Die Weltenretter - Till Angersbrecht - E-Book

Die Weltenretter E-Book

Till Angersbrecht

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Pinkelbein, Darwin, Tentor Tentorius, Freud und Einstein – auf Merson Island treffen sich Nobelpreisträger und andere Geistesgrößen auf Einladung von Lord Palmerstone und seiner nicht weniger seltsamen Lady. Es geht um die Rettung der Welt, weil der Zeiger beängstigend weit über fünf vor hinausgerückt ist. Leider ist aber auf der Insel selbst vieles nicht mehr zu retten, und zwar weil die Liebe sich dort inmitten der strengen Wissenschaft in subtropischer Temperatur entwickelt!

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Seitenzahl: 261

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Till Angersbrecht

Die Weltenretter

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Einleitende Bemerkungen des Chronisten

1. Das Schiff

2. Der Lord

3. Die Tagespille

4. Hass und Liebe

5. Die Tafelrunde

6. Die Attacke

7. Spinster

8. Das westliche Ufer

9. Die Hochzeit von Himmel und Schwefel

10. Im Lotossitz

11. Abendgesellschaft im Schlosspark

12. Der Jungbrunnen

13. Barbarossa und sein Harem

14. Der Sturm

15. Die Prüfung

16. Wohin?

17. Das Tischrücken

18. Liebe pur

19. Man tut seine Pflicht

20. Hohngelächter über Europa

21. Die Ohrfeige

22. Die Entführung

23. Wir waren uns so nahe!

24. Die Erstürmung

25. Auf dem Schiff

Impressum neobooks

Einleitende Bemerkungen des Chronisten

Die WeltenRetter

Till Angersbrecht

Was passiert, wenn angereichertes Uran zu einem Klumpen zusammenfügt und dieser dann kontinuierlich vergrößert wird, das weiß heute jeder. Irgendwann wird die kritische Masse erreicht, explosionsartig vermehren sich die freigesetzten Neutronen, und auf einmal entsteht statt eines harmlosen Klumpens ein Feuerball, der ganze Städte verbrennt und verschlingt. Doch was passiert, wenn man die größten unter uns lebenden Geister auf einer Insel zusammenruft, so dass die dadurch entstehende Masse an menschlicher Intelligenz sich zu ungeahnter Intensität entfaltet? Dieses Experiment ist bisher noch nie angestellt worden, aber es hat – wenn auch von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – tatsächlich stattgefunden. So viel steht bereits fest: Eine Explosion nuklearen Ausmaßes war nicht zu beobachten; im Gegenteil, das Experiment verlief derart geräuschlos, dass selbst die Erinnerung an dieses Ereignis spurlos zu verschwinden drohte. Außer den Betroffenen selbst hätte dann niemand nach zwanzig, dreißig Jahren davon etwas gewusst.

Nein, ganz so darf man über die Begebenheit nicht reden. In führenden Tageszeitungen konnte man einen Artikel aus der Hand eines gewissen Herrn Felix Federlein lesen, der die denkwürdige Zusammenkunft in folgenden Worten beschrieb.

„Wissenschaft ist heute die Hoffnung, von der die Menschheit nicht nur ihre Zukunft in Wohlstand und Freiheit, sondern sogar das eigene Überleben abhängig macht. Merson Island, eine bis dahin unbekannte und eigentlich völlig unbedeutende Insel im südlichen Stillen Ozean, die allerdings durch den Gymnopterus maximus und seine erstaunlichen Fähigkeiten eine Weile ins Rampenlicht öffentlicher Beachtung geriet, genoss für eine Woche das Privileg, die größten Namen der zeitgenössischen Gelehrsamkeit zu begrüßen. Da trafen in einer exotisch-üppigen Natur - eingeladen von einem exzentrischen Lord und großen Förderer des fortschrittlichsten Wissens - Physik, Neurologie, Biologie, Superdatistik und Sulfo-Zölo-Gamie aufeinander, und zwar in Gestalt der in ihren Fächern weltweit führenden Avatars. Jeder der Anwesenden war sich bewusst, einem Feuerwerk des Geistes beizuwohnen, das den Weg der Menschheit noch für das kommende Jahrhundert beleuchten wird. Merson Island sollte ein Meilenstein in der Geschichte menschlichen Fortschreitens sein.“

Dieser Artikel versetzte mich in einige Unruhe, denn, wie ich schon sagte, blieb dieses angeblich wegweisende Ereignis sonst völlig unbeachtet. Auch fielen mir sehr schnell merkwürdige Widersprüche ins Auge. Geht es nun um Wohlstand und Freiheit oder nur um das Überleben? Zudem hatte ich auf Umwegen gehört, dass einige der Teilnehmer sich bitter über die Zustände auf der Insel beschwerten. Sie seien vom ersten Tage an ausspioniert und von einer rabiaten Lady wie unmündige Schulbuben behandelt worden. Was mich gleichfalls wunderte, waren Ausdrücke wie Sulfo-Zölo-Gamie, die der Journalist Felix Federlein so verwendet, als müssten sie jedem geläufig sein. Ich aber höre davon zum ersten Mal.

