Der Jahrtausendmensch - Robert Jungk - E-Book

Der Jahrtausendmensch E-Book

Robert Jungk

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Krise der Menschheit wird kaum noch bestritten. Die Grenzen des materiellen Wachstums sind sichtbar, der Verteilungskampf um die Rohstoffe verschärft sich auf Kosten der Armen; die Folge: Not in der Dritten Welt, Not aber auch in den Industrieländern, deren Bevölkerung inmitten äußeren Wohlstands geistig und seelisch verarmt. Profitorientierte Arbeitsteiligkeit und eine Technik, die mit ihrer kurzfristigen Effizienz mehr Abhängigkeit schafft als sie aufhebt, hindern die meisten Menschen an einer persönlichen Entfaltung. So wird neurotisches Verhalten zum Normalzustand. Staat und Wirtschaft gehorchen Zwängen, die allenfalls ein Ausbessern, kein Erneuern des Systems zulassen. Aber die Zahl der Außenseiter, die bürgerliche Karrieren aufgeben, um Alternativmodelle zu entwerfen und zu erproben, wächst rasch. Robert Jungk, der Zukunftswahrscheinlichkeiten nüchtern einzuschätzen weiß, setzt auf sie die Hoffnung für eine menschlichere Gesellschaft. Sie arbeiten an sanften Technologien, die dem Menschen und der Natur angepaßt sind, sie entwickeln Ansätze für humanere Arbeitsabläufe, für eine tatsächliche Mitbestimmung der Bürger und eine Verbreiterung der kulturellen Basis. Sie sind Prototypen des Jahrtausendmenschen, der gelernt haben wird, im Einklang mit sich, der Umwelt und den anderen zu leben. Ihre Aktivitäten und Teilerfolge faßt Jungk zu einem packenden und ermutigenden Bericht zusammen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 524

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Robert Jungk

Der Jahrtausendmensch

Über Robert Jungk

Über dieses Buch

Die Krise der Menschheit wird kaum noch bestritten. Die Grenzen des materiellen Wachstums sind sichtbar, der Verteilungskampf um die Rohstoffe verschärft sich auf Kosten der Armen; die Folge: Not in der Dritten Welt, Not aber auch in den Industrieländern, deren Bevölkerung inmitten äußeren Wohlstands geistig und seelisch verarmt. Profitorientierte Arbeitsteiligkeit und eine Technik, die mit ihrer kurzfristigen Effizienz mehr Abhängigkeit schafft als sie aufhebt, hindern die meisten Menschen an einer persönlichen Entfaltung. So wird neurotisches Verhalten zum Normalzustand.

Inhaltsübersicht

Den Freunden in ...Unsere Wünsche sind ...Ich benötige keinen ...Einleitung An der JahrtausendwendeSo geht es nicht weiterI. Gezähmte TechnikGewandelte ZukunftsbilderStile der TechnikDer «Schmutzrausch» macht MillionäreEin «Vorwarnsystem» für die Umwelt«David» Shurcliff gegen «Goliath» SuperjetNeuer Maßstab: der empfindliche MenschStreit um ein «Loch im Himmel»Das Fernsehen und die ScheidungsrateWer verteidigt die Ungeborenen?Sanfte Technik und kritische Wissenschaft«Pow-Wow» in StockholmNeue Wege für die Entwicklungsländer«Klein ist schön!»Wie kann «sanfte Technik» weiterentwickelt werden?Ein «grünes Laboratorium» in WalesGegen die Katastrophen von morgenDie «trojanische Maschine»Das Gespräch mit den MaschinenZurück zur Natur – heuteDen Fischen vom Wasser erzählenDie Kinderjahre der RoboterSoziale Kennziffern messen QualitätII. Rettende Phantasie«Jeder ein Genie?»Der ungewöhnliche Doktor SzilardEin Generalstab für die WeltkriseErfindungen, die gemacht werden müssenWie kommt es zu sozialen Neuerungen?Der KreativitätsboomPhantasie in Uniform«Brainstorming» wird Mode«Synectics» oder wie man auf neue Ideen kommtDie Furcht vor dem WandelAnfänge einer experimentellen GesellschaftGesellschaftliche Selbstversuche«Hunderttausend Atomkriege»Eine «Denkfabrik» für gesellschaftliche ProblemeWenn Lenin dreißig Jahre länger gelebt hätte …Die neuen Projekte des «Klubs von Rom»Die Gefahr der ExpertokratieDie erstarrte AvantgardeProjektuniversitäten«Fühle dich frei!»Stumme, die endlich reden lernenIII. Projekt JedermannVerarmung im WohlstandDie neuen «Reichen» und die neuen «Habenichtse»Die Rebellion der ErwachendenBeschwören neue Universitäten nur das akademische Proletariat herauf?Gegenwelten von heuteDie Zukunft beginnt in den SchulenKann man Voraussicht lernen?Die «stumme» Mehrheit als «blinde» MehrheitEin neuer ErziehungsstilGegen den neuen AnalphabetismusBildungsbiographien der nahen ZukunftZähmung der «Erziehungstechnik»Die «Offene Universität» ist nicht offen genugVerliert das Diplom seinen Wert?Die Fabrik der GleichenIV. Mehr DemokratiePolitische GründerjahreAkademiker gehen ins VolkFachsprachen und ÖffentlichkeitGeheimgehaltene InformationenDiskussionsnetze breiten sich ausDemokratie der TeilnahmeDas Ende der JasagerDer Gouverneur und sein «Kommunikationsraum»Jeder ein Fernsehproduzent?«Video-Guerillas»War das Bürgerfernsehen nur ein Traum?Werden die Leute mitmachen?Der elektronische LiebesaktEin Marktplatz für InformationenKongresse im eigenen WohnzimmerNeue Mittelpunkte der GemeindenV. Der offene MenschDie große UmpolungAnfänge einer «Wissenschaft vom Menschen»Stadtluft macht traurigDie «neue Offenheit»Das Streben nach einer «brüderlichen Gesellschaft»Viele Augen sehen besserDer wiederentdeckte KörperKönnen Ärzte die Gesellschaft verändern?Wenn die Haut zu «hören» beginntVom Nutzen der NutzlosenAlles fließtDie Abenteuer der SelbstentdeckungAuf Alpha- und Theta-WellenOptimismus als HerausforderungNachwort Und er bewegt sich dochWerkzeugkasten Anregungen, Informationen, Kontakte, Materialien, Notizen, Quellen, ZitateKritik an Forschung und TechnikBewertung und Kontrolle der TechnikNeue TechnikKrisenforschungKreativitätSoziale Phantasie, soziale ExperimenteSimulationenGanz andere SchulenErziehung und ZukunftRebellion gegen die falsche Leistung"Neue demokratische InstitutionenKann der Bürger mitreden?InformationssystemeMenschliche ZukunftWege nach InnenDanksagungRegister

Den Freunden in vielen Ländern der Welt

Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar. Wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen.

 

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

in Dichtung und Wahrheit

Ich benötige keinen Grabstein, aber

wenn ihr einen für mich benötigt,

wünschte ich, es stünde darauf:

Er hat Vorschläge gemacht. Wir

haben sie angenommen.

Durch eine solche Inschrift wären

wir alle geehrt.

 

BERTOLT BRECHT

Einleitung An der Jahrtausendwende

So geht es nicht weiter

Nüchterne, farblose Worte, mit denen Menschen dieser Zeit das benennen, was früher sehr viel pathetischer Weltuntergang genannt wurde.

Vor einem Jahrtausend wurde schon einmal das Ende der christlichen Welt erwartet. Viele verkauften ihr letztes Eigentum und bereiteten sich auf das Jüngste Gericht vor, das sich durch eine steigende Flut von Gewalttaten anzukündigen schien.

Neuere Historiker, die sich über die Geschichte der Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend gebeugt haben, sind zu der Ansicht gekommen, daß schon in dieser dunklen Zeit Anfänge jener Erhellung zu finden sind, die sich in den folgenden Jahrhunderten nach und nach ausbreitete. Das klare Gedankengebäude des Thomas von Aquin, die Strukturen der gewaltigen, weißleuchtend gen Himmel strebenden Kathedralen, die Lehre des heiligen Franz von Assisi, die Geistigkeit der Humanisten, ja sogar der kritische Rationalismus der Aufklärung – all das wurde schon damals, im zehnten Jahrhundert, von einer kleinen Zahl inspirierter Mönche hinter den Mauern ihrer Klöster vorbereitet.

Der französische Geschichtsforscher George Duby beschreibt die Wendung, die sich, erst wenigen bemerkbar, anbahnte: «Die Menschheit liegt noch zu Füßen eines schrecklichen, magischen, rächenden Gottes, der sie beherrscht und erdrückt. Aber sie ist dabei, sich das Bild eines menschlichen Gottes zu schaffen, der ihr ähnlicher ist, und sie wird es bald wagen, ihm ins Gesicht zu schauen. Sie beginnt einen langen Weg der Befreiung …»

Nur wenige dachten damals an eine irdische Wandlung. Ihre einzige Hoffnung galt dem Reich Christi. Hienieden war das Leben beherrscht von täglicher Not und nie endender Furcht. Das karolingische Reich war zerfallen, Räuberbanden durchstreiften Europa, plünderten, marterten, brandschatzten. Im barbarischen Klima dieses Säkulums gediehen die kulturellen Anfänge der beiden vorhergehenden Jahrhunderte nicht weiter und gingen zugrunde. Nur wenige Menschen konnten lesen oder schreiben.

So blieb der Prozeß geistiger Erneuerung, der hinter den Mauern einiger Klöster begonnen hatte, den Zeitgenossen verborgen. Erst die Nachwelt erfuhr davon aus Berichten von Chronisten wie Raoul Glaber. Das war ein unsteter, scharfzüngiger Mönch, höchst unbeliebt bei hohen wie mittleren Kirchenherren. Seine vielen Feinde sagten ihm nach, er sei «geschwätzig, leichtgläubig und ungeschickt». Er aber empfand, so wird überliefert, diese Tadelsbezeigungen als Lob und wertete sie als indirekten Beweis dafür, daß seine kritischen Beobachtungen getroffen hatten. Er widmete sich schließlich ganz dem Notieren des Erlebten und schrieb im Kloster Cluny, das ihm Unterschlupf gewährte, seine fünfbändige Geschichte der Jahre 900 bis 1044 nieder.

