Die Zukunft hat schon begonnen - Robert Jungk - E-Book

Die Zukunft hat schon begonnen E-Book

Robert Jungk

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Beschreibung

Dieses Buch, das bereits kurz nach seinem Erscheinen in alle Weltsprachen übersetzt wurde, ist eines der großen Dokumente seiner Zeit und hat im Bewußtsein aller Menschen, die Auge in Auge mit den Gefahren ihres atemraubenden Säkulums leben, eine unverlierbare Spur hinterlassen. Es ist das Werk eines ordnenden, kritischen Geistes, der auf die Suche nach neuen moralischen Maßstäben geht. Soll, so fragt der Autor, eine sich ins Phantastische steigernde, das Individuum nahezu auslöschende Technik zum alles verschlingenden Moloch werden oder lassen sich aus ihr dienende, segenbringende Kräfte entbinden? Das Leben des einzelnen wie der ganzen Menschheit hängt von der Beantwortung dieser Frage ab. Was Geschichtsphilosophen und Kulturkritiker denken, was Dichter in utopischen Romanen ausmalen, das ist hier zum Wirklichkeitsrecht geworden. Robert Jungk schreibt nüchtern und sachlich, und doch spürt man aus jeder Zeile die Unruhe eines Mannes, der sich fragt, ob in unserer durch und durch technisierten, von eisiger Rationalität bestimmten Welt der Mensch überhaupt noch eine Chance habe, sich als Mensch zu behaupten.

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Robert Jungk

Die Zukunft hat schon begonnen

Amerikas Allmacht und Ohnmacht

Ihr Verlagsname

Über Robert Jungk

Robert Jungk, 1913 in Berlin geboren, arbeitete nach 1933 in Frankreich und im republikanischen Spanien an Dokumentarfilmen und schrieb von 1940 bis 1945 für die «Weltwoche» in Zürich. Das Thema, das er in «Die Zukunft hat schon begonnen» anschlug, wurde später in «Heller als tausend Sonnen» (1956) und «Strahlen aus der Asche» (1959) vertieft, international berühmten Büchern, die eindringlich vor den Gefahren der entfesselten Atomkraft warnen. Sein 1973 veröffentlichtes Buch «Der Jahrtausendmensch» führte 1975 zur Gründung einer «Fondation pour l’invention sociale», die Ansätze zu einer humaneren Technologie und Gesellschaft koordinieren und fördern soll.

Über dieses Buch

Dieses Buch, das bereits kurz nach seinem Erscheinen in alle Weltsprachen übersetzt wurde, ist eines der großen Dokumente seiner Zeit und hat im Bewußtsein aller Menschen, die Auge in Auge mit den Gefahren ihres atemraubenden Säkulums leben, eine unverlierbare Spur hinterlassen. Es ist das Werk eines ordnenden, kritischen Geistes, der auf die Suche nach neuen moralischen Maßstäben geht. Soll, so fragt der Autor, eine sich ins Phantastische steigernde, das Individuum nahezu auslöschende Technik zum alles verschlingenden Moloch werden oder lassen sich aus ihr dienende, segenbringende Kräfte entbinden? Das Leben des einzelnen wie der ganzen Menschheit hängt von der Beantwortung dieser Frage ab. Was Geschichtsphilosophen und Kulturkritiker denken, was Dichter in utopischen Romanen ausmalen, das ist hier zum Wirklichkeitsrecht geworden. Jungk schreibt nüchtern und sachlich, und doch spürt man aus jeder Zeile die Unruhe eines Mannes, der sich fragt, ob in unserer durch und durch technisierten, von eisiger Rationalität bestimmten Welt der Mensch überhaupt noch eine Chance habe, sich als Mensch zu behaupten.

Inhaltsübersicht

Vorwort zur Taschenbuchausgabe«Wir behaupten, daß ...Griff nach der Allmacht1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelGriff nach dem HimmelGeburtsmal der neuen ZeitKeine Zeit für GefühleArmer kleiner ÜbermenschGriff nach dem AtomDie letzten AbenteurerEine Stadt muss sterben – eine Stadt muss wachsenDer Ort, über dem «Geheim» stehtEin Stückchen HölleGomorra in der WüsteGriff nach der NaturParadies von MenschenhandDie WettermacherMaschine TierGriff nach dem MenschenRoboter im BüroSeeleningenieureWelt ohne WändeMärchenerzähler von heuteGriff nach der ZukunftErfindungen auf BestellungDas ElektronenorakelDie Umkehr der DenkerGriff nach dem WeltraumBahnhof Zu Den SternenDas Zeitalter der vertikalen EntdeckungenDie Geburt einer Weltraum-IndustrieGriff nach dem GeistDas Zeitalter der GehirneVerlangt: Das ÜberhirnDie Suche nach dem SinnNachwortBrief an einen, der an der Zukunft verzweifeln möchte

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Der Titel dieses Buches ist seit seinem Erscheinen zu einem immer häufiger gebrauchten «geflügelten Wort» geworden, das heute mehr noch als zu Anfang der fünfziger Jahre die zwischen Furcht und Hoffnung schwankende Zukunftserwartung unserer Zeit ausdrückt. Der Untertitel «Allmacht und Ohnmacht Amerikas» erwies sich bald als zu eng. Denn die Phänomene und Tendenzen, die ich am «Modell USA» aufzeige, haben längst die Grenzen der Vereinigten Staaten, ja sogar die «Vorhänge» zwischen West und Ost überschritten. Als am weitesten entwickeltes Industrieland der Erde hat Amerika nur zuerst jene gefährlichen Möglichkeiten deutlich gemacht, die dem jetzigen Stadium der wissenschaftlich-technischen Revolution inhärent zu sein scheinen.

Es ist daher völlig falsch, die hier folgenden Reportagen als «antiamerikanisch» zu etikettieren und damit zu isolieren. Sie sind nicht gegen dieses eine bestimmte Land gerichtet, sondern gegen die Maßlosigkeit, die jeder modernen Zivilisation droht, wenn sie die vielfältigen, kaum wägbaren Voraussetzungen menschlicher Entfalutng den groben und daher leicht meßbaren Vorteilen technischer Leistungen unterordnet.

Wollte der Verfasser heute über Europa ein Buch mit ähnlicher kritischer Blickrichtung schreiben, so müßte manches Kapitel noch weit schärfer ausfallen. Denn wer könnte gegenüber dem brutalen «Griff nach der Geschichte» gleichgültig bleiben, der im Namen eines hastigen Wieder- oder Neuaufbaus in den letzten zehn Jahren zahlreiche europäische Kulturdenkmäler entweiht oder einfach dem Erdboden gleichgemacht hat? Wer wird nicht von Schreck gepackt, wenn er, über den eigenen lokalen Blickwinkel hinausschauend, mitansehen muß, wie Europas Landschaft durch den gierigen «Griff nach Land» seit Ende des zweiten Weltkrieges immer unkenntlicher wird, wenn er, ohne wirksamen Einspruch erheben zu können, erlebt, wie Tag um Tag Äcker, Wiesen, Wälder unter Betondecken begraben werden, wie an Stelle der grünen Hügel die Müllberge immer höher wachsen und überall aus lebendigen Flüssen und Seen träge Kanäle oder stinkende Kloaken werden? Und diese Sorge müßte sich zu ganz persönlich empfundener Angst steigern, wenn dann der «Griff nach der Gesundheit» geschildert würde: alle die lauten und leisen, sichtbaren und unsichtbaren Attacken einer unbewältigten Technik auf Leib und Seele der Menschen, die in den von immer mehr Lärm, Rauch und giftigen Abgasen erfüllten Stadtlandschaften Europas leben müssen.

«Schreiben Sie das doch!» Wie oft haben Zuhörer, denen ich von der sich mitten im sogenannten Frieden vor unseren Augen ereignenden Zerstörung des alten Erdteils erzählte, mir diesen Rat gegeben. «Rütteln Sie die Leute auf.» Doch ich frage mich, ob es wohl sinnvoll sei, auf einen Berg von Warnungen noch einen zweiten zu stülpen. Die Gründe für dieses Zögern sind in der Wirkung dieses nur hier als Taschenbuch vorliegenden Berichtes zu suchen. Er war bisher meiner Ansicht nach trotz aller hohen Auflagenziffern und vielen Übersetzungs-Ausgaben nicht erfolgreich. Ich hatte gehofft, die Leser zu bewegen, aber ich fürchte, es ist mir nur gelungen, sie zu erschrecken und zu lähmen. Das was sie hier über das auf sie Zukommende lesen konnten, hat sie nicht aktiver, sondern höchstens noch etwas resignierter gemacht. Ähnlich wie mir ist es auch anderen Zivilisationskritikern ergangen. Sie haben weniger zur Veränderung der von ihnen geschilderten und getadelten Verhältnisse beigetragen, als vielmehr der fast allgemeinen Apathie und Passivität unserer Zeitgenossen noch die entschuldigenden Argumente geliefert.