Offensichtliche Ungereimtheiten wie diese erregten nicht nur meine Aufmerksamkeit, sondern beunruhigten mich so sehr, dass ich mich entschloss, der Sache nachzugehen. Dabei gelangte ich schon bald zu einer überraschenden Einsicht. Die Zusammenkunft der größten Gelehrten des Globus auf der kleinen Pazifik Insel hat sehr wohl eine Spur in der Geschichte hinterlassen, eine Spur von größter Bedeutung für unsere Geschichte - nur wird darüber bis heute geschwiegen. Als selbstverständlich nehmen wir beispielsweise hin, dass die Menschen vom Reich der Mitte uns mittlerweile in beinahe jeder Hinsicht den Rang ablaufen. Diese Dominanz, die sie mit einer expansiv-aggressiven Politik verbinden, betrachten wir als ein Naturereignis, dem wir uns ebenso duldsam zu unterwerfen hätten wie einem Vulkanausbruch, der Meereserwärmung oder dem Abschmelzen der Pole. Wir verschweigen, ja wir unterschlagen, dass es sich in diesem Fall keineswegs um ein unabwendbares Schicksal handelt, sondern um ein welthistorisch folgenreiches Versehen, dessen Wurzeln im südlichen Pazifik, nämlich auf Merson Island, zu suchen sind. Die Chinesen sind damals in den Besitz einer Erfindung gelangt, die sie der gewaltsamen Entführung von Benedict Krzsymanski, dem großen Nobelpreisträger, verdanken. Wir, ein verwöhnter und, wie manche sagen, mittlerweile geradezu dekadenter Westen, ließen uns damals die einmalige Chance entgehen, die größte Erfindung unseres Jahrhunderts – den eigenen Bürgern zugänglich zu machen.

Nachdem ich dieses Versagen und seine Folgen erkannte, stand es für mich außer Frage, dass es für mich nun kein Zurück geben würde. Was ging damals wirklich auf Merson Island vor? Das war die Frage, die mich fortan keinen Augenblick mehr loslassen sollte. Um ehrlich zu sein, hatte meine bisherige Tätigkeit mich auf solche Nachforschungen nicht unbedingt vorbereitet. Bis dahin war ich ein unbedeutendes Rädchen im politischen Apparat unserer Republik gewesen, damit beschäftigt, als Ghostwriter die Reden wechselnder Politiker sozusagen nach Maßgabe ihrer jeweiligen Mediokrität so zurechtzuschneidern, dass sie möglichst faltenlos zu ihrer mehr oder weniger dürftigen Persönlichkeit passten. Wie sich der Leser denken kann, ist das ein Lügengewerbe, dessen ich schließlich so überdrüssig wurde, dass ich nach der Wahrheit zu streben begann. Da war dann allerdings nichts natürlicher, als dass ich irgendwann auf Merson Island und die Zusammenkunft der größten Wahrheitssucher unserer Zeit stoßen würde.

Warum die Chinesen den größten Nutzen aus diesem Treffen ziehen sollten, das habe ich bald begriffen, doch es dauerte einige Zeit, bis ich die Gründe dafür durchschaute, warum die kritische Geistesmasse - diese unglaubliche Ballung von Wissen und Wahrheit - keine Explosion erzeugte, warum sie den Erdball nicht einmal mit kleinen Stößen von drei oder vier auf der Richterskala zu erschüttern, geschweige denn ihn vor den furchtbaren Bedrohungen unserer Zeit zu retten vermochte. Da trafen Wissende aufeinander, von denen jeder gewappnet war, um sich den Reitern der Apokalypse entgegenzustellen. Auf den ersten Blick schien es geradezu undenkbar, dass ein Treffen wie dieses so wenig Aufsehen erregte. Denn eines ist ja nicht mehr zu leugnen. Nicht nur das Quantengehirn, die Erfindung Krzsymanskis, alias Newtons, hat sich längst durchgesetzt, wenn auch vorerst nur im östlichen Asien – auch die übrigen in Merson Island entworfenen Projekte für eine andere und, wie manche hartnäckig behaupten, bessere Welt sind längst auf dem Wege der Verwirklichung; einige vorerst noch heimlich wie die Sulfo-Zölo-Gamie andere in aller Öffentlichkeit.

