oder sich zumindest nicht ganz sicher war.)

Und der Sommer 89 ist lange vorbei. Geradezu antediluvianisch.

Anti was?, sagt Sacha.

Ante. Vor. Dem Deluvium. Der Sintflut, der Überschwemmung, sagt ihre Mutter. Zwanzig nach. Jetzt aber schleunigst ab mit dir.

Sacha hebt ihre Jacke vom Boden auf, wirft sie sich wieder über die Schulter und küsst ihre Mutter auf die Wange.

Behüt dich Gott, sagt ihre Mutter.

Hat Gott dir mit seiner heiligen Stimme gerade direkt ins Ohr gesprochen und dir aufgetragen, das zu sagen?, sagt Sacha.

Hat er, wenn du mir einen Fünfer dafür gibst, sagt ihre Mutter.

Auto-Embargo. Als wäre das ein Witz. Ein Fimmel.

Antidiluvianisch.

Eigentlich mag Sacha Wörter ja sehr, kommt bloß zu Hause nicht richtig dazu, weil da Robert als der große Wörterfreund gilt.

Auf dem Weg zur Schule sieht sie antidiluvianisch auf dem Handy nach.

Ein kleines bisschen anders geschrieben, bedeutet es vor der Sintflut.

Ja, klar. Als ob Sintfluten auf die Vergangenheit beschränkt wären. Wir leben genau jetzt alle in einem antediluvianischen Zeitalter.

Sie geben es nicht mal zu, wenn sie die Bilder aus dem brennenden Australien sehen. Nicht mal, wenn eine halbe Milliarde toter Lebewesen – das heißt, 500 000 000 Lebewesen sind tot – der Tribut ist, den nur eine bestimmte Gegend an den Tod gezahlt hat. Nicht einmal, wenn sie die Australier auf dem Foto sehen, die im Sommer ohne Tageslicht an einem Strand stehen und rote Staubluft einatmen unter einem roten Himmel, schlaff dahängen wie Puppen, deren Fäden niemand bewegen kann, und mitten dazwischen ein braunes Pferd steht, verstört und ernst wie der lebende Beweis der Schuldlosigkeit, während der Feuerball am Horizont hinter ihnen zerfließt wie eine schmelzende Buttersonne.

5 0 0 0 0 0 0 0 0. Sacha versucht, sich die toten Lebewesen alle einzeln vorzustellen und ihnen Respekt zu erweisen. Sie breitet sie zwei mal zwei mal zwei mal zwei Millionen auf einer öden Ebene aus, weiter, als das Auge reicht, Känguruschlacke neben Känguruschlacke, Wallabyasche neben Wallabyasche, verkohlten Koala, verkohlten Koala.

Ihre Phantasie ist nicht groß genug dafür.

Sie weiß bereits, dass sie niemals Kinder bekommen wird. Warum sollte man ein Kind einer Katastrophe aussetzen? Das wäre, als würde man in einer Gefängniszelle ein Kind zur Welt bringen. Und Brighton ist eine gute Stadt, eine der besten im Land für Grünes, der einzige Ort in ganz Großbritannien mit einem grünen Unterhausabgeordneten, und trotzdem sagen die Leute in den Lokalnachrichten auch hier die Erderwärmung ist Schwindel hören Sie auf mir Angst einjagen zu wollen hören Sie auf meine Kinder so mit diesem Unsinn zu ängstigen dass sie nachts nicht schlafen können ist doch prima mir wäre mehr Wärme recht die Erde käme damit klar das ganze Jahr lang Sommer wär doch toll. Ihre eigene Mutter ist auch so verpeilt. Meistens hat das Ausgeflipptsein ihrer Mutter mehr mit der Menopause zu tun als mit dem, was in der Realität auf und mit der Welt passiert.

Die Menopause ist auch real, sagt Sachas Mutter jetzt in Sachas Kopf.

Hoppla!

Stopp.

Ist das – was gerade in ihrem Kopf stattfand – dasselbe wie bei Mercy Bucks, der Gott ins Ohr spricht?

Ja, aber Sachas Mutter hat ihr nicht wirklich ins Ohr gesprochen, auch nicht in ihrem Kopf. Sacha weiß nur, was sie sagen würde, wenn sie da wäre. Schließlich kennt sie ihre Mutter sehr gut.

