Die Unruhigen - Linn Ullmann - E-Book

Die Unruhigen E-Book

Linn Ullmann

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Beschreibung

Sehen, sich erinnern, verstehen. Alles hängt davon ab, wo du stehst.

Als sie zum ersten Mal nach Hammars kam, war sie ein knappes Jahr alt und ahnte nichts von der großen und umwälzenden Liebe, die sie dorthin geführt hatte. Im Grunde waren es drei Lieben.

Vater und Tochter sitzen mit einem Aufnahmegerät zwischen sich zusammen. Ihr Plan lautet, das Altern in einem Buch zu dokumentieren, das sie gemeinsam schreiben wollen. Als sie ihn endlich in die Tat umsetzen wollen, hat das Alter ihn in einer Weise eingeholt, die ihre Gespräche unvorhersehbar und unzusammenhängend macht.

"Die Unruhigen" ist ein genreüberschreitender Roman über ein Kind, das es nicht erwarten kann, erwachsen zu werden, und Eltern, die am liebsten Kinder sein wollen, über Erinnerungen und Vergessen und die vielen Geschichten, die ein Leben ausmachen.

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Seitenzahl: 475

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Zum Buch

Sehen, sich erinnern, verstehen. Alles hängt davon ab, wo du stehst. Als sie zum ersten Mal nach Hammars kam, war ich ein knappes Jahr alt und wusste nichts von der großen und umwälzenden Liebe, die sie dorthin geführt hatte. Im Grunde waren es drei Lieben.

Vater und Tochter sitzen mit einem Aufnahmegerät zwischen sich zusammen. Ihr Plan lautet, das Altern in einem Buch zu dokumentieren, das sie gemeinsam schreiben wollen. Als sie ihn endlich in die Tat umsetzen wollen, hat das Alter ihn in einer Weise eingeholt, die ihre Gespräche nvorhersehbar und unzusammenhängend macht. »Die Unruhigen« ist ein zarter, kraftvoller, Genre überschreitender Roman über ein Kind, das es nicht erwarten kann, erwachsen zu werden, und Eltern, die am liebsten Kinder sein wollen, über Erinnerungen und Vergessen und die vielen Geschichten, die ein Leben ausmachen.

Zur Autorin

LINN ULLMANN ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens. Ihre Romane sind vielfach preisgekrönt und in 30 Sprachen übersetzt, 2017 erhielt sie von der Schwedischen Akademie den Doubloug -Preis für ihr Gesamtwerk. Bei Luchterhand erschien zuletzt »Das Verschwiegene« – unter dem Titel »The Cold Song« u. a. auf der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher von James Wood (New Yorker). Für »Die Unruhigen« erhielt sie den Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks, der Roman war für den Kritikerpreis und den Nordischen Literaturpreis nominiert. Eine Bühnenfassung wird im Herbst 2018 am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm unter der Regie von Pernilla August ihre Uraufführung haben.

LINN ULLMANN

Die Unruhigen

Roman

Aus dem Norwegischen von Paul Berf

Luchterhand

Die norwegische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »De urolige« im Verlag Oktober, Oslo.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollte uns dies im Einzelfall bis zur Drucklegung bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2015 Forlaget Oktober as, Oslo

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Neumarkterstraße 28, 81673 München

Schutzumschlaggestaltung: buxdesign, München, unter Verwendung einer Vorlage von Egil Haraldsen & Ellen Lindeberg | EXIL DESIGN

Vor- und Nachsatz © Sarah York

Lektorat: Regina Kammerer

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-20532-4 V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

Für Hanna

I // Das Hammarspräludium

eine Karte der Insel

Die einzigen Karten und Tafeln, an die er sich halten konnte, waren jene, an die er sich erinnerte oder die er sich vorstellte, doch diese waren deutlich genug.

JOHNCHEEVER: »Der Schwimmer«

Sehen, sich erinnern, verstehen. Alles hängt davon ab, wo du stehst. Als ich das erste Mal nach Hammars kam, war ich ein knappes Jahr alt und ahnte nichts von der großen und umwälzenden Liebe, die mich dorthin geführt hatte.

