Im Schatten der Schuld - Till Angersbrecht - E-Book

Im Schatten der Schuld E-Book

Till Angersbrecht

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Beschreibung

Im Glück sind sie alle gleich, im Unglück ist jede Familie verschieden. Das gilt auch für die Hochreiths - ihr Unglück ist einzigartig, weil scheinbar aus heiterem Himmel hereingebrochen. Julia, einzige Tochter der angesehenen Bankiersfamilie v. Hochreith, hat in Indien Elend und Unrecht kennengelernt und darunter schon als überempfindsames Kind tief gelitten. Schließlich identifiziert sie sich mit einer Schuld, über die andere achselzuckend hinwegsehen können. So gerät sie in das Netz extremistischer Menschenfänger, die ihre Schwäche für eigene Zwecke auszunutzen. Als sie mit einem Sprenggürtel angetan, von der Polizei überwältigt wird, hetzt ein Boulevardblatt zur Menschenjagd auf. Die Schuld scheint eindeutig festzustehen: Julia v. Hochreith wird der Öffentlichkeit als skrupellose Mörderin präsentiert. Was geschieht unter solchen Umständen mit einer Familie, die bis dahin besondere Hochachtung in der Bevölkerung genoss? Wie steht es um die Gerechtigkeit, die ja kein bloß abstrakter Begriff ist, sondern in den Händen bestimmter Menschen liegt, z. B. in denen der Richterin Wollbruck, die ihrerseits einem Gewohnheitserpresser ins Garn läuft? 'Im Schatten der Schuld' zeigt auf exemplarische Art, wie das persönliche Schicksal jedes einzelnen von uns aufs Engste mit den Vorurteilen, den kollektiven Emotionen und den Wahnvorstellungen der eigenen Zeit verknüpft ist.

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Till Angersbrecht

Im Schatten der Schuld

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Amselstraße 39

Der tote Zaubergarten

Richterin Wollbruck

Sippenhaftung

Ermittlung im Fahlenkreis

Unzurechnungsfähig?

Ich bin schuldig!

Das aufgeschlagene Tagebuch

Der neue Mensch kommt aus Afrika

Der Familienrat

Mit Jutta in der Goldenen Ente

Der Mann auf dem zerrissenen Foto

Im Gefängnis

Der Einbruch

Der Mensch schafft sich selber ab!

Zentauren

Reflexionen eines Vaters

Kriminalkommissar Moser

Fotos, die man niemandem zeigen kann

Ein Fall von Hörigkeit

Zur Gerechtigkeit

Impressum neobooks

Amselstraße 39

Otto Baschke war ein gewöhnlicher Mensch, ich meine schon im Hinblick auf seine Physiognomie, die man eher plump nennen würde: ein ausdrucksloses Gesicht mit blondem Backenbart und spärlichem Kopfhaar, kurz ein Gesicht, zu dem einem nur der in solchen Fällen übliche Passeintrag in den Sinn gerät: keine besonderen Merkmale. In beinahe jeder Hinsicht verkörperte Baschke das Mittelmaß, nur in einer einzigen ragte er zweifelsohne vor anderen Menschen hervor. Er verkörperte das Mittelmaß sozusagen in extremis, denn seine Philosophie ließ sich zu einem einzigen Satze bündeln: Richtig ist, was mir, Baschke, gefällt und einen Nutzen verschafft. Er war, mit anderen Worten, der geborene Opportunist.

Gerechterweise - und hoffentlich mit Zustimmung des Lesers - muss hier allerdings hinzugefügt werden, dass ein Baschke sich in jedem von uns versteckt. Gewöhnlich werden wir als Baschke geboren und bleiben Baschkes, bis etwa zur Schwelle der Pubertät. Doch dann pflegt sich in manchen Menschen eine merkwürdige Änderung zu vollziehen, die unsere Anthropologen, Psychologen und die Wissenschaft überhaupt bis heute vor ein schwer zu lösendes Rätsel stellt: Viele von uns beginnen nämlich nach Überwindung dieser Schwelle gegen die eigenen Interessen zu handeln. Die Pubertät ist aus diesem Grund eine gefürchtete Lebensphase, die mitmenschliche Geduld und das Wohlbefinden werden auf eine harte Probe gestellt.

Nicht so bei Baschke. Obwohl mittlerweile schon um ein halbes Jahrzehnt jenseits der Dreißiger, hatte er sich sozusagen dauerhaft – oder wohl eher für alle Zeit - auf der Plattform der Vorpubertät eingerichtet. Die oben genannte Maxime, die bereits der Säugling beharrlich verfolgt: Wahr und richtig ist, was mir nützt, war ihm sozusagen zur zweiten Natur geworden oder, wie man so sagt, in Fleisch und Blut übergegangen, nur dass er sie inzwischen noch etwas erweitert hatte, indem er sie auf ein seinem vorgerückten Alter entsprechendes intellektuelles Niveau emporhob.

Als richtig und wahr galt für Baschke, was die anderen, die Welt, von ihm hören wollte. Denn was sie gerne hört, macht sie zufrieden, und für Zufriedenheit ist sie bereit, in bar zu zahlen. Für einen Menschen mit einer derartigen Philosophie war der Lebensweg vorgezeichnet. Er konnte eigentlich nur, nein, er musste sogar bei der Post ankommen – wie jeder weiß, das größte Massenblatt unseres Landes.

So war es denn auch geschehen, und für den Erzähler dieser leider durch und durch wahren Geschichte besteht daher ebenso wenig Grund, sich über die Rolle Baschkes zu wundern, wie für den Leser, der diese Erzählung in ihren Grundzügen ja sicher schon kennt – ich nehme an, dass er zum gebildeten Teil der Bevölkerung gehört, also hin und wieder zur Zeitung greift oder wenigstens den Fernseher einschaltet oder das Radio.