Ähnlich wird ein Chronist an der Wende zum dritten Jahrtausend versuchen müssen, nicht nur die Erscheinungen des Verfalls und der Zerstörung, der Brutalität und der Unvernunft, der Unterdrückung und Verschwendung zu registrieren und zu kritisieren, sondern auch zu fragen haben: Gibt es heute wiederum Vorzeichen eines Wandels? Wo sind Ansätze einer Veränderung? Werden wir noch einmal davonkommen?

Der Schreiber dieser Zeilen bemüht sich seit Jahren darum, Signale, Tendenzen und Versuche ausfindig zu machen, die im Widerspruch zum Bestehenden auf eine andere und bessere Zukunft hindeuten.

Anfangs war das nur eine Nebenbeschäftigung, die ich durchaus unsystematisch betrieb: eine Zeitungsnachricht, ein Brief, eine mündliche Mitteilung erzählten von Möglichkeiten und Hoffnungen. Ich sammelte solche «guten Nachrichten» und gab während meiner Korrespondententätigkeit bei den Vereinten Nationen in New York als private Publikation einige Nummern eines «Good News Bulletin» heraus. Denn als Zeitungsmann fand ich es unerträglich, daß Presse und Funk in ihrer Suche nach Neuigkeiten zwar über Kriminalität und Katastrophen, Krisen und Krieg ausführlich berichteten, darob aber hoffnungsvollere, wenn auch weniger aufdringliche Entwicklungen vernachlässigten.

Das starke Echo dieses naiven Versuchs in der amerikanischen Öffentlichkeit – Leitartikel in den führenden Zeitungen und Nachrichtenmagazinen, Interviews in Radio und Fernsehen, Hunderte von Briefen aus allen Teilen des Landes – zeigte mir, wie groß die Sehnsucht war, einmal etwas anderes als die täglichen Klagen zu hören. Meine Freude über diesen scheinbaren Erfolg war kurz. Ich merkte sehr schnell, wie sehr dieses oberflächliche Interesse an «guten Nachrichten» der Nachfrage nach Beruhigungspillen ähnelte. Meine damaligen Leser und Korrespondenten schienen weder interessiert zu sein, eindringlich über Alternativen und ihre Durchsetzung nachzudenken, noch die Zeitübel tiefergreifend zu diagnostizieren. Sie mißverstanden meine Hinweise auf einige wenige Lichtblicke in einem überwiegend dunklen Bild als Bestätigung dafür, daß doch «alles gar nicht so schlimm» sei.

Wie sehr meine Bemühungen um eine etwas ausgewogenere Betrachtungsweise zur Verschleierung mißbraucht werden konnte, wurde mir besonders deutlich, als sich gerade diejenigen intensiv zu interessieren begannen, die am schlechten Stand der Dinge nicht unwesentlich beteiligt waren: ein großer Chemiekonzern und eine Fluggesellschaft boten mir an, eine tägliche «Good-News»-Radiosendung zu finanzieren. Am Ende würde dann ein Sprecher die Güte ihrer Leistungen loben.

Nein, so ging es nicht. Ich mußte mich weiterhin fast ausschließlich kritisch mit denen beschäftigen, die eine Verbesserung der Lage verhinderten, und denen, die es erduldeten: den Drahtziehern und den Zappelnden, den Rücksichtslosen und ihren ahnungslosen Opfern. Und doch ließ mich eine Frage nicht los: Trug ich damit wirklich zur «Aufklärung» und Aktivierung der Leser bei? Verstärkte ich nicht vielmehr ihre Gefühle der Resignation? Wenn sie über den Egoismus, die Kurzsichtigkeit, den wachsenden Einfluß der Herrschenden informiert wurden, wenn sie Einblick erhielten in das Vordringen von Zwängen, die unaufhaltsam schienen, in Machtstrukturen, die den Bürger immer abhängiger werden ließen, würden sie dann nicht – durch solche Informationen gelähmt und in ihrer Passivität bestätigt – alles so weiterlaufen lassen, wie es lief? Und wurde ich nicht auf diese Weise erst recht zum Helfer derer, die sich sowohl der Verhüller wie der Entschleierer zu bedienen verstehen?

Um diesem starken Zug zur Entmutigung entgegenzuwirken, suchte ich immer wieder Reportagethemen, in denen ich Menschen beschreiben konnte, die gegen den Strom zu schwimmen versuchten. Wie zum Beispiel den Vietnamesen, der während der ersten Indochinakonferenz in Genf auf einer Wiese vor dem Völkerbundpalast die Herren Unterhändler durch einen wochenlangen Hungerstreik auf die Leiden seines Volkes aufmerksam machte. Oder Danilo Dolci, den italienischen Reformer, der in einem der furchtbarsten Elendsviertel Palermos gegen die sizilianische Mafia und die mit ihr verbundenen römischen Politiker protestierte. Oder den jungen Elektroingenieur Ishiro Kawamoto aus Hiroshima, der seine Karriere aufgegeben hatte, um den Atomkranken zu helfen, die von keiner offiziellen Stelle betreut wurden.

Trugen solche bewunderungswürdigen Einzelgänger wirklich dazu bei, den verhängnisvollen Kurs der Ereignisse zu ändern? Ihr Opfer wurde zur Anekdote. Nur für Augenblicke brachte es geschehenes Unrecht ins Bewußtsein der Öffentlichkeit. Geändert wurde dadurch so gut wie nichts. Ging es aber nicht darum, Unheil rechtzeitig zu verhindern? War das nicht dringender, als es nachträglich zu beschreiben und zu beklagen?

Ich erinnere mich genau der Stunde, da ich endlich einsah, daß ich als Reporter eigentlich ein «Kriegsgewinnler» war, ein Nutznießer des Unheils dieser Zeit.

Im Frühjahr 1960 drehte ich in Japan eine Fernsehreportage, die auf meinem im Jahr zuvor erschienenen Buch «Strahlen aus der Asche» basierte. Wir standen in einem jener zugigen Notquartiere am Rande von Hiroshima. Hier hatten die Überlebenden des ersten Atombombardements der Geschichte sich verkriechen müssen. Vor uns ein strahlenkrankes Ehepaar. Sie bereits so schwach, daß sie sich nicht mehr aufrichten und kaum noch sprechen kann. Er – weißhaarig, runzlig, frühzeitig gealtert – hat bis jetzt geduldig alle meine Fragen beantwortet. Nun bittet er mich, ob er nicht auch etwas fragen könne? Mit schwacher Stimme, durchaus nicht anklagend, eher im Tonfall der Entschuldigung, sagt er: «Haben denn die ehrenwerten Gelehrten des Westens nicht vorhergesehen, daß ihre neuen Waffen noch Jahrzehnte nach dem Einsatz Menschen umbringen würden?»

Die Frage dieses Japaners, der fünfzehn Jahre nach dem 6. August 1945 an den Folgen der Atombombe sterben mußte, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Sie war nicht nur an die Wissenschaftler gerichtet, sie geht uns alle an. Aber mich traf sie ganz besonders. Lief ich nicht seit Jahren hinter den Ereignissen her, um dann, wenn es schon zu spät war, zu kritisieren und zu protestieren? War ich nicht vom Schrecklichen, das ich beschrieb, beruflich so abhängig geworden wie manche Ärzte von der Krankheit und daher an seiner Weiterexistenz interessiert? Mußte ich nicht auch bei mir den Mangel an Voraussicht, an Vision bekämpfen und verhindern helfen, daß sich Katastrophen wie Hiroshima wiederholten?

Die Arbeit an einer Fernsehserie mit dem Titel «Europa Richtung 2000» zeigte mir, daß diese Zukunftsblindheit weitaus verbreiteter war, als ich vermutet hatte. «Ich kann mich nur mit dem nächsten, bestenfalls noch mit dem übernächsten Budget beschäftigen», bekannte ein führender englischer Staatsmann, den ich interviewte. «Was weiter als fünf Jahre vor uns liegt, ist ziemlich uninteressant», versicherte mir ein hoher Gewerkschaftsfunktionär und betonte selbstbewußt, er sei eben «Realist», kein Träumer. Parlamentarier, die ich traf, dachten nur bis zur nächsten Wahl, Wirtschaftler nur bis zur nächsten Bilanz, Siedlungsplaner bis zum nächsten Auftrag.

Die Einsicht, daß die wissenschaftlich-technische Entwicklung Kräfte in Bewegung gesetzt hatte, die weit in kommende Jahrzehnte hineinwirken würden, hatte sich damals noch kaum durchgesetzt.

So begann ich, mich für die Erforschung der Zukunft zu interessieren, nahm Kontakt mit den ersten Forschungsgruppen und Institutionen in Frankreich, in den USA und in Japan auf und wurde zu Beginn der sechziger Jahre selbst einer jener damals wenigen, die systematisch begannen, sich um die Erkundung des Kommenden zu bemühen.

Jetzt wurde meine Suche nach Anzeichen hoffnungsvoller Zukunftsentwicklungen intensiver. Ohne bestimmten Auftrag fuhr ich beunruhigt in der ganzen Welt umher, besuchte diesseits und jenseits des in jenen Jahren noch recht dichten «Eisernen Vorhangs» Forschungsstätten der verschiedensten Wissenschaftszweige. Ich nahm an Kolloquien und Seminaren von Kalifornien bis Moskau, von Finnland bis Hawaii teil und wurde so zu einem von den Experten nicht selten mißtrauisch angesehenen «conference hopper», der als Außenseiter von einer Tagung zur anderen «hüpft», um die neuesten «papers» der Forscher zu sammeln oder um bei den erregenden Pausengesprächen, nächtlichen Spekulationen dabeizusein, die den inoffiziellen, aber meist interessantesten Teil der Kongresse ausmachen. Denn hier werden tastend und noch ohne Furcht vor Kollegenkritik jene Gedanken entwickelt, die vielleicht morgen, vielleicht übermorgen, vielleicht auch nie aus dem Stadium der Vermutung in das der fundierten Erkenntnis treten.