Aber Gott ist nicht real. In dem Punkt ist Sacha sich ziem­lich sicher.

Gott ist ein Produkt der Bedürfnisse und Einbildungskraft des Menschen.

Ihre Mutter allerdings. Definitiv real.

Aber, stopp.

Denn: Gott ist in mehrerer Hinsicht real, 1. ist er »real« für die Leute in den Religionssendungen, die an ihn glauben, 2. wird er ihnen als »real« vorgeführt, denn offenbar spricht er ja jemandem »ins Ohr«, und 3. ist er ein »reales« Produkt von Mercy Bucks’ Einbildungskraft mit sehr lukrativen realen Folgen für Mercy Bucks.

Also: Was folgt daraus für Sachas Mutter?

Oder, genauer, was folgt daraus für Sachas Vorstellung von ihrer Mutter?

Stell dir vor, du bist eine Blume im Wasser, aber die Zeit, in der du als Pflanze Wasser aufnimmst, ist vorbei, weil du auf natürliche Weise langsam vertrocknest, und das Wasser – auch wenn du das nicht verstehst, du bist ja eine Blume und alles – nicht mehr wie früher durch deinen Stiel aufsteigt.

Solche Sachen sagt ihre Mutter in letzter Zeit dauernd, getrieben von einem freudschen Neid auf junge Leute, vor allem ihre Tochter.

Ich frage mich, ob Blumen es so empfinden wie ich, wenn es ihnen passiert. Spüren die Blumen, dass ihre Spannkraft nachlässt? Stoßen sie dauernd irgendwo dagegen? Vergessen sie laufend was? Denken sie, Simon Cowell hieße Simon Callow, auch wenn sie genau wissen, dass der Name Cowell lautet, aus irgendeinem Grund durch ihre Nervenbahnen aber nicht mehr zu dem Namen hinfinden?

Sacha presst verächtlich Luft durch die Zähne.

Alt werden ist erbärmlich, wenn man es als Entschuldigung dafür benutzt, nicht mehr verantwortlich zu sein.

Ihre Mutter könnte sich mehr bemühen.

So wird Sacha niemals werden.

Wenn man bedenkt, was überall auf dem Planeten los ist, wird Sacha wahrscheinlich sowieso nicht das Alter erreichen, in dem so etwas passiert.

Ihre Mutter kann von Glück sagen, dass sie so lange leben konnte.

Du bist diejenige, die eingebildeten Unsinn redet, sagt ihre Mutter in ihrem Kopf. Alles wird gut.

Ihre Mutter, real oder »real«. Beide sind verblendet.

Trotzdem hat sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie so ge­nervt von ihr ist und in Gedanken so grob über sie urteilt.

Was war das mit Heldinnen, die eine Stelle einnehmen? Sie wird es nachschlagen und ihrer Mutter die Quelle simsen. Das wird ihre Mutter nerven und zugleich freuen. Damit hat sie mal wieder den Vogel abgeschossen.

Schreckliches Sprichwort.

Das Schreckensbild steht ihr vor Augen. Aus dem versengten Brustkorb dessen, was einmal ein Vogel am Himmel gewesen war, ragt schräg ein gebrochener Flügel.

Lieber den Spatz in der Hand.

Nein. Ein Vogel in der Hand ist unnatürlich, es sei denn, er hat sich ohne Zwang und aus freien Stücken auf deiner Hand niedergelassen.

Für ein Sprichwort allerdings arg lang.

Zwei Vögel in der Hand?

Der heilige Franziskus.

Sacha denkt an den italienischen Film, den sie sich angesehen haben, als sie in Roberts Alter war und ihre Eltern noch in einem Haus lebten. Der Film lief mit Untertiteln, was ihre Mutter nicht leiden konnte, ihr Vater aber schon, und handelte davon, dass der hl. F. unter den Bäumen seine Morgengebete verrichten will, von den Vögeln aber so geliebt wird, dass sie sich ringsherum in Scharen auf den ­Ästen versammeln und ihre Liebe so laut heraussingen und -piepsen, dass er sie bitten muss, still zu sein, weil er sein eigenes Gebet nicht versteht.