Niemand sollte sich daher darüber wundern, dass dieser Mann im Auftrag der Post-Zeitung soeben in einem Auto sitzt, einem schäbigen Wagen übrigens - VW Golf älterer Bauart - und einer Frau auflauert, deren Namen uns allen gleichfalls bekannt ist. Es handelt sich um Marianne Steuben. Wie gesagt, für den halbwegs gebildeten Zeitgenossen gehören diese Namen inzwischen zum gängigen Wissensvorrat. Wenn ich dennoch mit einer Geschichte beginne, die uns gleich zu Anfang die Bekanntschaft mit einem so gewöhnlichen Menschen wie Otto Baschke aufdrängt, dann nur deshalb, weil ich mit diesem Vorgehen einen besonderen Zweck verfolge. Wie in so vielen anderen Fällen haben uns die Massenmedien nämlich auch diesmal in die Irre geführt, ja in diesem Fall sogar in ganz besonderem Maße. Es geht ja um ein Verbrechen, das in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen erregte und sie bis heute beschäftigt. Linke und Rechte, Gut- und Schlechtmenschen, Esoteriker und nüchterne Wissenschaftler hat dieses Verbrechen aufeinander lospreschen und losdreschen lassen. Kein Wunder, dass in einem solchen Krieg der toll gewordenen Meinungen das erste Opfer wie immer die Wahrheit ist.

Mit meiner Darstellung bezwecke ich daher eine Ehrenrettung - nein, nicht etwa eine Ehrenrettung des einst so angesehenen Hauses v. Hochreith. Von einem Adelstitel lasse ich meine Augen nicht blenden und hoffe, dass auch der Leser gegen solche Anwandlungen gefeit ist. Nein, es geht darum, sich gegen die Hetze zu stellen, die eine Massenzeitung, eben die Post, in der Bevölkerung lostrat. Aber genau deshalb, weil es mir um die Wahrheit geht, bleibt mir nichts anderes übrig, als mit Otto Baschke zu beginnen, diesem leider eher mittelmäßigen Menschen.

Seinen reichlich schäbigen Golf hatte er schräg gegenüber von Nr. 39, Amselstraße, geparkt, die sich ihrerseits in einem Viertel mit gutbürgerlichen Häusern aus dem 19. Jahrhundert befindet: gepflegte Fassaden und blühende Gärten mit der Patina eines verdienten Ruhestandes, den die verträumten Gärten und ihre meist unsichtbaren Bewohner sozusagen gemeinsam feiern. Hier wohnt die sogenannte bessere Gesellschaft, die High Society oder Haute Volée, alles Wörter, die in Baschkes Magen ein unbehagliches Gefühl wie ein Zwacken und Ziehen bewirkten. Nur zu deutlich war ihm nämlich bewusst, dass er selbst nicht dazu gehörte, wohnte er doch in einer schlichten Mietskaserne inmitten eines Kleinleuteviertels. Wenn er an die eigenen erbärmlichen Lebensumstände dachte, biss er unwillkürlich die Zähne zusammen, wobei sein nächster Gedanke eine Art von Auflehnung war, deren Adressaten die Unsichtbaren hinter den Mauern der Villen waren.

Ich gehöre nicht zu euch, noch nicht, aber wartet nur ab, ich werde kommen!

Gerechterweise ist hier anzumerken, dass ihm dieser Neidgedanke nur einen flüchtigen Augenblick lang durch den Kopf schoss. Er hatte in diesem Moment ja auch an anderes zu denken, genauer gesagt, an Marianne Steuben, die binnen kurzem durch das Gartentor der Villa treten musste, die sich auf der anderen Straßenseite hinter einer Eibenhecke und der Nummer 39 verbarg. Von dort w+++ Stadt zu ießend zu Fuß ins ß ins hecke n gemeinsam begtegt beeindruckt, vor allem die Sichtweise der Verteidigung. Da war dürde sie sich anschließend zu Fuß ins Zentrum der Stadt begeben. Die Steuben war, so viel hatte Baschke in Erfahrung gebracht, Abteilungsleiterin in einer Zweigstelle der Caritas. Ganz gewiss war das kein Beruf, in dem man Reichtümer anhäufen konnte. Vermutlich hatten schon ihre Eltern in diesem Haus gewohnt, die Tochter wurde also in den Wohlstand hineingeboren. So war das ja meist. Nicht eigenes Verdienst, sondern der Glücksfall einer Erbschaft, eine bloße Laune des Schicksals, hob diese Leute über ihn, Otto Baschke, hinaus.

Die launische Göttin Fortuna! Immerhin hatte sie auch ihm gestern gelächelt. Es fiel ihm schwer, seine schweifenden bis ausschweifenden Fantasien von den Schäferstunden der letzten Nacht losreißen. Endlich einmal eine tolle Frau, wie er sie sich immer wünschte. Mit der konnte man sich sogar in der Redaktion vor den Kollegen, ja selbst vor Deggenhoff sehen lassen. Elegant gekleidet, witzig, schlagfertig und im Bett eine Künstlerin.

Welche angenehmen Empfindungen die Erinnerungen an eine so erfreulich verbrachte Nacht im Kopf von Baschke auslösten, während er die Nummer 39, Amselstraße, im Auge behielt, wird sich jeder Leser mit einschlägigen Erfahrungen ähnlicher Art mühelos vorstellen können, deswegen sehe ich davon ab, das neuronale Blitze und Knistern in seinem Gehirn hier im Einzelnen nachzuzeichnen. Wichtig für unser Ziel der unparteiischen Wahrheitsfindung sind nur die Folgerungen, die Baschke aus seinen frisch zurückliegenden Erlebnissen zog.

Solche Alphafrauen, sagte er sich, sind nur zu halten, wenn man in der Lage ist, ihnen etwas zu bieten!

Zu einem anderen Schluss konnte ein nüchterner Mensch wie Baschke gar nicht gelangen. Ihm war deshalb deutlich bewusst, welch weitreichende Aussichten ihm der heutige Tag verschaffte, oder umgekehrt, in welches Risiko er sich begab.

