Die Lügnerin - Linn Ullmann - E-Book

Die Lügnerin E-Book

Linn Ullmann

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Beschreibung

Das Buch, mit dem Linn Ullmann berühmt wurde.

Die Bloms sind eine Familie, die eines Woody- Allen-Films würdig wäre, jeder einzelne liebenswert und verrückt, leicht schräg und auf besondere Art unglücklich. Vor allem die Frauen aus drei Generationen geben den Ton an: June und Selma, die alten Kämpferinnen, dann Annie, die Unwiderstehliche, und schließlich ihre Töchter, hier Julie, stets am Rand der Verzweiflung, da Karin, die gern Geschichten erzählt, Männer verführt und lügt. Julies Hochzeit bildet den Auftakt zu einem Familienporträt, das mit Witz und Scharfsinn Lebenslügen demontiert und erzählt, was so alles zwischen Menschen passieren kann, die sich nahestehen.

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Seitenzahl: 368

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Die Bloms sind Meister im Kampf gegen das Unglücklichsein, vor allem die Frauen der Familie, und jede hat ihre eigenen Strategien – wie Anni, die Unwiderstehliche, der alle Männer verfallen und die eines Tages selbst Opfer wird, oder ihre Mutter June, die sich als Soldat bezeichnet und nach dem Motto lebt: »Nie zurückschauen, einfach durchstreichen und weitergehen.« Oder Tante Selma, die Wut und Boshaftigkeit am Leben halten. Nicht zu vergessen Annis Töchter Julie und Katrin: Julie ist stets unglücklich und verzweifelt, laut Großmutter June wahrlich kein Soldat, wohingegen Katrin versucht, mit Hilfe ihrer Lieblingsbeschäftigungen ihr Leben zu meistern, und das sind Geschichten erzählen, Männer verführen und lügen. Auf der Suche nach dem Lebensglück scheint zwar keine der Strategien so richtig zu verfangen, doch sie sind unverwüstlich, diese Bloms, man muss sie einfach lieben ...

»Linn Ullmanns wortgewaltiger erster Roman überzeugt durch seine raffinierte literarische Form und sein feines Gespür für die Täuschungen, die sich hinter Ehen und Liebesaffären verbergen ... Die Geschichte verführt den Leser mit ihrem sanften Rhythmus – wie eine Gutenachtgeschichte, die sich zum Alptraum entwickelt.« The New York Times

Inhaltsverzeichnis

ZUM EINSCHLAFEN ZU SAGENWidmungI - Hochzeit August 1990II - Tage 1990-1997III - AmerikaIV - GesichterV - Sander Dezember 1998Über die AutorinCopyright

ZUM EINSCHLAFEN ZU SAGEN

Ich möchte jemanden einsingen, bei jemandem sitzen und sein. Ich möchte dich wiegen und kleinsingen und begleiten schlafaus und schlafein. Ich möchte der einzige sein im Haus, der wüßte: die Nacht war kalt. Ich möchte horchen herein und hinaus in dich, in die Welt, in den Wald. Die Uhren rufen sich schlagend an, und man sieht der Zeit auf den Grund. Und unten geht noch ein fremder Mann und stört einen fremden Hund. Dahinter wird Stille. Ich habe groß die Augen auf dich gelegt; und sie halten dich sanft und lassen dich los, wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.

Rainer Maria Rilke

FÜR NIELS

Ich will meinen Gegner nicht k. o. schlagen. Ich will einen Treffer landen, einen Schritt zurücktreten und sehen, wie weh es tut. Ich habe es auf sein Herz abgesehen.

Joe Frazier

Sander schweigt. Karin schweigt auch. Das allein zeigt schon, daß etwas nicht stimmt. Normalerweise redet Karin ununterbrochen. Aber wenn zwei Menschen mitten in der Nacht in einem Bett liegen und auf ein Telefon horchen, das stumm bleibt, dann schweigen auch sie. Sie hören: den Wecker auf dem Nachttisch, der nicht tickt, sondern brummt. Das Knacken in den Wänden. Das Sausen von Wind und Schnee vor dem Fenster. Den schlaflosen Nachbarn, der sein Radio ausschaltet und sich wieder hinlegt.

Karin hat Sander versprochen, daß er erst einzuschlafen braucht, wenn Julie angerufen und ihm gute Nacht gesagt hat.

Sander ist siebeneinhalb.

Julie hätte schon vor Stunden anrufen sollen.

