Die Leiden des Schwarzen Peters - Till Angersbrecht - E-Book

Die Leiden des Schwarzen Peters E-Book

Till Angersbrecht

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Beschreibung

Menschen aus einem abgelegenen und angeblich unterentwickelten Teil der Welt interessieren sich für die Goldenberger, weil sie, wie es allgemein heißt, den derzeit zivilisiertesten Teil der Menschheit repräsentieren. Der Fremde wird zunächst mit offenen Armen aufgenommen – und er unternimmt seinerseits alles, um zu sich einem echten Goldenberger zu wandeln, wozu ihn Freunde, der poetisch sensibilisierte Dönnewat zum Beispiel, aber bald auch die Hure Pier nach Kräften ermuntern. Allerdings wird dem "schwarzen Peter" - er selbst besteht mit großer Hartnäckigkeit auf seiner schokoladenfarbenen Haut – nur zu bald bewusst, dass der Boden der Zivilisation nach unten hin hohl ist und dass es daher nicht gut gehen kann, wenn die Eingeborenen auf einem derart brüchigen Fundament den Gump höher und höher bauen: das neue Wahrzeichen der Stadt. Zwecks Familienzusammenführung, wie Bürgermeister Bremme es nennt, wird ihm schließlich eine pechschwarze Ngumbubara, sozusagen von Amts wegen, verordnet, in Wahrheit soll aber der Zorn der männlichen Goldenberger beschwichtigt werden, da der Fremde ihnen die Frauen abspenstig macht – kurz, die Existenz eines Außenseiters in dieser sonst in jeder Hinsicht vorbildlichen Stadt beschwört eine Fülle von Konflikten, die sich schließlich so heiß zu brodeln beginnen, dass es zu einem dramatischen und wirklich traurigen Ende kommt, einer plötzlichen Abschiebung nämlich, die umso weniger gerechtfertigt erscheint, als die objektive Wissenschaft in Gestalt Prof. Pladderkuhs längst zweifelsfrei beweisen konnte, dass der schwarze Peter vollständig integriert worden sei ...

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Till Angersbrecht

Die Leiden des Schwarzen Peters

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Ankunft

Gottes ausgestreckter Zeigefinger

Eine käsefarbene Runde

Die Geisterschachtel

Vom Eise befreit...

Alle an einem Tisch

Im Schloss darf der Mohr nicht fehlen!

Der Fall „Kneek“

Wie der Fortschritt der Tradition an den Kragen fährt

Das Komplott

Knirzbein: Wie ein Zugereister das Rathaus erbeben lässt

Kampfbereit sitzen sich die Streithähne gegenüber

Gegen den Fortschritt dichten

Plötzliches Verschwinden

Diese aristokratischen Gören!

Herr Erpel und das Mädchen Rosi

Diskopfeile

Böse Blicke nach einem Fest der Verschmelzung

Ach Loso, lieber Loso, komm!

Die Parade der Pachydermen

Hohle Räume unter der Zivilisation

Man bringt mir Prinzipien bei

Der große Pladderkuh

Eine peinliche Befragung

Schon wieder bin ich ein Opfer des Mitleids

Maschinenmenschen

Wie satt ich es bin, immer nur das Naturkind zu sein!

Das blaue Blut und der Wein

Schädel aus Stahl und Silizium

Mein Schutzgeist zeigt mir die kalte Schulter

Da öffne ich die Schachtel und propier’s mit dem Zauber der Goldenberger!

Noch eine Leiche!

Unter schwarzer Haut die blütenweiße Seele!

Sie errichten den Gump

Wie mich Pier besiegte, die große Hure

Der Tod und der Dichter

Pladderkuh verkündet die nicht-euklidische Wissenschaft

In Goldenberg fehlen mir die natürlichen Feinde: Ich könnte mich rapide vermehren

Die Frau auf der Litfaßsäule

Wer glücklich ist, der kommt zu spät!

Der Baron verhökert das Schloss

Halleluja auf der Empore

Wo bleibt da die Spiritualität?

Schlechte Witze über den Gump

Der vermasselte Ehrentag

Schlagringe und Ganzkörpervermummung

Das feucht-fröhliche Seminar

Knarrs Erkenntnisse

Ich ringe mit Gott

Die Abschiebung

Impressum neobooks

Die Ankunft

Die Leiden des Schwarzen Peters

Roman

Tim Eisenrot

März, 6 Monate vor Erbauung des Gump;

Seelentemperatur: witternder Leopard;

Geisterkontakt: stumm;

Witterung: kalt in die Knochen ziehend.

Wäre in Goldenberg ein Meteorit vom Himmel gefallen, laut zischend und mit der Schleppe einer lodernden Feuersbrunst, hätten die Eingeborenen wohl kaum stärker in Erregung geraten können als durch mein plötzliches Erscheinen. So einen wie mich hatten sie in ihrer Stadt noch nie gesehen, ein Wesen zwar durchaus ähnlich gebaut wie sie selbst, mit zwei schlanken Armen, zwei kräftigen Beinen, einem Rumpf in den üblichen Proportionen und einem Kopf, der nun allerdings einen radikalen Unterschied demonstrierte und es ihnen verbot, mich mit einem echten Goldenberger zu verwechseln. Meine Haut ist schwarz, nicht pechschwarz - darauf möchte ich mit allem Nachdruck bestehen -, nein, schokoladenfarben, was doch eine viel distinguiertere Tönung ist und unter den Einheimischen, wie mir später zu Ohren kam, zunächst Zweifel erweckte, ob meine Farbe wirklich vollkommen waschecht sei oder nicht mit der Zeit verblassen würde, ich meine, unter dem Einfluss ihrer sehr ungnädigen, in meinen Augen sogar unanständigen Witterung, wo peitschender Regen und grimmiger Sturm keine Seltenheit sind. Dann würde ich, so ihre Vermutung, ihnen mit jedem Jahr etwas ähnlicher werden.

Hohes Komitee, ehrwürdiger Ältestenrat, ich möchte gleich zu Beginn meines Berichtes betonen, dass mich die Goldenberger mit vorzüglicher Freundlichkeit empfangen und bei sich aufgenommen haben. Gleich am zweiten Tag nach meiner Ankunft luden mich die führenden Vertreter der Stadt, Bürgermeister Bremme, die Frau Pastor Frieda Torbrück, der Apotheker Julius und wie sie alle heißen, ins Odysseus am Rande des Schlossparks ein – nein, nicht ins Schloss selbst, der Herr Baron von Kneek lässt sich nicht überrumpeln. Aber das Odysseus ist in Goldenberg ja auch eine hervorragende Adresse, dort kommen die Honoratioren, an Feiertagen auch die einfachen Bürger, nach der Arbeit zusammen; dort reden, spaßen, lachen, streiten und „philosophieren“ sie – so nennen sie es jedenfalls, wobei ich mir aber bis heute über den Sinn dieses seltsamen Wortes nicht recht im Klaren bin. Ich mutmaße, dass ihr Philosophieren mit diesem goldglänzenden Getränk zusammenhängt, das sie im Odysseus in großen Mengen genießen: Erst dann beginnen sie mit dem „Philosophieren“.

Von Natur aus sind die Goldenberger übrigens so neugierig wie alle anderen Menschen - sehr neugierig sogar, was ich aus eigener Erfahrung bezeugen kann. Ich will nicht sagen, dass sie den Meteoriten, der da ohne Vorwarnung in ihre Stadt und ihr wohl behütetes Leben platzte, mit offenen Mäulern und aufgerissenen Augen umringt, bestaunt und den Körper des Fremden, meinen Körper, betastet hätten. Nein, so weit gingen sie nicht, sie wissen sich zu benehmen. Als ich in Begleitung des Bürgermeisters – ich sagte schon Bremme, Gustav Bremme - durch das Stadttor und anschließend durch die Gasse ihrer zu beiden Seiten hochaufschießenden Häuser ging - wie unheimliche Riesenschachteln aus Stein erscheinen mir ihre Behausungen - kam mir der Ort im ersten Moment wie eine Geisterstadt vor, so tot und genauso verlassen. Da gab es nur diese Handvoll Leute, die zu meiner Begrüßung erschienen waren.

Wozu stehen sie hier, ging es mir durch den Kopf, all diese mächtigen, quaderförmigen Schachteln, wenn alles doch unbewohnt ist und den trostlosen Eindruck vollkommener Leere macht? Aber nein, hoher Rat, da habe ich mich geirrt. Während ich noch mit dieser ersten Ernüchterung kämpfte und meine Augen ziellos an den Häuserfassaden in die Höhe schweiften, bemerkte ich auf einmal, dass überall hinter den Fenstern oder auch zwischen den Gardinen die Köpfe von Frauen, Kindern, Greisen und Männern lugten, um einen Blick auf mich, den schwarzen Fremden, zu werfen; ich bemerkte sie allerdings nur einen kurzen flüchtigen Augenblick, denn sobald die Köpfe zwischen den Gardinen bemerkten, dass ich ihre neugierigen Blicke erspähte, zuckten sie augenblicklich zurück, als hätte ich sie bei einer unanständigen Tat ertappt.

Wie sensibel diese Menschen doch sind!, ging es mir durch den Kopf. Offenbar ist ihnen peinlich und gilt vielleicht nicht einmal als schicklich, der eigenen Neugier die Zügel schießen zu lassen, obwohl ich sie dafür doch gewiss nicht verdammen würde!