Bei diesen Kontakten mit der wissenschaftlichen und technischen Avantgarde fiel mir immer stärker auf, wie wenig Fühlung die Pioniere der verschiedenen Disziplinen untereinander hatten. Jeder wühlte immer tiefer und tiefer in seinem Schacht, wußte jedoch nur wenig über das, was nebenan oder gar zwei, drei Stollen entfernt geschah. Einen Chemiker, der sich mit Soziologie beschäftigte, einen Organisationsforscher, der sich fragte, wo die Kernphysik stehe, oder einen Politologen, der sich dafür interessierte, an welchen neuen technischen Entwicklungen – die doch möglicherweise politische Bedeutung bekommen würden – man zur Zeit in den Laboratorien arbeite, fand ich nicht. Sie hatten, wie sie sagten, genug und mehr als genug damit zu tun, sich über die Arbeiten im eigenen Spezialgebiet auf dem laufenden zu halten. Wenn ich in jenen Unterhaltungen mit den Fachleuten etwas von den Vorgängen in «anderen Welten» berichtete und dabei versuchte, sie spekulativ auf mögliche Zusammenhänge mit ihren eigenen Arbeiten hinzuweisen, dann kam ich mir oft vor wie ein nur ungern geduldeter Globetrotter, der den arbeitsamen Honoratioren einer Provinzstadt etwas von den Ereignissen in der weiten Welt vorflunkert. Gewiß, die Sender funken Tag und Nacht, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher werden in Riesenauflagen gedruckt und verbreitet. Aber die Fülle des im Grunde schon Bekannten erdrückt und überschattet oft das wirklich Neue, das ganz andere, die Vorzeichen einer Wende, die nicht nur kalendarischer Art ist, sondern vielleicht radikale Veränderungen der Sicht, der Auffassung, der Werte, der Lebensziele und der Lebensführung mit sich bringen könnte.

Bewußt und ausdrücklich sage ich «vielleicht», weil es durchaus nicht sicher ist, ob sich diese oft erst schwachen Keime entwickeln können. Sie haben nur dann eine Chance, wenn die Neuerer und Experimentatoren die große Öffentlichkeit nicht mehr ausschließen, sondern sich mit ihr verbünden, sie teilnehmen und auch zu eigenen Fragen und Versuchen kommen lassen. Solche Teilnahme wird allerdings nur dann möglich sein, wenn die bisherige «Einbahnstraße» zwischen Experten und Laien, Führenden und Geführten, Lehrenden und Lernenden, zwischen Qualifizierten und Nichtqualifizierten nach beiden Richtungen hin geöffnet wird, wenn in der großen Masse der Befehlsempfänger, der Konsumenten, der lebenslang zur Passivität Verurteilten mehr und mehr Menschen die Möglichkeit erhalten mitzubestimmen, mitzuentwerfen, mitzugestalten.

Das andere bestimmende Ereignis auf meiner Suche nach Zeichen der Hoffnung war das Erleben eines beginnenden Eigenwillens und Eigenkönnens jener «Leute», die «von oben» nur noch als namenlose statistische Kohorten, als «Zielgruppen», «Verbraucherschichten», «Wählermassen» gesehen werden. Doch auch hier fehlt es an Querverbindungen: Bürgerinitiativen, Selbstverwaltungsexperimente, neue Betriebsformen, Schulmodelle, Wohngemeinschaften – es gibt sie zu Hunderten, aber sie wissen voneinander wenig oder gar nichts. Es gibt mitunter innerhalb einer Stadt, eines Landes Kontakte zwischen den Trägern einzelner gesellschaftlicher Versuche, es fehlt jedoch an internationaler Kommunikation, an Vergleichsmöglichkeiten und wechselseitigem Lernen aus Erfolg oder Mißerfolg, es fehlt an allgemein bekannten, ermunternden oder warnenden Beispielen.

Wer das Spektrum der weltweiten Bemühungen, Neues zu erkennen, zu entwickeln und zu leben, zu überblicken versucht, dem formen sich zu dieser Jahrtausendwende hoffnungsvollere Zukunftsvorstellungen als den Empfängern täglicher Unglücksnachrichten. Er wird letzten Endes auch optimistischer urteilen als etwa die Computerdiagnostiker des «Club of Rome», die den Faktor «Mensch» und die Größe «Phantasie» ausklammerten, weil sie beide nicht als erfaßbare, klar definierbare Daten in ihre Berechnungen einsetzen konnten.

Der Mensch hat in allen Zukunftsperspektiven einen schwer kalkulierbaren Stellenwert. Daraus erwächst aber nicht nur Unsicherheit, sondern auch Erwartung. An den «Grenzen des Wachstums» – von manchen Kommentatoren mit den Weltuntergangsprophezeiungen um das Jahr 1000 nach Christus verglichen – bekennen die geistigen Väter der Zukunftsstudie des «Club of Rome»: «Letztlich möchten wir nicht verzichten, darauf hinzuweisen, daß der Mensch sich selbst, seine Ziele und Wertvorstellungen ebenso erforschen muß wie die Welt, die er zu verändern sucht.»

Das geschieht bereits an Tausenden von Stellen des Planeten. Wir treten aus einer Epoche des vorrangigen Studiums der Natur und des Strebens nach ihrer Beherrschung in eine Zeit intensiver und immer intensiver werdender Bemühung um die Erkenntnis und Weiterentwicklung des Menschen ein. Rein äußerlich ist diese Entwicklung an der sprunghaft wachsenden Zahl der Studenten in den Humanwissenschaften bei gleichzeitigem Rückgang in den naturwissenschaftlichen Fächern zu erkennen. Auch steigt Jahr um Jahr das Interesse an Büchern mit psychologischen, pädagogischen, anthropologischen oder soziologischen Themen. Diese Tatsache muß den Zukunftsforscher interessieren, engagieren.

Es gibt zwei Hauptmethoden der Vorausschau. Das «exploratory forecasting» (forschende Vorausschau) verlängert bereits wahrnehmbare Trends in die Zukunft hinein. Das «normative forecasting» (normative Vorausschau) setzt zum Teil aufgrund der auf diese Weise gewonnenen Einsichten wünschenswerte Ziele fest und fragt sich, wie die Lücke zwischen dem Erstrebten und Verfügbaren überwunden werden könnte.

Bekanntes Beispiel eines – nachträglich stark und vermutlich zu Recht kritisierten – normativen Vorgehens war das amerikanische «Projekt Apollo», das schon zu einer Zeit entworfen und verkündet wurde, als die technischen Geräte für den Mondflug erst teilweise erfunden waren. Durch die klare Herausstellung eines zu erreichenden Zieles wurden jedoch zahlreiche verstreute Ansätze zusammengefaßt und darüber hinaus konstruktive Kräfte mobilisiert, denen in überraschend kurzer Zeit die notwendigen, technologischen Durchbrüche gelangen.

Ähnlich normativ werden wir vermutlich bei der Weiterentwicklung des Menschen vorgehen müssen, denn die Zeit drängt. Eine Umorientierung des Wachstums von «außen» nach «innen», vom Griff nach der Erde und dem Heimmel zur «Selbstbesinnung» des Menschen auf sich und seine Gesellschaft ist zwar bereits im Gange; zu einem vordringlichen, allgemein anerkannten Ziel ist es noch nicht geworden.

Denkbar wäre ein weltweites «Projekt Jedermann». Es sollte die verborgenen, verschütteten, verkrüppelten Fähigkeiten zahlloser Persönlichkeiten entwickeln, die durch falsche Erziehung oder soziale Zurücksetzung um ihre Selbstverwirklichung betrogen wurden.

Dafür reichen jedoch wissenschaftliche Analysen allein nicht aus; darüber hinaus sind zahlreiche Entwürfe für neuartige Formen des persönlichen Zusammenlebens notwendig. Soziale Laboratorien werden nicht abgeschirmte Tempelbezirke priesterhafter Experten sein dürfen. Sie müßten offene Stätten spontaner Einfälle wie auch fundierter, geduldiger Prüfung sein, die ständig Vorschlägen, Kritik und Diskussion ausgesetzt sind. In solchen Institutionen sollte Gelegenheit für Experimente geboten werden, aus denen neuartige Siedlungsformen, Schulen, Arbeitsplätze, Orte des Spiels und Stätten der Besinnung hervorgehen könnten.

Utopie? Anfangs vielleicht. Aber was einst Traum bleiben durfte, muß heute Entwurf und Wirklichkeit werden. Nicht mehr nur der Wunsch, sondern die Not verlangt nach neuen menschlichen Lebensformen.

«So geht es nicht weiter!» Diese Worte können als Entschuldigung für den Rückzug dienen, sie können aber auch Herausforderung sein. Der amerikanisch-französische Biologe René Dubos sagte in einem Gespräch über die Bedrohung der Menschheit an der Jahrtausendwende:

«Krisen führen immer zu einer Bereicherung. Zivilisationen dürfen niemals zu Ketten werden. Deshalb mündet mein Pessimismus gegenüber der nächsten Zukunft in einen Optimismus von großer Tiefe. Die Kraft der Umstände zwingt die Menschen, andere Lösungen zu erfinden.»

Um über weitverstreute, vereinzelte und oft verborgene Anfänge solch weltweiter Bestrebungen zu berichten und sie in das allgemeinere Bewußtsein zu heben, ist dieses Buch geschrieben worden. Sein Fazit: Der Mensch ist nicht am Ende. Herausgefordert durch tödliche Gefahren, beginnt er sich erst jetzt voll zu entfalten.

I. Gezähmte Technik

Gewandelte Zukunftsbilder

Vom Dunkel in strahlende Helle. Fast ohne Übergang. Eben noch im Schritt durch «typisch englischen Nebel» gefahren, gegen den die Autoscheinwerfer fast machtlos waren, und nun blendet die plötzliche Sonne den Fahrer so sehr, daß er bremsen muß und am Straßenrand stehenbleibt. Wir klettern aus dem Bus auf die schäbige Vorstadtstraße von Manchester und springen ausgelassen herum wie Kinder. Dort hinten in der gelbgrauen «Erbsensuppe» liegt die Computerfabrik Ferranti, in der wir heute vormittag für das Fernsehen gedreht haben. Und hier, nicht einmal eine Meile entfernt, leuchtet der Himmel klar und frühsommerlich.