Hier liegt für mich eine Chance, wie ich sie vielleicht nie wieder bekommen werde. Der Chef selbst hat mich auf den Fall angesetzt. Deggenhoff weiß genau, was er tut, der ist ein gnadenlos kalkulierender Rechner. Wie ein Komet steigst du empor, wenn du einen großen Fisch an Land ziehst. Auf der Stelle verdoppelt er dir dein Gehalt.

Baschke wird es dann heißen, seht euch den Baschke an, ein Vorbild für alle, ein herausragender Mann. Nein, das ist bei ihm keineswegs ungewöhnlich.

Wehe aber, wenn du versagst, dann landest du ganz unten in der Korrekturabteilung eine Etage tiefer - oder er setzt dich überhaupt vor die Tür. Die Post-Zeitung ist ein Haifischbecken, da fressen die großen die kleinen Fische. Das sind alles Kannibalen, die Starken mästen sich am Fleisch der Schwachen. Ist ja kein Wunder. Wir schreiben für die Massen, für das Volk sozusagen. Da muss jedes Wort genau sitzen, das wird von Millionen gehört und gelesen.

Deggenhoff hat ja recht, er hat immer recht.

Stellt euch eine einfache Hausfrau vor, schärft er seinen Leuten ein, oder den Postboten oder den Automonteur von nebenan. Die lesen euren Kram und wollen mit der Nachbarin darüber reden. Das tun sie aber nur, wenn sich ihnen jedes Wort in den Kopf brennt. Ich sage ‚brennen’, jedes Wort muss sich neuronal festfressen, in den Hirnwindungen stecken bleiben, sonst vergessen die Leute die voraufgehende Zeile, noch bevor sie bei der nächsten anlangen. Dann ist das Blatt gerade gut genug für das Klo. Versteht ihr, was ich damit sagen will? Brandsätze sollt ihr schleudern, Zündschnüre legen, womit ihr die öffentliche Meinung auflodern und explodieren lasst.

Vor Deggenhoff hatte Baschke einen ungeheuren Respekt. Er konnte ihm nicht gegenübertreten, ohne den Blick zu senken, so klein und unbedeutend fühlte er sich. Andererseits lebte er auf, sobald er ein lobendes Wort von ihm hörte. Er schrieb keine einzige Zeile, ohne sich bei jeder einzelnen die Frage zu stellen, ob sie vor Deggenhoffs Augen Gnade findet.

Baschke lehnte sich in seinem Wagen zurück. Warum eigentlich Amselstraße? Diese Behördentrottel! Die Parallelstraße haben sie Finkengasse genannt, und die nächste Abzweigung ist der Nachtigallenweg. Ob sie wohl auch einen Spatzenweg haben? Vermutlich deklinieren sie auf diese Weise die ganze Vogelwelt durch.

Die Familie v. Hochreith wohnt nicht weit von der Amselstraße entfernt, vermutlich eine noch bessere Gegend. Die Terrorfrau ist Tochter eines Bankiers, noch dazu eines ganz großen. Die Bank ‚Hochreith und Brüder’ kennt ja jeder – ein klingender Name. Deggenhoff hatte vor Ergriffenheit beinahe geflüstert, als er den Namen nannte: Julia v. Hochreith. Ihr wisst hoffentlich, was das heißt! Ein so großer Fisch geht uns nur alle zehn Jahre ins Netz.

Vor der ganzen Mannschaft hatte sich Deggenhoff die Hände gerieben.

Seht ihr, das macht den Fall erst sensationell, das gibt ihm die richtige Dimension. Wäre die Verbrecherin eine ganz gewöhnliche Frau zum Beispiel mit Migrantengeschichte, dann hätten wir es mit einem banalen Fall zu tun. Damit rechnet unser Land schon seit Jahren, aber dass eine von uns, eine aus der High Society, eine v. Hochreith...

Deggenhoff hörte gar nicht auf, sich die Hände zu reiben, und er sprach den Satz auch nicht zu Ende. Wir wussten ja ohnehin, was er meinte. Da zeigt sich erst, wie weit das Gift in den Volkskörper – Deggenhoff hatte tatsächlich das Wort ‚Volkskörper’ gebraucht – schon einsickern konnte.

Leute, schlug er mit der Faust auf den Tisch, damit auch jeder begriff, worum es für die Post-Zeitung geht. Diesen Fall müssen wir zu einem Riesenballon aufblasen – und wehe, wenn einer von euch ihn vorzeitig platzen lässt!

So war der Chef nun einmal. Schwenkt er eine Karotte vor deinem Gesicht, dann mach dich darauf gefasst, dass er in der anderen Hand mit der Peitsche knallt.

Baschke strich sich über den Bauch, eine Geste, die zu seinen Gewohnheiten gehörte, obwohl dieser Bauch bislang eine eher bescheidene Wölbung aufwies. Die Bewegung vollführte er immer dann, wenn er mit sich im Reinen war, und dazu hatte er wirklich Grund. Vor allen anderen Kollegen hatte Deggenhoff nämlich gerade ihn fixiert und ihm den Auftrag erteilt.

Baschke, hören Sie ganz genau zu. Die Information, die zur Festnahme Julia v. Hochreiths führte, stammt von ihrer Freundin Marianne Steuben. Die werden Sie kontaktieren und sie wie eine Zitrone ausquetschen. Sie müssen alles aus ihr herausbekommen, was sie jemals über die Hochreith gewusst oder gedacht hat. Hören Sie, absolut alles. Wie Sie das machen, das überlasse ich Ihnen, aber dass Sie es machen, ist ein Befehl, bei dem es für Sie und die Post um Tod oder Leben geht. Ich will, dass in den nächsten Tagen unser Land nur noch ein einziges Thema kennt: Die Terroristin Julia v. Hochreith.