Dann scharten sich noch all seine Mönche um ihn und fragten, wohin sie gehen und der Welt ihren Hokuspokus von Gott erzählen sollten. Er sagte, sie sollten sich da, wo sie sind, im Kreis drehen, immer weiter und weiter im Kreis, bis sie umkippten, weil ihnen so schwindlig war. Einer nach dem anderen kippten sie um. Dann stand er über ihnen und sagte, okay, in die Richtung, in die euer Gesicht nach dem Umkippen zeigt, in die geht ihr, meine Brüder, und verkündet das Wort.

Sacha geht am Tesco vorbei. Am Eingang ist jemand, aber es ist nicht Steve.

Sie hofft, dass es ihm gut geht, wo immer er ist. Heute sind viele Obdachlose draußen, es ist hell und trocken. Als sie Steve zuletzt gesehen hat, erzählte er ihr von den sechzehn Bussen, die Leute aus Nottingham und dem Nordosten hierhergebracht haben.

Freie Fahrt in den Süden, sagte er. Nur die Hinreise. Sie laden sie irgendwo ab, wo der Unterhausabgeordnete kein Tory ist. Die Stadt ist voll von ihnen. Sie verfrachten sie an die Küste. Genauso gut könnten wir alle Urlaub machen, ich sag’s dir, weil niemand mehr Geld verdient, nachdem die alle hier sind.

Sie gab ihm ihr ganzes Kleingeld, das sie an dem Tag in der Tasche hatte. Jemand hatte ihm die Schuhe gestohlen.

Danke, Schätzchen, sagte er.

Halt dich warm, sagte sie.

Ich tu mein Bestes, sagte er. Du auch.

Sacha stellt sich Steve auf einem Bildschirm vor, während hinter ihm ein Zählautomat wie der hinter Mercy Bucks die Spenden anzeigt, nur dass sie bei Steve sehr langsam in 10-Penny-Schritten steigen. Sie stellt sich Mercy Bucks vor, die auf dem Altar der Mercy Bucks Church of the Spirit im Kreis herumwirbelt wie ein Breakdancer, der nicht aufhören kann, oder wie eine verrückt gewordene Kompassnadel, Mercy, die ihrem Publikum vorführt, wie sie sich um und um drehen sollen, bis sie zu Boden stürzen. Dann geht Mercy Bucks zwischen all den benommen hingestürzten Leuten durch wie auf einem Schlachtfeld, kümmert sich liebevoll um sie und leert dabei die Taschen.

Sie stellt sich vor, wie ihre Mutter in der strahlenden Wintersonne zur Tür hinausschlüpft, durchs Tor und die Stufen hinauf, all ihre unsichtbaren Klingen ausgefahren – ein bisschen wie ein Schweizer Messer in den Auslagen der Armee- und Marineläden, ein großes rotes Taschenmesser auf einem sich langsam drehenden Ständer, die zusätzlichen Werkzeuge ausgeklappt –, und bei ihrem Vater und Ashley an die Tür klopft und fragt, ob die Fernbedienung dort ist.

Den Schlüssel, den ihr Vater ihrer Mutter gegeben hat, benutzt sie nie. Sie klopft immer an.

Sacha stellt sich vor, wie Ashley ihrer Mutter, der Klingenreichen, die Tür aufmacht und ausdruckslos vor ihr steht. Nichts hört. Nichts versteht. Ihr nichts sagt, den Kopf schüttelt und die Tür wieder zumacht.

Ihre Mutter wird nicht arbeiten können, wenn der Fernseher so laut plärrt.

Nicht dass es noch viel zu verwalten gäbe bei einer Firma, der der Brexit den Rest gegeben hat.

Sie stellt sich vor, wie ihre Mutter an diesem Morgen durchs Wohnzimmer tigert und die Worte ob und Heldin über den Fernsehlärm schreit.

Ach ja. Das mit der Stelle.

Such die Quelle, schick sie in stillschweigender Huldigung an die Königin der Quellen.

Sacha tippt die Wörter ob und Heldin in die Suchleiste auf dem Handy. Und wie heißt noch mal eine Heldendarstellerin? Heroine.