So erlebte ich in der mittelenglischen Industriemetropole die Passage von einer verschmutzten in eine «rauchfreie Region». Es war, als überschreite man die Grenze zwischen zwei Welten, zwei Zeiten. Damals, Anfang der sechziger Jahre, gab es den «Clean Air Act» (Gesetz für saubere Luft) erst seit kurzer Zeit. Der Beschluß, mit dem sich Großbritannien als erste Großmacht gegen unerfreuliche Nebenerscheinungen des Wachstums zu verteidigen suchte, war 1956 im Parlament gefaßt worden. Als politische Pragmatiker wußten die Engländer, daß es nicht möglich sein würde, die beschlossenen scharfen Kontrollen für Betriebe und Privatpersonen auf einen Schlag durchzusetzen. So begann man nach und nach, bald hier, bald dort, eine «smokeless zone» einzuführen: Modell und Verheißung für andere, noch in Qualm und Gestank getauchte Gebiete. Fünfzehn Jahre nach dieser gesetzgeberischen Pionierleistung überflog ein Kamerateam der «British Broadcasting Corporation» (BBC) die ganze Insel und stellte fest: «An einem klaren Tag wird der Reisende überrascht, weil es die charakteristischen Rauchfahnen über den meisten Industriegebieten nicht mehr gibt.»

Ähnlich deutliche, wenn auch noch lange nicht volle Erfolge gelangen bei der Reinigung englischer Gewässer. Als Umweltforscher im Auftrag der Behörden 1957 den Verschmutzungsgrad der Themse prüften, fanden sie auf einer Strecke von vierzig Kilometern zwischen Richmond und Gravesend keinen einzigen lebenden Fisch mehr. Fünfzehn Jahre später tummelten sich wieder über fünfzig verschiedene Arten in den Wellen des Flusses. Die Ufer werden nun nach und nach von Fabrikanlagen befreit und in Parklandschaften mit Spazierwegen umgewandelt. In den einst grünen Tälern von Wales, die durch die Industrialisierung in sterile Halden und Schuttplätze verwandelt worden waren, setzte eine erfolgreiche Wiedergutmachungspolitik ein. Sie führte bereits zur Schaffung großer neuer Erholungsgebiete. Der Nordwesten Englands, von dem aus im neunzehnten Jahrhundert die Maschinen, die man damals euphemistisch «eiserne Engel» nannte, ihren Siegeszug über die Welt antraten, wird systematisch aufgeforstet. Im Jahr 2000 sollen viele Regionen der Insel wieder so grün sein wie zu Zeiten Shakespeares. Man wird künftig nur solche Industrie in den wiederhergestellten Landschaften dulden, die nicht gegen Normen des Gesundheits- und Naturschutzes verstößt.

Wunschvorstellungen von der künftigen Umwelt beginnen sich drastisch zu verändern. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die Rauchfahnen der Schornsteine noch als Banner des Wohlstands gesehen, galten Industrieanlagen, Motoren, Maschinen als Symbole des Fortschritts. Nun, an der Wende des Jahrtausends, beginnt sich die Vision der erhofften und gewollten Zukunft grundlegend zu ändern: die Technik wird in den Hintergrund gedrängt. Ihr wird eine dienende, unauffällige, unaufdringliche, möglichst unschädliche Rolle angewiesen; sie wird geradezu versteckt.

Wo heute noch Hochspannungsleitungen den Himmel zerschneiden, soll der Blick wieder ungehindert bis an den Rand des Horizonts schweifen können. Keine Schwaden werden die Luft, keine Abfälle die Gewässer verpesten. Lärm und bedrückend monotone Fabrikgebäude werden verschwunden sein; die Häßlichkeit tritt ihren Rückzug an. Der Rhythmus der Maschinen entläßt die Menschen aus seinem Griff. Sie können sich wieder in ihrem eigenen Tempo bewegen, nach eigenem Zeitgefühl arbeiten. Sie haben sich von den sichtbaren und unsichtbaren Ketten befreit, die ihnen das Zeitalter der mechanisierten Leistung auferlegte.

Stile der Technik

Diese Schilderung klingt zwar heute noch utopisch. Aber sie ist nicht nur eine mögliche, sondern eine recht realistische Vision der Welt von morgen. Pläne, Projekte, Experimente, hier und da auch schon Verwirklichungen weisen in diese neue Richtung. Vieles, was gestern noch als unökonomisch und daher undurchführbar abgelehnt wurde, erwies sich als durchaus machbar. Anfang der sechziger Jahre hieß es z.B., die Verlegung von Überlandkabeln unter die Erde sei zu kostspielig und könne nur in Ausnahmefällen stattfinden. Anfang der siebziger Jahre wurden im Zeichen des erwachten «Umweltbewußtseins» bereits Hunderte Kilometer von Stromleitungen eingegraben. Einerseits hatten Verbesserungen auf den Gebieten des Tiefbaus und der Elektrotechnik die Kosten gesenkt, andererseits mußten und konnten staatliche und private Werke mit einemmal doch die notwendigen, gestern noch als «untragbar» bezeichneten Mehrlasten übernehmen.

Eine entscheidende Rolle in diesem Wandlungsvorgang spielte die zunächst unbeachtete, später verspottete Zivilisationskritik der Intellektuellen. Sie weckte das Unbehagen an den Apparaturen, die sich das Lebendige zu unterwerfen und oft unwiderruflich zu zerstören begannen, schon zu einer Zeit, da der Nimbus der Technik noch sehr groß war und sie als eine Art moderne «Religion» angesehen wurde, gegen die nur rückständige «Ketzer» etwas einwenden konnten. Seither zeigte es sich aber, daß die angeblich wirklichkeitsfremden Intellektuellen die Realität besser beurteilt hatten als die «Praktiker», weil ihr Begriffsrahmen weiter gespannt war. Die sogenannten «Realisten» hingegen, die weder Nebeneffekte noch längerfristige Folgen der Industrialisierung hatten sehen wollen, waren bei ihrer «streng seriösen» Beurteilung der Lage weniger ernsthaft gewesen als der geniale Filmkomiker Charlie Chaplin, der in seinem Meisterwerk «Modern Times» beim Kampf mit dem Fließband die beschämende Lächerlichkeit einer inhumanen Produktionsweise sehr früh bloßgestellt hatte.

Doch erst die menschheitsgefährdende Grenzüberschreitung der technischen Entwicklungsmöglichkeiten in den Atombombenexplosionen von Hiroshima, Bikini, Eniwetok und Nowaja Semlja verwandelte Unbehagen in weltweite Furcht, erschütterte das Dogma vom unbefleckten und unausweichlichen technischen Fortschritt, dem man sich zu fügen und anzupassen habe.

Anthony Wedgwood Benn, ein führender Mann der englischen Arbeiterpartei, formulierte zu Anfang der siebziger Jahre, als er noch das Ministerium für Technik leitete, diese veränderte Haltung besonders knapp und einleuchtend: «Die zentrale Frage von heute ist sehr einfach. Es geht darum, ob die Menschen eine Kontrolle über die Maschinen behalten, die sie gebaut haben, oder ob sie sich von ihnen überrollen lassen. Das Risiko ist sehr real, daß wir der menschengemachten Umwelt so vollständig preisgegeben werden wie einst die Höhlenmenschen der Natur. Damals waren sie von Kräften umgeben, die sie nicht verstanden, und lebten in ständiger Furcht, es könnte wieder so kommen.»

Ist es überhaupt richtig, von «der Technik» zu sprechen? Nach Ansicht des englischen Ingenieurs und Erfinders Professor Meredith Thring (Marylebone College, London) haben wir bisher noch gar nicht versucht, eine «kreative Technik» zu konstruieren, sondern uns mit einer «cheap technology», einer «schäbigen Technik», zufriedengegeben, die ausschließlich der Zielsetzung unterworfen ist, billig, profitabel, sparsam und schnell zu produzieren. Seiner Ansicht nach könnten Forscher und Ingenieure schon längst menschen- und umweltfreundlichere Apparaturen konstruieren, wenn man sie nur ließe und die Rücksichtnahme auf Mensch und Umwelt in ihren Entwürfen eine mindestens ebenso große Rolle spielen dürfte wie wirtschaftliche Bedingungen.

Über der Welt der Maschinen steht heute noch, alle anderen Motive überragend, das Motto der Auftraggeber: «Mehr Leistung! Mehr Gewinn!» Diese Leitsätze erweisen sich aus größerer Entfernung als trügerisch, denn diese an Effizienz und Profit ausgerichtete Technik bringt zwar raschen Gewinn, aber infolge ihrer schädlichen Nebenwirkungen übergroße «soziale Kosten» und langfristigen Verlust.

Wie die Baukunst, so kann auch die jeweils herrschende Technik als Ausdruck eines bestimmten, die Zeit widerspiegelnden Stils angesehen werden, der von den wirtschaftlichen, sozialen, geistigen und seelischen Bedingungen einer Epoche beeinflußt wird und sie ihrerseits beeinflußt. Nach Ansicht des belgischen Kulturphilosophen Henri van Lier (Universität Brüssel) wird der brutalen «dynamischen Technik» des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, die sich die Welt und den Menschen zu unterwerfen versuchte, eine in Ansätzen schon vorhandene «dialektische Technik» folgen. Sie soll mit der Natur und mit ihren Arbeitspartnern in ein Zwiegespräch eintreten und – so hofft er –, aus ihrer zivilisatorischen Abseitsstellung befreit, in den Kreis der menschlichen Kulturleistungen einbezogen werden: eine Schwester der Künste.

Daß es schon jetzt zahlreiche Bemühungen gibt, eine andere Technik zu schaffen, mit der man leben kann, statt unter ihrer Herrschaft oder im Widerstand gegen sie zu leiden, habe ich auf meiner Suche immer wieder festgestellt.

Ich möchte diese Bemühungen in vier große Tendenzen gliedern:

• Die erste Richtung – sie ist bisher am weitesten gediehen – will die Technik starken Kontrollen unterwerfen;

• die zweite will die Technik so weit wie möglich zurückdrängen, verkleinern und auf ein Mindestmaß beschränken;

• die dritte – sie ist die phantasievollste – geht dahin, Wesen und Funktionsweise der Technik grundsätzlich zu verwandeln, sie lebensähnlicher zu machen und durch eine Art «gelenkte Evolution» zu zivilisieren;

• die vierte Tendenz: Umsteuerung der Technik auf andere, menschen- und umweltfreundlichere Ziele hin.