Warum also hat das damalige Treffen so wenig Aufmerksamkeit erregt? Die Antwort auf dieses Paradox lässt sich keineswegs aus dem Handgelenk schütteln. Sie ist auch nicht damit abzutun dass - außer dem zuvor schon erwähnten Felix Federlein - die Medien praktisch keine Notiz von dem Ereignis nahmen oder allenfalls den berühmten Nacktvogel Gymnopterus maximus kurz erwähnten, weil dessen genetische Programmierung in der breiten Masse eine gewisse Neugierde erweckte. Selbst diese Neugierde ist uns Heutigen allerdings schwer verständlich, sind wir doch längst gewöhnt, von Tieren umgeben zu sein, die aufgrund des Einbaus menschlicher Gene mit uns kommunizieren können. Kommunikation mit der bis dahin stummen Kreatur ist möglich und verschafft besonders den sensibleren Naturen in unserer Mitte ein hohes Maß an Befriedigung, denn zum ersten Mal wissen wir jetzt, wie unsere Mitgeschöpfe über uns denken. Mit-Leid, Mit-Gefühl, aber auch Mit-Freude, kurz eine alle höheren Lebewesen umgreifende und sie vereinende Empathie, sind damit zum Markenzeichen unserer Epoche geworden, ein gewaltiger Fortschritt, den ich keineswegs schmälern möchte. Aber Merson Island auf den Nacktvogel und dessen Erfinder Bobby Spiderton zu reduzieren, wäre denn doch zu einfach. Ein solches Vorgehen liefe auf eine drastische Verengung der Perspektive hinaus. Die Erfindungen und intellektuellen Heldentaten der übrigen Teilnehmer besaßen eine mindestens ebenbürtige Dimension – darüber bestand für mich von dem Augenblick an nicht der geringste Zweifel, als ich tiefer in die Protokolle und Aussagen der auf Merson Geladenen einzudringen begann.

Und damit bin ich auch schon bei dem springenden Punkt oder vielmehr, dem Punkt, der mich selbst zum Springen und dazu brachte, meine Laufbahn als subalterner Ghostwriter für noch subalternere Politiker aufzugeben und mich ganz der Forschung des damaligen Treffens zu widmen. Ich selbst – das möchte ich der Wahrheit halber gleich zu Anfang berichten – bin nie nach Merson Island gekommen. Seit Lady Lonedale vereinsamt und wohl auch verbittert in einem Altenheim in Heathrow, London, gestorben ist, war wohl auch jede Verbindung zu der entlegenen Insel gekappt. Das sei auch völlig richtig, ließ mich die Lady bei meinem letzten Besuche in London wissen, denn der Lord sei mit ihr nach England zurückgekehrt, als sie aus Altersgründen die Insel aufgeben musste und sich in ein Heim für adlige Senioren begab (da irrt die Lady, denn Lord Palmerstone war bereits tot, als die Lady kurz nach dem Treffen der Koryphäen Merson Island für immer verließ). Ohne den Lord, so die Lady, sei die Insel doch nur eine Anhäufung von totem Gestein und grüner Vegetation gewesen. Der Lord habe die Insel erst zu einem Zentrum der spirituellen Kraft und Ausstrahlung gemacht. Da hatte sie zweifellos recht.

Seit es uns beide dort nicht mehr gibt, leben dort nur die Möwen, vielleicht sind auch noch einige Exemplare des Nacktvogels übrig. Wer weiß das schon?

Also, das berichtete die Lady anlässlich meines letzten Interviews kurz vor ihrem Tode, wobei sie immer wieder von der spirituellen Kraft und Ausstrahlung auf Merson Island sprach. Dazu will ich mich noch nicht äußern, umso weniger als die vermeintlichen spirituellen Kräfte in der Tat eine gewaltige, wenn auch, meiner Meinung nach, eher verderbliche Rolle spielten. Die Lady jedenfalls ließ nichts von solcher Kraft erkennen, als ich Sie in ihrem Heim besuchte. Im Gegenteil machte sie einen kränklichen und, wie ich schon sagte, sogar verbitterten Eindruck. Sie beschwerte sich sogar über den längst verstorbenen Lord. Aus einer ihr unbegreiflichen und für sie zutiefst kränkenden Laune sei ihr dieser seit geraumer Zeit nicht mehr erschienen, obwohl er dieser Gewohnheit seit seiner Verwandlung in feinkörperliche Substanz doch regelmäßig oblegen hätte. Diese fehlende Zuwendung eines Mannes, dem sie ihr ganzes Leben gewidmet habe, bereite ihr furchtbare Pein. In der Fortsetzung ihrer irdischen Existenz könne sie allein deswegen keinen Sinn mehr erblicken.

Die Verbindung mit Merson Island ist also völlig abgerissen. Die Insel ist in den Tiefschlaf zurückgefallen, aus dem sie seit Beginn der Geschichte nur zwei Male aufgeweckt wurde. Immerhin ist es mir aber gelungen, die meisten Teilnehmer des damaligen Treffens persönlich zu kontaktieren und auszufragen. Es ist wahr, dass sich Darwin (Bobby Spiderton) zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Zustand fortgeschrittener Auflösung befand, seine berühmt-berüchtigte violette Punkfrisur hat einer schrumpeligen Glatze weichen, sein ehemals stattlicher Kugelbauch zu einer Art fehlplaziertem Kropf schrumpfen müssen. Manni Zhou, deren Können als geübte Agentin und Verführerin eines Nobelpreisträgers das Reich der Mitte den Zugriff auf das Quantengehirn verdankt, wurde zu einer für uns Westler unzugänglichen Eminenz, aber sie hat Memoiren verfasst, aus der ihre damalige Rolle hinreichend deutlich hervorgeht. Maximilian Wendell, den sympathischen alten Herrn, habe ich kurz vor seinem Ableben noch ausführlich sprechen können.