Deshalb sehe ich es jetzt als meine oberste Pflicht an, immer wieder darauf hinzuweisen, daß die in diesem Buch geschilderten Entwicklungen zwar gewaltig, aber keineswegs zwingend sind. Es geht in Zukunft weniger darum, sie aufzuhalten, als sie zu steuern und ihnen neue Richtungen zu weisen. Die Technik, so werden gerade die Techniker bestätigen können, befindet sich noch in einem ersten frühen und recht plumpen Stadium. Sie ist nicht unser Schicksal, sondern nur ein ziemlich neues, mächtiges Instrumentarium, dessen Differenzierung, Meisterung, Umgestaltung und Zähmung vielleicht die wichtigste Aufgabe der heute und morgen Lebenden sein wird.

Der Mensch mag, wie ich in diesem Buch berichte, in den Augen eines Weltraum-Mediziners als eine Fehlkonstruktion erscheinen. Er ist langsamer, ermüdbarer, gebrechlicher als die meisten seiner künstlichen Geschöpfe. Aber nur er auf dieser Erde verfügt über eine Energiequelle, die stärker ist als jede andere Naturkraft: die kritische und erfindende Phantasie. Aus ihr ist diese heute so bedrohliche Nebenwelt der Geräte erstanden, aus ihr müssen nun ganz neue Konzepte entspringen, die das Explosive, Gefährliche an seinen dienenden Platz verweisen.

«Die Zukunft hat schon begonnen» soll nicht ein Endstadium der Menschheitsgeschichte schildern, sondern den Anstoß zu einem neuen Beginn geben. Dies ist kein «fertiges Buch», sondern ein Anfang, der jeden Leser anregen möchte, von hier aus weiterzudenken und, statt die vielen derben «Griffe» fatalistisch hinzunehmen, von seinem Platz aus die Zukunft spürend, wissend, entwerfend und handelnd formen zu helfen.

Robert Jungk

«Wir behaupten, daß Rußland und Amerika

seit 1917 auf technische Allmacht … konvergieren,

daß sie hierbei von Alt-Europa divergieren.»

Adrien Turel

GESCHRIEBEN MEHR ALS EIN JAHRZEHNT

VOR DEM ERFOLGREICHEN START

DER ERSTEN SOWJETISCHEN UND AMERIKANISCHEN

ERD-SATELLITEN

Griff nach der Allmacht

1

Als Christoph Kolumbus aufbrach, um für seine Königin den kürzesten Seeweg nach Indien zu suchen, wußte er so wenig über die Regionen, nach denen er sich einschiffte, daß er, ohne es zu wollen, eine «neue Welt» fand. Der x-millionste Besucher, der heute auf den Spuren des großen Seefahrers in das von ihm entdeckte «Amerika» reist, bringt dagegen eher zuviel als zuwenig Wissen um sein Ziel mit. Denn fast jeder von uns hat auf irgendeine Weise bereits den Einfluß des «Amerikanismus» erfahren, bevor er je den Boden der Vereinigten Staaten betritt. Uns allen ist «Onkel Sam» im Laufe der letzten Jahre aus einem fernen Verwandten zu einem nahen Nachbarn geworden, einem fast alltäglichen Besucher, dessen Heimat wir aus seiner Art, seinen Gewohnheiten, aus einer Fülle von Zeitschriften, Büchern, Bildern, Filmen besser zu kennen glauben als manches geographisch näher gelegene Land.

Trotzdem kann auch dem heutigen wohlinformierten Amerikareisenden ein Kolumbusschicksal blühen. Er kommt in ein ganz anderes Land, als er angenommen hatte. Hinter dem ihm bereits aus der Ferne bekannten Bild der «neuen Welt» entdeckt er noch eine andere höchst seltsame Welt, die ihm fremd und gefährlich erscheint.

Nur widerstrebend und unwillig nimmt der Zugereiste nach und nach immer mehr Eindrücke auf, die seinen Erwartungen widersprechen. Er will sie zuerst als «Ausnahmen» ausklammern und als «vorübergehende Erscheinungen» abtun. Nur ganz allmählich dämmert ihm, daß die Summe all dieser «Provisorien» vielleicht eine neue, eigene Wirklichkeit darstellen könnte, ein ganz verschiedenes, erst im Werden befindliches Amerika.

Gewiß – die Kulisse verrät nicht viel von diesem anderen Amerika. Sie ist intakt und frisch aufgeputzt. Die Freiheitsstatue grüßt bei der Einfahrt in den Hafen von New York, Toleranz und Humanität verheißend. Die Wolkenkratzer lächeln aus blitzenden Fensterreihen und strahlen pflichtgemäß Optimismus aus. Nirgends werden die Symbole einer freiheitlichen, auf ihre Anfänge stolzen Demokratie versteckt oder verleugnet. Im Gegenteil: gerade weil sie von Jahr zu Jahr an wirklichem Einfluß und echter Kraft verlieren, werden sie um so auffallender in die Schaukästen der Publizität gestellt. Aber in Wahrheit haben «das kleine rote Schulhaus», «das freundliche weiße Kirchlein», «der im Blockhaus geborene Präsident», «der rauhbeinige Individualist», «der Selfmademan, der es von Lumpen zu Reichtum brachte» zu der realen Gegenwart der Vereinigten Staaten kaum eine stärkere Beziehung als etwa Dome, Schlösser, Cancan- und Heurigenmusik zur Nachkriegswirklichkeit Europas. Sie sind Museumsstücke geworden, Attraktionen für Touristen und dankbare Gegenstände für einfallslose patriotische Festredner.

Denn auch die Vereinigten Staaten haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte entgegen manchem äußeren Anschein tief verändert, mindestens so tief wie die von inneren und äußeren Umwälzungen durcheinandergeschüttelten Länder Europas. Es bricht jetzt durch die Fassade der «neuen Welt» etwas anderes durch, das ich als die «neueste Welt» bezeichnen möchte: ein Amerika, das mit den Leitsätzen seiner bisherigen Geschichte nicht mehr im Einklang steht und immer deutlicher Züge totalitärer Art aufweist.

Um dieser «neuesten Welt» zu begegnen, muß man die Stadtzentren verlassen und in die Vororte hinausfahren, wo die Arbeitswelt in die Lebenswelt hinübergreift und die menschliche Einzelexistenz immer mehr in die Uniform der Standardisierung preßt. Mittelpunkte dieser Siedlungen sind nicht mehr die Kirche, die Schule oder die Town Hall, sondern die Zentren von Erzeugung und Verbrauch, die Fabrik und der «supermarket».

Am klarsten aber wird das Bild der «neuesten Welt», wenn man überhaupt den bisherigen Zivilisationsmetropolen Amerikas in den östlichen Staaten und im Mittelwesten Lebewohl sagt, um sich nach den einst vorwiegend ländlichen oder ganz unbesiedelten Regionen im Süden, Südwesten und Westen der Staaten zu begeben; denn gerade dort sind die Wahrzeichen des anderen Amerikas seit Beginn des zweiten Weltkrieges mit der Schnelligkeit von Goldgräberstädten aufgeschossen.

Da sind die großen Rüstungsfabriken mit ihren nagelneuen Massensiedlungen, die metallschimmernden Ölraffinerien und automatisierten chemischen Industriekomplexe. Da sind vor allem die militärischen Reservationen, die Laboratoriumsstädte, die Testplätze. Sie liegen nicht nur geographisch abseits. Auch politisch führen sie ein Sonderleben. Die Freiheitsrechte sind in ihnen weitgehend aufgehoben worden, und man experimentiert mit allen möglichen Verfassungsformen herum, die von der unverhüllten Diktatur über den aufgeklärten Absolutismus bis zum Sozialismus reichen.

Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, dieser bisher deutlichsten Ausprägung der «neuesten Welt» zu begegnen, wird ihre Mentalität auch an zahlreichen anderen Orten spüren, selbst wenn sie dort noch nicht so deutlich hervorgetreten ist. Denn all das Uniformierte, Gleichgeschaltete, in seinem ausschließlichen Streben nach Höchstleistung Unmenschliche ist heute noch fast überall so sehr mit den demokratischen, christlichen und humanitären Lebensformen der «guten alten Zeit» vermischt, daß es nicht gleich sichtbar wird.

Das hat seinen guten Grund. Während sich in anderen Ländern die totalitäre Tendenz meist mit revolutionärer Gewalt Durchbruch verschaffte und dann sofort alles daransetzte, die Spuren einer freiheitlicheren Vergangenheit zu beseitigen, geht der Prozeß in den Vereinigten Staaten evolutionär vor sich. Daher gibt es ein Nebeneinander von alt und neu, von Freiheitsresten und Sklavereibeginn, in dem zum Ausdruck kommt, daß die letzte Entscheidung noch nicht gefallen ist. Selbst die wenigen Persönlichkeiten, die bewußt auf eine neue, der amerikanischen Tradition widersprechende Tyrannei hinarbeiten, sind geschickt genug, sich dabei freiheitlicher Phrasen zu bedienen.

2

Es gibt für die jüngste, totalitäre Phase der Vereinigten Staaten sicher manche naheliegende und einleuchtende politische Erklärung. Eine solche Deutung ist aber nicht Gegenstand dieses Buches. Hier soll versucht werden, diese beunruhigende Entwicklung auf eine andere Weise zu schildern und zu erklären. Denn es handelt sich meiner Ansicht nach um einen Prozeß, der über die augenblicklichen innen- und außenpolitischen Konstellationen weit hinausreicht.

Historisch gesehen scheint mir die neue Tendenz zur Unfreiheit aus der gleichen Quelle zu kommen, die gestern und vorgestern noch den amerikanischen Freiheitsbaum tränkte, nämlich aus dem Streben zur Aufschließung immer neuer Gebiete, dem Drang zu immer «neuen Grenzen». Die «frontier», die im Laufe von anderthalb Jahrhunderten vom Atlantischen bis zum Pazifischen Ozean vorgeschoben wurde, hat Amerikas Denken, seine seelische Einstellung und nicht zuletzt seine Wirtschaft im neunzehnten Jahrhundert tief beeinflußt. Sie war das Symbol des maßlosen amerikanischen Fortschrittsgeistes; von hier kamen die allmählich zum Bedürfnis gewordenen Erschütterungen des Landes durch Funde immer neuen Reichtums. An der «Grenze» gab es keine Regeln, keine gesellschaftlichen und zivilisatorischen Hindernisse. Sie war das Paradies der Pioniere, das Land der «unbegrenzten Möglichkeiten», in dem sich jedermann, der genügend Kraft und Mut besaß, aus freien Stücken eine Zukunft aufbauen konnte.

Aber etwa um 1890 hatten die Pioniere das ganze Territorium ihres eigenen Landes erobert und besetzt. Der Dynamismus des amerikanischen Grenzgängers mußte nach neuen Zielen suchen, die nur noch jenseits der Ozeane oder in den großen Landmassen gegen Norden und Süden liegen konnten.

Es hätte damals nahegelegen, daß der Drang nach «neuen Grenzen» sich in puren «Imperialismus» verwandelte. Aber die Stimmen, die den Vereinigten Staaten ein «imperiales Geschick» prophezeiten und das Land auf den Weg kolonialer Eroberungsabenteuer zu weisen versuchten, fanden nur vorübergehend Gehör. Nach dem kurzen und wenig populären Krieg gegen Spanien wandte sich die wachsende Großmacht lieber anderen als territorialen Eroberungen zu. Sie suchte unter der Führung von Wissenschaft und Technik nach «neuen Grenzen», die nicht auf Landkarten zu finden waren. Grenzen, die jedermann offenstanden, der sie mit Nachdruck attackierte und zu überschreiten wagte.

Während andere Großmächte sich um Provinzen, Inseln, Wüstenstrecken stritten und dabei gegenseitig aufrieben, begann Amerika statt dessen seine Laboratorien und Fabriken zu entwickeln. Die neuen Pioniere waren Finanziers, gewillt, Risiken auf sich zu nehmen, Wissenschaftler und Ingenieure. Diese fruchtbaren Gehirne mußten nicht einmal «erobert» werden. Waren sie nicht schon im Lande, so kamen sie freiwillig nach den USA, angelockt von großzügigen Mitteln und Entwicklungsmöglichkeiten, die sie sonst nirgends auf der Welt fanden.

So sind die Vereinigten Staaten im Laufe eines halben Jahrhunderts zur führenden wissenschaftlichen und technischen Großmacht emporgewachsen. Ihre «neuen Grenzen» lagen und liegen noch heute vor allem in den Laboratorien und Werkstätten des eigenen Landes. Die scheinbar in den letzten Jahren erfolgte territoriale Grenzausweitung der USA, durch die Einrichtung eines weltweiten Netzes von militärischen Stützpunkten, ist zweifellos defensiver Natur. Dieser weitgespannte Verteidigungsgürtel soll vor allem dem Schutze jener anderen ungleich weiter zielenden und erfolgversprechenderen Offensive dienen, die stündlich und täglich in den Versuchsstätten des Mutterlandes weiter vorgetragen wird.

Denn es geht den Amerikanern auch heute noch um viel mehr als Landbesitz. Sie sind im Grunde ehrgeiziger, als selbst ihre schärfsten Gegner glauben. Ihr Streben trachtet nämlich nicht nach Herrschaft über Kontinente oder gar über den ganzen Erdball, sondern nach viel Höherem. Amerika bemüht sich darum, die Macht über das All zu gewinnen, die vollständige, absolute Herrschaft über das Universum der Natur in allen seinen Erscheinungen.

Es ist dies ein Machtstreben, das sich gegen keine der heute bekannten Nationen, Klassen, Rassen, Eliten und Kasten richtet. Es greift nicht bestimmte Regierungsformen an, sondern die seit Menschengedenken kaum erschütterten Wirkungsformen der Schöpfung. Wolken und Wind, Pflanze und Tier, der unendlich weite Himmelsraum selbst sollen unterworfen werden. Auf dem Spiel stehen mehr als Diktatorensessel und Präsidentensitze. Es geht um Gottes Thron. Gottes Platz zu besetzen, seine Taten zu wiederholen, einen eigenen menschengemachten Kosmos nach menschengemachten Gesetzen der Vernunft, Vorhersehbarkeit und Höchstleistung neuzuschaffen und zu organisieren: das ist das wirkliche Fernziel Amerikas. Darauf sind seine besten Kräfte gerichtet.

Dies ist eine Verschwörung, die ihres Erfolges so sicher ist wie nur je eine andere revolutionäre Bewegung. Sie wird von Staatslenkern gefördert, von den Massen beklatscht, von der Polizei gehätschelt. Denn sie verspricht allen Reichtum, sie will keinem Menschen etwas nehmen. Alles ursprünglich Sprießende, wild Wuchernde, in geduldiger Veränderung langsam Werdende wird von ihr ausradiert. Was sie nicht beobachten und messen kann, zwingt sie indirekt in ihre Gewalt. Sie sagt das Unsagbare. Sie kennt keine Scheu.

Die Sklaven, die vor den Karren des Griffes nach der Allmacht gespannt werden, gehören nicht fremden Nationen an, sondern den Elementen. Jedes Jahr, so hat man ausgerechnet, wächst diese Armee der «Energiesklaven» um Millionen von «Pferdekräften» und «Wärmeeinheiten». Nichts bleibt unberührt, nichts unbenützt. Selbst das Innerste von Himmel und Stoff, von Lebensquell und Seele muß sich öffnen. Es gibt kein Halt vor dem Tod, keinen Respekt vor der Zeit. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft sind Jongleurbälle, die durcheinandergewirbelt werden.

Welch zahmer Stümper war Prometheus, verglichen mit seinen fernen amerikanischen Nachfahren!

3

Es ist lange angenommen worden, daß dieser Griff nach der Allmacht auf die religiöse, moralische, politische Haltung Amerikas ohne Einfluß bleiben könne. Wie überall und in mancher Hinsicht wohl noch stärker sind aber mit dem Aufstieg der angewandten Wissenschaft und der Technik auch in den Vereinigten Staaten die Grundpfeiler der Demokratie, des Christentums und der persönlichen Ethik ins Wanken geraten. Wo vorher Glaube und Gewissen allein geurteilt hatten, heißen die neuen Richter nun Zweck und Leistung. Vor ihnen hat nichts Bestand, das nicht auf die scharfe Frage: «What is it good for?» – «Wozu kann es dienen?» zu antworten vermag. Alles und jedes, das Kleinste wie das Größte werden nun ins Joch gespannt und nutzbar gemacht.