Im Grunde waren es drei Lieben.

Gäbe es ein Teleskop, das man auf die vergangene Zeit richten könnte, würde ich sagen können: Sieh her, da sind wir, so hat es sich abgespielt. Und jedes Mal, wenn wir uns unsicher gewesen wären, ob das, woran ich mich erinnere, wahr ist, oder ob das, woran du dich erinnerst, wahr ist, oder ob das, was geschah, auch wirklich geschah, oder ob wir überhaupt existieren, wären wir in der Lage gewesen, uns nebeneinanderzustellen und zu schauen.

Ich nummeriere, ordne und katalogisiere. Ich sage: Es waren drei Lieben. Ich bin heute genauso alt wie mein Vater, als ich geboren wurde. Achtundvierzig. Meine Mutter war siebenundzwanzig, sie sah damals bedeutend älter und zugleich bedeutend jünger aus, als sie tatsächlich war.

Ich weiß nicht, welche der drei Lieben als Erste da war. Aber ich beginne mit der, die 1965 zwischen meiner Mutter und meinem Vater entstand und die endete, ehe ich alt genug war, mich an irgendetwas von ihr zu erinnern.

Ich habe Bilder gesehen und Briefe gelesen und gehört, wie sie von der Zeit erzählten, die sie zusammen waren, und ich habe gehört, was andere erzählen, aber in Wahrheit kann man nicht sonderlich viel über das Leben anderer Menschen wissen, vor allem nicht über das seiner Eltern, und erst recht nicht, wenn diese Eltern es darauf angelegt haben, ihr Leben in Geschichten zu verwandeln, die sie anschließend mit einer begnadeten Fähigkeit dafür erzählen, sich nicht im Geringsten darum zu scheren, was wahr ist und was nicht.

Die zweite Liebe ist eine Verlängerung der ersten und handelt von dem Liebespaar, das zu Eltern wurde, und von dem Mädchen, das ihre Tochter war. Ich liebte meine Mutter und meinen Vater vorbehaltlos, ich nahm sie als gegeben hin, wie man eine ganze Weile die Jahreszeiten als gegeben hinnimmt, oder den Tagesverlauf, oder die Stunden, die eine war Nacht und der andere war Tag, die eine endete, wo der andere begann, ich war ihr Kind und sein Kind, aber angesichts dessen, dass auch sie Kinder sein wollten, wurde es zuweilen ein wenig schwierig. Und dann ist da noch etwas. Ich war sein Kind und ihr Kind, aber nicht beider Kind, es gab niemals uns drei; wenn ich in dem Bilderstapel blättere, der vor mir auf dem Tisch liegt, gibt es kein einziges Foto von uns drei zusammen. Sie und er und ich.

Diese Konstellation existiert nicht.

Ich wollte möglichst schnell erwachsen werden, es gefiel mir nicht, ein Kind zu sein, ich fürchtete mich vor anderen Kindern, vor ihrem Einfallsreichtum, ihrer Unvorhersehbarkeit, ihren Spielen, und um meine eigene Kindlichkeit zu kompensieren, stellte ich mir häufig vor, ich könnte mich aufteilen und viele werden, mich in eine Liliputanerarmee verwandeln, und dass Kraft in uns wäre – wir waren klein, aber wir waren viele; ich teilte mich auf und marschierte vom einen zur anderen, vom Vater zur Mutter und von der Mutter zum Vater, ich hatte viele Augen und Ohren, viele schmächtige Körper, hohe Stimmen und noch mehr Choreographien.