Wie bei jeder Einteilung gibt es auch hier Überschneidungen, Zwischenformen, gegenseitige Ergänzungen. Die Technikkontrolleure, die Technikasketen, die Technikverwandler und die Techniksteurer werden mit- und nebeneinander den Versuch machen, zwischen den Menschen und seinen Instrumenten ein neues, friedlicheres Verhältnis zu stiften, damit er die Krisen des Jahrtausends überleben kann.

Der «Schmutzrausch» macht Millionäre

Eine Milliardenindustrie zur Kontrolle der Umweltschäden begann sich Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre in vielen Staaten zu entwickeln. Automatische Meß- und Warninstrumente zur Aufspürung schädlicher Stoffe in Luft, Wasser, Boden und Nahrung, chemische und pharmazeutische Produkte zur Giftbekämpfung, Luftfilter, Klärwerke und Abfallverarbeitungsanlagen wurden auf einem Markt, der teilweise bereits unter stagnierenden oder fallenden Rüstungsgewinnen zu leiden hatte, zu einem unerwartet großen Geschäft.

Ein «Schmutzrausch» setzte ein, der an den Goldrausch von Alaska erinnert. Er machte bereits einige besonders geschickte Leute innerhalb kürzester Zeit zu Millionären. Da war zum Beispiel der Amerikaner Robert L. Chambers, der mit ausgeborgtem Geld die Firma «Environtech» in Menlo Park, Kalifornien, gründete, über die das «Wall Street Jornal» schreibt: «Vor weniger als drei Jahren begonnen, war Environtech zuerst nur eine Idee, die unter dem Kennwort 8–2-0 bekannt war, schwoll aber inzwischen zu einer Firma an, deren Einnahmen jährlich über hundertfünfzig Millionen Dollar betragen sollen. Die Verdienste in den ersten sechs Monaten des laufenden Steuerjahres waren um 37,2 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Daher sagen die Makler voraus, daß die Firma mit Leichtigkeit ihre vorjährigen Reingewinne von drei Millionen Dollar überschreiten wird.»

Laut einer Schätzung der neuen Umweltbehörde der Vereinten Nationen wird bis 1985 etwa ein Fünftel aller industriellen Erzeugung der Milderung oder Beseitigung unerwünschter Nebenwirkungen der Technik dienen. Welche Ausgaben notwendig sind, geht aus dem Projekt für eine künstliche «Müllinsel» in der Nordsee hervor, die von der «Westminster Dredging Group» geplant wird. Sie soll rund fünfzig Millionen Pfund kosten und etwa ein Fünftel aller Abfälle Hollands (vor allem gefährliche Chemikalien und jährlich allein 200000 Altautos) rund achtzig Kilometer von allen Wohngebieten entfernt verarbeiten oder auf die angeblich gefahrlose Versenkung im Ozean vorbereiten. Noch gigantischer sind – wie üblich – die amerikanischen Statistiken: Im Jahr 1971 gaben die Vereinigten Staaten schon 3,5 Milliarden Dollar aus, um 112 Millionen Tonnen Papier und Kunststoff, 16 Millionen Tonnen Glas und 14 Millionen Tonnen Metall auf die verschiedenste Art und Weise beseitigen zu lassen.

Hier entstehen gewaltige neue finanzielle Lasten, die zwar aufgrund des Verursacherprinzips zuerst von der Industrie getragen werden müssen, schließlich aber doch in Form höherer Preise und Steuern auf die Öffentlichkeit abgewälzt werden. Da Großfirmen der Auto-, Luftfahrt-, Kunststoff- und chemischen Industrie, deren Produktion und Produkte an der Verschmutzung hauptschuldig sind, sich sofort durch Aufkauf kleiner oder durch Gründung eigener Firmen für Umweltkontrollerzeugnisse an dem Boom beteiligten, verdienen sie nun zusätzlich auch noch an der Beseitigung der von ihnen verursachten Schäden.

Bedenklich ist, daß diese neue Industrie zur Rettung der Umwelt selbst zu einer Umweltbelastung wird: Sie verbraucht nicht nur Rohstoffe, sondern verursacht häufig selbst Umweltschäden. Das freundliche Bild von der Säuberung des Himmels über den städtischen und industriellen Zentren Englands, das ich zu Beginn beschrieb, hat auch seine Kehrseite. Denn die dort erzielten Erfolge wurden zu einem erheblichen Teil durch vorhergehende Entschwefelung der Hausbrandkohle erzielt, ein Prozeß, der nunmehr die Luft in der Umgebung der Entschwefelungsanlagen intensiv verseucht.

Ein «Vorwarnsystem» für die Umwelt

Es fragt sich aufgrund solcher Tatsachen, ob die nachträgliche Beseitigung technischer Schäden nicht schnellstens durch ein präventives Vorgehen abgelöst werden sollte. Es müßte dafür gesorgt werden, daß die zerstörerischen, nachträglich meist nicht mehr gutzumachenden Begleiterscheinungen industrieller Vorgänge von vornherein ausgeschaltet werden.

Aus solchen Überlegungen heraus wurde erstmals in den USA, dann aber auch in zahlreichen anderen hochindustrialisierten Ländern ein Konzept geboren, das in den siebziger und achtziger Jahren so intensiv diskutiert werden dürfte wie heute Mitbestimmung, Bürgerinitiativen und antiautoritäre Erziehung. Es trägt den Namen «technology assessment» (technische Gesamtbewertung) und kann in mancher Hinsicht mit den Kontrollen und Prüfungen verglichen werden, die jeder Einführung eines neuen Arzneimittels vorausgehen müssen. Die Beurteilung der Droge «Technik» ist aber um vieles schwieriger. Denn es geht dabei nicht nur darum, mögliche Gesundheitsschäden abzuschätzen, sondern darüber hinaus Kettenreaktionen gesellschaftlicher Einflüsse zu überdenken, die, wie Auto und Fernsehen zeigen, von technischen Neuerungen ausgehen können.

Als «Vater» des T.A. – so die sehr schnell international in Gebrauch gelangte Abkürzung für «technology assessment» – wird der langjährige amerikanische Kongreßabgeordnete Emilio Q. Daddario, ein Sohn italienischer Einwanderer, angesehen. Die Karriere dieses Mannes ist von beispielhafter Bedeutung, denn er gehört zu einem kleinen Kreis juristisch oder nationalökonomisch ausgebildeter Politiker und Staatsmänner, die durch den wachsenden Einfluß von Naturwissenschaft und Technik gezwungen wurden, sich mit diesen, ihnen ursprünglich meist ganz fremden Fächern zu beschäftigen.

Seiner Sprachkenntnisse wegen war Daddario im Zweiten Weltkrieg – damals noch ein junger Anwaltskandidat, der seine Laufbahn vorbereitete – bei einer Abteilung des Nachrichtendienstes eingesetzt worden, die sich mit der deutschen Rüstungsforschung zu beschäftigen hatte. So erhielt er nicht nur einen tiefen Eindruck von der Bedeutung, die angewandte Forschung und technische Entwicklung in strategischen und politischen Entscheidungen zu gewinnen begannen, sondern sah auch, daß er gerade auf diesen Gebieten über viel zu geringe Kenntnisse verfügte, um seinen Pflichten als aktiver, gut informierter Staatsbürger nachkommen zu können. Nach seiner Wahl in den Kongreß im Jahre 1959 ließ den neuen Volksvertreter die Sorge um diese «Bildungslücke» nicht mehr los. Damals standen die USA unter dem Eindruck des «Sputnik-Schocks», ausgelöst durch die Tatsache, daß die Russen 1957 vor den Amerikanern einen Satelliten in die Erdumlaufbahn gebracht hatten. Ein Krisenprogramm («crash program») zur stärkeren Unterstützung der Universitäten, Institute und Laboratorien sollte den Vereinigten Staaten möglichst schnell wieder ihre führende Stellung zurückerobern, und die Volksvertreter hatten plötzlich über die Vergebung achtstelliger Dollarsummen für Forschungszwecke zu beraten, deren richtigen oder falschen Einsatz sie eigentlich gar nicht beurteilen konnten.

«Ich war im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen schon damals beunruhigt über unsere Bereitwilligkeit, den Weltraumzielen einen so deutlichen Vorrang zu geben», sagte mir Daddario, als ich ihn während einer seiner Europareisen interviewte. «Aber damals konnte ich das Für und Wider nur schwer abwägen. Deshalb war ich froh, daß wir 1963 eine Untergruppe des parlamentarischen Weltraumkomitees gründeten, das sich mit Wissenschaft, Forschung und Entwicklung in einem weiteren Rahmen zu befassen hatte.»

Der im Kongreß noch als Neuling geltende Italo-Amerikaner wurde aufgrund seiner guten Beziehungen zur wissenschaftlichen Welt bald zu einem der bekanntesten und beliebtesten Mitglieder der amerikanischen Volksvertretung. Eine seiner interessantesten Initiativen war die Verstärkung des wissenschaftlichen Beratungsdienstes für Parlamentarier und der Ausbau ihrer Dokumentationsmöglichkeiten auf den Gebieten Forschung und Technik. Endlich konnten die Abgeordneten der von zahlreichen wissenschaftlichen Sachverständigen beratenen Regierung ihre eigene, wissenschaftlich fundierte Meinung entgegenstellen.

Das ist also die Vorgeschichte des «technology assessment», dessen Entstehungsstunde Graham Chedd, ein in Washington arbeitender englischer Wissenschaftsjournalist, beschreibt: «All das begann, so sagt man, an einem Tisch im Restaurant des amerikanischen Repräsentantenhauses irgendwann zu Beginn des Jahres 1965. Vier Männer – einer davon Daddario – frühstückten dort jeden Morgen. Sie diskutierten bei dieser Gelegenheit über eine Bemerkung, die Jerome Wiesner, Professor des MIT (Massachusetts Institute of Technology) und früherer Wissenschaftsberater des Präsidenten, einige Tage zuvor gemacht hatte … Wiesner hatte gesagt, Amerika brauche ein Vorwarnsystem, um die Menschen vor den Folgen ihrer Erfindungen zu schützen.»