Setzen Sie zehn Gelehrte um einen Tisch, und Sie werden zwanzig verschiedene Meinungen erhalten, hat er das Treffen auf Merson Island in einem einzigen Satz zusammengefasst. Setzen Sie diese Gelehrten auf einer Insel aus, wo sie einander täglich ertragen müssen, und es werden in kürzester Zeit zentrifugale Kräfte zwischen ihnen entstehen, die sie irgendwann wie eine Supernova mit äußerster Sprengkraft zerplatzen lassen. Sehen Sie, der einzige Bekannte, mit dem ich später noch Kontakt pflegen konnte, ist dieser ehemalige Schüler, Sie wissen schon, Julian Seebenstein, den sie dort als Sekretär angestellt hatten. Er ist übrigens in meine Fußstapfen getreten – ein lieber Mensch und recht erfolgreicher Psychologe, wie Ihnen ja bekannt sein dürfte. Damals schon war er ein lieber Kerl, der an die Güte des Menschen, aber ein gesundes Misstrauen gegenüber unseren allzu selbstbewussten Wissenschaftspropheten und Forschern hegt. Wir beiden schreiben uns bis heute, aber fragen Sie mal die anderen: Pinkelbein, Tentorius, Darwin und wie sie sonst noch heißen. Die sind alle im Zorn auseinander gegangen. Und von dem jungen Theologen hat man nichts mehr gehört. Wie heißt er noch?

Gottlieb Theophrast, springe ich ein. Damals nannten ihn alle Jesus.

Richtig, Jesus kam als glühender Weltverbesserer, aber er ging voller Ekel und Zorn. Von Versöhnung wollte er danach nichts mehr wissen. Von seinen Bemühungen um einen gemeinsamen Glauben, der die Menschheit einen sollte, hat auch niemand mehr etwas gehört. Soweit ich weiß, ist er als Eremit auf den Athos gezogen.

Das stimmt, ich habe ihn dort sprechen können, aber es war nur wenig aus ihm herauszubekommen.

Und dabei hat damals alles so großartig, so hoffnungsvoll begonnen! Da trafen sich doch lauter Genies auf engstem Raum. Wir versprachen uns davon einen Aufbruch, eine Revolution, eine Erneuerung unseres Denkens und unserer Lebensart – und was ist dabei herausgekommen? Vielleicht haben wir einfach zu viel von den Wissenschaftlern erwartet, wir meinten ja alle und viele meinen es heute noch, dass uns ein paar Formeln erlösen könnten. Doch, sehen Sie, darin liegt für nicht der einzige, nicht einmal der Hauptgrund für das Scheitern des Experiments. Was mich betrifft, bin ich der Meinung, dass Lord Palmerstone, der doch die besten Absichten hegte, wesentlich schuld am Misslingen trägt. Der Lord und die Lady wollten Gelehrte bei sich sehen. Sie glaubten, den reinen Geist nach Merson eingeladen zu haben, doch es kamen leibhaftige Menschen - das war nicht vorgesehen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Wendell, in der damaligen Runde Freud genannt, war ein renommierter Psychologe, ohne Zweifel einer der hervorragendsten seiner Zeit - Wendell sagte tatsächlich nicht mehr. Nur als ich ihn nach dem ‚Retter’ fragte, lebte der alte Mann noch einmal auf.

Alle hassten ihn, sie begriffen nicht, wie ihn der Lord überhaupt einladen konnte, einen Mann, der die Wissenschaft hasste, der in ihr die Ursache für die meisten uns heute bedrängenden Übel sah. Lord Palmerstone war eben ein Exzentriker durch und durch. Er sah alles in Gegensätzen, die er vereinigten wollte – Coincidentia Oppositorum. Sie kennen diesen Ausdruck natürlich aus der Philosophie der Mystik. Auf Merson Island sollte sich alles treffen und frontal zusammenstoßen: fanatische Forschungsverneinung und grenzenloser Forschungsglaube. Ja, und genauso ist es denn auch gekommen.

In diesem Gespräch begriff ich zum ersten Mal, wie groß die Wunden waren, die dieses Treffen in den Teilnehmern hinterlassen hatte – gerade weil es zunächst so gewaltige Hoffnungen erregte. Bald wurde mir auch bewusst, dass jeder der ehemaligen Teilnehmer und heutigen Zeugen die Ereignisse von damals aus einer anderen Perspektive sah. Allenfalls gab es zwischen ihnen eine Übereinstimmung im Hinblick auf die nackten Fakten – doch selbst das war nicht immer der Fall. Dieser Vielfalt musste ich unbedingt Rechnung tragen, wenn ich die Ereignisse nicht einseitig darstellen und dadurch verfälschen wollte. So beschloss ich, die Teilnehmer selbst zu Worte kommen zu lassen, damit sie jeweils von ihrem Standpunkt, ihrer eigenen Warte aus – so beschränkt und willkürlich diese auch bisweilen erscheint – ihre je eigene Sicht darlegen.