Im Moment haben Karin und Sander sich aneinander geschmiegt. Nur ihre Gesichter und ein bißchen struppiges Haar lugen unter der Decke hervor. Manchmal erzählt Karin Märchen. Das tut sie auch jetzt.

Soll ich dir was erzählen, Sander? fragt sie.

Was denn?

Kannst du dich an das Bild von deinem Großvater und den vielen anderen vor diesem Denkmal in Queens erinnern – vor der Zeitkapsel Cupaloy? Weißt du noch, wie wir über all das gesprochen haben, was in der Zeitkapsel gesteckt hat? Die Gegenstände, die in der Erde versenkt worden sind und die erst in fünftausend Jahren wieder ausgegraben werden dürfen?

Ja, sagt Sander.

Da ist auch ein Märchen dabei.

Unten in der Erde?

Ja.

Warum das denn?

Die Leute, die die Kapsel vergraben haben, wollten, daß die, die sie im Jahr 6939 wieder ausgraben, ihren Kindern etwas vorlesen könnten.

Kannst du es mir vorlesen?

Karin streicht ihm die Haare aus den Augen.

Das brauche ich dir nicht vorzulesen, ich kann es auswendig.

Ja?

Hör zu, sagt sie leise. Hör zu: Es war einmal, daß der Nordwind und die Sonne sich stritten, wer stärker sei, und eines Tages kam ein Mann des Wegs, der einen wärmenden Umhang trug. Als sie den Mann sahen, entschieden sie, für alle Ewigkeit solle stärker sein, wer den Mann zuerst dazu bringen könnte, seinen Umhang abzulegen.

Und dann? fragt Sander. Er gähnt, rollt sich unter der Decke zusammen. Und dann? Seine Stimme ist fast nicht zu hören.

Ob er jetzt einschläft?

Karin beugt sich über ihn, hält ihr Ohr an sein Gesicht.

Nein. Noch nicht.

Sander setzt sich wieder auf. Legt ihr die Arme um den Hals. Legt den Kopf an ihre Brust. Sie soll etwas sagen. Darüber, warum das Telefon nicht klingelt.

Über die Stille im Zimmer. Über die Nacht.

Wie spät ist es jetzt? flüstert er.

Es ist spät, Sander, sagt sie, will ihm aber nicht sagen, wie spät. Es ist wirklich sehr spät. So spät warst du bestimmt noch nie wach.

I

Hochzeit August 1990

Es war einmal vor fast zehn Jahren. In dem Jahr, als ich zwanzig wurde, Anni nach Amerika fuhr und Julie Aleksander heiratete.

Eigentlich kann ich damit anfangen.

Ich fange mit deinem Hochzeitstag an, Julie – einem sonnigen Nachmittag, dem 27. August 1990. Niemand hätte nachher behaupten können, es sei keine schöne Hochzeit gewesen, o nein, du warst schön, Julie, schön warst du. Niemand könnte, Hand aufs Herz, behaupten, du seist keine schöne Braut gewesen. Ich war nicht schön, das wußte ich. Ich war noch nie schön. Klein und dünn und dunkelhaarig, mit einer leichten Kartoffelnase. Aber das machte nicht viel aus. Ich konnte gut singen.

Niemand war zu Hause, als ich an diesem Morgen aufwachte. Julie und Anni machten noch letzte Besorgungen, dann sollte Julie ihr Brautkleid anziehen und von Vater abgeholt werden, wie die Tradition es ja verlangt. Ich weiß noch, daß ich aufwachte und barfuß über den groben Holzboden ging, durch den Flur, ins Wohnzimmer, zu Annis Barschrank. Ich öffnete den Barschrank, nahm mir ein bißchen Whisky und mischte ihn in einer Tasse mit heißem Kakao.

Ich war schon vor Jahren aus der Wohnung in der Jacob Aalls gate ausgezogen, aber Anni fand, wir sollten »in der letzten Nacht«, wie sie es ausdrückte, alle drei zusammensein. Ich will in der letzten Nacht vor Julies Hochzeit mit euch zusammensein, schniefte sie, so wie früher, als ihr klein wart, die Zeit vergeht so schnell ...

Ich werde später mehr über Anni erzählen. Anni ist meine Mutter. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf.