Aus Forschungszwecken durfte ich es natürlich nicht unterlassen, diese meine Vermutung sogleich experimentell zu überprüfen. Ich richtete meinen Blick also eine Zeitlang stur nach vorn auf das Straßenende, um ihn dann unerwartet und blitzschnell in die Höhe zu den Fenstern hochschnellen zu lassen – und, siehe da, es geschah genau, was ich erwartet hatte. Dutzende von Köpfen zuckten alle zur gleichen Zeit zwischen den Vorhängen in den Raum zurück, nur unter den Greisen – und von denen scheint es in Goldenberg nicht wenige zu geben – waren manche durch das Alter so verlangsamt in ihrer Beweglichkeit, dass sie wie verlorene Gespenster zwischen den Vorhängen sozusagen erstarrten, mich aber unmittelbar danach mit einem verlegenen Lächeln gleichsam um Verzeihung für ihr schlechtes Benehmen baten.

Während das kleine Begrüßungskommando mich, den frisch eingetroffenen neuen Bürger von Goldenberg, durch das Stadttor auf die Hauptstraße geleitet, redet der Bürgermeister mit nicht endendem Wortschwall auf mich ein: Welch große Freude es für die Menschen von Goldenberg und für ihn ganz persönlich sei, einen so außerordentlichen Gast wie mich in den Mauern der Stadt zu begrüßen, hier auf dem vertrauten Terrain seiner Heimat – dieses Glücksgefühl sei unbeschreiblich und eigentlich gar nicht in Worte zu fassen. Er, der Bürgermeister, dürfe sich aber zu diesem Gefühl im Namen aller Bürger in voller Offen- und Ehrlichkeit bekennen. Zum allerersten Mal biete sich der Stadt die Gelegenheit, einen so besonderen, im besten Sinne des Wortes exotischen Vertreter der menschlichen Gattung im eigenen Haus zu empfangen. In ihm als dem gewählten Repräsentanten dieser Stadt erwecke die Aussicht, künftig mit einem so außerordentlichen Exemplar des Homo sapiens über jedes Problem von Mensch zu Mensch reden zu können, schon jetzt die größten Erwartungen.

Auf diese bombastische Art, die mir gleichwohl zu Herzen ging, denn die gute Absicht war ja doch unverkennbar, begleitete mich der Mann in die Stadt.

Er steigerte seine Rede schließlich zu einer tönenden Tirade:

Sind wir uns nicht im Grunde völlig gleich, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion und so weiter und so fort?, ruft er mir zu, obwohl ich doch nur zwei Schritte von ihm entfernt bin. Sind wir nicht im Hinblick auf unsere Gene zu beinahe hundert Prozent verwandt? Haben wir nicht sämtliche Vorurteile längst ausgeräumt und vergessen, die in grauer und trüber Vergangenheit sicher auch einmal bei uns in Goldenberg existierten?

Der Bürgermeister hat sich so sehr in Eifer geredet, dass auf seiner Stirn eine Vielzahl kleiner Schweißtröpfchen schimmern – ein Wunder, denn die Luft unter dem unwirtlich grauen Himmel ist doch geradezu kalt und richtig zugig. Während er mit lauter Stimme von den glücklich überwundenen Vorurteilen schwärmte, hielt er meinen Arm mit seiner rechten Pranke gepackt, was sicher gut gemeint, aber dennoch wenig angenehm war, denn die Arme des Mannes sind stark wie die Beine eines Stiers, und seine Hände scheinen Schraubstöcke zu sein. Beinahe hätte ich mein Gesicht vor Schmerz verzogen.

Glücklicherweise ließ er nach einiger Zeit wieder locker, sonst hätten die Bürger von Goldenberg möglicherweise bemerkt, dass auch ich von Vorurteilen keineswegs frei bin, denn, um ehrlich zu sein, schreckte mich der Anblick dieses Mannes doch einigermaßen ab, ja, erfüllte mich sogar mit Beklemmung. Als er mich vor dem Stadttor empfing und zur Begrüßung in seine tatzenstarken Arme schloss, zuckte ich im ersten Moment zusammen wie vor einem kannibalischen Überfall, denn der Schädel des Herrn Bürgermeisters – so muss ich es wahrheitsgemäß protokollieren - ist überaus seltsam geformt: Er gleicht nämlich einer in Goldenberg äußerst beliebten Frucht, die sie Kartoffel nennen, aber er gleicht ihr in einem Zustand unfertiger Bearbeitung, wenn sie also erst halb geschält ist, denn neben einigen käsebleichen, also vergleichsweise hellen Stellen, weist der Kopf des Stadtoberen auch dunkle bis schwarze Flecken auf, so die behaarte Schädeldecke und den ebenfalls grauschwarzen Bart, Stellen, welche sozusagen die noch unbearbeiteten Teile der Erdfrucht repräsentieren.

In dem Moment, als sich dieses Kartoffelgesicht mit seinen mächtigen Kiefern zu mir hinunterbeugte, erfasste mich panischer Schrecken, denn ich weiß ja: Die Lust am Verspeisen anderer Lebewesen, selbst wenn es die eigenen Mitmenschen sind, liegt uns allen bis heute im Blut, nicht jeder hat sie vollständig überwunden. Außerdem darf ich mit Fug und Recht von mir behaupten, nicht ganz unappetitlich zu sein. Im Gegensatz zu meinem Gegenüber strahlt mein Gesicht den Glanz einer leckeren, lockenden, die Esslust aufreizenden Schokolade aus – ohne mich übertriebener Selbstverliebtheit schuldig zu machen, darf ich behaupten, dass sich kein anderer Bewohner der Stadt einer solchen Anziehungskraft rühmen kann.

Zum Glück erwies sich meine Befürchtung als unbegründet. Es zeigte sich, dass der Bürgermeister – inzwischen kann ich das von den Eingeborenen dieser Stadt insgesamt behaupten - von solchen Gelüsten und Anwandlungen frei ist. So sehr es für mich im ersten Augenblick auch danach aussehen musste, wollte Bremme mich keinesfalls fressen, obzwar sein Mund meinen Wangen ganz nahe kam, ja sie sogar flüchtig berührte. Eine solche Annäherung entspringt bei ihnen nicht dem Appetit oder schlimmeren Gelüsten, sondern ist nur ein bei ihnen üblicher, wenn auch reichlich seltsamer Brauch. Einem verehrten Gast oder vortrefflichen Ankömmling drücken die Goldenberger mit ihrem Mund einen, wie sie es nennen, Willkommenskuss erst auf die linke, dann auf die rechte Wange. Ob dieser Brauch freilich nur das verfeinerte Überbleibsel einer früher bei ihnen üblichen, inzwischen aber überwundenen Art des Kannibalismus ist, vermag ich nicht zu sagen. Diesen Punkt werden spätere Forschungen klären müssen.

An dieser Stelle, gleich zu Beginn meines Berichts, möchte ich mich ausdrücklich zu meiner großen Bewunderung für die Eingeborenen dieser Stadt bekennen, die sich wirklich alle erdenkliche Mühe geben, um den Fremden in ihre Welt einzuführen und ihn seine Fremdheit vergessen zu lassen. Gewiss ist dieses Vorhaben nicht immer einfach für sie gewesen. Vorurteile gibt es schließlich auf beiden Seiten. Schon heute, also am zweiten Tag meines Aufenthalts in der Fremde, führen sie mich in das Odysseus, wo ich sofort ohne Prüfung und bürokratischen Aufwand – der Bürgermeister selbst erteilt eine entsprechende Weisung - als ordentlicher Kellner angestellt werde, und zwar aus keinem anderen Grund, als weil nach Meinung der Goldenberger kein Mensch vollständig, ehrenwert oder auch nur menschenwürdig zu nennen sei, wenn er seine Tage nicht mit Arbeit verbringt, denn erst dadurch verschaffe er der Sozietät einen für alle sichtbaren Nutzen. Erst wenn der Mensch, festgezurrt an eine Arbeitsstelle, seinen unveränderlichen Platz im großen Ganzen hat, ist die Obrigkeit beruhigt und der allmächtige Polizeipräsident Knarr ist dann gleichfalls zufrieden, weil er den Betreffenden unter ständiger Beobachtung hat. In diesem Punkt kennen die Goldenberger keinen Spaß, so freundlich sie sonst in jeder Hinsicht auch sind: Gegen ziellose, wie Hunde frei herumstreunende Existenzen hegen sie unüberwindbares Misstrauen.

Die erste Frage, die sie einander und natürlich auch jedem Fremden bei einer ersten Begegnung stellen, lautet grundsätzlich: Was ist dein Beruf? - und wehe, wenn du dann verlegen den Kopf schütteln musst und ihnen nichts anderes zu sagen weißt, als dass du leider nichts Besseres seist als ein Mensch, ungebunden und keinem anderen hörig. Dann messen sie  dich von unten nach oben mit vernichtendem Blick. Ein Mensch ohne Arbeit ist für sie ein Unmensch, ein Barbar, ein minderwertiges Wesen, zu jeder Schandtat bereit und fähig.