1. Das Schiff

Benedict Krzsymanski:

Da könnte ich doch manchmal an mir selbst irre werden. Ein wenig strahlende Feriensonne genügt, ein paar spielende Delphine, die vor dem Schiffsbug aus dem Wasser schnellen, ein bisschen lauer Wind, der die Haut mit seidenweichem Finger streichelt, und schon vergisst man die innere Berufung, mutiert zu einem schlichten Urlaubsbürger. Und damit noch nicht genug, auf einmal bringt es mir noch dazu Spaß, hin und wieder einen Seitenblick auf Tamara zu werfen, sie ist ja wirklich schön, wie ihr die leichte Meeresbrise so durch die Haare fährt, ihr eine blonde Strähne über die Augen legt, die sie dann mit lächelnder Ungeduld wegretuschiert, als führte sie einen Liebeshändel mit den Winden des Stillen Ozeans.

Bin ich, ein Mann der Physik, denn immer noch so primitiv programmiert, dass der alte Adam in mir auf derartige Reize wie ein Pawlowscher Hund reagiert? Längst sollte ich doch begriffen haben, dass genau darin der ganze Betrug unseres Lebens liegt. Immer wieder lassen wir uns von flüchtigen Reizen, etwas Sonnenschein oder einem Lächeln, betören. Dabei ist das alles nicht mehr als Gaukelei, Lüge und Schein. Das Meer ist das Meer ist das Meer, und meine Assistentin bloß Assistentin – nicht mehr und nicht weniger als eine halbwegs brauchbare Hilfskraft. Natürlich ist sie nebenbei auch eine junge und hübsche Frau, aber als Forscher hat mich das rein gar nichts anzugehen! Davor habe ich die Augen zu schließen, ganz bewusst und ohne Wenn und Aber.

Dennoch, immer gelingt das nicht, schon Beispiel gerade in diesem Augenblick nicht. Widerstrebend muss ich mir eingestehen, dass ich die biologische Programmierung sehr wohl in mir spüre. Ich kann einfach nicht umhin, hin und wieder auf die im Winde fliegenden blonden Strähnen zu schauen.

Welch ein Glück, dass meine hochachtenswerten Kollegen nicht über die Gabe der Hellsichtigkeit verfügen! Würde irgendjemand Krszymanski, den berühmten Nobelpreisträger für Physik, noch schätzen können, wenn er mir in die Hirnschale blicken und dabei entdecken würde, dass da neben dem Erfinder des Quantenhirns noch ein zweites armseliges Wesen haust, das der Nobelpreisträger mit seinen atavistischen Vorfahren, den Steinzeitmenschen ebenso teilt wie mit jedem x-beliebigen Mann auf der Straße? Wie gut, dass es diese undurchdringliche Hirnschale gibt und das erbärmliche Steinzeitwesen dahinter verborgen bleibt.

Ach, da steht ja Spiderton, der grient wieder einmal über das ganze Gesicht. Ich glaube, der bildet sich ein, dass wir alle nur in Erwartung des Gymnopterus hier sind – als hätte sich auch nur einer von uns wegen eines lächerlichen Vogels auf die Insel begeben. Bitte schön, wir sind hier in einer sehr ernsten wissenschaftlichen Mission. Das ist kein Schülerausflug. Ich verstehe schon, lieber Kollege, dass du die Dinge auf deine Art siehst, du bist der Erfinder dieses kuriosen Vogels und deshalb fachlich befangen und vorbelastet. Du hast dir den Vogel sogar auf den rechten Arm tätowiert. Sehr schlechter Geschmack für einen Gelehrten, das muss ich schon sagen, damit hast du dir keine Freunde gemacht.

Ist zwar ein toller Wissenschaftler, sagen alle, ein zweiter Darwin, aber davon einmal abgesehen ist der Mann schlichtweg verrückt. Und dann diese Haare! Warum hast du sie violett eingefärbt? Ob Gymnopterus ein violettes Federkleid trägt?

Seltsam, warum kommt Spiderton gerade jetzt auf mich zu? Manchmal frage ich mich, ob unsere Hirnschalen vielleicht doch nicht absolut dicht sind? Nein, so ganz ausschließen dürfen wir die Möglichkeit nicht, dass die elektrische Ladung eines Gehirns sich über eine gewisse Distanz einem anderen mitteilt. Eine bloße Hypothese, natürlich, aber sie würde vieles erklären. Jedenfalls hält Spiderton jetzt direkt auf mich zu.

Wissen Sie Newton, dass mein lieber Urvogel, Gymnopterus maximus, nach allem, was wir heute wissen, mit großer Wahrscheinlichkeit, ich möchte sogar von Gewissheit sprechen, das Vorbild war für den Vogel Greif aus Tausendundeiner Nacht? Seine Flügelspannweite betrug einmal ganze sechs Meter, da können wir uns mühelos vorstellen, dass ein Mensch in den Klauen des Maximus ebenso klein wird wie eine Maus, die von einem Adler gepackt wird. Allerdings hat das Federvieh die Fliegerei schon früh aufgegeben, seit etwa drei Millionen Jahren. Der Grund leuchtet ein: Auf Merson Island und den umliegenden Inseln hatte der Vogel keine Feinde. Also sind wir bequem geworden, haben unsere Flügel einfach nicht länger benutzt, und was man nicht benutzt, das verliert nach einiger Zeit seine Funktion. Dekadenz, nenne ich das, lieber Kollege, Dekadenz, wie sie im Buche steht.