Baschkes Golf stammte aus zweiter Hand, und man sah es ihm an: Die Sitze schon ziemlich verschlissen, der Lack an mehreren Stellen verkratzt. Ein Mann wie Baschke musste darunter leiden, war er sich doch deutlich bewusst, etwas viel Besseres zu verdienen. Das hatte er immer gewusst - und offenbar wusste es auch der Chef, sonst hätte er ihm diesen Auftrag gewiss nicht erteilt. Und natürlich wusste es auch die Frau, die ihn gestern zu sich in ihre Wohnung geladen hatte und ihm ihren Vornamen ‚Jutta’ erst in dem Augenblick verriet, als er sich auf dem Absatz zur Treppe von ihr schon verabschiedet hatte. Die Frau hatte ihn, Baschke, gesehen und nicht diesen dürftigen Untersatz. Damit angelt man sich bestenfalls eine Frau für eine einzige Nacht, aber nicht länger.

Bei der Zeitung ist das genauso. Die beschäftigen dich ein, zwei Wochen auf Probe. Dann musst du beweisen, dass du ein Zauberer bist, wie man ihn bei der Post haben will. Wenn du es verstehst, aus jeder Mücke einen weißen Elefanten zu machen, dann bist du einer von ihnen. Wenn du im Gegenteil den Elefanten siehst, aber aus ihm eine Mücke machst – dann bist du für sie auch nichts anderes als so ein Insekt. Du gerätst in das Gitternetz, dann gibt es momentan einen blauen Blitz, und das war’s.

Wisst ihr, was der Unterschied zwischen einem Könner und einem Versager ist?, hatte ihnen Deggenhoff auf ihrer letzten Redaktionssitzung zugeworfen. Ein Versager sieht einen Mann am Straßenrand stehen und eine Zigarette rauchen. Nicht mehr und nicht weniger, einen Mann mit einer Zigarette, das ist alles. Anders gesagt, er hat überhaupt nichts gesehen. Ein Könner sieht ebenfalls einen Mann mit einer Zigarette am Straßenrand, aber er blickt ihm ins Gehirn und liest jeden seiner Gedanken. In diesem Kopf, so ahnt er, wird gerade ein Raubüberfall ausgebrütet oder ein Flugzeugabsturz geplant oder ein politisches Attentat ausgedacht. Ein Könner, Baschke, der sieht niemals nur das, was ihm vor Augen steht, sondern sieht zur gleichen Zeit alles, was in seinem Kopf alles möglich wäre. Der Könner ist der echte Realist. In unserer Zeitung brauchen wir nur den Könner.

Baschke fühlte sich bei diesen Worten elektrisiert: Sie drückten nicht weniger aus als seine eigene Weltanschauung. Als er gestern mit dieser Frau zusammenlag, da dachte er noch an nichts anderes als an ein kurzfristiges Abenteuer ohne weitere Folgen, eines von vielen, die er sich gönnte, weil man doch nicht einzig und allein für seinen Beruf leben kann. Aber dann regte sich der Könner in ihm, das Mögliche stand ihm auf einmal vor Augen. Würde diese Frau nicht die ideale Ergänzung zu seiner immer noch unbeweibten Person abgeben? Er war ja nicht mehr der Jüngste, mit über dreißig wird man von vielen schon zum alten Eisen gezählt.

Baschke blickte auf seine Uhr. Sie zeigte bereits zwanzig vor acht. Normalerweise erscheine Johanna Steuben gegen acht Uhr an ihrem Arbeitsplatz, so hatte ein Detektiv des Hauses im Auftrag von Deggenhoff vorsorglich herausgefunden. Zu Fuß, denn sie legte den Weg jeden Tag auf diese Weise zurück, brauchte sie eine gute halbe Stunde, manchmal etwas mehr, wenn die Ampeltaktung an den Zebrastreifen gerade besonders ungünstig war. Um absolut sicher zu gehen, dass er die Frau nicht verfehlt, hatte Baschke seinen Golf gegenüber von Nummer 39 schon um viertel nach sieben geparkt. Auf keinen Fall durfte er sie verfehlen, eine halbe Stunde Weg musste reichen, um sich ihr als Helfer und Freund zu präsentieren und die wichtigsten Fakten aus ihr herauszuholen.

Das wichtigste Faktum war immer noch offen. Mit ihrem Anruf bei der Polizei hatte Marianne Steuben den Mordanschlag im letzten Moment vereitelt. Aber in welcher Absicht war das geschehen? Hatte die Steuben ihre Freundin vor Schaden bewahren wollen oder war sie eine Verräterin?

Das Motiv der Fürsorge verkauft sich schlecht, damit bekommt man keinen guten Artikel hin, so viel stand für Baschke von vornherein fest. Die Leute sprechen auf starke Gefühle an, sie wollen etwas Deftiges, um sich zu empören. Fürsorge gehört zu den schwachen Gefühlen, mit denen man nur bei Softies und Weicheiern reüssiert. Verrat, das klingt so viel härter und besser. Darüber reden die Leute, das beschäftigt sie noch nach Tagen. Es ist wie bei dem qualmenden Mann am Straßenrand. Man muss nach dem Möglichen forschen, die Wirklichkeit ist eine erbärmliche Sache, für die Post-Zeitung ist die Wirklichkeit nie großartig genug, das hatte ihnen Deggendorf immer schon eingebläut, und er, Baschke, hatte das auf Anhieb begriffen. Er wusste, dass er zum Mittelpunkt seiner Geschichte unbedingt einen Verrat machen musste.