Das mit dem Whisky im Kakao machte ich, weil ich ein nostalgisches Wesen bin – im Laufe der Jahre werde ich verantwortungsbewußt, mutig, lebenstüchtig und einigermaßen ehrlich werden, aber an diesem Tag war ich vor allem nostalgisch – und das mit dem Whisky im Kakao hatte ich als kleines Mädchen oft gemacht. Nicht, daß ich ein trunksüchtiges Kind gewesen wäre. So eine traurige Geschichte ist das hier nicht. Nein, du warst viel trauriger als ich, Julie.

Wenn ich versuchen will, meine Familie zu beschreiben, und das will ich ja, dann kann man wohl sagen, daß Anni trank, um zu vergessen. Ich trank, um froh zu werden. Vater trank, um durchzuhalten. Großmutter trank, um nachts besser zu schlafen. Tante Selma trank, um noch gemeiner zu werden, als sie ohnehin schon war. Rikard, mein Großvater, trank nicht, das behauptete er wenigstens, obwohl er angeblich in Amerika mit dem Handel von Schnaps eine Menge Geld verdient hatte – aber das war lange her.

Julie war als einzige in der Familie – wie sagt man das bloß? – natürlich und maßvoll in ihrem Umgang mit Alkohol. Leider! Das half ihr überhaupt nicht. Sie konnte weder vergessen noch froh sein, weder schlafen noch gemein sein. Und reich wurde sie auch nicht.

Es war dein Hochzeitstag, Julie. Ich weiß noch, daß ich dich vorn am Altar sah, mit den winzigen weißen Blumen im Haar, mit dem langen, mit Perlen besetzten und viel zu prinzessinnenhaften Seidenkleid; du sahst verloren aus in dem Kleid, schön und verloren, und mit dieser endlos langen Schleppe, der Schleppe, die durch den Mittelgang der Kirche wogte, über die Treppe, durch die Straße, über den Fjord, über den Himmel wie Pinselstriche. Ja, ich sah dich da vorn vor dem Altar und dachte, das hier muß der gottverlassenste Liebesbeweis sein, den zwei Menschen einander geben können, sich gegenseitig für immer und ewig Liebe zu versprechen, als wäre das überhaupt möglich. Und was sagt der Pastor? Hörst du, was er sagt, Julie? Er sagt, sollte eine Zeit kommen, da ihr nicht mehr stark genug seid, um einander zu lieben, da ihr einander nicht mehr lieben könnt, dann sollt ihr wissen, daß die Liebe, die Liebe an sich, größer ist als die Liebesfähigkeit jedes einzelnen Menschen, denn die Liebe kommt von Gott, und die Liebe Gottes ist unendlich, sagt er, und du sagst ja, und Aleksander sagt ja, aber Aleksander sieht dich nicht an, Julie, er sieht dich nicht an, er blickt nach vorn, wie der vortreffliche Mann, der er schließlich ist.

Ich trank Annis Whisky, goß Wasser in die Flasche, sie sollte doch nicht sehen, daß etwas fehlte – genau wie früher. Ich stellte Glas und Flasche zurück, schloß den Barschrank.

Danach zog ich mein feines rotes Kleid an, stieg in meine roten Schuhe und malte mir die Lippen rot. Ich drehte mich um und betrachtete mich im Spiegel:

Bist du da, Karin? Bist du da?

Aber sicher. Auch heute. Gar nicht schlecht, was? Ich drehte mich um und schaute mich an, doch, du bist fein, sagte ich zu dem Mädchen im Spiegel, und das Mädchen nickte, und das Mädchen sagte: Komm mir bloß nicht heute nacht und sag, du hättest es doch nicht geschafft.

Und ich war nicht gerade berauscht, als ich an diesem Spätsommernachmittag zur Kirche ging, um zuzusehen, wie der vortreffliche Aleksander Lange Bakke meine Schwester Julie heiratete.

Ich war froh und leicht, und es war nur ein wenig zu warm in dem kratzigen roten Kleid, und irgendwo in mir ein schwaches Gefühl von Übelkeit.