Na ja, bis zum Jahre 1709 gab es auf Merson wirklich keine Feinde. Aber dann waren sie auf einmal da, für die armen Vögel wurde es lebensbedrohlich. Denn in diesem Jahre strandete dort die Glorious und spuckte mehr als ein Dutzend überlebender Meuterer auf die Insel. Da ist es uns – ich meine die lieben Vögel - so richtig schlecht ergangen, zumal wir die Ankömmlinge ja zunächst einmal sehr sympathisch fanden. Das waren zweibeinige Wesen ganz wie wir selbst. Deswegen haben wir sie ja auch voller Interesse begrüßt, vermutlich sogar mit naiver Begeisterung, denn eine Insel bietet ja an und für sich wenig Abwechslung. Also versuchen Sie bitte, sich diese Situation anschaulich vorzustellen! Einerseits meine Vögel, vertrauensselig und liebenswürdig, andererseits diese wilden ausgehungerten Meuterer.

Na ja, das traurige Ende der Geschichte war unschwer vorauszusehen. Die Meuterer liebten die Vögel auch, aber auf ihre Weise, nämlich erst, wenn sie gebraten waren. Das waren raue Leute, sie kamen aus einer Kolonialmacht voller Mordinstinkte und mussten zudem ums Überleben kämpfen. Natürlich hatten diese Barbaren keine Ahnung von dem wissenschaftlichen Wert meines Gymnopterus; ich fürchte, die Kerle hätten sich aber so oder so über den Nacktvogel hergemacht. Anders gesagt, die Tiere wurden zu einer leichten und, wie es scheint, überaus schmackhaften Beute für die verirrten Repräsentanten ihrer britischen Majestät. Ich halte es übrigens für durchaus möglich, dass sich die Handvoll Matrosen zwanzig Jahre lang überwiegend von Gymnopterus ernährte, solange der Vorrat an lebenden Exemplaren eben reichte. Als schließlich auch noch der letzte Vertreter des Vogel Greif im Kochtopf geendet war, starben auch die Matrosen aus. Na ja, das hätte ich ihnen natürlich voraussagen können.

Spiderton schwätzt und schwätzt. Hat er es denn nötig, seine Leistungen so an die große Glocke zu hängen? Darwin, du bist eine Kapazität, das wissen doch alle! Ein zustimmendes Lächeln kannst du durchaus von mir erwarten, aber keine leidenschaftliche Anteilnahme. Das nun ganz sicher nicht. Würde ich dir reinen Wein einschenken, dann müsste ich dir nämlich verraten, dass deine Vögel und deren Schicksal mir eigentlich herzlich egal sind. Gymnopterus hin oder her, was hat die Weltgeschichte mit dieser Kreatur zu schaffen? Ich, Krszymanski, habe es mit dem menschlichen Gehirn zu tun, also mit der wichtigsten Erfindung der Evolution, ohne die du, mein lieber Spiderton, deine Forschungen nicht einmal beginnen könntest. Das Gehirn ist die Grundlage, das Fundament, der Ursprung und Ausgangspunkt von allem, also etwas ganz anderes als dieses Federvieh. Glücklicherweise hast du es auch noch mit der Jungbrunnen-Genetik zu tun. Da treffen wir uns schon eher, da sind wir sogar Konkurrenten. Aber geh mir bitte nicht ewig mit deinem Vogel auf die Nerven! Wäre ich nicht auf akademische Höflichkeit gedrillt, hätte ich mich längst abgewendet, aber gut, so täusche ich halt ein Minimum an Interesse vor.

Immerhin, hatten Sie, lieber Spiderton, das gewaltige Glück, im Innern einer eiskalten Höhle die Reste von Knochen mit gut konserviertem Mark zu entdecken. Und dann noch die finanzielle Unterstützung durch Palmerstone. Das war eine in der Forschung überaus seltene und ausgesprochen glückliche Konstellation.

Gewiss doch! Das scheinbar Unmögliche ist uns gelungen. Wir haben den Riesenvogel aus den wenigen erhaltenen genetischen Resten wieder zum Leben erweckt. Ein Triumph für die Wissenschaft. Und wenn Sie wüssten! Nein, das werde ich Ihnen erst später verraten. Erst auf der Insel - Überraschungen müssen sein. Der Triumph ist nämlich viel größer, als Sie sich in Ihren kühnsten Träumen vorstellen können. Wir haben uns - sagen wir es in aller Bescheidenheit einmal so - noch einige zusätzliche genetische Spielereien einfallen lassen. Die Ergebnisse sind umwerfend, einfach toll. Newton, Sie werden verblüfft, Sie werden sprachlos sein.

Nur wird es doch beinahe schon ärgerlich. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, um jetzt noch zu lächeln. Diese Selbstbeweihräucherung geht mir einfach zu weit. Ich glaube wirklich, dass Darwin allen Ernstes unter der Einbildung leidet, in unserer Runde so etwas wie der wissenschaftliche Senior zu sein.