Die dritte Liebe. DerOrt. Hammars, oder Djaupadal, wie er in früheren Zeiten hieß. Es war sein Ort, nicht ihrer, nicht der Ort der anderen Frauen, nicht der Kinder, nicht der Enkelkinder. Eine Zeitlang fühlte es sich so an, als gehörten wir dorthin, als sei es unser Ort. Wenn es wahr ist, dass jeder einen Ort hat, und das ist ja nicht wahr, aber wenn es denn wahr wäre, dann wäre dies mein Ort, jedenfalls mehr mein als der Name, den ich bekam, es war nicht so beklemmend, in Hammars umherzustreifen, wie es beklemmend ist, in seinem Namen umherzustreifen. Ich erkannte den Geruch von Luft und Meer und Stein wieder, und wie die Kiefern sich im Wind krümmten.

Benennen. Namen zu geben und zu nehmen, zu haben und mit ihnen zu leben und zu sterben. Ich hätte gern ein Buch ohne Namen geschrieben. Oder ein Buch mit sehr vielen Namen. Oder ein Buch, in dem alle Namen so alltäglich sind, dass man sie auf der Stelle vergisst, oder so gleichlautend, dass man sie unmöglich auseinanderhalten kann. Meine Eltern gaben mir (nach reichlichem Hin und Her) einen Namen, doch ich habe diesen Namen nie gemocht. Ich erkenne mich in ihm nicht wieder. Wenn jemand meinen Namen ruft, zucke ich zusammen, als hätte ich vergessen, mich anzuziehen, und würde es erst bemerken, sobald ich unter Leuten bin.

Im Herbst 2006 ereignete sich etwas, woran ich später als an eine Eklipse gedacht habe – eine Verdunkelung.

Die Astronomin Aglaonike, oder Aganike von Thessalien, wie sie auch genannt wird, lebte lange vor der Zeit des Teleskops, konnte jedoch mit bloßem Auge den genauen Zeitpunkt für eine Mondfinsternis berechnen.

Ich kann den Mond zu mir herabziehen, sagte sie.

Sie wusste, wo sie gehen und stehen musste. Sie wusste, was passieren würde, und wann. Sie streckte ihre Arme dem Himmel entgegen, und der Himmel wurde schwarz.

In »Ratschläge für Braut und Bräutigam« warnt Plutarch seine Leser vor solchen, von ihm Zauberinnen genannten Frauen wie Aglaonike, und ermahnt frisch gebackene Ehefrauen, zu lesen, zu lernen und sich zu bilden. Eine Frau, die Geometrie beherrscht, so schreibt er, wird kein Bedürfnis verspüren zu tanzen. Eine belesene Frau lässt sich nicht zur Torheit verleiten. Eine vernünftige, in Astronomie geschulte Frau lacht jedes Mal schallend, wenn eine andere Frau ihr weiszumachen versucht, es sei möglich, den Mond zu sich herabzuziehen.

Niemand weiß genau, wann Aglaonike lebte. Dagegen wissen wir, und das erkannte selbst Plutarch an, so herablassend er in seinem Verweis auf sie ist, dass sie den genauen Zeitpunkt und Ort von Mondfinsternissen vorhersagen konnte.

Ich erinnere mich genau, wo ich stand, aber mir fehlte die Fähigkeit, irgendetwas vorherzusehen. Mein Vater war ein pünktlicher Mann. Als ich ein Kind war, öffnete er die alte Standuhr im Wohnzimmer und zeigte mir ihr Innenleben. Das Pendel. Die Messinggewichte. Er verlangte Pünktlichkeit von sich selbst und allen anderen.

Im Herbst 2006 hatte er noch ein knappes Jahr zu leben, aber das wusste ich damals nicht. Er auch nicht. Ich stand vor der weißen Kalksteinscheune mit der rostroten Tür und wartete auf ihn. Die Scheune war zu einem Kino umgebaut worden und war umgeben von Feldern, Steinmauern und wenigen Häusern. Ein Stück hinter ihr lag der See Dämbaträsk mit seinem reichen Vogelleben – Rohrdommeln, Kraniche, Graureiher, Große Brachvögel.

Wir wollten uns gemeinsam einen Film ansehen. Jeder Tag mit meinem Vater, außer Sonntag, war ein Tag mit Film. Ich versuche mich zu erinnern, welchen Film wir an jenem Tag sehen wollten. Vielleicht Cocteaus Orphée mit seinen schweren Traumbildern. Ich weiß es nicht.