Auch der Mensch selbst, der eigentliche Erdenker und Lenker dieser zweckgebundenen Welt, hat sich schließlich der neuen Knechtschaft nicht entziehen können. Der Amerikaner zahlt für den Griff nach der glückverheißenden Allmacht den höchstmöglichen Preis. Er gibt dafür seine Freiheit als gottgeschaffene Person hin. Diese individuelle Ohnmacht ist die Vorbedingung der Teilhaberschaft an der Allmacht. Denn der Vorstoß zur «frontier» unserer Zeit hat eine Vorbedingung, die der Pionier des vorigen Jahrhunderts nicht erfüllen mußte: kollektive Anstrengung und Disziplin.

Damals hatte jeder mehr oder weniger auf eigene Faust mit wenigen Gefährten seiner Wahl, ein paar Flinten, ein paar Pferden und einem «covered waggon» voller Proviant in die unbekannte, Reichtum versprechende Weite aufbrechen können. Die noch unausgebeutete jungfräuliche Erde wartete auf ihn, Ernten und Geld als Früchte seiner Anstrengung gaben greifbare Befriedigung.

Wie anders die neuen Pioniere! Ihre Laboratorien, Werkstätten, Versuchsanlagen gehören nicht ihnen. Sie selbst sind nur als Vorhut einer riesigen industriellen Armee denkbar. Hinter dem Bau und dem Abschuß jeder Fernrakete, jeder Atomzertrümmerung, jedem chemischen Experiment, jeder Arbeit eines Elektronengehirns steht ein hochentwickelter technischer Apparat, eine Unsumme von Opfern an Zeit, Kraft, Geld, individueller Freiheit. Nur in finanzieller, organisatorischer und persönlicher Abhängigkeit von den Leitern der forschenden Gesamtanstrengung ist der Pionier von heute möglich.

Es ist nur konsequent, daß der neue Pionier selbst den gleichen Methoden unterworfen wird, die er zur Beherrschung der Natur anwendet. Auch er wird wissenschaftlich beobachtet, auf seine Eignung geprüft, bis zum Äußersten seiner Fähigkeiten genützt und wie irgendein anderes Werkzeug weggeworfen, sobald er den gewünschten Zweck nicht mehr erfüllt. Der «freie Wille» muß in diesem Zusammenhang geradezu als unstabiles Element gewertet und ausgeschaltet werden, der unsichere Faktor Mensch durch einen möglichst zuverlässigen Typus ersetzt werden. Wie in jeder Revolution haben die Aufrührer, Himmelsstürmer, Unzufriedenen zu verschwinden. Der verläßliche lenkbare Durchschnittsmensch wird zum neuen Pionierideal.

4

So ist zur Zeit in den Vereinigten Staaten eine Welt im Entstehen, wie es sie nie zuvor gab. Es ist die von Menschen entworfene, im Höchstmaß vorausgeplante, kontrollierte und je nach dem Fortschrittsstand immer wieder «verbesserte» Schöpfung. Sie besitzt ihre besondere Art von Schönheit und von Schrecken. Denn obwohl die menschlichen Schöpfer sich bemüht haben, aus ihrer Kreation Schicksal, Zufall, Katastrophen, Unglück und Tod zu verbannen, so treten die Fortgewiesenen nun verkleidet nur noch viel eindringlicher auf: Kalkulationsfehler der Planstatistiker, Versagen der technischen Apparatur, Unfälle und Explosionen bringen ein Vielfaches an Leid.

Sogar die alten dunklen Mythen vom verschleierten Bild, dessen Vorhang niemand heben darf, von Geistern, Dämonen und verwunschenen Regionen, ja von der Hölle selbst, kommen in dieser scheinbar so genau ausgerechneten, rational entstandenen Welt zu neuer Geltung. Denn der Durchschnittsmensch bewegt sich in der zweiten, künstlich aus der Retorte gewonnenen Natur genauso unsicher wie seine prähistorischen Vorfahren in der primären Natur, weil nur die Spezialisten – und oft nicht einmal sie – die Wesen und Kräfte begreifen, die sie in die Welt gesetzt haben.

Diese «neueste Welt» ist keine ferne Utopie, kein Geschehen aus dem Jahre 1984 oder einem noch ferneren Jahrhundert. Wir sind nicht wie in den Zukunftsromanen von Wells, Huxley und Orwell durch den breiten Graben der Zeit von dem reißenden Tier Zukunft getrennt. Das Neue, Andere, Erschreckende lebt schon mitten unter uns. So ist es, wie alle historische Erfahrung zeigt, immer gewesen. Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.

In dieser zukunftsbezogenen «neuesten Welt» haben die Grenzen von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis keine Gültigkeit mehr. Die Tat des ersten biblischen Schöpfungstages wird von den späten Nachkommen des Prometheus annulliert. Damit der moderne Produktionsprozeß keine Unterbrechung erleide, brennen in den Fabriken von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang die künstlichen «Sonnen» der elektrischen Scheinwerfer. In fast allen großen Städten Amerikas gibt es Markthallen und Drugstores, die verkünden: WIR SCHLIESSEN NIE! Es ist nur noch ein kurzer Schritt zu dem Augenblick, da der bereits in einem kalifornischen Laboratorium entwickelte künstliche «Nordlichteffekt» dem Himmel für immer sein Nachtgewand herunterreißt.

Und so geht es mit jedem einzelnen im heiligen Buche beschriebenen Schöpfungsakt. Der Mensch schafft künstliche Materie, er baut eigene Himmelskörper und bemüht sich dann, sie am Firmament über uns aufgehen zu lassen, er kreiert neue Pflanzen- und Tierarten, er setzt eigene, mit übermenschlichen Sinnesorganen ausgestattete mechanische Wesen, die Roboter, in die Welt.

Nur eines kann er nicht. Es ist ihm nicht gegeben, mit den Worten der Bibel auszurufen: «Und siehe da, es war sehr gut.» Er darf niemals die Hände in den Schoß legen und sagen, daß seine Schöpfung vollendet sei. Rastlosigkeit und Unzufriedenheit bleiben mit ihm. «Denn hinter jeder Tür, die wir öffnen, liegt ein Gang mit vielen anderen Türen, die wir abermals aufschließen müssen, nur um dort dann wieder hinter jedem einzelnen Zugang weitere Pforten zu abermals neuen Toren zu finden», sagte ein chemischer Forscher zu mir, einer der gottgleichen Schöpfer des künstlichen Universums.

Es scheint, als sei hinfort der Sinn all dieses Schaffens nur wieder neues Schaffen. Produktion ruft nach immer mehr Produktion, jede Erfindung nach weiteren Erfindungen, die vor den Folgen der vorhergehenden Neuschöpfung schützen sollen. Der Mensch kommt nicht mehr zum Genuß der Welt. Er verzehrt sich in Angst und Sorge um sie. Kein Glücksgefühl und kein «Hosianna» begleitet den neuen Schöpfungsakt.

5

Diese Unzufriedenheit mit der menschengeschaffenen «neuesten Welt», die heute in den Vereinigten Staaten oft schon so deutlich empfunden wird, daß sie zu einem Schwelgen in Furcht- und Untergangsphantasien ausartet, scheint mir eines der hoffnungsvollsten Zeichen für die Zukunft Amerikas. Zivilisationspessimismus ist nicht mehr nur die modische Pose eines kleinen Kreises von Künstlern und Intellektuellen, sondern der weitverbreitete Ausdruck tiefer Besorgnis und überall erwachender Kritik geworden.

Noch lebt allerdings dieser Zweifel meist in der gleichen Brust dicht neben dem alten maßlosen Geist eines übermütigen, vieles wagenden und alles erhoffenden Tätertums. Aber je lauter die Glückspropaganda wird, je provokanter das Lächeln der Zufriedenheit und der betonte Stolz auf den «höchsten Lebensstandard der Welt», desto quälender werden auch die Bedenken.

Es gibt viele, die sich einfach ins Amüsement, in die Sexualität, den Alkohol oder die Neurose flüchten, um mit dem Unbehagen fertig zu werden, die sogenannten «escapists». Es gibt andere, die resignieren, und einige wenige, die bewußt gegen die Entwicklung zu einem totalitären, inhumanen, technisierten Massenleben ankämpfen. Bestrebungen zur Vermenschlichung der Arbeit, zur Anpassung der Maschinen an die menschliche Psyche, zur Dezentralisierung und Humanisierung der großen Städte sind im Gang.