Es kommen Drogen. Drogen, Drogen, Drogen, dann ziemlich weit unten etwas über Jane Austen und Viktorianer.

Sie löscht die Suchleiste.

Tippt die Wörter Stelle, einnehmen und Leben.

Es kommen Seiten mit Tipps, wie man sich auf Stellen bewirbt und ob man sich zwischen Karriere und Leben entscheiden muss.

Sie fügt das Wort Heroine hinzu.

Es kommen Seiten über Drogensüchtige.

Sie scrollt – lange –, dann kommt ein einziges Bild von Greta Thunberg, das Foto, auf dem sie die Kapuze ihres gelben Mantels, der wie ein Fischermantel aussieht, über den Kopf gezogen hat und aussieht, als lasse sie sich durch nichts und niemanden von ihrem Kurs abbringen.

Die Heroin meines Lebens!

Nur die mächtige Greta kann den Trend umkehren, dass im Internet Heroine nicht in der Bedeutung Heldendarstellerin auftaucht, sondern nur als falsche Schreibung einer harten Droge.

Als wäre es selbstverständlich, dass jeder, der im Internet was sucht, Heroin gemeint haben muss und nicht Heroine, einen so selten verwendeten Begriff.

Sacha denkt an den Bahnhof in Brighton mit dem schmalen Durchschlupf als Eingang, dem Taxistand und den Fahrradständern, an die Menschen im Pret a Manger und im Marks & Spencer. Das alles, alles Vorgenannte, ruht, so sieht sie es im Geiste vor sich, wird gehalten von einer riesigen Hand. Aber wessen Hand?

Niemandes Hand.

Sachas Hand, wenn sie es jetzt recht bedenkt.

Hat ja keinen Sinn, jemand anders zu fragen, ob er deine Welt halten kann.

Sie steht vor dem Schultor und wischt mit dem Unterarm ihrer Jacke die Abdrücke ihrer Finger vom Handybildschirm. In dem Augenblick leuchtet eine SMS auf dem Handy auf.

Sie ist von Robert.

ich glaub ich mach gleich was blödes ;-\ unten am strand gegenü shit st bitte komm sof wenn du kannst brauch kurz hilfe

Das bitte gibt den Ausschlag. Das zeigt, es ist wirklich dringend in Anbetracht dessen, dass Höflichkeit bei ihrem Bruder lange passé ist, falls er so etwas überhaupt je besaß.

Könnte eine Falle sein.

Könnte echt sein.

Mit shit st meint er Ship Street.

Sacha tritt vom Schultor zurück, bevor jemand sie sieht und vielleicht fragt, warum sie hier herumlungert und nicht in die Schule kommt, wie sie es sollte.

Sie simst Mel, die schon in der Anmeldung sein wird.

Melaneeee kannst du mich entschu & ausrichten Notfall bei mir zu Hause & bin in 1 Std da danke Mel (Herz-Emoji Herz-Emoji) sachxxx

Und wenn es eine Falle ist? Bringt sie ihn um.

Sie liebt ihn, aber. Er ist ihr kleiner Bruder. Aber. Er ist klug, richtig klug. Aber. Es ist, als wäre nun, wo er dreizehn ist, ein dunkles Visier vor seinen Augen heruntergeklappt und als sähe er alle und alles durch den schmalen Schlitz im Metall. Aus einem Jungen, der früher aufs Geratewohl intelligente Sachen sagte wie Wassermelonen bestehen zu 92 % aus Wasser und zu 8 Prozent aus allem anderen, das bedeutet, wenn 92 % der Melone Wasser ist und nur der Rest Melone, sind genau genommen nur 8 Prozent die Melone, und das Tolle dabei ist, dass man alles in eine mathematische Gleichung bringen kann, sogar eine Obst- oder Gemüsesorte wurde einer, der von der Schule nach Hause geschickt wird, weil er im Unterricht Sachen sagt wie was soll falsch daran sein, wenn man sagt, Schwarze hätten ein Wassermelonenlächeln?

Stimmt das, was du gesagt haben sollst? Hast du das wirklich gesagt? Laut? Vor der ganzen Klasse? Und dem Lehrer?, fragte seine Mutter und blickte von der E-Mail auf, die von der Schule kam und sie und ihren Vater aufforderte, zu einem Gespräch über ihren Sohn in der Schule zu erscheinen.