»Wenn ich einen Film drehe«, schrieb Jean Cocteau, »ist es ein Schlaf, und im Schlaf träume ich. Nur die Menschen und Orte im Traum sind von Bedeutung.«

Immer wieder habe ich überlegt, welcher Film es war, aber es fällt mir einfach nicht ein. Die Augen brauchen ein paar Minuten, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, sagte mein Vater immer. Ein paar Minuten. Deshalb hatten wir verabredet, uns um zehn Minuten vor drei zu treffen.

An diesem Tag kam er erst sieben Minuten nach drei, also siebzehn Minuten zu spät.

Es war kein Zeichen. Der Himmel verfinsterte sich nicht. Der Wind fuhr nicht in die Bäume und zerrte an ihnen. Es zog kein Sturm auf, und die Blätter wirbelten nicht im Wind. Ein Kleiber flog über die grauen Felder zum Sumpf hinaus, ansonsten war es still und bewölkt. Die Schafe – die auf der Insel, unabhängig von ihrem Alter, Lämmer genannt werden – grasten ein wenig entfernt, wie sie es immer taten. Wenn ich mich drehe und umschaue, ist alles wie immer.

Papa war so pünktlich, dass seine Pünktlichkeit in mir lebte. Wenn du in einem Haus an den Eisenbahngleisen aufwächst und jeden Morgen von dem Zug geweckt wirst, der am Fenster vorbeidonnert, davon, dass die Wände, Bettpfosten und Fensterrahmen erzittern, dann wirst du, selbst wenn du nicht mehr in dem Haus an den Gleisen lebst, jeden Morgen von dem Zug aufwachen, der durch dich hindurchdonnert.

Es war nicht Cocteaus Orphée. Möglicherweise ein Stummfilm. Wir saßen in der Regel jeder in einem grünen Sessel und ließen die Bilder, ohne Klavierbegleitung, über die große Leinwand flackern. Er sagte, als der Stummfilm verschwand, ging eine ganze Sprache verloren. Könnte es Victor Sjöströms DerFuhrmanndesTodes gewesen sein? Das war sein Lieblingsfilm. FürihnisteineinzigerTagsolangwieJahrhunderteaufErden.TagundNachtmusserindenGeschäftenseinesHerrnumherfahren.Ich hätte mich daran erinnert, wenn es DerFuhrmanndesTodes gewesen wäre. Das Einzige, was mir von jenem Tag in Dämba in Erinnerung geblieben ist, abgesehen von dem Kleiber über dem Feld, ist der Umstand, dass mein Vater zu spät kam. Dies war für mich ebenso unbegreiflich, wie es für die Anhänger Aglaonikes unbegreiflich war, dass der Mond verschwand. Die Frauen, die Plutarch zufolge nicht in Astronomie geschult waren und sich deshalb täuschen ließen. Aglaonike sagte: IchziehedenMondzumirherab,undderHimmelwirddunkel. Mein Vater kam siebzehn Minuten zu spät, und alles war wie immer und nichts mehr wie zuvor. Er zog den Mond zu sich herab, und die Zeit geriet aus den Fugen. Wir wollten uns um zehn vor drei treffen, es war sieben nach drei, als er vor die Scheune fuhr. Er hatte einen roten Jeep. Er liebte es, schnell zu fahren und eine Menge Lärm zu machen. Er trug eine große, schwarze Fledermaussonnenbrille. Er lieferte keine Erklärung. Es war ihm nicht bewusst, dass er zu spät kam. Wir sahen den Film, als wäre nichts passiert. Es war das letzte Mal, dass wir uns gemeinsam einen Film anschauten.