Einige Kollegen haben die letzten Worte Darwins gehört und sind näher zu uns herangetreten. Ein köstlicher Anblick, sieht aus wie bei einem Faschingfest! Wirklich ein toller Spaß, gestandene Nobelpreisträger, lauter ehrwürdige Wissenschaftler im Sträflingsgewand zu erblicken, zwar nicht blau-weiß gestreift – das wäre denn doch eine Zumutung – aber in grün-weißen Farben, Männer wie Frauen. Der Lord ist wirklich ein Schelm und ein Sonderling.

Niemand kommt mir auf meine Insel, hat er uns wissen lassen, wenn er nicht vorher zu einem neuen Menschen wird. Also hat er uns per Dekret diese grün-weiße Aufmachung verordnet. Jetzt sehen wir aus, als kämen wir alle aus der gleichen Konservenfabrik. Vielleicht ist gerade das seine Absicht. Lord Palmerstone verteidigt die Egalität – unter geborenen Aristokraten kein allzu seltenes und jedenfalls ein Aufsehen erregendes Hobby. Es heißt, er habe sich in diese Art der Verkleidung während einer Reise nach Japan verliebt. In den Ryokans, den traditionellen Gasthäusern des Landes, legen Männchen wie Weibchen gleich bei der Ankunft die Alltagskleidung beiseite und werfen die gestreiften Sträflingskittel aus dünner Baumwolle über. Angeblich heißen die dort ebenso Kimono wie die herrlichen Festgewänder der Frauen. Die Sitte hat es dem Lord so sehr angetan, dass er nun alle, die seine Insel betreten, schon auf dem Schiff zu diesem Karneval verdammt.

Grotesk, so etwas kann sich wirklich nur ein englischer Lord ausdenken. Ich nehme an, dass er von diesem Spleen profitiert, vermutlich auf doppelte Weise. Seine angeborene Stellung macht ihm ja ohnehin keiner streitig, aber zusätzlich kann er sich mit egalitärer Vorurteilslosigkeit brüsten. In diesem Sinne hat der Lord uns alle zu Sträflingen degradiert. Der Mann ist ein leidenschaftlicher Sammler, allerdings nicht von Briefmarken oder Schmetterlingen, sondern er sammelt uns, die Geisteshelden des Globus. Merson Island will er zu einem Olymp des Geistes machen. Alles was in der Wissenschaft Rang und Namen hat, will der Lord in seinem Dunstkreis versammeln.

Und wir kommen wie der Hund, den sein Besitzer herbeipfeift. Palmerstone lockt uns mit Angeboten, die keiner von uns ablehnen kann. Er hält uns eine überaus schmackhafte Karotte vor Augen: sein phantastisches Vermögen. Ja, so ist es. Wir sind alle käuflich, jeder von uns. Deshalb haben wir die Sträflingskleider übergeworfen und lassen uns willig auf eine abgelegene Insel mitten im fernen Pazifik entführen.

Wenn nur diese verdammte Dogge nicht wäre! Dieses Riesenvieh. Jetzt hat es sich an meine Assistentin herangedrängt und schnüffelt an einer Stelle, wo man sie in der Öffentlichkeit nicht einmal berühren dürfte. Aber Tamara ist nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Ohne zu zögern greift sie der Riesendogge ans Halsband und schiebt sie von sich fort. Dieser Hund - wer ihn wohl mitgebracht hat? - könnte einem richtig das Vergnügen an dem herrlichen Tag verderben. Schnüffelnd und schnaufend jagt er in einem fort von einem zum anderen Gast.

Nein, beschweren will ich mich dennoch nicht. Diese Sonne, diese Weite, dieses Glitzern und Funkeln der Wellen, so weit der Blick reicht. Dieser glasklare, blaue Himmel, auf dem, nur um der Abwechslung willen, ein paar verirrte weiße Wolkenschäfchen schweben. Diese Unbeschwertheit. Nur bei Spiderton passt die Kleidung nicht recht, weil man auf seinem unbedeckten rechten Arm immer die Tätowierung vor Augen hat, aber meine Tamara zeigt in dieser Kleidung zum ersten Mal ihre Formen. Ich muss mir wirklich Mühe geben, nicht immer verstohlen auf ihr Haar und ihre Oberweite zu blicken. Nein, ich sollte das wirklich nicht tun. So viel muss doch ein für alle Mal klar sein: Zwischen uns darf es nichts anderes als ein strikt sachliches Verhältnis geben. Obwohl man natürlich streng logisch auch argumentieren könnte, dass eine Insel ein besonderer Raum ist, sozusagen extraterritorial. In solchen Räume könnten theoretisch andere Regeln gelten.

Solche Einfälle sind eine Qual. Sie erinnern mich immer wieder daran, dass mein biologisches Hirn grundfalsch programmiert ist. Für andere wäre das allerdings ein Grund zur Verzweiflung. Bei mir ist das anders. Ich trage immerhin die Gewissheit in mir, dass sich das alles bald endgültig ändern wird. Das Quantengehirn ...