Diese Reflexionen füge ich vorsichtshalber gleich zu Beginn meines Berichtes ein, damit ihr, hoher Rat, eine Vorstellung von der Ehre habt, die mir schon am Tag meiner Ankunft erwiesen wird, indem man mir den Posten eines regulären Kellners offeriert, und zwar, ich sagte es schon, im renommierten Odysseus, das sich im Zentrum der Stadt am Rande des Stadtparks unweit vom Schloss befindet. Ich meinerseits zögere nicht einen Augenblick, das Angebot voller Dankbarkeit anzunehmen, obwohl ich in aller Freimütigkeit zugeben muss, dass ich durchaus keinen natürlichen Drang zur Arbeit besitze, sondern diese vielmehr für ein großes Übel und eine Plage halte, da die Lilien auf dem Felde, wie doch jedermann weiß, nach unseres Schöpfers Willen ganz ohne Arbeit vollkommen glücklich sind. Euch, die ihr mich kennt, darf ich anvertrauen, dass ich die Lilien auf dem Felde von jeher beneide und es mir immer darum zu tun war, das Glück des seligen Nichtstuns mit ihnen zu teilen, denn nichts bereitet mir ein so großes Vergnügen, als einfach so in der Sonne zu liegen und nichts zu suchen – ja, das ist in solchen Momenten wirklich mein ganzer Sinn! Dann gelingt es mir sogar - köstliche Augenblicke! -, mein Denken vollständig abzuschalten, wobei ich einen wollüstigen Nirvanageschmack auf der Zunge verspüre, weil die süße und warme Leere, die vom Sonnengeflecht in meinen Bauch über die Region des Herzens hinauf bis in die oberen Sphären des Kopfes quillt, mir wie die Vorfreude auf die Erlösung von allen Übeln erscheint – Erlösung vor allem von dem großen Übel der Arbeit.

Überhaupt liege ich nicht nur gern in der Sonne, die ja unserer Heimat ganz besonders gewogen ist, denn dort scheint sie fast jeden Tag, ich rede auch gern mit anderen Menschen, auch wenn dabei überhaupt nichts gesagt wird und gar nichts dabei „herauskommt“, denn ich will nicht leugnen, dass ich von Natur aus gesellig, mitteilsam und vor allem neugierig bin – Letzteres sogar ganz besonders, denn ich bin ja nicht aus reinem Vergnügen nach Goldenberg gekommen, als weltreisender Privatmann sozusagen, sondern ihr habt mich mit einem sehr ernsten und jedenfalls bedeutsamen Auftrag hierher geschickt, einem Auftrag, über den ich allerdings, so habt ihr mir eingeschärft, zu niemandem reden solle.

Ihr wisst, was ich mit diesen Ausführungen über meine Natur andeuten möchte, nämlich dass ich an und für sich - rechnet man zusätzlich noch meine Neigung zu gedankenfreien Sonnenbädern hinzu – schon genug Beschäftigung habe. Da hätte man mich keinesfalls noch zusätzlich zu einem Kellner im Odysseus ernennen müssen. Gleichwohl bin ich natürlich mit allem einverstanden, denn die völlige Anpassung an die Sitten und Sonderbarkeiten der eingeborenen Stadtinsassen ist ja das erste Gebot meiner Mission. Eben deswegen überwinde ich meine Abneigung gegen die Arbeit und sage auf Anhieb „ja“ zu dem Angebot - nicht ohne allerdings in einem unbeobachteten Moment meinen persönlichen Schutzgeist Loso zu befragen, denn gegen seinen Willen möchte ich nichts unternehmen. Loso allerdings bleibt mir die Antwort schuldig, was mich sehr traurig stimmt: Seit ich in Goldenberg bin, hat er alle Zwiesprache verweigert.

Das Odysseus ist übrigens ein anziehender Ort, vermutlich sogar der beste, um die Sitten, Bräuche, Anschauungen und Schrullen der Eingeborenen an ihrer Quelle, nämlich dort zu studieren, wo das Gespräch ungehemmt sprudelt - und das ist bei ihnen nun einmal an diesem gastlichen Ort der Fall. Erwähnte ich schon, dass sich das ganz aus Holz errichtete Odysseus zwischen mächtigen Kastanien am Rande des Stadtparks befindet? Dort wird sich also von nun an mein tägliches Leben abspielen; dort werde ich gerade in diesem Moment in die höheren Weihen der Geselligkeit eingeführt - vom Bürgermeister höchst persönlich. Er schiebt mir nämlich jenen honiggelben, sonnenfunkelnden Saft vor die Nase, ohne dessen tägliche Einverleibung in einem gläsernen Humpen – er ist etwa so hoch, wenn auch nicht ganz so breit wie der Kartoffelkopf Bremmes - niemand in dieser Stadt jemals zu einem echten Bürger aufrücken kann. Die Einführung in den Ritus ist für sie offenbar ein heiliger Moment, denn dabei starren mich alle aus großen Augen an, natürlich in der Erwartung, dass ich die schäumende Flüssigkeit mit dem Ausdruck des Entzückens durch meinen Schlund in den Bauch weiterleite, wo das Getränk – das wissen sie schon! - möglicherweise unvorhergesehene Folgen bewirkt. Ich muss bekennen: In solchen Momenten wird das Leben zur Qual, wenn alle von dir erhoffen, dass du ihre Erwartungen nicht enttäuscht, sondern - selbst wenn dir zum Speien schlecht wird - den größten Eifer heuchelst zusammen mit der reinsten Begeisterung.

Das wäre – euer Auftrag verpflichtet! – vielleicht auch möglich gewesen, hätte Bremme nicht zur gleichen Zeit, als er mir das goldgelbe Zeug über den Tisch zuschiebt, dessen unseligen Namen ausgesprochen. Ich wage ihn ja kaum zu nennen, um eure Ohren nicht zu beleidigen: Pier heißt das Getränk - jawohl ganz genauso. Da begreift ihr auf Anhieb, wie sehr ich zusammenzucke und dass mir das Blut aus Gesicht und Gliedern weicht. Am liebsten wäre ich geflüchtet, aber das geht ja nicht, ihr habt mich hierher in die Höhle des Löwen mit dem ausdrücklichen Auftrag geschickt, mich anzugleichen, mich zu integrieren und zu assimilieren, nur so werde es mir gelingen, alle Geheimnisse ihres Denkens und täglichen Lebens eins nach dem anderen zu entschlüsseln. Hätte ich jetzt meinem Entsetzen Luft gemacht, dass sie mir Pier, die große Hure, servieren, wie wäre ich dann dagestanden? Ich hätte meine Mission gleich wieder aufgeben müssen.

Ihr habt mir ausdrücklich befohlen, nichts von unserer Weisheit und unseren gottgeheiligten Sitten den Fremden zu offenbaren. Wie hätte ich ihnen also sagen können, dass Pier, das flachsblonde Weib, meinen Stammesgenossen in der Heimat einen Horror einflößt, weil die Hure auf das frische Fleisch und die starke Manneskraft junger Männer versessen ist? Wie hätte ich ihnen verraten können, dass Pier sich auf die Kunst der Verkleidung versteht, manchmal erscheint sie als blutrünstiger Leopard, manchmal als stechwütige Mücke, die den Kopf auflodern lässt: natürlich im Wahnsinn. Und jetzt nimmt sie also die verführerische Gestalt eines goldgelben Getränkes an, das mir der Bürgermeister über den Tisch kredenzt und mich dabei mit einem Lächeln ermuntert, so als wäre es die natürlichste Sache der Welt, sich mit einem bösen Geist einzulassen.

Bitte, könnt ihr mir verraten, was ich in dieser gefährlichen Situation hätte machen sollen? Ich sitze doch eingeklemmt zwischen dem Polizeipräsidenten Knarr und Julius, dem Apotheker, während der Bürgermeister, jetzt, da er mein Zögern gewahr wird, mit lauerndem Blick auf mein Gesicht und den Humpen starrt, der wie eine Strafe Gottes goldblinkend vor mir steht und den ich jetzt mit äußerster Überwindung zum Munde aufhebe: Du begehst eine schwere Sünde, mahnt mich eine innere Stimme, niemand lässt sich ungestraft mit dem flachsblonden Weibe ein, aber es ist euer ausdrücklicher Befehl, mich den Eingeborenen anzupassen und selbst ihren ausgefallensten Bräuchen, also überwinde ich mich und gurgele einen Schluck nach dem anderen in mich hinein, wobei ich am Ende sogar mit der Zunge schnalze, um falsches Wohlgefallen zu simulieren.

Wie ich später erfahre, befindet sich der Apotheker nicht zufällig an meiner Seite. Julius ist ein großer Kenner sämtlicher Heil- und Wirksubstanzen aus dem Abend- ebenso wie aus den fernsten Morgenländern, also eine echte Kapazität in allen Fragen des leiblichen Wohlergehens. Die Obrigkeit, der Bürgermeister also, hat ihn zu meiner Begrüßung herbeigerufen, denn der Ritus des Humpenleerens ist nun einmal ein Muss; in Goldenberg hätte man niemals von Mensch zu Mensch zu mir reden können, ohne dass ein oder mehrere Maß den Bauch anfüllen und das Gehirn in den unter den Eingeborenen so beliebten Dämmerzustand versetzen. Andererseits ist die Obrigkeit zur gleichen Zeit auch um das Wohlergehen des Fremden besorgt. Man weiß ja nicht, ob ein Mann meiner Tönung sich mit dem hiesigen Klima abfinden wird; noch viel weniger lässt sich darauf zählen, dass mein Organismus der goldgelben Pier gewachsen sei. Da schien es denn eine gebotene Vorsichtsmaßnahme zu sein, den Apotheker mit den nötigen Essenzen zur Hand und zur Stelle sein zu lassen, falls ich in den wollüstigen Armen Piers etwa in Ohnmacht falle.

Nun, ich weiß, was ich euch und der Ehre meiner Heimat schuldig bin: Unter Todesverachtung – aber nicht ohne „Steh mir bei, lieber Loso!“ in mich hineinzuflüstern – schlürfe ich Schluck um Schluck in mich hinein, während die Augen der Männerrunde mich ständig beäugen, alle Anwesenden zu unverzüglichem Eingriff bereit, falls ich eine Konvulsion erleide, einen Krampf oder eine durch Pier hervorgerufene Wahnsinnshandlung.