Allerdings musste er damit rechnen, dass die Steuben sich hartnäckig zeigt - intellektuelles Milieu, wir kennen das, die üblichen Vorbehalte gegenüber unserer Zeitung. Der durchschnittliche Geistesmensch glaubt sich ja himmelhoch über die Massen erhaben, die alten Klassenbarrieren wurden in den Köpfen bis heute nie eingerissen. Wenn ich ihr sage, in wessen Auftrag ich hier erscheine, dann muss ich damit rechnen, dass sie das gutbürgerliche Schnäuzchen zu einem Grinsen verzieht und mir einfach den Laufpass gibt. Wir kennen das, darauf sind wir vorbereitet. In solchen Fällen bekämpft man den Teufel mit Beelzebub. Ich werde mich als Journalist eines sogenannten gutbürgerlichen Blattes ausgeben. Eine Notlüge, die mir nicht schaden kann, da niemand unser Gespräch aufzeichnet. Ratsam und eine List, die Deggenhoff sicher gefallen würde, wäre es sogar, ihr mit den schmutzigen Praktiken gewisser Massenmedien zu kommen - da sei es doch weitaus besser, wenn ein seriöser Journalist die Wahrheit in einem seriösen Blatt aufbereitet!

Baschke schloss ganz kurz die Augen, in seinem Hirn poppte eine Weisheit auf, die ihm auch für diesen Fall gültig schien. Hast du es mit einer Frau zu tun, dann appelliere an ihre Gefühle, an ihr mitleidendes Herz! Ein schöner Spruch, dachte er, könnte von Nietzsche sein! Baschke liebte es mit den Namen der Großen zu spielen, wenn auch nur in Gedanken, denn er hatte früh erkannt, dass er sie keinesfalls lesen musste. Wenn man Artikel für den Mann auf der Straße schreibt, dann braucht man einfache Worte und einfache Gefühle. Von den Großen konnte man in dieser Hinsicht nichts lernen.

Das Wichtigste ist das Mitgefühl, erteilte er sich selbst eine strategische Weisung. Wir haben es mit einer Frau zu tun, die bei der Caritas angestellt ist. Die ist von Kopf bis Fuß auf Mitleid eingestellt. Auf die Tränendrüsen werde ich drücken, das hat sich bisher noch immer bestens bewährt. Selbst wenn es anders sein sollte und sie ihre Freundin mit ihrem Anruf bei der Polizei in Wahrheit verraten wollte, zugeben würde sie das bestimmt nicht, sondern immer behaupten, alles nur aus Sorge und Mitleid getan zu haben. Ich muss mich als ihren wohlmeinenden Freund und Helfer anbieten, dem es allein darum geht, die sensationslüstern bellende Meute von der Hochreith fernzuhalten.

Diesmal strich sich Baschke nicht über den Bauch - seine Selbstliebe steigerte sich zu einem Schlag mit der flachen Hand auf das Knie.

Das ist es! Ich muss ihr als Retter erscheinen, der alles daran setzt, die öffentliche Meinung günstig zu stimmen. Gelingt mir das, dann dürfte es nicht allzu schwierig sein, alles aus der Steuben herauszuholen.

So intensiv war Baschke mit sich selbst und den Gedanken zu seinem nächsten Artikel in der Post beschäftigt, dass er nichts davon bemerkte, wie heil und geradezu heiter die Welt in diesem Viertel am südlichen Rande der Stadt noch war. In den sorgsam gepflegten Gärten blühten die Rosen, bei den Nachbarn zur Nummer 39 lockte weißblühender Jasmin, Amseln sangen auf den Buchen jenseits des Zauns. Was sich im Kopf des Reporters Otto Baschke abspielte, besaß nicht den geringsten Bezug zu der umgebenden Stille. Überhaupt strahlte der Himmel im schönsten Blau und wusste offensichtlich nichts davon, dass es einen Fall Hochreith gab, der erst gestern wie eine Bombe geplatzt war und ein Feuer legte, das bald in allen Köpfen lodern sollte.

Der tote Zaubergarten

Für den Chronisten einer Geschichte ist es ein nicht allzu schwieriges Unterfangen, den Menschen in seinem Normalzustand darzustellen. Er darf sich sogar erlauben, seine belustigten Bemerkungen zur Selbstüberschätzung eines Mannes wie Baschke abzugeben. Dessen neue Freundin Jutta würde ihm, hätte er sie jetzt schon näher kennengelernt, sicher auch zu manchem ironischen Seitenhieb ermuntern. In der Welt der Baschkes stimmt eben vieles nicht, auch wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, mit Dreigroschenartikeln in einem Massenblatt Millionen von Menschen zu Hass oder Empörung zu entflammen.

Aber jetzt befinden wir uns an einem ganz anderen Ort, nämlich im ersten Stock einer hinter großen Buchen verborgenen Villa, die schon äußerlich vom guten Geschmack und natürlich auch vom Wohlstand, um nicht zu sagen, vom Reichtum ihrer Bewohner kündet. Wenn Wohlstand und Reichtum etwas über den Seelenzustand aussagen könnten, dann dürften wir glauben, uns hier in einem Refugium des Glücks zu befinden. Wären wir vor einer Woche eingetroffen, dann hätte es dieses Glück wohl auch wirklich gegeben, am heutigen Tag aber ist davon nichts zu bemerken. Daher rührt auch die Vorsicht, mit der wir dieses Haus betreten und uns dem Manne nähern, der sich in dessen erstem Stock aufhält. Belagert wird er jetzt ohnehin von allen Seiten. Ein Mindestmaß an Zartgefühl gebietet es, sich nicht noch unter die auf ihn einstürmende Meute zu drängen.

Über einen Menschen im Unglück zu reden, fällt schwer. Es lähmt einem beinahe die Zunge. Denn für den Betroffenen selbst bedeutet es weder Hilfe noch Trost, dass wir uns ihm als objektive, um Verständnis bemühte Betrachter nähern.