Schön, wie dem schlanken Mann da vorn die Brise durch den Kimono fährt und die ganze Gestalt zu flattern beginnt! Der muss noch ganz jung sein, ich nehme an, nicht älter als fünfundzwanzig, allenfalls dreißig, ein wunderbares Alter. Außerdem hat er ein einnehmendes Gesicht. Jetzt nähert er sich Spiderton, rückt ihm geradezu auf die Pelle. Dem leuchtet die Begeisterung noch aus den Augen. Das ist so selten in unserer Wissenschaft. Für meine Begriffe spricht er allerdings etwas zu laut und zu selbstbewusst. Bei allem, was man gegen Spiderton sagen kann, ist er doch eine weltweit bekannte Autorität. Einer solchen Autorität sollte man mit etwas mehr Respekt näher treten, zumal wenn man noch nicht einmal dreißig ist.

Der Riesennacktvogel, ruft der junge Mann mit so lauter Stimme, dass ihn auch die ferner Stehenden hören, lateinisch Gymnopterus maximus, das ist nur eine der vielen Kostbarkeiten, die uns auf dieser Schatzinsel erwarten. Viel erstaunlicher finde ich persönlich denn doch den Barbarossa, den Vogel mit dem roten Bart. Wissen Sie, meine Damen und Herren, dass Rotbart eine Sensation unter den Papageien ist? Die meisten aus dieser Vogelgattung sind strikt monogam, aber Barbarossa bildet eine Ausnahme von der Regel - und daran trägt nichts anderes als dieser rote Bart die Schuld. Je länger der Bart, desto größer der Harem. Das ist bei den Barbarossas so etwas wie eine unverbrüchliche Regel. Ein Prachtexemplar mit weit nachschleppendem Bart braucht sich um Weibchen nicht zu bemühen. Toll vor Liebe fliegen sie ihm aus der ganzen Umgebung zu. Es ist unglaublich. Im Extremfall kann der Bart die Körperlänge des Vogels weit übertreffen und ihn so sehr beim Fliegen behindern, dass die prächtigsten Exemplare überhaupt flugunfähig sind!

Der junge Mann hat sich richtig in Rage geredet. Na ja, wie ich Darwin kenne, geht das auf keinen Fall gut. Ich weiß doch, wie Spiderton reagiert, wenn ein Außenstehender es wagt, über den Zaun zu klettern, in seine Domäne, sein Fachgebiet. Solche Anmaßung verzeiht er niemals und niemandem. Da braucht man auf den Ausgang einer solchen Verwegenheit gar nicht lange zu warten. Ich sehe schon, wie seine Nase sich kräuselt und seine Stirn zornige Falten wirft.

Junger Mann, da sagen Sie den hier Versammelten nun wirklich nichts Neues. Das ist der Wissenschaft schon seit langem bekannt.

Welch kurioser Vogel doch dieser Spiderton ist! Die Krallen des eintätowierten Phönix setzen sich bis in die Finger fort, während der Schnabel mit der Spitze den Ansatz von Spidertons Schulter berührt. Das hält der Mann für modern, aber mit dieser Geschmacksverirrung ist er nur ein Sündenfall für die Wissenschaft - so jedenfalls sehe ich diese Maskerade. Und dann noch der ballonartige Bauch! Man könnte glauben, der Mann wäre schwanger im neunten Monat. Ein solcher Bauch ist einfach unwissenschaftlich, hat Tamara einmal gesagt – und damit hat sie ja recht! Natürlich ist bleibt ein Bauch eine Privatsache, und deshalb halten wir alle ja nach außen hin brav unseren Mund. Seit Spiderton dem schwedischen König in dieser Aufmachung gegenübertrat, ist seine Erscheinung auch gewissermaßen offiziell. Da lässt sich gar nichts mehr sagen. Die Erscheinung ist sozusagen von höchster Stelle aus abgesegnet. Aber seine Gedanken wird sich immerhin noch erlauben dürfen, zumal er selbst gnadenlos ist. Er kanzelt jeden ab, der auch nur ein Wort in seinem Gebiet mitreden will.

Der junge Mann, das ist Jesus flüstert mir Tamara ins Ohr, so wird er von seinen Freunden genannt. Ein sensationell begabter Theologe. Man munkelt, dass Dr. Gottlieb Theophrast das ganze neue Testament und einen Teil des Alten auswendig hersagen kann.

Na schön, noch so ein Genie, habe ich mir schon gedacht! Dann passt der Mann ja bestens in unsere Runde. Offenbar lässt er sich von Spidertons kaltschnäuziger Zurechtweisung nicht beirren.

Barbarossa, meine Damen und Herren, stellt die Wissenschaft vor eine fundamentale Herausforderung. Ihnen brauche ich nicht zu sagen, dass die Biologen seit den Zeiten des ersten Darwin zutiefst überzeugt sind, dass nur die jeweils bestmöglich angepassten Exemplare der biologischen Evolution eine Chance auf Überleben haben. Dieser Glaube wird nun leider durch unseren Rotbart gründlich erschüttert, man könnte auch sagen: auf fulminante Art widerlegt. Gerade der Fluguntüchtige, der am wenigsten Angepasste, bringt die meisten Nachkommen hervor.

Alle Achtung, der junge Mann hat Courage. Er nimmt Spiderton direkt auf die Hörner. Das geht nun gewiss nicht gut. Da haben wir es schon: Spidertons Gesicht verfärbt sich vor Ärger.