***

Er kam1965, mit siebenundvierzig Jahren, nach Hammars, und beschloss, dort ein Haus zu bauen. Der Ort, in den er sich verliebte, war ein verlassener Steinstrand, ein paar gekrümmte Kiefern. Er fühlte sich sofort daheim, er wusste, dies war sein Ort, er entsprach seinen innersten Vorstellungen von Formen, Proportionen, Farben, Licht und Horizonten. Und dann war da noch etwas mit den Geräuschen. Viele glauben, sie sehen ein Bild, aber in Wahrheit hören sie es, schrieb Albert Schweitzer in seinem zweibändigen Werk über Bach. Was mein Vater an jenem Tag am Strand sah und hörte, ist schwer zu sagen, aber damals begann alles, das heißt, es begann natürlich nicht da, denn fünf Jahre zuvor war er schon einmal auf der Insel gewesen, und vielleicht fing es zu der Zeit an, wer weiß schon, wann etwas anfängt und endet, aber einer äußeren Ordnung zuliebe sage ich: Hier begann das Ganze.

Sie drehten einen Film auf der Insel, es waren seine zweiten Dreharbeiten dort, und sie, die meine Mutter werden sollte, hatte eine der beiden weiblichen Hauptrollen. Im Film heißt sie Elisabet. Im Laufe der zehn Filme, die sie gemeinsam machen, gibt er ihr viele Namen. Elisabet, Eva, Alma, Anna, Maria, Marianne, Jenny, Manuela (Manuela – das war, als sie gemeinsam in Deutschland drehten), und danach wieder Eva, und danach wieder Marianne.

Doch dies sind die ersten gemeinsamen Dreharbeiten meiner Eltern, und sie verlieben sich praktisch sofort ineinander.

Elisabet ist, im Gegensatz zu meiner Mutter, eine Frau, die aufhört zu reden. Nach zwölf Minuten Film liegt sie im Bett und ist, auf Grund ihres unerklärlichen Schweigens, in der Obhut Schwester Almas. Ihr Bett steht mitten in einem Krankenhauszimmer. Der Raum ist sparsam möbliert. Ein Fenster, ein Bett, ein Nachttisch. Es ist Abend, und Schwester Alma ist bei ihr und schaltet das Radio ein, Bachs Violinkonzert in E-Dur, sie geht hinaus, und Elisabet bleibt alleine zurück.

Mitten im zweiten Satz des Violinkonzerts fängt die Kamera Elisabets Gesicht ein und verweilt fast anderthalb Minuten darauf. Das Bild wird dunkler und dunkler, aber es verdüstert sich so langsam, dass du es kaum merkst, jedenfalls nicht, bis es so dunkel geworden ist, dass ihr Gesicht auf der Leinwand kaum noch zu erkennen ist, aber da hast du es so lange angesehen, dass es sich schon in deine Netzhaut eingebrannt hat. Es ist dein Gesicht. Erst dann, nach anderthalb Minuten, dreht sie sich von dir weg, holt tief Luft und legt sich die Hände auf die Stirn.

Am Anfang ist es der Mund, der mir auffällt, das gesamte Nervenzentrum in den Lippen und in der Partie um ihn herum, und daraufhin lege ich, weil sie liegt, den Kopf so schief, dass ich ihr ganzes Gesicht sehen kann. Und wenn ich den Kopf schieflege, ist es, als würde ich mich an ihrer Seite auf das Kissen legen. Sie ist sehr jung und sehr schön. Ich stelle mir vor, dass ich mein Vater bin, der sie ansieht. Ich stelle mir vor, dass ich meine Mutter bin, die angesehen wird. Und obwohl es nach und nach dunkler wird, ist es, als würde ihr Gesicht leuchten, brennen, sich direkt vor meinen Augen auflösen. Wenn sie sich endlich fortdreht und die Hände auf die Stirn legt, ist es eine Erleichterung.

Mamas Hände sind lang und kühl.