Aber all das hat vorläufig noch einen spielerischen oder sektiererischen Zug. Die große Geistesänderung, die sich durch Wiederanerkennung menschlicher Begrenzung und das Wiederfinden des Maßes ausdrücken müßte, ist bisher ausgeblieben. Da hilft kein messianisches Predigen, keine Ungeduld. Diese Wandlung kann wohl nur aus bitterster Erfahrung kommen. Erst wenn der krampfhafte Griff nach der Allmacht sich einmal löst, wenn die Hybris zusammenbricht und der Bescheidenheit Platz macht, dann wird Amerika von dem wiederentdeckt werden, den es vertrieben hat: von Gott.

Griff nach dem Himmel

Geburtsmal der neuen Zeit

1

Alamogordo, New Mexico

In Alamogordo stieg niemand aus. Es muß der Regen sein, dachte ich. Es regnet fast nie in New Mexico, und wenn es einmal vom Himmel schüttet, bleibt jeder möglichst bei sich zu Haus. Kein guter Tag also, um sich nach einer Sehenswürdigkeit durchzufragen, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Die frierende, von Kälte ganz blasse Indianerfrau im Kassenraum der Station verstand nicht einmal, wovon ich sprach, und der Eisenbahnbeamte wußte auch nichts Genaues. Die Kellnerin im «Café Plaza» hatte von dem «großen Loch» wenigstens schon gehört. Aber sie riet mir, lieber davon wegzubleiben. Ein gewisser Pancho Gonzales habe dort trotz Verbot seine Schafe weiden lassen, sei eingeschlafen und ein paar Wochen später ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert worden. «Er bekam zuviel ‹radictivity›», sagte sie beim Servieren der heißen Rühreier. Ein schlechtrasierter Mann am Nebentisch schaute von der Zeitung auf und verbesserte: «Radioactivity, Alice …» Sie antwortete etwas pikiert: «So what?»

Der Zeitungsleser hatte recht, als er mir abriet, ohne Erlaubnis der Militärbehörden diesen Platz besuchen zu wollen. Das sah ich ein, als ich eine Stunde später vor einem hohen Zaun stand und auf ein gelbes Warnplakat schaute. Dort stand in roten Lettern auf englisch und spanisch: «Gefahr. Eintritt verboten». Ich war ein paar tausend Kilometer weit gereist, um den Krater zu sehen, den die Explosion der ersten Atombombe gerissen hatte, das Geburtsmal eines neuen Zeitalters. Nun stand ich vor Gittern und Verbotstafeln. Das war sie schon, die neue Zeit. Kein Irrtum möglich.

Also zurück ins naßgraue, verschlafene Alamogordo, um mir beim Redakteur der Lokalzeitung Rat zu holen. Das ist fast immer die beste Stelle, wenn man sich in einer amerikanischen Stadt schnell zurechtfinden will. Die Gastfreundschaft, Offenherzigkeit und Hilfsbereitschaft amerikanischer Zeitungsleute ist grenzenlos. Sie stammt noch aus den guten alten Tagen, als es keine «Sicherheitseinschränkungen» aus Spionenfurcht gab. So auch hier. Kollege Morgan, den breitrandigen Hut auf dem Kopf, ist gerade dabei, in seinem nach Chilipfeffer und Druckerschwärze riechenden Office telefonisch Inserate aufzunehmen, als ich eintrete. Den Krater besuchen, das werde nicht so einfach sein, meint er zwischen zwei Anrufen. Es sei nämlich bis jetzt noch nicht ganz abgeklärt, welche der Militärstellen eigentlich darüber zu bestimmen habe. «Holloman Air Force Base» fliege zwar gelegentlich Besucher über den Krater, aber zu Fuß oder im Wagen dürften sie nicht heran. Darüber werde vom Santa Fé Office der Atomenergie-Kommission bestimmt. Sie habe Jurisdiktion über das «big hole» und den näheren Umkreis. Nun wolle das «Guided Missile Center» in El Paso aber auch noch ein Wort mitsprechen, weil es in dem umliegenden Dürrland mit ferngelenkten Geschossen experimentiere, und da könne sich doch einmal eine Rakete verirren …«Das ist ein Krieg der Dienststellen bis zum Letzten, mein Freund», sagt er, «mich würde es nicht wundern, wenn einmal eine kleine Bombe losginge. Wozu ist das Zeug schließlich da?»

Ja, erzählt er später, als er für eine halbe Stunde aus seinem Büro geschlüpft ist, das habe man sich Anno 45 doch ganz anders vorgestellt. Als die Stadträte von Alamogordo hörten, daß die große Explosion im benachbarten Tulurosabecken vom 16. Juli am Radio als der «Anbruch einer neuen Menschheitsepoche» gefeiert wurde, hätten sie sofort die Errichtung eines Nationaldenkmals beantragt. Alamogordo sollte ein Mittelpunkt des Fremdenverkehrs werden und Mister Cakkins, ein versponnener Metallgräber, der den Aufgang der «großen Sonne» ungläubig von seiner Berghütte aus in früher Morgenstunde erlebt hatte, hoffte, als Fremdenführer endlich eine unerschöpfliche Goldader ausbeuten zu können: die Touristen. «Nun, das alles ist ganz anders gekommen. Sie wissen ja, warum», resümierte Morgan, und dann stürzte er sich sofort mitten in den Papierkrieg der militärischen Dienststellen, um mir meine Erlaubnis zur Besichtigung des «big radioactive hole» zu verschaffen.

2

Die Erlaubnis ließ auf sich warten. Mein Einführungsbrief vom State Department genügte nicht. Mari hatte in Washington zurückgefragt. Dort wurde jetzt vermutlich mein Dossier durchgegangen, Fernschreiber tickten mein Personalement. Geprüft, überprüft, das Überprüfte nochmals geprüft und all das, weil sich jemand ein altes Erdloch in einem Stückchen Wüste ansehen will. Das ist die andere Seite des prometheischen Tatendranges der zeitgenössischen Amerikaner. Das ist der Angstschatten, der dem Tollkühnen folgt, das sind die Gewichte der Vorsicht und des Mißtrauens, die sich an die Fersen der Himmelsstürmer hängen.

Aber ich mußte mich während meiner Wartezeit nicht langweilen. Es gibt kaum eine andere Region Nordamerikas, in der die legendenumwobene indianische Vorzeit noch so lebendig ist wie in diesem Teil von New Mexico. Hier sind die ältesten Höhlensiedlungen des Landes gefunden worden, hier wurden die Lehmhäuser und merkwürdig ineinandergeschachtelten Burgen der Puebloindianer gebaut. «Amerikas erste Wolkenkratzer» nennen sie die Prospekte der Reisebüros.

Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich mit Miss Kuhrtz, einer Fürsorgerin der «United Pueblos Agency», die von ihr betreuten Indianersiedlungen besuchte. Sie war eine fröhliche ältere Dame, die in den drei Jahrzehnten ihrer Tätigkeit tiefen Einblick in das Leben und die Vorstellungswelt ihrer Schützlinge gewonnen hatte.

«All das sind die Überreste des Zeitalters der Giganten», erzählte sie, wenn wir auf der Fahrt von einem Dorf zum andern an erstorbenen Vulkanen, merkwürdig geformten Felsen und hohen vierkantigen Tafelbergen vorbeikamen. «Einst waren nach indianischer Überlieferung alle Wesen riesengroß, nur die Menschen blieben klein. Geflügelte Ungeheuer hockten über Abgründen, Drachen und Schlangen lauerten in Höhlen, feindliche Riesen und gepanzerte Monstren stellten Männern, Frauen und Kindern nach. Aber die ‹Zwillingsgötter› halfen. Sie zogen hinauf zur ‹schwarzen Mesa›, forderten Tsebayo, den böswilligsten der Giganten, zum Zweikampf heraus und töteten ihn durch eine Kriegslist. Sie ließen sich nämlich von ihm verschlingen und zerstachen ihm, sobald sie durch die mächtige Gurgel gerutscht waren, den Magen von innen her mit ihren Steinlanzen. In seinem Zusammenbruch soll der Riese ganze Gebirge zerschmettert haben. Er verendete schließlich, Rauch und Feuer um sich speiend, und sein Blutstrom erstarrte zu schwarzer Lava.»