Allerdings mußte noch der Einfluß eines anderen Mannes hinzukommen, ehe aus dieser Anregung, die bei Daddario auf fruchtbaren Boden gefallen war, der Gesetzesvorschlag für eine wichtige parlamentarische Neuerung entstehen konnte. In «Reader’s Digest» hatte Charles Lindbergh, der berühmte Luftpionier, dem 1927 als erstem die Überquerung des Atlantiks im Flugzeug gelungen war, einen Artikel unter dem Titel «Is Civilisation Progress?» (Bedeutet Zivilisation Fortschritt?) geschrieben, der sich als einer der ersten im technikbegeisterten Amerika mit den Schattenseiten der industriellen Entwicklung beschäftigte. Daddario versuchte sofort, mit «Lindy» Verbindung aufzunehmen, was nicht ohne Schwierigkeiten abging, denn der einstige Liebling der Nation hatte durch seine zeitweiligen Sympathien für Hitler viel von seiner Popularität eingebüßt und sich verbittert aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

Doch schließlich empfing er den Kongreßmann, und dieses Gespräch überzeugte Daddario vollends, daß dringend etwas geschehen müsse, um für die Abgeordneten eine eigene Stelle zur Beurteilung technischer Neuerungen und ihrer gesetzlichen Kontrolle zu schaffen. So wurde 1967 dem Parlament der erste Gesetzesvorschlag zur Einrichtung eines «Office of Technology Assessment» unterbreitet. Aber es dauerte noch fast ganze sechs Jahre, ehe die «bill», die diese neue demokratische Institution ermöglichen sollte, gegen den anhaltenden Widerstand der verschiedensten Interessengruppen angenommen werden konnte.

«David» Shurcliff gegen «Goliath» Superjet

In den Diskussionen um die Einführung des T.A. – die Anfangsbuchstaben wurden von seinen Gegnern als «technology arrestment» (Hemmen der Technik) gedeutet – spielte der Kampf um die staatliche Unterstützung für das Projekt eines zivilen Überschallflugzeugs (Super Sonic Transport, abgekürzt SST) eine wichtige Rolle. Verständlicherweise, denn die Frage, ob man die Einführung dieser neuen Flugzeugtype – die in zweieinhalb Stunden von Amerika nach Europa und in fünf Stunden von New York nach Bombay fliegen würde – unterstützen oder verhindern sollte, war geradezu ein Musterbeispiel für die Probleme, mit denen sich das vorgeschlagene «Büro für technische Gesamtbewertung» zu befassen haben würde. Zum erstenmal seit Beginn der industriellen Revolution – und das ist das historisch Beispielhafte an diesem Vorgangstürzte man sich nicht mehr blind in ein technisches Abenteuer, sondern war bereit, die möglichen Nachteile vorher abzuwägen.

Daß Flugzeuge bei dieser Geschwindigkeit starke Schockwellen hervorrufen, die sich als sogenannter «Luftknall» entladen, war längst bekannt. Diese Erfahrung hatte man sofort bei den schon in Dienst gestellten Überschallmaschinen des Militärs gemacht. Annähernd so laut wie Bomben und mit starkem Explosionsdruck säten diese von den Air-Force-Piloten schlicht und heiter «Himmelsfürze» genannten Detonationen auf ihrem breiten Flugweg Unheil. Fenster gingen in Scherben, Häuser stürzten ein, Menschen wurden mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, trächtige Tiere erschraken so sehr, daß sie ihre Leibesfrucht verloren.

Solange so etwas nur in dünnbesiedelten Gebieten geschah, über denen die Militärpiloten ihre Übungsflüge durchführten, fielen diese Ereignisse einer weiteren Öffentlichkeit kaum auf. Aber die geplanten «Super Sonic Transports» sollten ja die Metropolen der USA an- und überfliegen. Zusätzliche Belastungen würden beim Starten und Landen in Flughafennähe eintreten, da eine einzige SST soviel Lärm macht wie fünfzig Jets. Wie würden sich diese empfindlichen Störungen auf die Zivilbevölkerung auswirken?

Die Befürworter des Projekts, vor allem Abgeordnete derjenigen Staaten, in denen die Flugzeugindustrie eine Rolle spielte, sowie Lobbyisten und Regierungssprecher meinten, es werde so schlimm schon nicht kommen; die Menschen würden sich eben gewöhnen. Schon im Mai 1960 hatten sie diese Behauptung bei den parlamentarischen «hearings» aufgestellt und dadurch die Volksvertreter so weit beruhigt, daß im August 1961 die erste Jahresrate in Höhe von elf Millionen Dollar für ein zweijähriges Forschungsprogramm bewilligt wurde, um die «letzten Schönheitsfehler» des SST auszumerzen. Das Vorhaben erwies sich jedoch als ein Faß ohne Boden. Immer wieder wurden «Verbesserungen» notwendig. Inzwischen waren nämlich Warnungen von Dr. Bo Lundberg, dem langjährigen Direktor des schwedischen Instituts für Flugforschung, über den Atlantik gedrungen. Sie sprachen nicht nur von einer Gefährdung der Menschen und Objekte, die sich unter dem Flugweg der Maschine befinden, sondern auch von möglichen Gesundheitsschädigungen der Passagiere und Piloten. Diese würden in Höhen von 20000 bis 27000 Metern hochenergetischen kosmischen Strahlenwirkungen ausgesetzt. Diese Flughöhe müsse von den Maschinen wegen des geringeren Luftwiderstandes während des größten Teils ihrer Reisen gewählt werden.

Vor allem aber war dem Riesenvogel, dessen Prototypen bereits in den Werkhallen der Boeing Corporation bei Seattle gebaut wurden, im eigenen Land ein nicht zu unterschätzender Gegner erwachsen, der die Öffentlichkeit mit seiner fundierten Kritik an diesem «kostspieligen, gefährlichen, leichtsinnigen Prestigeprojekt» beunruhigte. Dieser Gegner des SST war nicht einfach als lästiger Querulant abzutun, wie es die Public-Relations-Leute der Flugzeugindustrie zunächst versuchten. Denn William A. Shurcliff, Kernforscher an der berühmten Harvard-Universität, ging der Ruf eines soliden, nüchternen und eher vorsichtigen Wissenschaftlers voraus. Neben fachlichem Können hatte er in seiner Laufbahn auch die Einsicht gewonnen, daß wissenschaftliches und technisches Handeln vom Verantwortungsgefühl für die Folgen dieser Tätigkeit geprägt sein müsse. Der Physiker war während des Zweiten Weltkrieges rechte Hand von Vannevar Bush gewesen, dem Leiter des «Office of Scientific Research», das für die Erfindung neuer Waffen verantwortlich war. Shurcliff wurde dadurch schon während der vierziger Jahre in die große Gewissenskrise um Bau und Einsatz der Atombombe hineingezogen. Damals erwachte in vielen Forschern das Bewußtsein ihres «Sündenfalls», und sie nahmen sich vor, niemals wieder die Konsequenzen ihrer Arbeit aus den Augen zu verlieren.

Mit der gleichen Sorgfalt, die Shurcliff schon 1945 als Mitverfasser des «Smyth Report», des offiziellen Berichts über das amerikanische Atombombenprojekt, bewiesen hatte, machte er sich – angeregt durch den Leserbrief eines Biochemikers an die «New York Times» – daran, alle Fakten zu studieren, die für und gegen das SST-Projekt sprachen. Als er aufgrund dieser Unterlagen zu der Vermutung gelangt war, daß sich hier einmal mehr das Machtdenken der Herrschenden mit dem fatalen Hang der Fachleute verband, das «technisch Süße» ohne Rücksicht auf mögliche Schäden für die Menschheit zu kosten, beschloß er, gegen diese Bedrohung anzugehen.

Er wandte sich an Persönlichkeiten, die bereits öffentlich Bedenken gegen das Projekt geäußert hatten, und gründete mit ihnen die «Citizens League against the Sonic Boom» (Bürgerliga gegen den Überschallknall). All diese Protestler opferten einen Teil ihrer Ersparnisse für ganzseitige Anzeigen in den einflußreichsten Zeitungen. Darin baten sie die Öffentlichkeit, ihren Widerstand zu unterstützen.

Neuer Maßstab: der empfindliche Mensch

Ich besuchte Shurcliff in seinem kleinen hölzernen Einfamilienhaus in der Appleton Street, einer ruhigen Seitengasse der bei Boston gelegenen Universitätsstadt Cambridge. In dem altväterlich wirkenden, von Mitgliederkarten, Broschüren und Flugblättern überquellenden «living room» erlebte ich, daß das amerikanische Ideal der «grassroots democracy» (Demokratie von der Basis aus) auch in der Zeit bürokratischer Mammutinstitutionen noch lebendig ist. Von diesem bescheidenen Wohnzimmer aus bekämpfte Shurcliff mit Hilfe seiner Familie unermüdlich das ganze staatliche Establishment: Generale, Senatoren, Lobbyisten, führende Funktionäre der «Federal Aviation Administration», Konzernchefs und schließlich sogar der Präsident der Vereinigten Staaten, Richard Nixon, mußten ihre Pläne ändern und schließlich aufgeben. Denn im Dezember 1971 erreichten Shurcliff und die wachsende Zahl seiner Helfer das angestrebte Ziel: dem SST-Projekt wurde vom Senat des amerikanischen Kongresses die weitere staatliche Subventionierung versagt. In der Folge strichen die Boeing-Werke das umstrittene Vorhaben.

Der nicht mehr junge, aber erstaunlich lebendige und energische Gelehrte schilderte mir, wie er es geschafft hatte. Anfangs waren die zahlreichen Artikel und Studien des Schweden Bo Lundberg seine wichtigste Informationsquelle gewesen. Es waren darin zwischen 1960 und 1967 schwerwiegende ökologische und ökonomische Einwände gegen das Überschallflugzeug entwickelt worden, ohne daß die amerikanische Öffentlichkeit sie zur Kenntnis genommen hatte. Aber aus den Stellungnahmen der amerikanischen Ministerien, der in ihrem Auftrag arbeitenden Laboratorien und der Akademie der Wissenschaften ließen sich interessante Schlüsse ableiten, wenn man diese offiziellen Berichte nur zu lesen, zu vergleichen und auf ihre Auslassungen oder Widersprüche hin zu untersuchen verstand.