Man hatte - aber das sollte ich erst später erfahren - noch weitere Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Es gab nämlich einen Erlass, der den Bewohnern der Stadt an dem Tag meiner Ankunft ausdrücklich verbot, sich im Park zu versammeln und mich durch zu zahlreichen Andrang zu verstören oder mich gar wie ein scheues Wild in Panik zu versetzen. Wie es allerdings mit amtlichen Erlässen so ist, gibt es stets Aufmüpfige und Querulanten, die mit dem eigenen Sturkopf durch die Wände rennen – in diesem Fall durch den Park. Ein allzu Neugieriger – er wurde später mit einer drastischen Verwaltungsstrafe belegt – hat sich nämlich über die Weisung hinweggesetzt. Mich aus weit geöffneten Augen unentwegt anstarrend, sitzt er wenige Schritte entfernt am Nebentisch und kann die Augen nicht von mir lassen. „Anstarren“ ist freilich ein unfreundliches und in diesem Fall auch unpassendes Wort, denn in Wahrheit scheint er so gebannt und entzückt von meiner Person, dass er seinen Blick einfach nicht von mir loszureißen vermag. Es sind große Kinderaugen, mit denen mich der Mann – ein wahrer Hüne - mit einer Art Unersättlichkeit beinahe verschlingt.

Dabei sollte es freilich nicht bleiben, denn es geschieht das Unvorhergesehene, wodurch im Nachhinein die Weisung an die Bevölkerung, an diesem Tag den Park bitte zu meiden, durchaus gerechtfertigt erscheint. Der mich hingerissen fixierende Mann – später werde ich ihn als Oscar kennen lernen und einen guten Freund in ihm gewinnen - ist nämlich mit seinem Haustier gekommen, einem schwanzwedelnden Dackel, der im Hinblick auf meine Person nicht weniger neugierig, ja, sogar noch um vieles wissbegieriger ist als die zweibeinigen Bewohner der Stadt. Ich vermute, dass sich der mir eigene Savannenduft vorteilhaft von dem der Einheimischen abhebt - diesem Umstand schreibe ich jedenfalls den Grund dafür zu, dass die Dackelseele in besondere Erregung gerät. Ist schon meine Haut durch ihre Schokoladenfarbe besonders erfreulich, so wird der Hund meinen faszinierenden Duft in die Nase bekommen haben. Jedenfalls ist als unumstößliche Tatsache zu vermelden, dass er plötzlich zu mir gelaufen kommt, um mich von Hund zu Mensch ganz unmittelbar zu beschnüffeln.

Ja und?, werdet ihr dieses Ereignis ganz unaufgeregt kommentieren. Was sei daran denn so besonders, wo doch darin die allgemeine Art der Hunde besteht, also auch die eines Dackels.

Sehr wohl, auch für mich liegt darin absolut nichts Auffälliges, an Hunde und ihre Eigenarten bin ich gewöhnt, und dass ich einen edlen, vielleicht sogar vornehmen Geruch ausströme, gehört einfach zu den Tatsachen dieser Welt. Doch etwas Unvorhergesehenes und Außerordentliches geschieht eben doch, und zwar nicht mit dem schnüffelnden Besucher, sondern mit seinem Herrn. Hatte der Mann mich nämlich eben noch liebevoll mit seinen großen, runden Augen gleichsam in sich hineingesogen, so schnellt er jetzt, kaum dass er seinen Hund bei mir sieht, wie von einer Schlange gebissen von seinem Sitze in die Höhe, stürzt sich auf seinen Liebling, rafft ihn zu sich empor und verschwindet mit kräftigen Sprüngen zwischen den Bäumen draußen im Park.

Um die Wahrheit zu sagen, blieb mir dieser Vorgang an jenem Tage und noch eine ganze Zeit später schlechterdings rätselhaft; erst heute weiß ich, was in diesem Augenblick Schreckliches im Kopfe des Flüchtigen vorging, denn es handelt sich, wie schon gesagt, um Oscar, meinen späteren Freund, der mir eines Tages alles reuig gebeichtet hat.

Wie vermutlich die Mehrzahl der Goldenberger glaubte er nämlich, dass es in meinem Herkunftsland üblich sei, das Wild mit bloßen Zähnen zu reißen, weil wir in unserer unglücklichen Heimat gewöhnlich unterernährt und aus diesem Grunde eben zu allem bereit und auch fähig seien. Der liebe Mann sah seinen Dackel mithin in höchster Lebensgefahr – das erklärt sein panisches Verhalten. Zweifellos war er mir wohl gesonnen, ja, wie mir sein Blick bewies, in meinen Anblick geradezu verliebt, doch aus Angst um seinen vierbeinigen Freund vergaß er momentan alle Umgangsformen, wie sie sich unter zivilisierten Menschen gehören. Sein Hund war ihm eben wichtiger als das gute Benehmen.

Verärgert über den ungehörigen Zwischenfall schüttelt Bremme seinen mächtigen Erdapfelkopf und, verlegen, bringt er eine Reihe von Entschuldigungen vor. Leider gebe es selbst in seiner sonst in jeder Hinsicht aufgeklärten und fremdenfreundlichen Stadt ein paar schwarze Schafe, denen man die Gebote der Gastfreundschaft vergeblich gepredigt habe. Der Polizeipräsident Knarr nimmt die Sache allerdings weniger gelassen: Er winkt einen bis dahin unscheinbar im Hintergrund verborgenen Mitarbeiter herbei und befiehlt ihm, den Flüchtigen und seinen Dackel erkennungsdienstlich zu erfassen.

Währenddessen hat sich ein weiterer Gast unserem Tisch genähert, denn natürlich war es einigen ausgesuchten Honoratioren der Stadt nicht verwehrt, den Fremden gleich am ersten Tag in persönlichen Augenschein zu nehmen. Die Frau Pastor Frieda Torbrück setzt sich mir gegenüber, sie tut es mit einem freundlichen, geradezu gerührten Lächeln. Sie hat eine liebe Art. Es sieht ganz so aus, als wäre ich für sie eine Erscheinung aus einem anderen, höheren Reich, der man sich mit behutsamer Ehrfurcht nähert.

So viel Freundlichkeit macht mich verlegen, dennoch habe ich die Torbrück im Laufe der Zeit sehr schätzen gelernt, denn von vornherein hat sie mich für fähig gehalten, die Wahrheiten ihrer Religion zu begreifen, wichtig sei nur, dass das unter ihrer kundigen Anleitung geschieht. Dann, so ihr Versprechen, würde ich irgendwann zu einem Menschen werden, dem sie dasselbe Anrecht auf den späteren Einzug ins Paradies verheißen könne wie jedem eingesessenen Goldenberger, ja, ihrer Ansicht nach sogar ein größeres Recht, weil ein verlorenes oder aus der Fremde glücklich in die Herde aufgenommenes Schaf ein höherer Gewinn für den Glauben sei als die Trägen und Gleichgültigen der eigenen Heimat, die sich zu Unrecht einbildeten, sie hätten die künftige Erlösung schon von Geburt an in der Tasche.

Nun, lieber Rat, damit eile ich wieder einmal den Ereignissen voraus, aber ich sehe mich genötigt, dieses Verfahren gleich noch ein zweites Mal zu befolgen, weil ich nur auf diese Art den vollen Umfang der mir hier entgegengebrachten Gastfreundschaft zu würdigen vermag. Denn ist es nicht eigentlich ein großes Wunder, dass mich Leute mit so viel Freude und Festlichkeit empfangen, die mich doch andererseits durchaus für fähig halten, ihre Haustiere zu reißen und zu verschlingen? Und muss ich nicht nachträglich die Tollkühnheit des Bürgermeisters besonders rühmen, der sich vor dem Tor zu mir herabbeugt hatte, um mir erst links und dann rechts einen Empfangskuss auf die Wange zu drücken, während er doch insgeheim befürchten musste, dass ich ihm, noch ungezähmt wie ich war, die Nase abbeißen könnte?

Daran erkennt ihr, hochwertes Komitee, wie sich die Menschen in aller Welt mit größten Vorurteilen begegnen, und trotzdem entwickelte sich alles Weitere dann doch recht harmlos und schön.

Übrigens sprechen nicht alle Vorstellungen, welche seit wer weiß wie vielen Jahrhunderten in den Köpfen der hiesigen Eingeborenen Wurzeln geschlagen haben, von vornherein gegen mich. Das möchte ich ausdrücklich betonen, um nicht in den Verdacht zu geraten, als würde ich den Menschen von Goldenberg nichts als schlechte Annahmen über einen Fremden wie mich zutrauen. Damit würde ich ihnen großes Unrecht tun, denn sie trauen mir ganz im Gegenteil gewisse Fertig- und Fähigkeiten zu, die mein tatsächliches Können weit überschreiten. Da kann ich euch zum Beispiel von folgendem Beispiel berichten.

Einige Tage nach meinem ersten Treffen im Odysseus wurde von einem der Gäste eine Handlung begangen, die man auf den ersten Blick für harmlos und zufällig halten konnte, zumindest wenn man als frisch Zugereister noch so naiv und gutgläubig ist wie ich. Die zu dieser Zeit um die Tische des Odysseus versammelten Gäste waren allerdings durchaus nicht naiv, sie waren sich im Gegenteil durchaus bewusst, dass der Mann, der da scheinbar im Spiel seinen Hut abgenommen und ihn – wie es schien, ebenfalls aus reinem Zufall - so hoch geworfen hatte, dass er an einem Ast des Kastanienbaums ganze acht Meter über dem Boden hängen blieb, sehr wohl eine Absicht damit verfolgte, denn alle Blicke waren plötzlich auf mich gerichtet, der ich nichtsahnend der mir hier aufgetragenen Arbeit oblag: Ich hatte gerade ein Tablett mit funkelnden Humpen auf dem Serviertisch abgestellt.