Dennoch sind wir gezwungen, Edwin v. Hochreith in seiner Villa aufzusuchen und ihm indiskret über die Schulter zu blicken, denn er gehört nun einmal zu den Hauptpersonen des Dramas, das wochenlang die Gerichte beschäftigte und die öffentliche Meinung wohl noch lange in Atem hält. Allerdings werde ich mich bemühen, dem Vater Julia v. Hochreiths in meiner Darstellung jenes Maß an Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, welches von Leuten wie Baschke und der ganzen übrigen laut bellenden Presse kaum zu erwarten ist. Um es gleich hier zu sagen: Herr Dr. Edwin v. Hochreith ist mir von Anfang an sympathisch gewesen, gleich zu Beginn stand ich auf seiner Seite, versuchte sein Leben und Denken zu verstehen. Wenn irgendjemand schuldlos an dem versuchten Verbrechen ist, dann – so jedenfalls meine Meinung – gilt das von diesem Mann, dem Vater der Angeklagten.

Niemand, der zuvor mit ihm Umgang pflegte, hätte Herrn v. Hochreith in seinem jetzigen Zustand wiedererkannt. Bis vor wenigen Tagen war er, was man eine Erscheinung nennt, ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und buschigen Augenbrauen, physisch imposant, geistig überlegen, aber ohne diesen Vorzug anderen gegensie rnehmer t, war genwar er . Hochreiths.über hervorzukehren. Anders gesagt, war er nie arrogant, sondern pflegte, wie man so sagt, gefällige Umgangsformen. Selbst wenn er in einer Sache unerbittlich sein musste, ließ er sich nie zu Anzeichen von Zorn oder gar Unmut hinreißen. Seine Waffen waren von feinerer, vornehmer Art. Es genügte, dass sich ein wenig Ironie in sein Lächeln mischte – die Kollegen und alle anderen, die ihm intellektuell das Wasser reichten, empfanden den Stich durch ein leicht belustigtes Lächeln nicht weniger tief, als wenn ein Tölpel sie mit einer Ohrfeige bedroht haben würde. Genau darin lag ja die Überlegenheit des Bankiers und ehemaligen Regierungsberaters Edwin v. Hochreiths, dass er nie laut werden, seinen Unmut nie nach außen zu kehren brauchte, um von jenen verstanden zu werden, die ihn verstehen sollten. Wenn man diesem Mann einen Mangel nachsagen konnte - einen sehr großen Mangel vermutlich -, dann war es nur der, dass er gar keinen Wert darauf legte, von anderen verstanden zu werden. Die anderen interessierten ihn nicht.

Erst jetzt, sehr spät, wurde er sich bewusst, dass die anderen - all jene also, die seine Zurückhaltung und seine Ironie nicht verstanden – dass diese anderen die Mehrheit ausmachten, vor der ihn nun niemand mehr schützen würde. Die Mehrheit lauerte draußen vor seinem Haus, sie war frech genug, dauernd zu klingeln, ihm SMS auf sein Handy und Emails auf seinen Computer zu schicken.

Woher hatten sie seine Nummer? Woher nahmen sie die Unverschämtheit, ihn mit Telefonanrufen und Botschaften zu belagern, seinen Namen in aller Öffentlichkeit in den Dreck zu ziehen, den Namen einer Familie, deren Stammbaum mit seinen tiefsten Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert reichte? Die ersten v. Hochreiths waren ein Rittergeschlecht aus dem südlichen Franken.

Genau jene Mehrheit, die für ihn bis dahin keine Bedeutung besaß, die belagerte ihn nun. Es nützte ihm wenig, dass er drei Security-Leute damit beauftragt hatte, den Park vor der Villa und diese selbst gegen Eindringlinge zu schützen. Da hatte er immerhin das Recht und die Polizei auf seiner Seite. Auch wenn sein Anwesen nun ein Gefängnis war, aus dem man ihn morgens in einem dunklen Mercedes in die Bank im Zentrum der Stadt fahren musste, das Gefühl, in einem Gefängnis eingeschlossen zu sein, war nicht einmal das Schlimmste. Viel schlimmer war es, was sich gleich nach Bekanntwerden des Unfassbaren zeigte: Er musste erfahren, dass er, bisheriger Chef und Mittelpunkt der altehrwürdigen Hochreith-Bank, über Nacht zu einem existenziellen Risiko für die eigene Firma geworden war. Seine treuesten Mitarbeiter hatten ihn angefleht, öffentlich seinen Rücktritt bekanntzugeben. Nur einen knappen Augenblick lang währte seine Empörung. Dann war ihm klar, dass ihre Forderung nur zu berechtigt war. Die Aktien der Bank waren über Nacht auf ein Zehntel ihres Werts abgestürzt. Mancher Chef hatte schon allein deswegen zurücktreten müssen, weil die Kurve der Aktiennotierung nicht länger nach oben wies.

Dies alles hätte Edwin v. Hochreith noch zu ertragen vermocht. Er war kein Schwächling, kein Mann, der vor Schicksalsschlägen feige zurückgeschreckt wäre. Zehn Jahre seines Lebens hatte er in Neu-Delhi verbracht, in einem Land, wo das Schicksal mit den Köpfen von mehr als einer halben Milliarde Menschen auf grausame Weise Würfel spielt. Von Hochreith kannte den Tod, er kannte die blutige Tatze des Ungeheuers, das sich in grimmiger Wut einen Spaß daraus macht, Menschen, die eben noch lachten und scherzten, zerfetzt in die Gosse zu schleudern. Vor dem Ungeheuren und Unberechenbaren hatte er nie die Augen verschlossen; er ahnte, dass niemand vor der Pranke eines mutwilligen Fatums vollkommen sicher war. Er ahnte es mit jenem ungläubigen Staunen und jenem Schauder, die ihn manchmal in Stunden der Muße heimsuchten, wenn er sich Fragen nach dem Wozu und Warum überließ, Fragen, die er in seinen Arbeitsstunden – und die machten den Großteil seines Lebens aus – weit von sich zu drängen vermochte.