So konnten Halbwahrheiten der Behörden und ihrer «Kopflanger» aufgedeckt, Verschleierungen bedenklicher Folgen zerrissen und die Verharmlosungen der durch den Lärm und Überschallknall verursachten Schäden durch exaktes Nachrechnen widerlegt werden. Shurcliff rechnete zum Beispiel aus, daß bei einer Umstellung des Weltluftverkehrs auf SST-Maschinen im Durchschnitt täglich 24 Millionen Dollar Sachschäden zu erwarten seien.

Von Bedeutung war, daß Shurcliff die in Europa heute noch vorherrschende Scheu des Wissenschaftlers vor der Öffentlichkeit zu überwinden verstand. Seine Schwester, Frau Ingelfinger, Frau eines bedeutenden Arztes, verteilte regelmäßig Xerokopien der neuesten «Gegenexpertisen» von Naturwissenschaftlern, Nationalökonomen und Politologen an mindestens zweihundert führende amerikanische Zeitungen, fünfzig Kolumnisten und ebenso viele Radio- und Fernsehstationen. Zahlreiche Kongreßmänner wurden mit den wichtigsten Informationen und Argumenten versorgt, ebenso die Behörden und Kommissionen, die mit SST zu tun hatten. Führende Mitarbeiter der Herstellerfirma Boeing wurden ebenso «gegeninformiert» wie die Manager der meisten großen Fluglinien in den USA und Europa, denen SST noch vor der Fertigstellung zum Kauf angeboten worden war.

Vor allem führte der Physiker Shurcliff, unterstützt durch Gutachten von Biologen, Physikern, Psychologen und Ärzten, den von den Befürwortern unterschätzten «Faktor Mensch» in die vorwiegend technischen Berechnungen ein. Er zeigte unter anderem, daß schon durch einen einzigen Flug von New York nach Los Angeles nicht weniger als zehn bis vierzig Millionen Personen in ihrer Gesundheit betroffen würden. In einer Aussage vor dem Kongreß versuchte Air-Force-General Maxwell diese Behauptung zu entkräften, indem er beteuerte, seine Leute auf der Edwards Air Force Base lebten schließlich schon seit langem mit dem «sonic boom» und hätten sich an dieses Phänomen so gewöhnt, daß sie es gar nicht mehr beachteten.

Shurcliff forderte draufhin, als Maßstab dafür, ob eine technische Neuerung tragbar oder untragbar sei, sollten nicht abgehärtete Soldaten, sondern empfindliche Zivilisten gelten. Er zeigte mir eine Liste von besonders gefährdeten, von «vulnerable persons», die er aufgestellt hatte. Es gehörten dazu Herzkranke, Kinder, Menschen mit Schlafstörungen, Magenkranke, Nervenleidende, schwangere und gebärende Frauen, schreckhafte Menschen. Eine weitere lange Liste war «besonderen Situationen» gewidmet, in denen der plötzliche Knall vom Himmel störend oder sogar gefahrbringend sein konnte, etwa während einer Theateraufführung, einem Konzert, einer schwierigen Augen- oder Gehirnoperation.

Weil sich solche Faktoren nicht exakt messen lassen, hatte man sie bisher bei den Berechnungen vernachlässigt – ein Versäumnis, das bei vielen, wenn nicht den meisten technischen Planungen gang und gäbe ist. Shurcliff konnte zeigen, daß die Häufung der zahlreichen, angeblich «unbeachtlichen» Belästigungen der Bürger im Endergebnis untragbar sei. Man dürfe die einzelnen industriellen Nebenwirkungen nicht jede für sich, sondern müsse sie im Zusammenhang als ein Übersoll von Irritationen sehen. Erst eine solche Gesamtbewertung vermittelt das richtige Bild und erweist, daß tägliche Heimsuchungen durch technische Ursachen unzumutbar, ja gefährlich sind.

«Manchmal kam der Kampagne der Zufall zu Hilfe. Gordon Bains, der Direktor des SST-Programms, wagte bei einer Pressekonferenz auf der White Sands Missile Range zu behaupten, viele, die ausgesagt hätten, sie seien durch den Überschalleffekt der supersonischen Militärmaschinen geschädigt worden, bildeten sich das nur ein. Und als er gerade voller Überzeugung verkündete: Ich glaube, das läßt sich nur psychologisch erklären … – da – KNALLLL – detonierte es über den Köpfen der versammelten Journalisten, und mehrere Fenster splitterten unter dem Druck einer prächtigen Schockwelle, die eine das Gebäude steil überfliegende F-104 ausgelöst hatte.»

Streit um ein «Loch im Himmel»

Nun, das war eine amüsante Episode im Rahmen einer Auseinandersetzung, die an prinzipieller Bedeutung gewann, je mehr sie sich zuspitzte, und zu einem großen Disput über den technischen Fortschritt führte: seine Richtung, seine Finanzierung und seine Abhängigkeit von der politischen Gewalt. Kein anderes der amerikanischen Großprojekte, weder die Entwicklung der Atomrüstung noch die der Fernraketen, weder die Entscheidung, schließlich Kernwaffen einzusetzen und immer stärkere zu testen, noch der Beschluß, auf dem Mond zu landen – der, wie sich herausstellte, im Kreis von höchstens zwölf Menschen zustande kam –, waren vorher ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert worden. Der «Fall SST» hingegen wurde ein neuartiges Vorbild demokratischer Fortschrittskritik.

Es zeigte sich sehr bald, daß der Regierung Nixon an einer offenen Untersuchung keineswegs gelegen war. Sie hatte auf Anraten von Dr. Lee DuBridge, dem damaligen wissenschaftlichen Hauptberater des Weißen Hauses, eine Kommission zur Prüfung der kritischen Einwände gegen den Superjet eingesetzt. Aber das Weiße Haus setzte sich über deren ablehnendes Urteil hinweg und verlangte auch weiterhin im gewohnten Geist des Rüstungswettlaufs, die Maschine müsse gebaut werden. Sonst würde – wie es hieß – Amerikas erster Platz in der Zivilluftfahrt durch Franzosen und Engländer (mit der «Concorde») oder gar durch Russen (mit der «TU-144») gefährdet werden. Die mehrfach wiederholte Forderung von Parlamentariern wie dem Senator Proxmire, den Abgeordneten Reuss und Yates, diesen Bericht zu veröffentlichen, wurde unter Hinweis auf «das Privilegium der Exekutive» verweigert.

Da allerdings erwuchs den SST-Gegnern ein wichtiger Verbündeter in einem Mitglied dieser Geheimkommission; wie sich gezeigt hat, ein typisches Ereignis bei solchen Auseinandersetzungen. Niemand anderer als der Vorsitzende der übergangenen Studiengruppe des Weißen Hauses, ein zweiundvierzigjähriger, hauptberuflich für die Firma IBM arbeitender Physiker namens Dr. Richard Garwin, erklärte öffentlich, weshalb er nach reiflicher Überlegung gegen das Projekt sei. Alle Bemühungen, ihn durch Druck von oben zum Schweigen zu bringen, hatten sich als vergeblich erwiesen. Der Überläufer wurde sogar zu einem Führer der Anti-SST-Kampagne. Weniger standfest erwies sich DuBridge. Auch er hatte im März 1969 ursprünglich gegen diese «an sich aufregende technische Entwicklung» Stellung bezogen, weil sie «umweltschädlich, ruhestörend, wirtschaftlich unattraktiv und unpopulär» sei. Ein Jahr später war der berühmte Forscher jedoch wieder auf Vordermann gebracht und erklärte dem Abgeordneten Yates wörtlich: «Herr Abgeordneter, ich bin ein Soldat. Der Präsident hat sich dafür entschieden, und ich werde seine Entscheidung unterstützen.»

Inzwischen aber waren andere wichtige Zeugen aufgetaucht, die sowohl vor verschiedenen parlamentarischen Kommissionen als auch in den Massenmedien neue und zum Teil noch schwerwiegendere Argumente als bisher gegen den Superjet vortrugen. Den größten Eindruck machten zwei Experten des «Rates für Umweltqualität», denn die möglichen Folgen, die sie ausmalten, gingen weit über gesundheitliche Beeinträchtigungen und begrenzte Schäden hinaus. Sie erklärten nämlich, der SST-Massenverkehr würde unter Umständen Katastrophen zur Folge haben, wie zum Beispiel das Abschmelzen der Polarkappen mit sintflutartigen Überschwemmungen und möglicherweise sogar die Schädigung alles pflanzlichen wie tierischen Lebens durch verstärkte ultraviolette Sonneneinstrahlung.

Als diese Aussagen von Dr. Russell Train und Professor Gordon McDonald zuerst über die Nachrichtenschreiber tickten, klangen sie allzu sensationell, um Glauben zu finden. Es war darin von «Himmelslöchern» die Rede, welche die Überschallflugzeuge möglicherweise in die atmosphärische Schutzhülle des Erdballs reißen könnten. Doch als schließlich der wörtliche Text der im Mai 1970 vor Senator Proxmires «Joint Economic Commitee» vorgelesenen «statements» bekannt wurde, begann man die Befürchtungen recht ernst zu nehmen.

Train hatte gesagt: «Der Supersonic Transport wird in einer Höhe zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Kilometern fliegen. Er wird in diesem Teil der Atmosphäre große Mengen von Wasser, Kohlendioxyd, Stickstoff und andere Materieteilchen hinterlassen … Wenn nun fünfhundert SSTs und Concordes in dieser Himmelsregion verkehren, könnten sie den Wassergehalt in einer Reihe von Jahren um fünfzig bis hundert Prozent vermehren. Das würde von großer Bedeutung sein, denn Beobachtungen zeigen, daß die Menge Wasserdampf in der Stratosphäre in den letzten fünf Jahren schon einmal um fünfzig Prozent zugenommen hat … Es ist möglich – und das sollte genauer untersucht werden –, daß die Subsonic Jets (Unterschalljets) bereits zu diesem Anwachsen beigetragen haben.»

Die starke Zunahme von Wasserdampf würde – so hatte besonders Professor Howard Johnston von der University of California in Berkeley festgestellt – die schützende Ozonschicht der oberen Atmosphäre beschädigen, teilweise zerstören und auf diese Weise den natürlichen Filter, der die Erde und ihre Lebewesen vor übermäßiger ultravioletter Strahlung schützt, unwirksam werden lassen. Biologisch gefährliche Wellenlängen würden dann auf die Erdoberfläche gelangen. Temperatursteigerungen und eine Art weltweiter «Sonnenbrand» von verheerender Intensität, der Pflanzen, Tiere, Menschen befallen würde, könnten die Folge sein.