Ich stutzte über die mir zugewendete Aufmerksamkeit; sie machte mich verlegen.

Warum schauen die Leute jetzt abwechselnd auf den Hut in acht Metern Höhe und dann wieder auf meine Person?, fragte ich mich und spürte ein deutliches Unbehagen, weil die Leute ja offensichtlich etwas von meiner Person erwarteten. Und warum machte sich auf ihren Gesichtern Enttäuschung breit, als nichts geschah, jedenfalls nichts, was ihrer Erwartung entsprach?

Erst später verstand ich den Grund für die Enttäuschung: Der Mann hatte mir mit seinem schwungvollen Wurf die Gelegenheit geben wollen, meine angeborenen Talente – oder was er dafür hielt - vor aller Welt zu beweisen. Die Goldenberger sind nämlich in ihrer Mehrheit fest überzeugt, dass ein dunkelhäutiger Mensch meines Schlages unseren gemeinsamen Vorfahren, den Primaten, sehr viel näher sei als sie selbst. Sie glauben, dass ich nach einem Blick auf den Hut wie ein Affe und mit der diesen Wesen von Natur eigenen Geschicklichkeit den Baum erklimmen und mich von Ast zu Ast zum Hut hinaufschwingen würde, um ihn dann aus der Höhe dem glücklichen Besitzer zu apportieren. Sicher waren alle bereit und warteten nur darauf, mich nach vollbrachter Heldentat mit tosendem Applaus zu belohnen - davon bin ich durchaus überzeugt.

Natürlich rührte ich mich nicht, ich habe in meinem Leben überhaupt nie das Bedürfnis verspürt, Bäume zu erklimmen und Gegenstände zu apportieren. Die im Odysseus versammelten Eingeborenen waren um eine Erwartung ärmer: Sie wussten nun, dass ich genauso ungelenk bin wie sie selbst, genauso degeneriert, könnte man vielleicht sagen, wenn man unsere gemeinsamen, baumbewohnenden Ahnen als Vorbilder betrachtet. Doch muss ich der Gerechtigkeit halber diese Erfahrung mit einem Nachsatz versehen: Sie ließen mich ihre Enttäuschung keineswegs spüren, sondern brachten mir weiterhin eine ausgesuchte Freundlichkeit entgegen. Doch in ihren Augen habe ich zweifellos etwas von meinem Prestige eingebüßt, ich war sozusagen auf das ihnen vertraute Normalmaß geschrumpft.

Gottes ausgestreckter Zeigefinger

Verehrte Auftraggeber, lieber Ältestenrat! Meine Mission verläuft in der von euch vorgesehenen Bahn, ihr könnt also durchaus beruhigt sein. Seitdem man mich mit einer anständigen Arbeit beehrte – arbeiten ist hier an und für sich schon anständig! -, rücke ich den Eingeborenen mit jedem Tag etwas näher. Ich bin, so nennen sie es hier: schon wesentlich „integriert“, ein Wort, das, wie sie mir erklären, von einer ausgestorbenen Sprache stammt, in der die Wurzel „integer“ so viel wie „unversehrt“, „unverdorben“, „vollständig“ heißt.

Diese Verwandlung schreibe ich in erster Linie dem goldenen Schimmer der von mir ausgetragenen Pierhumpen zu, der lässt mich unversehrt, unverdorben und keusch erscheinen. Denn die in ihren Augen bedauerliche Dunkelheit meiner Haut wird dadurch doch etwas aufgehellt, zumal wenn die Sonne den goldenen Widerschein aus den Humpen auf meinem Gesicht zum Glühen bringt. Dazu verleiht mir die Arbeit in ihren Augen so etwas wie Vollständigkeit, denn ich sagte es ja schon: Wer sich hier nicht Tag für Tag an irgendeinem Ding abrackert, der ist für sie kein ganzer und schon gar kein achtbarer Mensch. Es ist wirklich ein großes Glück, dass sie mich gleich am ersten Tag integrierten, vor meiner Ankunft hatte es nämlich – so viel habe ich schon erfahren - auch warnende Stimmen gegeben.

Wird er nicht wild und unbeherrschbar sein, wenn er zu uns so direkt aus der Wildnis kommt? Wie fangen wir ihn im Park oder in den Straßen der Stadt dann wieder ein?

Derartige Bedenken hatte der Polizeipräsident Knarr angemeldet, aber auch Fred Tautzig, der bekannte Zigarrenfabrikant, dessen Stimme in Goldenberg als gewichtig gilt und der mit dieser Warnung nicht wenigen Bürgern ziemliche Furcht einflößte.

Als sich die Eingeborenen durch den Augenschein davon überzeugten, dass ich mich mit der Verlässlichkeit eines emsig hin und her flitzenden Weberschiffchens zwischen Tresen und Tischen des Odysseus bewege, die goldgelbe Hure Pier dabei ganz unversehrt bleibt und ich auch niemandem den Schädel mit einem Humpen einschlage, wie man das doch von einem Wilden befürchten konnte, sind sie voll des Staunens, und ich habe genau gehört, wie einer von ihnen dem anderen ins Ohr tuschelte:

Siehst du, das haben wir glücklich geschafft. Er ist jetzt schon so gut wie gezähmt; ich sage ja immer, man muss den Leuten nur Arbeit geben, dann werden sie zu richtigen Menschen.

Dass die Goldenberger manchmal so heimlich tun und hinter meinem Rücken tuscheln, damit ich nichts von ihren Worten höre, stört mich übrigens nicht weiter. Sie meinen es ja nicht böse, so sind sie eben. Was können sie schließlich dafür, dass ich ein so hervorragendes Gehör besitze?

Ja, in dieser Hinsicht bin ich unseren wild lebenden Vorfahren wirklich um einiges näher. Mein Gehör ist so außerordentlich fein und erregbar, dass ich sogar das Rascheln einer Maus unter den Blättern einer zehn Meter von den Tischen entfernten Kastanie mit voller Deutlichkeit höre. In dieser Hinsicht bin ich ohne Zweifel integer, unversehrt und unverdorben. Doch das werde ich ihnen natürlich nicht verraten. Niemals werden sie von mir erfahren, dass ich alle ihre Gespräche am Tisch belausche und auf diese Weise euren Auftrag getreu erfülle. Selbst wenn sie an mehreren Tischen sitzen, wild durcheinander reden, sich streiten, laut brüllen oder auch ganz leise flüstern, damit die Nachbarn am Nebentisch nichts davon verstehen, entgeht mir kein einziges Wort.

Liebe Leute von Goldenberg, ich kann mich zwar nicht wie ein Affe hochschwingen, ich meine, bis zum Wipfel der Kastanien, diese Fähigkeit ging bei uns leider verloren – wir leben ja schon wer weiß wie lange in der Savanne -, aber ein Naturkind bin ich dennoch geblieben und schäme mich dessen durchaus nicht. Von euren dahingetuschelten Worten entgeht mir kein einziges; ich höre alles, manchmal glaube ich noch die Gedanken hinter euren weißen Stirnen zu lesen.

Darauf kommt es mir an – und natürlich auch euch, ehrwürdiges Komitee -, denn ich bin ja nicht zum Spaß in diese fremde und ferne Stadt gekommen, sondern habe hier einen sehr wichtigen Auftrag zu erfüllen. Das Odysseus ist dazu gewiss der richtige Ort; hier treffen sich die angesehensten Bürger der Stadt, zum Beispiel ist - ich glaube, ich sagte es gerade - an diesem Tag auch die Frau Pastor, Frieda Torbrück, zugegen. Jeder weiß, dass sie gern den Tisch Nummer drei, und zwar immer Platz zwölf besetzt. Ich weiß, dass einige Goldenberger diese Vorliebe für den dritten Tisch mit ihrer Verehrung für die Dreifaltigkeit erklären, während die zwölf sie deshalb anlocke, weil sie dabei stets an die gleiche Zahl von Aposteln denke, doch bin ich persönlich zu der Überzeugung gelangt, dass es für das Verhalten der Gottesfrau eine viel einfachere Erklärung gibt. Es ist mir nämlich aufgefallen, dass sie von ihrem Platz immer sinnend auf einen Punkt irgendwo zwischen den Wipfeln der Kastanien schaut - und das tut sie so still und mit einem so seligen Lächeln, als würde sie dort oben die Heerscharen der Engel oder andere himmlische Wesen erblicken.

Ihr versonnenes Lächeln hat mich derart entzückt, dass ich an einem frühen Nachmittag, als noch keine Gäste das Odysseus besuchten, probeweise selbst an Tisch drei den Platz Nummer zwölf einnahm. Und siehe da, ich begriff auf der Stelle, warum die Frau Pastor gerade an diesem Platz Momente des Glücks durchlebt: Durch die lichte Öffnung zwischen den Kronen zweier Kastanien ragt nämlich die im Sonnenschein silbern gleißende Spitze des Kirchturms hervor, gewissermaßen der erhobene Zeigefinger des Herrn. So gerät ihr selbst an diesem gottfernen Ort, wo die Hure Pier das lautstarke Sagen hat, nie die Präsenz des Höchsten aus dem Blick.