In solchen Stunden war er nicht länger der selbstbewusste, durch sein entschiedenes Handeln allen anderen überlegene Banker, als den man ihn draußen kannte, sondern ein Mann, den die Zweifel plagten. Schmerzhaft war er sich dann bewusst, dass es für ihn keine Erklärung gab, auch wenn andere, z.B. die Inder, in deren Land er mit seiner Familie ein ganzes Jahrzehnt verbrachte, alles so gut zu erklären glaubten. Dort waren sie überzeugt, dass es die Sünden oder Tugenden der eigenen vergangenen Existenzen waren, die den einen ins Unglück stießen, dem anderen Glück bescherten.

Schön, wenn man eine so einfache Deutung besaß. Von Hochreith besaß sie nicht und machte sich auch nicht vor, sie zu besitzen. Ungläubig und manchmal fassungslos blickte er auf die Dinge, die sich in seinem Umfeld ereigneten.

Oft war es ihm freilich eine Hilfe gewesen, die großartigen Verse jenes islamischen Mystikers Djalal od-Din Rumi aufzusagen, die in schöner Kalligraphie auf seinem Schreibtisch prangten:

Ich bin das Sonnenstäubchen, ich bin der Sonnenball.

Zum Stäubchen sag' ich: bleibe! und zu der Sonn': entwall!

Ich bin der Morgenschimmer, ich bin der Abendhauch.

Ich bin des Haines Säuseln, des Meeres Wogenschwall.

Ich bin der Mast, das Steuer, der Steuermann, das Schiff;

Ich bin, woran es scheitert, die Klippe von Korall'.

Ich bin der Baum des Lebens und drauf der Papagei;

Das Schweigen, der Gedanke, die Zunge und der Schall.

Wenn er diese einzigartigen Verse sprach, dann geschah es fast immer, dass die beiden Moscheen links und rechts des Tadsch Mahals vor seinen Augen auftauchten. Er sah, wie ihre klaren Silhouetten im Dämmerlicht des Abends plötzlich zu leben und zu sprühen begannen und ihn in einen ganz seltsamen Zustand versetzten. Für einen flüchtigen Augenblick hatte er damals gefühlt, dass er selbst das Schweigen war und der Schall: die ganze ihn umschließende Welt und andererseits diese Welt nichts anderes als er selbst. Später, in seinen Mußestunden, versuchte er manchmal, die damalige Empfindung durch die Erinnerung erneut in sich zu beschwören, aber es gelang ihm nicht mehr, auch wenn die Verse Rumis ihn jedes Mal auf geheimnisvolle Weise berührten.

Das Indien der Hindus und der Muslime lag bereits mehrere Jahre zurück. Edwin v. Hochreith war sich bewusst, dass die damaligen Gefühlsregungen eigentlich gar nicht zu einem Finanzfachmann passten. Seine tägliche Mission bestand darin, eine Vielzahl an praktischen Problemen zu lösen. Dennoch hatte Indien seine Spuren auch in ihm hinterlassen. Soweit es in seinen Kräften stand, hatte sich der Banker Edwin v. Hochreith vorgenommen, die Summe des Unglücks in dieser Welt nicht noch durch eigenes Tun zu vermehren. Das war sicher nicht immer leicht für den Chef eines Unternehmens, das einer überwiegend reichen Klientel zu Diensten sein musste. Doch war sich v. Hochreith zumindest keiner groben Verfehlungen bewusst; im übrigen schützte er sich durch wohlwollende Strenge und – wenn es sein musste – durch jenes ironische Lächeln, das ihn wie eine Festungsmauer umgab.

Aber was war aus dieser Mauer geworden? Sie hatte ihn nicht vor dem größtmöglichen Unglück bewahrt: Jetzt, von einem Tag auf den anderen, stand seine Festung ohne alle schützenden Mauern da. Edwin v. Hochreith vermochte sich nicht länger zu wehren. Es war nicht so sehr der Verlust der Bank, seiner Bank, der ihn niederdrückte, obwohl ihn der erzwungene Rücktritt überaus schmerzte. Soviel hatte er in Indien gelernt, dass man jederzeit darauf gefasst und bereit sein musste, alles aufzugeben, was einem wichtig und teuer war. Aber eines konnte er nicht verschmerzen. Dieses eine hatte seine Schultern in wenigen Tagen gebeugt und zog ihn wie mit Bleigewichten hinab. Von diesem Schlag, so wusste er, würde er sich nie mehr erholen.

Hochreith hatte sich aus dem Sessel erhoben; nach wenigen ziellosen Schritten durch den Raum blieb er vor dem ‚Zaubergarten’ von Emilie Rajputra stehen. Der Garten hatte ihm noch immer geholfen, er wusste selbst nicht warum. Waren es die feurigen Farben, diese rot und blau lodernden Bäume, die aus einem Labyrinth aufwuchsen? War es diese geheime Ordnung, die das scheinbar chaotische Wuchern beherrschte, keine mathematische, keine abstrakte, sondern - wie sollte man es sagen? - eine Ordnung des Charismas oder der Neugeburt? Er hatte das Bild immer wieder zu ergründen versucht und war dabei doch nie zu einem rational befriedigenden Abschluss gelangt. Das einzige, was sich unbestreitbar von der Wirkung des Gemäldes behaupten ließ, war die doppelte Reaktion, die seine Betrachtung jedes Mal in ihm hervorrief: Es verschaffte ihm einerseits eine tiefe Befriedigung und zugleich eine Ermunterung und Tonisierung, die das Gegenteil von einschläferndem Frieden war.

Das Bild ist, so hatte er sich zugeflüstert, als er das erste Mal vor ihm stand, dieses Bild ist unendlich. Es ist ganz Indien, wie ich es kenne, aber es ist noch viel mehr, weil Indien größer ist als die Welt. Er hatte keinen Augenblick gezögert, das Bild für einen exorbitanten Preis einem kleinen indischen Museum in Allahabad abzukaufen – und diesen Kauf später niemals bereut. Doch als v. Hochreith seine Wirkung jetzt auf die Probe stellte, musste er erleben, dass es gegen das größte Unglück ohnmächtig blieb. Auch der Zaubergarten war nicht imstande, ihm die erdrückende Last von den Schultern zu nehmen und ihn aus seinen Ängsten zu reißen.