Anni steht vor der Uranienborg-Kirche auf der Treppe und ist seidenfein in ihrem langen grünen Kleid. Anni erinnert an ein karibisches Meer, wie sie so dasteht, groß und kühl und einladend. Ich glaube, weder Julie noch ich würden unsere Mutter gegen eine andere eintauschen, wenn das möglich wäre. Ich würde das jedenfalls nicht tun. Nie im Leben würde ich Anni eintauschen, unser Glamourgirl Anni, Oslos beste Friseuse. Unsere Anni, die eigentlich gar nicht Anni sein wollte, sondern eine ganz andere. Anni wollte in der Fontana di Trevi in Rom baden, blauäugige Filmstars auf den Mund küssen, reizenden, dankbaren Kindern den Kopf streicheln, mit den Fingern durch ihr volles, langes rotblondes Haar fahren, während die Welt atemlos zusah. Sie wollte fort und in die Welt hinaus, Oslo war ihr nicht gut genug, sie wollte zurück nach Amerika, unsere Anni, aufgewachsen in Trondheim, geboren jedoch in Brooklyn, Tochter von Rikard Blom. Die kleine achtjährige Anni, die auf ihrem Fahrradsattel stehen und so durch die Lexington Avenue in New York fahren konnte, mit einem Bein in der Luft und einer Hand am Lenker: Hurra für Anni, rufen alle. Nun seht mich doch nur an, Leute, seht mich an, seht mich an, ruft die kleine Anni. Nun seht mich doch nur an, Leute, seht mich an, seht mich an. Und Anni dreht sich um, weil sie wissen will, ob alle sie ansehen, und der Boden kommt ihr entgegen, der Boden kommt ihr entgegen, und das Fahrrad stürzt, und Anni dreht sich auf der Kirchentreppe zu mir um und sagt: Karin, stell dich doch neben mich und sag den Hochzeitsgästen guten Tag.

Anni ist das, was man als unwiderstehliche Frau bezeichnen könnte. Die Männer sagen ihr das immer. Anni wurde weder berühmt noch gefeiert, Federico Fellini kam nicht nach Trondheim, um sie zu holen, die Rückkehr nach Amerika ließ auf sich warten. Trotzdem war sie unwiderstehlich. Unglücklich, ja. Bitter, ja. Trunksüchtig, ja. Total verrückt, ja. Aber unwiderstehlich. Das kann ihr niemand nehmen.

Ich weiß noch, einmal, vor langer Zeit. Anni, Julie und ich und Annis Liebhaber Zlatko Dragovic aus Jugoslawien waren mit der Bahn unterwegs nach Zagreb. Zlatko Dragovic war Annis erster Liebhaber nach Vater. Wir hatten Sommerferien. Wir saßen im Zugabteil, der Zug fuhr dahin, wir waren die einzigen Fahrgäste im Abteil. Zlatko Dragovic sagte mit seiner dunklen Stimme, in seinem gebrochenen Englisch sagte er: Your mother in that light, can you see. Look at your mother. Karin! Julie! Look at your mother! Her eyes, my god, her eyes. Have you ever seen such eyes?

Dann weinte er leise, so gerührt war er.

Julie und ich glotzten.

Anni leckte sich die Pfoten und sah uns an. Ich vermute, ihr schaut meine Augen an, was? Er hat recht, wißt ihr. Ich bin unglaublich. Eine solche Mutter tauscht man nicht ein.

Und Anni steht auf der Treppe vor der Kirche und empfängt die Hochzeitsgäste, die Sonne scheint ihr in die Augen, in ihr volles rotblondes Haar, das sie mit blanken Goldspangen aufgesteckt hat, scheint auf ihre dunkelgrünen Stöckelschuhe, die über den Boden kratzen.

Du, Karin, sagt sie und packt mich am Arm, ehe ich mich in die dunkle, kühle Kirche schleichen kann.

Hilf mir jetzt, sagt sie, bleib ein bißchen bei mir, um die Gäste zu begrüßen. Aber sieh mal an! Sieh mal, wer da kommt, ruft sie laut und zeigt auf Tante Edel und Onkel Fritz. Sie hält mich noch immer am Arm, es ist nicht ganz klar, welche von uns beiden beschwipster ist, aber glaube bloß nicht, daß irgendwer das merkt.

Drei Dinge habe ich von Anni gelernt. Ich habe gelernt, daß manche ihre Rollen achtsam spielen, andere sind nachlässig. Und du mußt lernen, deine Rolle achtsam zu spielen, sagte Anni immer.

Das war das eine.

Das andere ist etwas, was sie zu mir gesagt hat, als ich klein war, erst sieben oder acht Jahre, und traurig. Sie sagte, du darfst ihnen nicht zeigen, wie traurig du bist. Laß ihnen nicht die Oberhand.