Um noch ein weiteres Wörtchen über die Frau Pastor hier einzuflechten: Ich gönne der lieben, aber leider etwas vergrämten Frau diese Momente des Glücks - und halte deswegen auch immer den besagten Platz für sie frei -, weil ihr schmales Gesicht, wenn sie nicht gerade auf die Erscheinung über den Bäumen blickt, sondern ihre Aufmerksamkeit den Nachbarn zuwendet, stets einen so tiefernsten Eindruck macht, meist in Falten gelegt ist und auf mich überhaupt sorgenvoll wirkt, ein Eindruck, den ich nun wirklich gar nicht verstehe, da doch die enge Verbindung zu ihrem unsichtbaren Herrn der Pastorin eine größere Selbstgewissheit und Unbeschwertheit verleihen müsste als allen anderen Menschen, zumindest als allen anderen Goldenbergern, die dem Himmel weit weniger nahe sind - von mir will ich erst gar nicht reden, da ich die Gegenwart meines Schutzgeistes Loso in der neuen Umgebung bis heute vermisse und daher die ganze Zeit über spirituell völlig vereinsamt bin.

Vielleicht ist es gerade meine Verlassenheit, die in mir ein besonderes Interesse an der Torbrück erweckt, denn diese ist ja sozusagen der verlängerte Arm der hier herrschenden Geister. Nun, da ich in Goldenberg ansässig bin, bietet sich mir die Gelegenheit, euch mit einem Gottesboten bekannt zu machen, noch dazu mit einer Frau, die ja für den Umgang mit den Geistern besonders empfänglich ist. Denn ihr wollt natürlich gleich von mir wissen, welche Spuren der intime Verkehr mit den himmlischen Mächten in einer Stadt wie Goldenberg in die Seele von Menschen gräbt, die ihnen besonders nahe stehen.

Also, wenn meine bisherigen Beobachtungen mich nicht trügen, dann glaube ich jetzt schon behaupten zu dürfen, dass die Frau Pastor Frieda Torbrück unter dem intimen Verkehr eher gelitten hat, denn während der hier schon verflossenen Zeit meines Aufenthalts in der Stadt habe ich sie kein einziges Mal lachen sehen, ja selbst das Lächeln scheint ihr schwerzufallen - jedenfalls solange sie nicht gerade die Erscheinung im Auge hat, ich meine die Kirchturmspitze, die von oben durch die Krone der beiden Kastanienbäume zu ihr herabblinkt.

Welche Gründe ihr tiefer Ernst auch haben mag, unbestreitbar ist meine Beobachtung, dass die Pastorin niemals von jener lauten Pierfröhlichkeit überwältigt wird, welche selbst die seriösesten Eingeborenen Goldenbergs hin und wieder ergreift, zumal an einem etwas weniger kalten und sogar sonnigen Märztag wie diesem, wo die Natur selbst ihren Ernst ablegt: Man braucht doch nur auf den Brunnen unter der Laube zu blicken, wo aus dem weit geöffneten Maul eines marmornen Fisches glitzernde Wasserfontänen in allen Farben des Regenbogens in die Höhe schießen. Der Himmel scheint zu einem schüchternen Lächeln aufgelegt, nur die Gottesfrau Torbrück bleibt so ernst, wie sie es immer ist.

Bremme, wendet sie sich gerade dem Bürgermeister zu, Sie wissen so gut wie ich, dass wir uns auf ganz dünnem Eis bewegen; wenn die Stadt nichts unternimmt, dann ist nicht nur der Friedhof betroffen, wo die Gräber am westlichen Saum schon in die Tiefe sinken, das können wir noch verkraften, aber irgendwann wird der Boden auch unsere Kirche verschlingen. Können Sie das vor den Bürgern verantworten? Ich frage Sie, wie werden sie am jüngsten Gericht vor unserem Herrn dastehen?

Ich habe ihre Worte ganz deutlich vernommen, obwohl die Torbrück sehr leise sprach, denn offenbar wollte sie nicht, dass man sie an den Nachbartischen versteht. Wie immer, wenn ich die Gottesfrau höre, spricht sie in einem anklagenden, leidendem Ton - so redet sie auch von der Kanzel. Doch habe ich einen Unterschied zweifelsfrei feststellen können: Wenn sie in der Kirche drei Meter über einer ihr ergriffen lauschenden Menge schwebt, dann mischt sich in den klagend-anklagenden Ton noch etwas Festes, Unerschütterliches, ein Strang aus schwingendem Metall möchte ich es nennen, der schwingt dann wie ein tiefer Gong in ihrer Stimme mit, als würde sich, sobald ihre Rede aus dieser Höhe kommt, eine innere Verwandlung, eine Art Verklärung in ihr vollziehen. Sie steht dann auf gleicher Höhe mit dem größten der Kirchengeister, ich meine mit der hölzernen Figur, die sie den Gekreuzigten nennen und der, für alle sichtbar, den weiten Raum des Kirchenschiffs gegenüber dem Eingang als Blickfang und Botschaft begrenzt. Ich habe es selbst gehört und mit eigenen Augen gesehen: In diesen Momenten der Verwandlung, wenn sie im Talar aus der Höhe zu den Gläubigen spricht, dann gleicht sie den Engeln auf den Bildern rechts und links an den hohen Wänden, nur dass sie nicht in die Posaune bläst, dann ist sie nicht länger die unscheinbare Privatfrau Frieda Torbrück, sondern der Geist scheint in sie zu fahren und durch ihren Mund zu reden. Dennoch muss ich der Wahrheit gemäß bemerken, dass sie selbst dann nicht aufheiternd wirkt, und ich glaube auch, jetzt schon zu wissen, warum selbst dann kein Lächeln auf ihrem Gesicht erscheint. Der Geist, den sie verehrt, hängt nämlich an einem Kreuz, festgenagelt an Händen und Füßen, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. Zu ihm schaut sie immer wieder hinüber; ich meine, es ist ihr ja schon von weitem anzusehen, wie sehr sie unter diesem Anblick fortdauernd leidet.

Wie ich die arme Torbrück bedaure! Wäre sie nicht in Goldenberg aufgewachsen, sondern in meiner Heimat, dann würde sie tanzen und lachen. Bei uns sind die Menschen selbst dann noch zum Tanzen aufgelegt, wenn sie traurig und unglücklich sind. Bei uns hätte die Torbrück einen fröhlichen, einen lustigen, schelmischen und zu Tollheiten aufgelegten Gott kennengelernt, und sie hätte gewiss ebenso zu tanzen begonnen, denn wie sagte Zaragomb, unser vor allen anderen berühmter Medizinmann: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der Schwere.“

Die arme Frau Torbrück versteht nicht zu tanzen, sie wird vom Geist der Schwere verfolgt, der sie immer nur das Leid und die Qual sehen lässt. Nein, die Goldenberger haben es wahrhaftig nicht leicht - so viel habe ich schon begriffen.

Eine käsefarbene Runde

Ich habe es, so glaube ich, recht schnell begriffen, weil ich meine Mission, euren Auftrag, sehr ernst nehme und ihn in aller Gewissenhaftigkeit erfülle: Keine Gelegenheit lasse ich mir entgehen, um tiefer und tiefer in die Psyche der Eingeborenen vorzudringen. Deshalb musste ich mich natürlich auch in das Haus vorwagen, dessen glitzernde Spitze bis zu Tisch drei, Platz zwölf zwischen den Kronen zweier Kastanien wie ein erhobener Zeigefinger zum Odysseus herunterblinkt. Dieses Haus ist die meiste Zeit, ja eigentlich die ganze Woche mit Ausnahme des Sonntags und der Feiertage, nichts anderes als eine mächtige, von roten Backsteinwänden umschlossene Leere, die freilich von oben durch ein spitzes Dach vor Regen und Unwetter bewahrt wird. Merkwürdigerweise tritt diese Leere in Gestalt eines weit über das Land hinausschauenden Turms überaus selbstbewusst in Erscheinung, was zusätzlich noch dadurch bekräftigt wird, dass sie sich an besagten Sonn- und Feiertagen mit dröhnendem Glockengetöse bemerkbar macht. So weit mir inzwischen bekannt, wird der gewaltige Hohlraum gewöhnlich nur von Unsichtbaren bewohnt, die dort aber nur selten verweilen, ich meine, weil es ja viele derartige leerstehende Bauten in ihrem Lande gibt, wo die Unsichtbaren nach den Regeln der Logik doch keinesfalls zur gleichen Zeit präsent sein können! Deshalb wird das steinerne Gehäuse im Grunde nur einmal pro Woche von irdischen Wesen genutzt, nämlich den Goldenbergern, die dann der klagend-anklagenden Stimme der Frau Pastor lauschen.

Mir fällt es immer noch schwer zu begreifen, warum ein Haus, das allenfalls einmal in der Woche - und auch dann nur für wenige Stunden - bewohnt wird, eine so gewaltige Größe aufweisen muss, während die Wohnstätten der Stadtbewohner im Vergleich dazu geradezu winzig sind? Geht es vielleicht nur darum, der Frau Pastor einen Ort für ihre wundersame Verwandlung zu bieten? Diese selbst, ich meine, die Verwandlung, ist ganz unbestreitbar – ich war in dem Haus, ich habe es mit eigenen Sinnen erlebt. Sobald sie die Kanzel bestiegen hat und dann drei Meter über dem Boden und den Köpfen der Menge schwebt, wird der gewaltige Raum zu einem großen widerhallenden Körper, in den sie ihre metallisch gehärteten Worten wie die schweren, glänzenden Schläge eines Gongs hineindonnern lässt – mitten in die Seelen der Lauschenden.