Die Wirkung dieser Aussagen wurde noch verstärkt, als in der nun einsetzenden heftigen Diskussion die Meinung vorgebracht wurde, schon eine Verdünnung der Ozonschicht um nur fünf Prozent könnte allein bei der weißhäutigen amerikanischen Bevölkerung jährlich 8000 zusätzliche Fälle von Hautkrebs hervorrufen.

Obwohl die Warnungen vor den künftigen Folgen des Überschallverkehrs durch so viele «Vielleicht» eingeschränkt wurden, waren sie wohl das entscheidende Argument für die Weigerung der Senatsmehrheit, den Bau des SST zu unterstützen. Am besten dürfte Professor McDonald das notwendige Veto mit aller wissenschaftlichen Vorsicht formuliert haben: «Das ist ein Thema voller Wenn und Aber. Als einer, der auf diesem Gebiet gearbeitet hat, würde ich meinen, daß die Wirkungen eher gering sein werden. Aber ich würde doch nicht die Verantwortung auf mich nehmen wollen, ohne bessere Informationen mit der oberen Atmosphäre herumzuexperimentieren.»

Zwei Jahre später wurde diese Vorischt durch eine neuerliche Untersuchung der amerikanischen «National Academy of Sciences» bestätigt. Die damit beauftragte Kommission vertiefte sogar noch die damaligen Befürchtungen ihrer Kollegen und empfahl, keinesfalls Überschallflugzeuge im Linienverkehr einzusetzen, ehe nicht weit mehr Beobachtungen und Daten über ihre möglichen Nebenwirkungen auf die ultraviolette Bestrahlung der Erde ermittelt worden seien.

Das Fernsehen und die Scheidungsrate

Der «Streit um SST» war ein historischer Wendepunkt in der Geschichte der wissenschaftlich-technischen Revolution. Erstmals weigerte sich der Mensch, etwas, das er hervorbringen kann, tatsächlich herzustellen.

Hasan Ozbekhan, der ideenreiche und temperamentvolle Sohn eines türkischen Paschas, heute einer der führenden amerikanischen Planer, formulierte die neue Maxime, daß wir «nicht alles machen sollen, was wir machen können».

Aber wie und durch wen werden solche Entscheidungen getroffen? Sind sie objektiv zu begründen? Wer kann auf welche Weise kontrollieren, daß nicht gegen sie verstoßen wird?

Diese und viele andere Fragen spielten eine Rolle in der Diskussion um das von Emilio Daddario vorgeschlagene «Office of Technology Assessment» zur vorsorglichen Kontrolle technischer Neuerungen. Die Debatte über SST hatte jedem Kongreßmann und darüber hinaus der Öffentlichkeit die Notwendigkeit demonstriert, eine solche Prüfungsinstitution einzurichten. Doch wurde sehr schnell klar, daß man es beim Überschallflugzeug mit einem noch verhältnismäßig «einfachen» Fall zu tun gehabt hatte, dessen mögliche negative Folgen relativ schnell erkennbar waren. Wie aber steht es mit Neuerungen, so fragte man sich, deren Wirkungen anfangs willkommen, ja sogar segensreich erscheinen, deren zweite, dritte und vierte Konsequenzen jedoch unerwartet sind und sich als problematisch, wenn nicht schädlich herausstellen, wie etwa die erfolgreiche Aufschiebung des Todes durch Hygiene und Arzneimittel. Sie zog unter anderem eine Überbevölkerung in Gebieten nach sich, die auf solchen Zuwachs nicht vorbereitet waren.

Joseph F. Coates, der sich im Auftrag der amerikanischen Akademie der Wissenschaften mit solchen Fragen beschäftigte, stellte zu zwei typischen «Errungenschaften» unserer Zivilisation folgende «Wirkungsreihen» auf:

Auto

Erste Konsequenz: Möglichkeit, schnell, billig, leicht, privat von Tür zu Tür zu gelangen;

zweite Konsequenz: Kunden kaufen in Geschäften mit guten Parkplätzen ein, die weiter von ihren Wohnungen entfernt sind;

dritte Konsequenz: Einwohner des gleichen Viertels oder der gleichen Gemeinde sehen sich seltener und kennen einander kaum mehr;

vierte Konsequenz:

die einander fremd gewordenen Bürger finden immer schwerer zusammen, um sich mit gemeinsamen Problemen zu beschäftigen; einzelne werden immer stärker isoliert;

fünfte Konsequenz: die Familienmitglieder sind durch diese Isolation zur Befriedigung ihrer seelischen Bedürfnisse stärker aufeinander angewiesen;

sechste Konsequenz: Ehepartner sind oft unfähig, diese stärkeren psychischen Ansprüche des anderen zu befriedigen; Frustration führt zu erhöhter Scheidungsrate.

Fernsehen

Erste Konsequenz: eine neue Quelle der Unterhaltung und Belehrung im eigenen Heim;

zweite Konsequenz: die Leute bleiben öfter zu Hause und vernachlässigen darüber öffentliche Kommunikationszentren (Bars, Kaffeehäuser, Vereinslokale, Theater, Vorträge);

dritte bis sechste Konsequenz:

wie beim Auto: Zerbrechen der Gemeinschaftsbande, Gefährdung der Familien.

Solche Wirkungsreihen, in denen Coates besonders Folgen für das Verhältnis zum Mitmenschen in vorläufig noch sehr einfacher Weise zu entwickeln versucht, lassen sich anhand einer Fülle von Neuerungen durchspielen. Es ist ferner mit den im Vergleich etwas weiter entwickelten Methoden der «Cross Impact Analysis» möglich, die wechselseitige Abhängigkeit mehrerer technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen voneinander zu erkennen. Die Menge möglicher und wahrscheinlicher Folgen, die sich so ergibt, ist aber schließlich derart groß und unübersichtlich, daß die «Vorprüfer» ihre Aufgabe bald als hoffnungslos ansehen können.

Wie kompliziert und umfangreich eine solche Kontrolle möglicher Folgen technischer Innovationen sein kann, geht daraus hervor, daß Fragebogen in Matrizenform, die für diese Zwecke entwickelt wurden, Tausende von «Kästchen» enthalten, die jedes für sich eine bestimmte Wirkung als Folge einer oder mehrerer bestimmter Vorgehensweisen bezeichnen! Ein solches Formular mit nicht weniger als 8800 Positionen versandte zum Beispiel die geologische Studienabteilung des amerikanischen Innenministeriums zur Prüfung der zu erwartenden Umweltbeeinflussung durch neue technische Anlagen. Dabei wurden noch nicht einmal alle möglichen Kriterien herangezogen. «Schönheit» oder «Unberührtheit», die bei manchen Naturschützern hoch bewertet werden, finden sich hier nicht, weil sie als «zu schwer erfaßbar» angesehen wurden. Gerade sie spielten aber beim Widerstand gegen die Anlage der «Alaska Pipeline», die von den neuentdeckten arktischen Ölquellen an der Pruedhoe-Bucht bis nach Valdez, einem eisfreien Hafen an der Südküste, führen soll, eine besonders wichtige Rolle.

Bei einem «assessment» der pharmazeutischen, medizinischen oder genetischen Techniken tauchen neue Probleme auf, die eine nüchterne Beurteilung sehr erschweren. Denn hier sind direkte persönliche Wirkungen zu erwarten; man wird Vorstellungen und Gewohnheiten in Frage stellen müssen, die ein ruhiges Abwägen fast unmöglich machen. Um wie viele Jahre soll zum Beispiel der Tod des statistischen Durchschnittsmenschen hinausgeschoben werden? Muß durch diese Lebensverlängerung nicht die Ehebindung als unerträglich lang empfunden werden? Wechseln Macht und Geld bei übermäßiger Lebensverlängerung nicht zu spät den Besitzer?

In solchen Fällen werden sowohl Einbildungs- und Einfühlungskraft als auch die moralischen Maßstäbe der Zeitgenossen überfordert. Aber gerade an solchen bisher noch schier unlösbar scheinenden Anforderungen könnten sich die heute kaum geförderten Fähigkeiten der Weitsicht, Übersicht und gesellschaftlichen Phantasie entfalten. Einer der Gründe für diese Vernachlässigung mag sein, daß wir bisher diese Eigenschaften noch nicht sosehr brauchten wie in der jetzigen Situation. Der Jahrtausendmensch wird sich deshalb dringend sowohl um prognostisches Können als auch um konstruktive Einbildungskraft bemühen müssen.

Wer verteidigt die Ungeborenen?

Trotz solcher Schwierigkeiten werden Prüfungsgremien, die sich vorbeugend mit der möglichen Wirkung wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Erfindungen zu beschäftigen haben, in zunehmender Zahl gegründet werden. Dabei wird sich bald die Frage nach der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit solcher Instanzen stellen. Wer wählt die Richter dieses «Tribunals der Neuerungen» aus? Wer garantiert für ihre Objektivität? Wie können interessenbedingte Fehlurteile revidiert werden? Hier öffnet sich nicht nur ein neues Feld der Rechtsprechung, sondern auch der politischen Auseinandersetzung um die Planung der Zukunft. Es werden dabei die Interessenkonflikte der Gegenwart auf anderer Zeitebene ausgetragen werden. Unter Umständen können sie dadurch auch entschärft werden. Denn über das, was man noch nicht hat, kann man sich meistens leichter einigen als über Vorhandenes.

Solche Positionskämpfe werden heute schon hier und dort vorbereitet. Manche wirtschaftlichen und staatlichen Machteliten bemühen sich bereits jetzt «zur Sicherung der Zukunft», gestützt auf Sachverständigengutachten über künftige technische Entwicklungen, um weitreichende neue Befugnisse, die ihre eigenen Positionen langfristig sichern sollen. Eine derartige technokratische Entwicklung der Wachstumsdebatte befürchtet ein Teil der «Dritten Welt». Sie erwartet, es könnte den Entwicklungsländern unter dem Vorwand, die Welt von morgen zu retten, eine eigene Modernisierung untersagt werden. Dazu kommt die Möglichkeit, daß die von einem «technology assessment» verbotenen Industrien aus den hochentwickelten Ländern in weniger dicht besiedelte Regionen der Erde abgeschoben werden.