***

Eines Abends nahm mein Vater seinen Kameramann zu einem Ort mit, den er sich ausgeguckt hatte. Hier könnte ich vielleicht ein Haus bauen, sagte er, oder etwas Ähnliches in dieser Art. Ja, aber warte mal, sagte der Kameramann, lass uns noch ein bisschen weitergehen, dann zeige ich dir eine noch schönere Stelle. Wenn man am Ufer entlanggeht, wie sie es damals,1965, taten, ist es nicht etwa so, dass man zum Ende des Wegs gelangt, es gibt keine Landzunge, Anhöhe, Lichtung oder Felskante, die anzeigt, dass dort eine Veränderung in der Landschaft eintritt; es ist ein Steinstrand, so weit das Auge reicht, nichts beginnt oder endet dort. Es geht einfach immer weiter. Läge der Ort in einem Wald und nicht an einem Ufer, hätte man gesagt, dass mein Vater zu einem Ort mitten im Wald gekommen wäre, und dass er sich entschlossen hätte, dort, genau dort zu bauen. Die beiden Männer blieben für einen Moment stehen. Wie lange? Lange genug, dass mein Vater, so die Legende, sich entschied.

Wenn man feierlich sein will, könnte man sagen, dass ich heimgefundenhatte, hat er gesagt, undwennmanscherzhaft sein will, könnte man von Liebe auf den ersten Blick sprechen.

Ich habe mein ganzes Leben mit dieser Geschichte von Heim und Liebe gelebt.

Er kam zu einem Ort und erhob Anspruch auf ihn, nannte ihn sein eigen.

Doch wenn er erklären wollte, warum es so kam, stand ihm jedes Mal die Sprache im Weg, und am Ende sagte er: Wenn man feierlich sein will, könnte man sagen, dass ich heimgefunden hatte,und wenn man scherzhaft sein will, könnte man von Liebe auf den ersten Blick sprechen.

Aber was ist, wenn man mit normaler Stimme sprechen will? Nicht zu laut, nicht zu leise, nicht, um zu überzeugen, nicht, um zu verführen, nicht, um es ins Lächerliche zu ziehen, nicht, um zu berühren? Welche Worte hätte er dann gewählt?

Und wie lange stand er nun dort? Zwischen dem Feierlichen und dem Scherzhaften, zwischen Heim und Liebe? Wenn er zu lange stehen geblieben und ihm die eigene Andacht bewusst geworden wäre, wenn ihm bewusst geworden wäre, dass er dem Ganzen einen Namen gab – Heim, Liebe – hätte sich mit Sicherheit der Drang gemeldet, den Kopf zu schütteln und weiterzugehen. Ich verabscheue Gefühlsausbrüche und schlechtes Theater. Wenn er zu kurz stehen geblieben wäre, hätten die Chancen gutgestanden, dass er den Ort nicht an sich herangelassen und annektiert hätte. Ein paar Minuten, vielleicht. Lange genug, um den Wind in den bereits windschiefen Kiefern zu hören, Wind in den Gehörgängen, Wind in den Hosenbeinen, die Steine unter den Schuhen, die Hand, die mit den Münzen in der Tasche seiner Lederjacke spielte, das hohe, an Morsezeichen erinnernde bik-bik-bik-bik der Austernfischer. Ich denke mir, dass mein Vater sich zu dem Kameramann umdreht und sagt: Hör mal, wie still es hier ist.

Erst Liebe. Eine intuitive Gewissheit. Dann ein Plan. Es soll nicht improvisiert werden. Nein. Es wird niemals improvisiert. Es wird bis ins kleinste Detail geplant. Sie, die meine Mutter werden sollte, ist ein Teil des Plans. Er baut ein Haus, und sie wird mit ihm in dem Haus wohnen. Er nimmt sie zu dem Ort mit, führt sie herum und zeigt. Sie setzen sich auf einen Stein. Übrigens glaube ich, dass sie es ist, die sagt, hörmal,wiestilleshierist. Er hätte das nicht gesagt, nicht zu ihr, nicht zu dem Kameramann. Es waren tausend Geräusche auf der Insel. Dagegen wendet er sich ihr zu und sagt: Wirsindschmerzhaftverbunden. Sie findet, dass dies hübsch klingt. Und ein bisschen merkwürdig. Und verwirrend. Und wahr. Und vielleicht etwas corny. Er war siebenundvierzig, und sie war gut zwanzig Jahre jünger. Später wird sie schwanger. Die Dreharbeiten sind längst vorbei. Der Hausbau ist im Gange. In den Briefen, die er ihr schreibt, macht er sich Sorgen, weil der Altersunterschied zwischen ihnen so groß ist.