Hier im Odysseus ist die Pastorin allerdings eine ganz gewöhnliche Frau, selbst der Anblick „ihrer“ Kirchturmspitze und wie diese so schön in der Nachmittagssonne glitzert, vermag sie nicht so zu verwandeln, dass sie Bremme gegenüber ihrer Forderung das nötige Gewicht zu geben vermöchte. Hier im Odysseus ist sie so unscheinbar wie jeder andere auch, ihre Stimme wird eben nicht durch einen Resonanzkörper aus roten Backsteinen verstärkt, hier blickt ihr der große Geist nicht über die Schulter, um ihr das richtige Wort ins Ohr zu flüstern. Bürgermeister Bremme neigt jedenfalls nur bedachtsam den großen Kopf. Mit dem durchtrainierten Gespür des erfahrenen Politikers für Ansinnen, die er ernst nehmen, und solche, die er getrost überhören darf, ist er sich sofort darüber im Klaren, dass ein beifälliges Nicken, das ihn zu nichts verpflichtet, in diesem Fall eine hinreichende Antwort sei.

Wir sind eine christliche Stadt!, sagt Bremme und unterstreicht diese Aussage mit einem kollegialen Lächeln, ich sage Ihnen, eine durch und durch christliche Stadt. Am Tag des Jüngsten Gerichts werde ich dort oben voller Stolz die Stadtbilanzen vorlegen. Sie können mir glauben, meine liebe Frau Torbrück, dass alle Posten vollkommen in Ordnung sind. Auch Sie sind bestimmt nicht zu kurz gekommen. Ich darf behaupten, meinem Herrgott mit gutem Gewissen gegenüber zu treten.

Liebes Komitee, ihr wisst, dass ich eine sensible Natur bin und es mich daher eine gewisse Anstrengung, ja Überwindung kostet, dem Herrn Bürgermeister ins Gesicht zu schauen, weil mich sein Kopf einfach zu sehr an eine hier beliebte Feldfrucht erinnert, ich sagte schon, dass einige dieser Früchte sich einer nahezu perfekten Kugelform erfreuen, andere sehen dagegen wie ausgefledderte Bälle voller Tumore und Buckel aus – und nach dieser Spielart ist leider der Schädel des Herrn Bürgermeisters geraten, der nur einmal einen liederlich geschälten Eindruck macht, weshalb die Augen eines empfindsamen Betrachters – ich meine in diesem Fall meine Augen – von vornherein unschlüssig sind, wohin sie sich wenden sollen: auf die käsebleichen Stellen seiner Nase und Wange oder den schwarzen Pelz von Bart und Haaren, der sozusagen die ungeschälten Partien repräsentiert. Ich kann euch versichern: Beides ist gleich unerfreulich.

Wenn ich Bremme sehe – und der Herr Bürgermeister erscheint ja recht oft im Odysseus -, bleibt mir überhaupt nichts anderes übrig, als immer an die verdammten Kartoffeln zu denken, wenn ich aber andererseits eine Kartoffel erblicke – und das ist leider täglich der Fall, weil ich in dieser Stadt ja sonst elend verhungern würde – dann sehe ich alsbald den Bürgermeister vor mir: Kein Wunder, dass mein Appetit dadurch empfindlich gestört wird, zwischendurch kommt es mir manchmal beinahe so vor, als würde ich einen Einheimischen verspeisen.

Ist das nun eine Überempfindlichkeit meinerseits, bin ich vielleicht zu feinnervig für diese Welt? Hättet ihr mich niemals nach Goldenberg schicken dürfen? Vielleicht. Mit den verschiedenen hier angebotenen Käsesorten ergeht es mir nämlich ganz ähnlich. Auch von dieser Seite wird mein Appetit attackiert, weil nämlich zwischen dem Käse und den Einwohnern dieser Stadt ebenfalls ein unbestreitbarer Zusammenhang besteht. Oberflächlich betrachtet, gehören die Goldenberger der weißen Rasse an - so jedenfalls pflegen sie selbst zu sagen -, doch kommt mir diese Selbstbeschreibung inzwischen ziemlich dürftig und ungenau vor; viel richtiger scheint es mir, sie als eine Kollektion wandelnder Käsesorten zu sehen. Ganz wie bei diesen Milchprodukten changiert die Haut der Einheimischen nämlich zwischen parmesanartigem Gelb bis hin zum bleichen Schlagsahneweiß; manchmal fühle ich mich bei ihrem Anblick auch an den mondkalten Schnee erinnert. Der Anblick tut mir, ehrlich gesagt, nicht sonderlich gut, obwohl ich mich mit der Zeit und notgedrungenerweise langsam an ihn gewöhne. Das Käsegelb mancher alter Gesichter verstört mich, das Schneeweiß dagegen wirkt sogar noch schlimmer auf meine Gefühle – ich meine, so anheimelnd wie ein Leichentuch.

Ob ihr es glaubt oder nicht, liebe Auftraggeber, liebes Komitee, liebe Stammesgenossen: Schon in den ersten Tagen nach meiner Ankunft habe ich mich abends nackt vor den Spiegel gestellt und mich ausgiebig von unten bis oben betrachtet. Voller Dankbarkeit gegen den Schöpfer habe ich ihn dafür gepriesen, dass er meiner Haut die edle Tönung einer aufgehellten Schokolade verlieh. Welch ein Genuss, welch eine Erholung, welch eine Wohltat für ein kunstsinniges, auf Harmonie bedachtes Auge!

Natürlich gebietet mir die Höflichkeit gegenüber den Eingeborenen Goldenbergs, dass ich aus meinem Herzen eine Mördergrube mache - mit anderen Worten, verrate ich ihnen nichts von meinen Empfindungen, aber in Wahrheit bedaure ich sie. Sie nennen sich, wie schon gesagt, die weiße Rasse, andere drücken sich mit einem Fremdwort aus und sprechen von weißer „Ethnie“, was, wie mir scheint, dasselbe heißt, aber Unrecht haben sie dennoch in jedem Fall, denn sie sollten sich eher als die Schnee-, Milch- oder Käserasse bezeichnen, und sollten und müssten dann eigentlich auch gestehen, dass hier eine Abweichung von der Norm vorliegt, eine Verirrung der Natur, möchte ich sagen, die - wie den Eingeweihten seit langem bekannt - nur in den unwirtlichen Teilen des Globus entstehen konnte, ich meine dort, wo Schnee, Eis und Kälte dem Menschen die Lust am Dasein derart vergällen, dass eine Frau wie Frieda Torbrück, die Pastorin, eben überhaupt nicht mehr lachen kann.

Nein, das sage ich ihnen nicht ins Gesicht – ich will mir ja keine Feinde machen -, aber es sollte ihnen doch eigentlich bekannt sein, dass der Mensch aus Afrika kommt, und dort hätte er auch bleiben sollen, weil ihn die Natur nur auf diesem glücklichen Kontinent so üppig mit Wärme versorgt, dass er das alte Affenfell von sich werfen und sich in seiner haarlosen Nacktheit trotzdem pudelwohl fühlen konnte, und zwar geschmückt mit einer prächtig glänzenden, samtigen, schokoladebraunen bis ebenholzschwarzen Haut. Was hat ihm, möchte ich euch fragen, nur den Spleen eingegeben, von welcher Gier wurde er damals getrieben, als er die heiteren Savannen verließ, um sich in Richtung Norden aufzumachen? Dort, in den frostigen Zonen, hatten sich doch längst andere Bewohner niedergelassen; das furchtbare Mammut zum Beispiel, die grässlichen Säbeltiger und ähnliche Ungeheuer. Um nicht von ihnen verspeist zu werden, griff der Einwanderer zur bewährten Taktik der Evolution. Er praktizierte Mimikry. Um in den schneebedeckten Weiten nicht aufzufallen, ich meine, um für seine Feinde möglichst unsichtbar zu sein, wurde seine schöne braune Haut zunächst blasser, dann wurde sie bleich bis käsefarben, bis sie am Ende so leichenweiß war wie der Schnee.

Nein, schöner ist der Afrikaner dabei gewiss nicht geworden! Wenn ihr euch durch eigenen Augenschein davon überzeugen wollt, dann blickt doch den Bremme an! Er wurde auch keineswegs glücklicher. Wenn ihr mir das nicht glaubt, dann schaut doch die Torbr ein leichter Wind aber verhindert, dass die Hitze drückend wurde, überhaupt war das in nsekten, ein leichter Wind aber verhin dück an! Ich für mein Teil wundere mich überhaupt nicht, dass bei manchen Völkern Weiß als Farbe des Todes gilt.

Aber zurück zu der hier versammelten Runde! Während Bremme und Torbrück ihren knappen Wortwechsel führen, haben sich schon andere Gäste um den eichenen Tisch versammelt. Meine Aufgabe besteht darin, jedem von ihnen eines der großen goldblinkenden Gläser vor die Nase zu stellen. Die Sonne bricht an diesem Märztag hin und wieder zwischen den Wolken durch, dann bringt ihr Strahl die Gläser zum Funkeln und küsst meine Haut mit einem Hauch von Wärme, aber zwischendurch fährt der Westwind durch die Laube und lässt mich erschauern. Es kommt mir vor, als würde der Wind mit seinen kalten Fingern mir bis ins Mark unter die Haut vordringen, obwohl ich doch über dem Hemd die rotkarierte Uniform des Odysseus trage. Ich sage euch, dieses Wetter ist wirklich ein Grund, um mein eigenes und das Los der Eingeborenen zu beklagen.

Die Geisterschachtel

Mai, 4 Monate vor Erbauung des Gump;

Seelentemperatur: jaulender Wildhund;

Geisterkontakt: keine Verbindung;

Witterung: zum ersten Mal einschmeichelnd warm.

Inzwischen weile ich schon zwei Monate in der Fremde, wo ich täglich den Mächtigen dieser Stadt aufwarte, die gerade wieder im Begriff sind, ihre vorbestellten Plätze zu besetzen, wobei ich - beinahe unsichtbar in meinem diskreten Schokoladenbraun und unbemerkt auch schon aufgrund meiner Stellung als dienendes Element - diesen Gesprächen mit feinem Ohr lausche; nein, es entgeht mir fast nichts, ich bin ja, um es ganz offen auszusprechen, eine Art von Spion mit dem Auftrag, ein Rätsel aufzuhellen, nämlich die wundersame, manchen völlig unbegreifliche Geistesverfassung der Menschen von Goldenberg.