Robert, so was kannst du nicht sagen, sagte Ashley.

Das war damals, als Ashley noch sprach.

Doch, kann ich, sagte er. Jeder kann alles sagen. Nennt man freie Meinungsäußerung. Das ist ein Menschenrecht. Es ist mein Menschenrecht.

So was ist kein Witz, Robert. Das ist unterirdisch, sagte Ashley. Es ist unterirdisch, so was zu sagen, und kein bisschen komisch. Wie kannst du solche Sachen sagen?

Leicht, sagte er. Ich hab ihnen auch erklärt, warum die Leute Frauen hassen, das sind nämlich blöde Tussen, bloß für Sex und zum Kinderkriegen zu gebrauchen, vor allem Kinder, zu denen man sich nicht bekennt, weil der Mann nur daran interessiert ist, seinen Samen zu verbreiten.

Robert! (Ein Chor von Stimmen.)

Im Grunde sollten Frauen die Klappe halten, das finden alle, sogar ziemlich viele Frauen, sagte er. Ihr erzählt uns immer, wir sollten mehr auf die Geschichte und auf das hö­ren, was sie uns zu sagen hat. Ich sage, die Schandmaske gab es in der Geschichte nicht grundlos.

In der E-Mail der Schule hatte gestanden, ein geordneter Unterricht wäre wegen des Gelächters nicht mehr möglich gewesen, als Robert aufstand und diese Sentenzen von sich gab.

Du bist ja ein echter Komiker, Robert, sagte ihr Vater.

Nein, ich bin ein echter Pragmatiker, sagte Robert.

Ich will ihn nicht mehr im Haus haben, wenn er weiter solche Sachen sagt, sagte Ashley.

In Sachas Erinnerung war das eine ihrer letzten Äußerungen, bevor sie das Sprechen komplett einstellte.

Du brauchst dich nicht auf Borniertheit zu verlegen, um dazuzugehören, sagte ihr Vater.

Willst du unseren Premierminister und andere führende Politiker als borniert bezeichnen?, sagte Robert. Hör auf, unser großartiges Land schlechtzumachen. Wir sollten für Großbritannien eintreten. Alles andere ist Verrat, dann stehst du als Defätist und Schwarzmaler da.

Erzähl deinem Vater mal, Robert, was du über Bildung gesagt hast, das eine, das deine Lehrer besonders auf die Palme gebracht hat, sagte seine Mutter.

Ich hab lediglich angemerkt, dass sich, wie der Chefberater unseres Premierministers in seinem Blog schrieb, bei Kindern, die aus armen Verhältnissen kommen oder dort aufwachsen, Bildung nicht lohnt, weil sie es sowieso nicht schaffen, sagte Robert. Sie werden nie etwas lernen, und es ist sinnlos, wenn der Staat bei ihnen Geld für Bildung ausgibt, mit der sie von Natur aus nichts anfangen können. Ich sag bloß, was der Chefberater unseres Premierministers auch sagt. Und weil sein Chefberater sehr gut in allem ist, was er tut, wurde unser Premierminister vor kurzem mit großer Mehrheit gewählt. Na, was sagt euch das?

Sacha brachte es zum Lachen.

Bis Robert anfing, über sie zu lästern wie das eine Mal, als Jamie und Jane, die ihr Vater entlassen musste, zu Weihnachten auf ein Glas vorbeikamen (schüchtern, ohne Groll) und Robert an der Tür stand und vor dem ganzen Raum verkündete:

Meine Schwester ist ein Schwachkopf. Sie glaubt allen Ernstes, sie könnte die Welt verändern, mit einem kleinen Stups von ihr und ihren woken Freunden würde alles anders werden. Die neueste Methode, mit der die heilige Sacha sich Aufmerksamkeit verschafft –

Und Jane, die aus Neuseeland stammt, sagte zu ihm, dann bist du wohl ein kleiner Skeptiker, Robert, ist das deine Methode, dir Aufmerksamkeit zu verschaffen?

Und er erwiderte, sie sei eine Ausländerin, und machte sich über ihren Akzent lustig.

Skiptiker.