Ein vielleicht noch besserer Kenner der Indianersagen ist der katholische Pater K., ein Missionar bayrischer Abstammung, zu dem mich Nurse Kuhrtz führte. Er lebt im Pueblo von Isleta, nicht weit von Alamogordo. Wir saßen in seiner Klause, als ich ihm klagte, wie unsinnig mir die Geheimnistuerei um den Krater von Alamogordo erschien. «Gewiß», meinte er, «uns Weißen ist das etwas Neues und Ungewohntes. Aber meinen indianischen Pfarrkindern erscheint es selbstverständlich, daß ein Volk ‹heilige Plätze› besitzt, deren Betreten nur wenigen Auserwählten gestattet ist. Die Puebloindianer haben solche ‹verbotenen Orte› immer gehabt und bis heute beibehalten. Und sie fragen mich ironisch, aber mit todernstem Gesicht: Weshalb muß der Weiße seine ‹heiligen Plätze› durch so viele Wächter, Hochspannungsdrähte und Alarmanlagen schützen? Bei uns genügt das Gesetz der Alten, sagen sie. Zäune errichtet man doch nur für das Vieh, das kein Wort versteht, oder zur Abwehr wilder Tiere. Menschen wissen Geheimnisse zu respektieren.»

Von einer Europareise hat der gemütliche Priester einen Hamstervorrat deutscher Volkslieder auf Tonband mitgebracht. In einsamen Stunden spielt er sie immerfort nacheinander ab, und die Indianerinnen von Isleta waschen Hemden zum Klange des «Jägers aus Kurpfalz» oder «Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein». Ich selbst bin allerdings neugieriger auf die Erzählungen des Paters aus der indianischen Schöpfungsgeschichte.

«Die Puebloindianer haben schon immer erwartet, daß hier in ihrer nächsten Heimat die nächste Periode der Weltgeschichte beginnen werde», berichtet der Priester. «Und wir haben wirklich im Umkreise von einer halben Tagesreise im Auto fast alle Testplätze für die neuesten wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen beieinander. Da ist von hier gegen Norden zu die Atomstadt Los Alamos und gleich in meiner Nachbarschaft die erste Fabrik zur Massenherstellung der Atombomben in Sandia. Nach Alamogordo ist es nur ein Katzensprung, wie Sie wissen, aber ein paar Meilen weiter südlich liegt auch gleich der Raketenversuchsplatz White Sands und nur ein wenig südlicher die Carlsbad-Höhlen, in denen die Luftfahrtmediziner Versuche über den schwerelosen Zustand im Weltraum machen. Dieser Kontinent ist so riesengroß. Weshalb sich das alles gerade hier herum zusammendrängt? Nur weil wir in New Mexico so viel Wüstengelände haben? Das ist die offizielle Begründung. Aber es gibt in Arizona noch mehr Ödland. Also?»

Er sieht mich gespannt an. Wartet aber gar nicht ab, sondern gibt sich selbst die Antwort.

«Nun, meine Pfarrkinder meinen den wahren Grund zu wissen. Schon vor dem zweiten Weltkrieg, lange bevor die Ära der Atom- und Raketenexperimente begonnen hatte, sprachen sie zueinander vom baldigen Beginn des ‹vierten Zeitalters›. Nach ihrer Genesis gab es nämlich zuerst die Welt des Nebels und des Wassers. Dann kam die Epoche des Lebens unter oder in der Erde, danach die Ära der Existenz auf der Erde. Und nun hoffen sie auf die neue ‹Zeit des Himmels und der Strahlenwesen›. Als dann dort drüben in Alamogordo und White Sands unbekannte Flammenzeichen aufgingen, als hier in der Wüste gewaltiger, nie gehörter Donner grollte, als merkwürdige Riesenpfeile im Himmel aufstiegen und verschwanden, waren die Indios weder überrascht noch erschrocken. Sie begrüßten die neuen Phänomene sogar als Vorboten des Zeitenwechsels voller Begeisterung. Denn die ‹Lichtmänner› des vierten Zeitalters werden nach ihrer Überlieferung nicht mehr im Schweiße ihres Angesichts arbeiten müssen.»

«Woher er das nur alles weiß?» fragte ich die Fürsorgerin, als wir Isleta verließen. Sie antwortete nicht gleich. Dann sagte sie spitz: «Weil er die Indios belauscht. Weil er ihre Unterhaltungen, die sie in einem besonderen, nur für Eingeweihte bestimmten Dialekt halten, mit einem versteckten Mikrophon aufnimmt. Er ist nämlich auch nur ein Weißer, der keine Geheimnisse respektieren kann …»

3

Noch immer war keine Entscheidung aus Washington da, und ich kannte alle vier Ecken von Alamogordo nun schon so gut wie das Wartezimmer einer Behörde. Die Sonne war zurückgekommen und brannte heiß. Der kleine Park vor dem Verwaltungsgebäude des Bezirkes verfärbte staubgrau. Über der «Wiege des Atomzeitalters und der Raketenentwicklung» (so liest man am Stadteingang) lag eine Atmosphäre von Enttäuschung und Verdrossenheit.

Auch mein hilfsbereiter Zeitungskollege Morgan war schlecht gelaunt. Er steckte mitten in einem Kampf rivalisierender Cliquen, die einander im Stadtrat und in öffentlichen Versammlungen gegenseitig anklagten, Alamogordos Zukunft zu sabotieren. Eine Gruppe jüngerer Bürger verlangte den Bau neuer Wasserleitungen und einer Schule, bessere Straßen und die Reorganisation der Polizei, um den «vermehrten Anforderungen der neuen Zeit» zu entsprechen. Die Älteren zögerten, warnten; denn sie fürchteten erhöhte Besteuerung. Gewiß, sie gaben zu, daß Alamogordo seit «dem Tag der Bombe» gewachsen war. Es hatte Hunderte von Zuzüglern erhalten, aber das waren alle keine wirklichen Neubürger, sondern Familien von Soldaten, Technikern oder Bauarbeitern, die in den verschiedenen neuen Militärreservationen wie «Holloman Air Base» oder «White Sands» beschäftigt waren. Sollte doch das Verteidigungsministerium für sie sorgen, der Staat Mittel für vermehrte öffentliche Einrichtungen bereitstellen! «Wir haben sie nicht gerufen», hieß es. «Wir profitieren noch nicht einmal geschäftlich von diesen Leuten, denn sie kaufen ja fast doch nur in den PX-Läden des Militärs ein.» Sogar die Gastwirte beschwerten sich: «Die G.I.s nehmen fast keine Drinks bei uns. Am Samstagabend gehen sie über die Landesgrenze bei El Paso nach Mexico. Dort gibt es billigen Whisky, Wettlokale und Bordelle. Damit können wir nicht konkurrieren.»

Ungleich tiefer gehen die sozialen Auswirkungen des Atomzeitalters in den Indianerpueblos. «Was weder der jahrhundertelangen Arbeit der christlichen Missionare noch den zuerst gewaltsamen, dann geschickteren Bemühungen der amerikanischen Regierung gelang, haben die Technik und der Dollar in ein paar Jahren fertiggebracht», erzählte mir Miss Kuhrtz, als wir eine schwangere Bewohnerin des Pueblos Tesuque ins Indianerspital nach Albuquerque fuhren. «Die politischen und religiösen Formen der Stämme sind tief erschüttert und werden vielleicht die jetzt aussterbende Generation der alten Leute nicht überleben.»

Das begann damit, daß während des zweiten Weltkrieges Eingeborene dieses Teiles von New Mexico zu Bauarbeiten an den neuen Atom- und Raketeninstallationen geholt wurden. Sie verdienten nun oft in einem einzigen Monat so viel wie sonst als Ackerbauer und Viehzüchter in einem ganzen Jahr. Selbst die Frauen, die in den militärischen Reservationen als Dienstmädchen arbeiteten, brachten jetzt mehr Dollar nach Hause, als sie je zuvor auch nur gesehen hatten. Anfangs wurden diese Summen, wie es bei allen Einnahmen seit Generationen Brauch gewesen war, in die von den Dorf- und Familienältesten geführten Gemeinschaftskassen eingezahlt. Aber dann kamen bei Kriegsende die G.I.s aus dem Militärdienst zurück und begannen gegen die alten Sitten zu rebellieren. Die in White Sands, Los Alamos oder Sandia beschäftigten Arbeiter und Haushaltshilfen lieferten bald nur noch einen Teil des Inhaltes ihrer Lohntüten im Pueblo ab und drohten sogar, alles Geld für sich zu behalten, wenn der Ältestenrat mit den an die Gemeinschaftskasse gezahlten Dollars nicht «etwas unternehme».