Ich war traurig, weil ein Junge aus meiner Klasse versprochen hatte, mich zu küssen, wenn ich einen Regenwurm verzehrte. Er hielt einen Regenwurm in der Hand, der Wurm baumelte lang und dünn und grau und glatt zwischen seinen Fingern, ich weiß noch, daß ich dachte, was für ein widerlicher Wurm. Aber ich sagte, alles klar, den eß ich, und ich ließ mir von dem Jungen den Wurm auf die Zunge legen. Der Wurm lag ganz still in meinem Mund, und als ich hineinbiß, merkte ich, wie weich und fast widerstandslos er sich teilte. In meinem ganzen Körper prickelte es, meine Stirn und meine Handflächen waren schweißnaß. Du mußt richtig kauen, sagte der Junge, der alles interessiert beobachtete. Wir hockten hinter einem Busch. Du darfst ihn nicht einfach runterschlucken. Das wäre Pfusch, sagte er.

Ich sah den Jungen an und dachte, ich tue alles, um dich küssen zu können.

Ich zerkaute den Regenwurm. Ich zerkaute ihn ganz und gar. Ich machte den Mund nicht auf. Ich erbrach mich nicht. Ich hielt meinen Teil der Abmachung ein. Als der Regenwurm in meinem Mund zu Brei geworden war, riß ich den Mund auf und fragte: Ist es gut so? Der Junge schaute mir in den Mund und sagte, okay, jetzt schluck ihn runter, und ich schluckte. Ich riß noch einmal den Mund auf und zeigte ihm, daß der Wurm verschwunden war.

Küssen wir uns jetzt, fragte ich.

Nie im Leben, sagte der Junge. Meinst du, ich küsse eine, die so blöd ist, Regenwürmer zu essen?

Ich weinte tagelang. Ich weinte, weil der Junge mich nicht küssen wollte. Ich weinte, weil ich betrogen worden war. Ich weinte, weil ich nicht stark oder mutig genug war, mich zu rächen.

Und da sagte Anni, nach durchweinten Tagen und Nächten: Du darfst ihnen nicht zeigen, wie traurig du bist. Laß ihnen nicht die Oberhand.

Das war das zweite.

Das dritte war ein Satz, der ursprünglich von meiner Großmutter stammte, den Anni sich aber zum Lebensmotto erkor: Nie zurückschauen, einfach durchstreichen und weitergehen, sagte meine Großmutter immer. Als ich diesen Satz zum ersten Mal von ihr hörte, war sie gerade zu uns in die Wohnung in der Jacob Aalls gate gezogen, nachdem Vater weggegangen war. Sie stellte sich ganz einfach mitten ins Wohnzimmer, eine winzig kleine Riesenfrau, und sagte, nicht ohne dramatisches Talent: Nie zurückschauen, einfach durchstreichen und weitergehen.

Kommt nicht in Frage, sagte Anni nach einigen Tagen und stand aus dem Bett auf, kommt nicht in Frage, daß ich noch eine Sekunde länger hier im Bett liege und um diesen Mann weine, um einen verdammten mittelmäßigen angejahrten Arsch, der mich sowieso nie glücklich gemacht hat, dieser miese fiese Rattenwichser, sagte sie und putzte sich die Nase.

Schau an, sagte Großmutter und zeigte auf Anni: Ein guter Soldat blickt nicht zurück.

Anni ist kein Soldat, sagte ich.

Ist sie wohl, sagte Großmutter.

Julie hörte nicht darauf, Julie saß auf einem Stuhl vor dem Fenster in ihrem Zimmer und hielt nach Vaters weißem Mazda Ausschau. Großmutter konnte ihr nur den Kopf streicheln und sagen, er hat dich doch immer noch lieb, Julie, er hat dich doch immer noch lieb. Das war das dritte.

Nein, sieh an, wer da kommt, sagt Anni, da kommen ja Onkel Fritz und Tante Edel. Ja schau an, da kommen Onkel Fritz und Tante Edel, und Anni läßt meinen Arm los, damit ich die beiden höflich begrüßen kann, wie sie sich das wünscht. Hallo, hallo, wie fein du heute bist, Tante Edel, ja, danke, und Onkel Fritz, wie geht es dir? Wie geht es dir, habe ich gefragt. WIE GEHT ES DIR, ONKEL FRITZ? Nein, die Braut habe ich noch nicht gesehen. Julie und Vater wollten die letzte Stunde für sich haben. Er wollte ihr ein paar gute Ratschläge für die Ehe geben, ehe der Trubel losgeht.