Er machte noch einen weiteren Versuch, trat etwas zur Seite, wie er es auch sonst zu tun pflegte, um die in rätselhafter Ordnung aufwuchernde Landschaft von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Man musste die Details in diesem geordneten Chaos ergründen. Es gab ja Geschehnisse in diesem Bild, die herausfordernd wirkten: Gestalten von unbestimmten Konturen, die wie aufpoppende Maiskörner von einem unsichtbaren Dämon in die Höhe geschleudert wurden. Immer erneut hatte er sich gefragt, was die Künstlerin damit sagen wollte. Es war ja keineswegs so, dass sie ein unheimliches Geschehen beschrieb, dazu waren die Farben, das Korngelb der Dächer oder das dunkle Blau der fadengleich aus ihnen hervorwachsenden Figuren viel zu froh oder zu berührend geheimnisvoll. Im Grunde war das Bild nichts anderes als die Welt: ein Rätsel, das er nie lösen würde.

Sein Bemühen verschaffte ihm keine Linderung, er spürte die Ungeduld, den stechenden Schmerz, der seinen Augen keine Ruhe gönnte. Nein, dieses Bild entführte ihn nicht länger in eine andere Gegenwart. Gegenüber dem Unfassbaren versagte es, so wie sein Haus, seine Bekannten, seine bisherigen Freunde alle ohnmächtig gegenüber dem Geschehenen waren. Man hatte ihn aus seinem gewohnten Leben gewaltsam hinausgeschleudert: in eine Landschaft ohne Farben, ohne Himmel und ohne Bäume. Die neue Wirklichkeit hatte mit dem geheimnisvollen Zaubergarten der Emilie Rajputra nichts mehr gemein. Seine eigene Gegenwart war farblos, sie war kein Labyrinth, sondern Ödnis und Nacht.

Wenn es nur ihn betroffen hätte! Viel schlimmer, unendlich viel schlimmer war es, dass es sein eigenes Kind betraf. Vermutlich hatte er versagt, ja, das war ganz sicher der Fall. Ein Kind wird nicht zum Mörder oder lässt sich zu einem solchen machen, wenn das Elternhaus ihm einen sicheren Schutzwall gewährte, so dass auch die größten Versuchungen des späteren Lebens wirkungslos davon abprallen. Kein Zweifel, er selbst hatte sich als unzulänglicher Vater schuldig gemacht.

Hochreith trat mit einer ungewollt hastigen Bewegung zurück, als hätte ihm jemand einen Hieb versetzt. Nur noch aus bloßer Zerstreutheit streiften seine Augen über das Bild, dessen Titel ‚Der Zaubergarten’ ihm auf einmal zweideutig erschien. Ein Zauber konnte Gutes, aber auch Böses bewirken. Es gab da einen Fleck rechts unten am Bild, wo ein trauriges Braun sich zu Figuren verknäuelte, die man für tropisch vegetative Formen, für aufreizende Gebilde der Tiefseefauna oder auch für missgestaltete menschliche Wesen von der Art vielarmiger indischer Götter ansehen konnte. Hochreith hatte aus diesem Bild immer nur Beruhigung gelesen, auf einmal wusste er, dass es auch Angst lehren konnte. Er streckte beide Arme aus, hob das Bild von der Aufhängung, drehte es um und stellte es auf den Boden und an die Wand. Dieser eine Handgriff genügte, um den Raum fremd erscheinen zu lassen. So fremd, wie er selbst sich jetzt darin fühlte.

Da fiel ihm der Mann ein, an den er sich wenden musste:

Kudorsky, murmelte er.

Dieser Name sagt einem Laien vermutlich gar nichts, aber er ist ein Begriff für jeden, der mit dem Gerichtswesen unseres Landes vertraut ist. Kudorsky hat sich als einer der besten und natürlich auch als einer der bestbezahlten Anwälte einen Namen gemacht. Wer über das nötige Geld verfügt und sich in einen Fall verstrickt sieht, der allen anderen als hoffnungslos gilt, der wendet sich an Kudorsky, einen Magier seiner Zunft, der aus wertloser Schlacke Gold und aus Schwarz Weiß zu machen versteht.

Tatsache ist, dass Edwin v. Hochreith Menschen dieses Schlags niemals schätzte. Alle Kunst, die darin besteht, die Wirklichkeit zu vertuschen und zu verfälschen, erschien ihm immer verachtenswert.

So weit ist es mit mir gekommen, flüsterte er im selben Moment, als der Name Kudorsky in seinem Kopf aufblitzte. So weit ist es mit mir und der Familie Hochreith gekommen, dass wir einen Mann wie Kudorsky brauchen. Doch unterdrückte er das aufwallende Unbehagen. Er unterdrückte es, weil er wusste, dass er jetzt keinen anderen als gerade diesen Kudorsky brauchte und dass er, der bis dahin als unbestechlich galt, sogar die Wahrheit opfern würde, wenn das seinem Kind einen Vorteil brächte.

Hinter ihm auf dem Schreibtisch lag die Ursache seiner Verzweiflung: dieser furchtbare Schmutz- und Schmierartikel aus der Post, dem Massenblatt, das von neunzig Prozent der Bevölkerung so gierig wie der tägliche Morgenkaffee eingeschlürft wird. Da stand schwarz auf weiß und für alle Zeit unauslöschlich, was aus der Familie v. Hochreith geworden war. Wenn auch nur die geringste Aussicht bestand, dass ein Kudorsky diese Schmach vor dem Gericht und der Welt zu entkräften vermochte, dann war ein solcher Versuch sein ganzes Vermögen wert. Aber im Grunde schien ihm alles vergeblich. Wie sollte man die gerichtskundigen Tatsachen aus der Welt schaffen, die dieser Artikel beschrieb?

„Frau Julchen Terror