Daraufhin wurde gleich in den ersten Jahren der atomischen Ära von mehreren Pueblos elektrisches Licht eingeführt, moderne Berieselungsanlagen begannen die alten Kanalsysteme zu ersetzen, Ackerbaumaschinen hielten ihren Einzug. Nun kamen Lastautos, Radioapparate und sogar Telefone in die Pueblos, und mit jedem weiteren Schritt zur materiellen Anpassung an den «amerikanischen Lebensstil» schritt die Revision der «alten Werte» weiter fort. Die jüngeren Mitglieder des Pueblos verlangten und bekamen mehr Mitspracherecht. Diejenigen, denen die Konzessionen der «Alten» nicht genügten, brachen ganz aus dem Dorfverband aus, um in neugegründeten Arbeitersiedlungen wie White Rock, unweit von Los Alamos, ganz frei von den alten Bindungen und Gesetzen zu leben. «Die neue Generation glaubt nicht mehr an die auf Erwartung des Regens und die Unabwendbarkeit des Schicksals gegründete Religion ihrer Väter und Ahnen», faßte ein Professor der «University of New Mexico» die neueste Entwicklung für mich zusammen, «sie ist dem Geld und dem Erfolgsprinzip ihrer weißen Umwelt gewonnen worden.» Das ist das soziale «Nebenprodukt» des Atomzeitalters in New Mexico.

4

Der Begleitsoldat, den sie mir zu dem Besuch des Atomkraters mitgegeben hatten, nachdem mein Fall endlich geklärt und von irgendwo aus dem bürokratischen Jenseits die lang erwartete «clearance» eingetroffen war, dieser gesunde vierschrötige Junge konnte einfach nicht begreifen, weshalb ich so viel Geduld aufgebracht hatte, um dieses «Stückchen Nichts inmitten von gar nichts» sehen zu können.

Nachdem er mich an den von Stacheldraht umzäunten Rand des großen überraschend flachen Sandtellers geführt hatte, den die erste Bombe bei ihrem Aufprall vom 33 Meter hohen Kontrollturm auf den «Punkt Null» der Testanlage gerissen hatte, setzte er sich auf den Führersitz seines «Jeep» zurück und begann in seinem bunten «Comic»-Heftchen zu blättern.

Der Krater war an vielen Stellen von einer grünen Gesteinsschicht wie von einer Art Schorf bedeckt, der sich im weißen Siedefeuer der Explosion gebildet hatte. Sie nennen diesen schlammfarbigen Schiefer «Trinitit» – «Dreifaltigkeitsgestein» – nach dem Codewort «Trinity», unter dem der erste Versuch im Jahre 45 lief. Splitterchen dieses «Trinitit» werden als «Souvenirs» in einem durchsichtigen Plastiküberzug eingesiegelt, um Alamogordo herum heimlich verkauft. Auch meine bewaffnete Eskorte trug so einen winzigen Zeitzeugen bei sich in seiner Brieftasche, gleich neben den Fotos der Eltern, Geschwister und der verschiedenen Girlfriends.

Nimmt man das Dreifaltigkeitsgestein in die Hand, so bröckelt es erstaunlich leicht. Das ist dem Wüstengras, dem Schafkraut, dem Echsenfarn und Schuppenmoos, die hier unten in der Wüste seit Urzeiten wachsen, zugute gekommen: In den paar Jahren, die seit dem Test vergingen, haben Pflanzen die glasige grüne Todesschicht an Tausenden Stellen durchbrechen können. In noch ein paar Jahren werden sie den ganzen Raum des Kraters füllen.

«Drop that thing», rief mir der Zerberus zu. «Lassen Sie es liegen, das Zeug ist noch r.a.» Ich ließ gehorsam mein radioaktives Stückchen «Trinitit» fallen, warf noch einen letzten Blick auf die große häßliche Narbe und wandte mich zum Gehen. «Ich verstehe nicht, weshalb sie das Ding nicht einfach zuschütten», sagte der G.I., «such a nuisance.» Damit machten wir uns auf den Rückweg.

Keine Zeit für Gefühle

1

Omaha, Nebraska

Omaha in Nebraska – das ist immerhin eine Stadt von ein paar hunderttausend Einwohnern. Aber in New York, in Chicago oder Los Angeles sprechen sie davon, als sei es der typische kleine Provinzort, irgendwo in den «backwoods», den «hinteren Wäldern» gelegen. Nun gibt es in und um Omaha schon lange keine Wälder mehr. Es liegt mitten im überreichen flachen Ackerland des Mittelwestens, eine zufällige Ansammlung von Asphaltstraßen und Stadthäusern – darunter sogar ein paar Wolkenkratzer – wächst ganz widersinnig und fremd aus all dem endlosen Grün und Gelb der Äcker heraus. Aber irgendwo muß ja das Vieh verkauft und geschlachtet, die Ernte versichert und angeboten werden, die Züge müssen auf ihrer langen Fahrt von Ost nach West und vom Atlantik zum Pazifik Kohlen laden, Wasser nehmen und die Maschinen wechseln können. Und so entstand, wuchs, gedieh Omaha, die Stadt, die jeder braucht und niemand achtet.

Noch unnatürlicher wirkt in dieser bäuerlichen Umgebung die Ansammlung flacher moderner Gebäude am Stadtrand von Omaha. Sie passen einfach nicht zu den gemütlichen roten Scheunen, den trägen Windmühlenrädern und den prallen Silos in der Nachbarschaft. Wie Eisdecken, die. aber selbst am heißesten Julitag nicht schmelzen, liegen ein paar Landstreifen mitten in prangenden Maisfeldern. Das lateinische Motto, unter dem diese Siedlung steht, ist in Wappenform gleich neben dem Eingangstor zu lesen. Es lautet: «MORS AB ALTO» – «Tod aus der Höhe».

«Offutt Field» heißt dieses Stückchen «neueste Welt» im fruchtbaren Nebraska. Ein Militärflugfeld wie Dutzende anderer amerikanischer «Air Force Bases», die seit 1941 gebaut wurden, auf den Namen eines zu Tode gestürzten Piloten getauft. Und es ist ein Flugplatz von ganz besonderer Bedeutung, vielleicht der schicksalsträchtigste der USA. Denn in diesen nagelneuen, wenn auch unscheinbaren Bürogebäuden, die in Anlehnung an eine ehemalige Reiterkaserne gebaut wurden, befindet sich der Hauptsitz des «Strategic Air Command», dem im Kriegsfalle die Leitung aller überseeischen Bomberaktionen anvertraut ist. Gerade hier in der «tiefen Provinz», in der Hochburg des einst weltabgewandten Isolationismus, ist der Mittelpunkt eines Stützpunktsystems, das fünf Kontinente überzieht.

Und jeder dieser fernen Stützpunkte kann im Flug fast genauso schnell erreicht werden, wie der in Omaha haltende transkontinentale Schnellzug braucht, um an eine der beiden Küsten Amerikas zu gelangen.

Betritt man die durch Klimaanlagen angenehm abgekühlten Büros von Offutt Field, so ist der erste Eindruck keineswegs bedrückend oder gar geschichtsschwanger. Amerikanische Militärinstallationen wirken ja selten so düster und unheildrohend wie europäische Kasernen. Selbst hier, wo ein für seine forsche Rauheit und strenge Disziplin berüchtigter General kommandiert, erinnert die Büroatmosphäre eher an einen «country club».

Der diensttuende Offizier spricht gerade mit Seattle, aber es geht dabei anscheinend nicht um den Transport von Bomben, sondern um die Vorbereitung eines Wochenendtrips. «Natürlich bringen wir Fischgeräte mit», plaudert der Mann in Khaki vergnügt. «Und ihr drüben sorgt für die Filmkamera. Farbenfilm … Ja, unbedingt … Und noch eins: der General trinkt keinen Scotch. Er ist ein hundertprozentiger Bourbonmann. Okeydoke. Hasta Mañana.»