Onkel Fritz ist Tante Edels Sohn. Ich weiß nicht, warum wir sie Onkel und Tante nennen, ich weiß nur, daß wir auf irgendeine Weise miteinander verwandt sind. Edel versorgt ihren Sohn Fritz seit seiner Geburt vor vierundfünfzig Jahren, sie wohnen zusammen in einer Dreizimmerwohnung in der Schønings gate im Stadtteil Majorstua, nicht weit entfernt von Annis Wohnung in der Jacob Aalls gate, sie machen zusammen Urlaub im sonnigen Süden, sie betreiben zusammen eine kleine Kuchenfirma, mit der Küche in der Schønings gate als Mittelpunkt. Edel bäckt Torten, die besten Torten in der Stadt sogar, sie hat auch heute die Hochzeitstorte gebacken, eine achtstöckige Cremetorte, so, wie sie vor zwanzig Jahren Annis Hochzeitstorte gebacken hat. Onkel Fritz fährt die Torten zur Kundschaft. Mit Siebenunddreißig ist er in eine eigene Wohnung gezogen, hat seine Stelle als Edels Kuchenfahrer gekündigt und seiner Mutter erzählt, es sei nun an der Zeit für ihn, ein eigenes Leben zu beginnen.

Nach acht Tagen zog er zu Edel zurück.

Die Sonne prickelt auf meiner Kopfhaut und in meinen Wangen. Ich werde neben Onkel Fritz sitzen. Anni wagt nicht, andere neben ihn zu setzen, manchmal erbricht er sich bei Familienfesten ohne Vorwarnung. Er hat sich vor einem Jahr bei der Beerdigung von Annis Großmutter erbrochen. Anni hat es gelassen hingenommen. Schlimmer war der Heilige Abend vor drei Jahren. Da erbrach er sich über den ganzen Eßtisch, alle wurden bespritzt, das ist eines der Bilder, die in Tante Edels Familienalbum fehlen: ein langer, weißgedeckter Tisch, ausgestreckte Arme und Hände, offene, abgewandte Handflächen, die versuchen, die Kotze abzuwehren, bewahre, bewahre, wir wollen das nicht, aufhören, Mann! Ich sehe bleiche Gesichter, eins nach dem anderen nach dem anderen nach dem anderen um den weißgedeckten Tisch, geschlossene Augen. Ich sehe Abscheu, so viel Abscheu um einen Eßtisch gibt es nicht einmal in der unglücklichsten Familie, und wir waren nicht einmal eine besonders unglückliche Familie, aber wir waren viele. Unglücklich oder nicht, wer kann das schon sagen? Wir waren ein wenig dies und ein wenig das. Aber ich kann auf jeden Fall sagen, daß wir viele waren.

Ich bin Karin. Ich wurde im Sommer 1970 im Osloer Aker-Krankenhaus geboren. Anni hat erzählt, daß ihr meine Geburt nicht besonders weh getan hat, daß sie aber ein Glas Wasser auf den Boden geworfen und geheult hat, weil sich das so gehört. Und der Arzt beugte sich über sie und flüsterte, aber, aber. Julie war drei Jahre früher auf die Welt gekommen. Diese Geburt war um einiges härter, habe ich gehört, die Hebamme stöhnte, Anni war tapfer. Julie erschien mit den Füßen zuerst, und nie hatte die Hebamme bei einer Neugeborenen so große Füße gesehen. Julies Körper war klein und blau und sah eher aus wie ein Körperteil denn wie ein Körper. Doch die Füße waren ungewöhnlich groß und glatt, nicht runzlig, wie Babyfüße sonst sind, sie waren wohlgeformt wie Lachsköpfe. Im Vergleich zum übrigen Körper aber waren sie grotesk. Und Anni wußte das, wußte, daß Julies Füße grotesk waren, und immer, wenn sie Julie wickelte, versuchte sie, diese Füße nicht anzusehen.

Anni liebte ihre Kinder. Ich liebe meine Kinder, sagte sie immer. So war sie erzogen: Eine Mutter liebt ihre Kinder. Sie sagte es immer laut, oft ganz unmotiviert, zu allen, die es hören mochten: Ich liebe meine Kinder. Großmutter liebte ihre Kinder auch, sie liebte ihre Tochter Anni, und sie liebte ihre Tochter Else, die in Wisconsin lebt. Ich bin sicher, daß Großmutters Mutter Großmutter liebte, so, wie Großmutter Mutter liebte und wie unsere Mutter uns liebt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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