Wie gesagt, befinde ich mich mittlerweile schon nahezu drei Monate unter den Einheimischen und kann euch versichern, dass mein Staunen seitdem nur gewachsen ist - nein, aus dem Staunen ist sogar eine sich ständig steigernde Verwirrung geworden, denn wie gefährlich ich hier in Wahrheit lebe, das weiß ich erst, seitdem ich das große, leere Haus mit der in der Sonne funkelnden Spitze aufsuchte, ich meine die Geisterschachtel. Meine Mission macht mir diese Kühnheit zur Pflicht, ich muss einfach wissen, was sie da an ihren Feier- und Sonntagen so treiben.

Was ich dort erlebte, ist wahrhaft seltsam genug! Die Leute verändern sich dabei so sehr, dass ihr sie kaum wiedererkennen würdet. Der Stadtobere und, wie ich glaube, mein Gönner, Bürgermeister Bremme zum Beispiel und der Chemiker Angus Saase haben, solange sie im Odysseus sitzen, der zweite eine unangenehm schnarrende Stimme, so wie wenn jemand mit einer Säge Pappe schneidet, der erste ein Fistelorgan, so wie wenn einem Anfänger der Bogen auf einer Geigensaite ausrutscht.

Wie gesagt, so kenne ich sie aus der Laube an den Gasttischen des Odysseus, aber in der Kirche waren sie völlig verwandelt, nicht wiederzuerkennen, einfach von Grund auf ausgewechselt! Beide hatten dort weit geöffnete Münder, es sah wirklich unheimlich aus, aber sie öffneten sie nicht, um zu schnarren bzw. um auf der Saite eines Streichinstruments ungeschickt auszurutschen, sondern um aus voller Brust ihre Verehrung für den Geist in den Raum zu schmettern – so etwas habe ich in meinem Leben noch nie gesehen und auch niemals gehört. Dabei schienen sie richtig glücklich zu sein wie kleine Kinder, denen man mit süßen Näschereien gerade eine besondere Freude macht; einigen unter den Singenden rannen sogar Tränen über die Wangen.

Ja, und das gewaltige Schiff der großen Backsteinschachtel erbebte von all dem Gesang, nur ich allein brachte es nicht fertig, inmitten der donnernden Hallelujas auch nur meinen Mund zu öffnen. Fremd und einsam kam ich mir in all dieser Fröhlichkeit vor, denn ich kannte ja weder das Lied noch den Text, und überhaupt bin ich derartige Sangesweisen ja gar nicht gewohnt. Dennoch habe ich ganz unten in der Tiefe meines Magens so etwas wie ein merkwürdiges Ziehen verspürt, sehnsuchtsvoll und beängstigend zugleich. Ich konnte mich einer gewissen Bewunderung gar nicht erwehren, denn ich dachte bei mir:

Aha, hier in diesem sonst ganz leerstehenden Haus treffen sie also einmal in der Woche zusammen, um zu vergessen, dass sie sich sonst jeden Tag aneinander reiben, streiten und ärgern. Hier versöhnen sie sich, indem sie die Münder ganz weit aufsperren und gemeinsam ihre Lieder zum Himmel schmettern. Hier, dachte ich, werden sie für eine Stunde zu edlen Menschen.

So dachte ich, bevor ich meinen Irrtum erkannte, bevor ich von solchen Illusionen geheilt worden bin. Nein, die Goldenberger führen, so kann ich euch jetzt aus eigener Erfahrung berichten, ganz gewiss keine harmlose Existenz, nicht einmal in der großen Gottesschachtel. Keineswegs sind sie so edelmütig, so lieb, so friedvoll, so gut, wie ich wähnte, nachdem ich meine Furcht vor der erstmaligen Begrüßung durch Bremme überwunden hatte und mich in ihrer Mitte beinahe sicher dünkte. Seit ich sie im Inneren ihres Geisterhauses beobachtet habe, dort wo die Frau Pastor herrscht und der angerufene Geist vielleicht ja das eine oder andere Mal auch zu Besuch erscheint – persönlich habe ich ihn freilich nicht sehen können -, trage ich ein furchtbares Geheimnis mit mir herum: Die Goldenberger, und zwar ausnahmslos alle, neigen einem furchtbaren Laster zu.

Diese Erkenntnis hat mir keine Ruhe gelassen, unbedingt wollte ich die Frau Pastor nach der Wahrheit fragen, an die ich mich aber vorsichtig herantasten musste, denn wir wissen ja, dass niemand sie geradeheraus bezeugt, wenn man sie mit Schraubzwingen aus ihm herauspressen will. Ich habe daher – natürlich einige Zeit nach diesem ersten Besuch – nach der Art der Wesen gefragt, die sie dort besingen und verehren, und dabei klärte mich die Pastorin auf, dass es sich insgesamt um nicht weniger als drei Geister handelt: Vater, Sohn und heiliger Geist. Der Sohn sei stets anwesend, denn jeder könne ihn an dem kreuzförmigen Gestell ganz vorn im Gotteshaus sehen, der Vater, so sagte sie, sei aber für die ganze Welt zuständig, der wohne deswegen in den Weiten des Universums. Näheres konnte mir die Torbrück trotz meines hartnäckigen Fragens nicht sagen. Aus Höflichkeit unterließ ich es, sie darauf hinzuweisen, dass der Vater für meine Heimat ganz gewiss nicht zuständig sei, denn da gebe es andere Geister, Loso zum Beispiel, meinen Schutzengel, von dem sie aber leider nichts weiß, denn die Goldenberger denken ja nicht über den Horizont der eigenen Stadt hinaus.

Das dritte Wesen, das sie hier verehren, sei der heilige Geist, fügte sie noch hinzu, der liebe es, sich in Gestalt einer weißen Taube zu manifestieren. Ihr könnt euch denken, liebe Ältesten, dass ich bei jeder Gelegenheit, wenn ich danach einen Blick auf die Geistschachtel warf, nach der weißen Taube Ausschau gehalten habe, allerdings ohne Erfolg, denn eine solche habe ich weder in der großen Schachtel selbst noch in ganz Goldenberg jemals entdecken können. Euch gegenüber kann ich bezeugen, dass die Stadt vom Heiligen Geist völlig verlassen ist.

So bleibt als einziger Bewohner, dessen Gegenwart ich aufgrund eigener Erfahrung beeiden kann, der leidende Mann, der vorn in der Kirche hängt. Allerdings ist er aus Holz geschnitzt und hat sich trotz der Beschwörungen, ich meine, trotz der kraftvollen Predigt der Frau Pastor und der darauf folgenden donnernden Gesänge der Gläubigen nicht ein einziges Mal geregt – ich kann das bezeugen, denn ich habe die Gestalt die ganze Zeit über unentwegt im Auge gehabt. Wenn ihr also meine bescheidene Meinung hören wollt, so muss es sich um einen recht schwachen Geist handeln, ohnmächtig würde ich ihn nennen, jedenfalls nicht zu vergleichen mit denen aus unserer Heimat, wo die Geister der Steine, Flüsse und Bäume sich vor unseren Augen zu regen beginnen, sobald ein tüchtiger Medizinmann mit seinen Beschwörungen beginnt. Mein lieber Loso zum Beispiel – leider ist er hier in der Fremde immer noch stumm – hat mir früher viele mächtige Wunder bezeigt, er ist ein kräftig wirkender Geist, auf den ich mich in der Not stets verlassen konnte.

Also, wie gesagt, der Mann da vorn am Kreuz regt sich nicht - trotz allen Zaubers, den die Frau Pastor Torbrück von der Kanzel mit mächtiger Stimme wirkt. Vielleicht ist dies der Grund – ich weiß es nicht, aber es kommt mir wahrscheinlich vor, weil der Mensch ja generell zu wüsten Handlungen neigt, wenn man ihn in seinen Erwartungen enttäuscht. Ich meine, vielleicht ist dies der Grund, warum sich die Gläubigen vor lauter Enttäuschung darüber, dass all ihre Beschwörungen nutzlos sind, am Ende an dem Geist rächen und dann etwas Furchtbares tun. Ich kann es vor aller Welt bezeugen, denn ich habe es nicht nur aus dem Mund der Frau Pastor selbst gehört, die sich dabei nicht einmal zu schämen schien, sondern ich habe es in dem großen Haus mit eigenen Augen gesehen: Sie verspeisen den Leib des Herrn. Sie sind Kannibalen!

Diese Erkenntnis hat mich erschüttert, ich fühle mich an ein Märchen erinnert, ein schreckliches Märchen aus meiner Jugendzeit, das ich damals von den Lippen meiner Mutter vernahm. Eines Nachts, als er sich schlafend stellte, hat der Liebhaber eines bezaubernden Mädchens dieses dabei ertappt, wie es sich in aller Stille von dem gemeinsamen Lager erhebt. Noch denkt er sich nichts dabei, glaubt nur, dass sie ein böser Traum aus dem Schlafe reiße. Doch dann sieht er, wie sie nach einem Besen greift, die glatte Haut abstreift und stattdessen das runzlige und warzenübersäte Äußere einer Hexe annimmt, die mit ausgebreiteten Fledermausflügeln zum Fenster in die Nacht hinaus fliegt. Der Liebhaber ist zu Tode erschrocken, nie wieder wird er das gemeinsame Haus aufsuchen.