Durch die offene Bürotüre ist ein breitschultriger, etwas dicklicher Offizier eingetreten. Er sieht weder nach rechts noch nach links, nicht den schlaksigen rothaarigen Adjutanten, der ihm mit unterzeichnungsbereiten Papieren in der Hand gefolgt ist, nicht die hübsche blonde Sekretärin, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte, und schon gar nicht den fremden Zivilisten, der immer noch wartend vor einer Weltkarte steht. Die ist auf eine neue, ungewohnte Manier gezeichnet. Hier liegt die Landmasse der USA nicht wie sonst üblich auf der westlichen Seite, sondern breit in der Mitte des Planes und darum herum gegen die Kartenränder zu gruppieren sich artig die anderen Kontinente. Fast genau in der Mitte der USA befindet sich ein schwarzer Punkt, unter dem die Worte «Offutt Field» (Omaha) zu lesen sind. Und in der Mitte von Offutt Field, im Zentrum aller Erdteile und Meere und Inseln steht jetzt dieser untersetzte Klotz von Mann, der die ausgegangene Zigarre nicht einmal aus dem Mund nimmt, während er verkündet: «Nichts mit Seattle, Kalberer – absagen. Ich muß auf einen Sprung nach Washington. Die kochen wieder etwas gegen uns in der Senatskommission.»

Das war natürlich der General. Jeder hier fürchtet ihn, preist aber seine Leistungen. «Was für ein verdammt wundervoller Sklaventreiber», sagen sie. «Wie er das SAC in Form gebracht hat. Wie er keinen Disziplinverstoß duldet. Wie er aber über jede Einzelheit von Alaska bis Arabien, von Marokko bis Okinawa unterrichtet ist.» – «Am liebsten», so sagen sie, «läßt er sich über den Zustand seines weltweiten Kommandos in knappsten Zahlen berichten: 6 Prozent mehr Kosten bei der 15th Airforce, 18 Prozent weniger Flugleistung bei der 6th Airforce, 8 Prozent Materialerneuerungen notwendig pro Monat, nur 0,4 Prozent Verluste an Mannschaften und Maschinen im vergangenen Jahre.»

Seine Kalkulationen sind durchaus gefühlsfern. Als er den Piloten der «Fliegenden Festungen», die unter seinem Befehl während des zweiten Weltkriegs Japan anflogen, befahl, ihre Ziele dichter anzufliegen, stiegen die Durchschnittsverluste für jeden Raid um hundert Prozent. «Aber das Rechenexempel ging auf», erklärt mir Presseadjutant Kalberer als die «Stimme seines Herrn».

«Wenn bei einem Angriff ein Drittel unserer Bomber verlorenging, dafür aber doppelt so viele Treffer erzielt wurden, so war das weniger kostspielig als zwei Attacken mit je einem Fünftel Verluste.»

Die großen vier- bis zehnmotorigen Bomber, die unter dem Kommando des Generals stehen, sind nicht in Offutt Field selbst stationiert. Hier landen nur die Maschinen, auf denen er seine Inspektionsflüge rund um die Welt antritt. «Ich kenne sechzig Länder der Erde», erzählt der «Boss» seinen Bewunderern, wenn er einmal Entspannung sucht. Die meisten Länder kennt er allerdings nur aus der Luft oder von kurzen Landungen auf einer der «Air Bases». Diese Stützpunkte gleichen einander wenn möglich wie ein Schachfeld dem anderen: die gleichen «runs», die gleichen «Hangars», das gleiche Essen in der Kantine, die gleichen Soldatengesichter, die den besuchenden Chef mit den gleichen Standardworten begrüßen, ob das nun in Nordafrika, Nordbayern oder Nordjapan ist. «Und bitte keine überflüssigen Worte, der General liebt keine Entschuldigungen und Beschwerden! Sein Wahlspruch heißt: ‹Das Resultat allein zählt. Mir ist es ganz gleich, ob eine Mission aus Pech oder aus Untüchtigkeit in die Binsen geht.›»

Aber den besten Überblick über seine «Magnesium-Ungeheuer» – so nennt er plump-zärtlich die Bomber – hat der General doch, wenn er zu Hause, das heißt in Offutt Field ist. Jeder Flugstützpunkt innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten steht in ständiger Verbindung mit der «Electronics Section» bei Omaha, einem von schußbereiten Garden schwerbewachten, fensterlosen Gebäude, dessen Räume Tag und Nacht vom Weißviolett der Fluoreszenzröhren erhellt werden. Hier ticken die Fernschreiber laufend Berichte von den 17 großen SAC-Stützpunkten in Nordamerika, werden in einem besonderen durch Panzertüren gesicherten Raum Radiogramme und Ferngespräche von Dutzenden im Ausland gelegenen Flugstützpunkten empfangen. Grönland ruft, Japan meldet sich, Alaska gibt einen Wetterbericht durch. Es ist drei Uhr nachmittags in Omaha, aber schon zehn Uhr nachts im englischen Stützpunkt «East Anglia», drei Uhr morgens in Bahrein, fünf Uhr früh in Port Darwin. Es regnet in Siam und Brasilien, über Libyen rast ein Sandsturm, auf den Alëuten hat es heute nacht leicht geschneit.

Offutt Field führt über all das Buch und befiehlt dementsprechend jedem seiner Bomber die Reiseroute. Es ist stolz auf seine «sofortige Schlagbereitschaft». Niemand im ganzen Kommando mit seinen Tausenden von Piloten, Mechanikern, Funkern, Bodenmannschaften, über dessen genauen Verbleib irgendwo auf der Erdkugel zu dieser bestimmten Minute man nicht Bescheid wüßte. Selbst wer dienstfrei ist, hat sich in regelmäßigen Zeitabständen bei der vorgesetzten Stelle zu melden, keinesfalls darf er sich weiter als zwei Autostunden vom Standort seiner Einheit entfernen.

Dreißig, vierzig, fünfzig Stunden sind die Langstreckenbomber des SAC beim Durchschnittstempo von fünfhundert bis sechshundert Stundenkilometern oft auf Trainingsflügen ohne Stopp unterwegs. Da darf niemand von der vierzehnköpfigen Besatzung (drei davon sind Piloten) sich länger als für zwei oder drei Stunden schlafen legen. Wenn die Maschine in Höhen von zehn- bis fünfzehntausend Metern kreuzt, ist es streng verboten, einen der sechs Schlafbunker zu benutzen, weil im Falle eines niemals ganz ausgeschlossenen Leckwerdens der Druckkabine der im Körper aufgesparte Sauerstoffvorrat nur dreizehn Sekunden lang ausreicht, ehe Bewußtlosigkeit eintritt. Das ist zuwenig Zeit für einen aus dem Traum Geschreckten, um die Sauerstoffmaske richtig aufzusetzen, festzumachen und in Betrieb zu setzen.

Während dieser Trainingsflüge überqueren die Fernbomber hoch über den Wolken Ozeane, die sie nicht einmal sehen, besuchen fremde Länder und Kontinente, deren Konturen sie höchstens in flüchtigen Schatten auf dem Radarschirm erblicken. Ohne zwischenzulanden ziehen sie «Schleifen» über den klein gewordenen Erdball. Hier hat die rasend schnelle und sichere Überwindung der Distanzen, die einst vielgepriesene Eroberung der Luft, ganz ihren eigentlichen Sinn verloren: der Himmel ist ein großer Exerzierplatz geworden, auf dem ein General mit Feldwebelschneid herumkommandiert und dabei weiß, daß er mit den modernsten seiner «Metall-Monstren» schon wieder von gestern ist. Seit eine neue «Rasse» von todbringenden Ungeheuern aufgetaucht ist: die ungleich schnelleren ferngelenkten Raketen mit ihren Atomsprengköpfen.

2

Muroc, California

Etwa hundertfünfzig Kilometer nordöstlich von Los Angeles im Gebiet der Mojavewüste gibt es eine Reihe von ausgetrockneten Seebetten, so dürr, so trostlos, so unerträglich heiß, daß sich lange Zeit kein Lebewesen, nicht einmal die Wüstenratten oder heulenden Hunde, dort aufhielten. Eine Zeitlang während der Prohibition wurde an einem der Ufer des «Muroc Dry Lake» Schnaps gebrannt und nach den Städten geschafft. Das geschah in aller Offenheit, weil die «moonshiner» wußten, daß die hitzescheue Polizei sie hier ungestört lassen werde. Aber obwohl die Profite bei diesem Geschäft beträchtlich waren, ergriffen die illegalen Whiskybarone bald die Flucht vor der Hitze. Selbst tausendprozentige Gewinne erschienen ihnen nicht verlockend, wenn sie dafür schon bei Lebzeiten in der Hölle braten sollten.