Ich wurde außerehelich geboren, und 1966 rümpfte man über so etwas noch die Nase. Uneheliches Kind. Bastard. Hurenkind. Illegitim. Das machte nichts. Mir nicht. Ich war ein Bündel in Mamas Armen. Meinem Vater machte es auch nichts aus. Ein Kind mehr oder weniger. Er hatte acht aus früheren Beziehungen und war als dämonischer Regisseur (was immer das bedeuten soll) und als Schürzenjäger bekannt (ziemlich eindeutig, was das bedeutet). Ich war das neunte. Wir waren neun. Mein ältester Bruder starb viele Jahre später an Leukämie, aber damals waren wir neun.

Es war Mama, über die sie die Nase rümpften. Das taten sie, weil sie eine Frau war. Sie machte sich ziemlich viel daraus, was die Leute sagten. Sie liebte ihr Kind. Das ist es, was Mütter tun. Sie schwoll an und trug es aus. Das uneheliche Kind. Aber sie schämte sich auch. Sie bekam Briefe von Fremden. Dein Kind soll in der Hölle schmoren.

Mamas erster Ehemann war dabei, als ich geboren wurde. Er war Arzt und hatte seinen Kollegen zufolge ein geistreiches, ansteckendes und heiteres Wesen. Meine Mutter hat erzählt, dass sie es nicht schmerzhaft fand zu gebären, aber trotzdem zum Schein schrie, und dass er, also der Arzt, sich über sie beugte und ihr über das Haar strich und ja, ja, ja sagte. Er wusste, dass es nicht sein Kind war, sowohl er als auch meine Mutter hatten andere Geliebte gefunden, waren aber noch nicht dazu gekommen, sich scheiden zu lassen. Damit war ich nach norwegischem Recht seine Tochter. Ich – 2,8 Kilo schwer, 50 Zentimeter groß und an einem Dienstag geboren – war Arzttochter, und mehrere Monate lang hieß ich – oder sie – Lund mit Nachnamen. Auf Fotos hat sie runde Pausbacken. Ich weiß nicht sonderlich viel über sie. Sie sieht zufrieden aus in den Armen ihrer Mutter. Einen Vornamen hatte sie noch nicht bekommen. Sie wohnte mit ihrer Mutter in Oslo, in der kleinen Wohnung im Drammensveien 91, die ihre Mutter sich mit dem Ehemann geteilt hatte und die ein paar Jahre später ihre Großmutter übernehmen würde. Viele Briefe des Vaters sind an den Drammensveien 91 adressiert, in einem von ihnen, geschrieben auf gelbem Papier aus dem Stadthotel in Växjö, steht:

DIENSTAGABEND

Ein grau-schwarzer Brief

Das Hotel ist gut und alle sind nett und ich empfinde eine kosmische Einsamkeit …

MITTWOCHMORGEN

Jetzt ist es Morgen, und es steht ein herbstlicher Baum vor dem Fenster und heute ist alles besser … Die Lähmung ist gewichen. Wenn wir über all unsere Gedanken schreiben wollen, muss ich von einem sehr schwarzen Gedanken diese Nacht berichten. Es geht vor allem um meine physische Person. Irgendwie ist der Mensch an sich reichlich abgenutzt. Ich habe in meinem Berufsleben so hart gearbeitet, dass sich jetzt die Konsequenzen zeigen. Es gibt nicht viele Tage am Stück, an denen ich körperliches Wohlbefinden verspüre. Was mich am meisten erschreckt und ängstigt, sind die Schwindelgefühle, die Schwächezustände, ein Kreislauf aus Gefühlen von Unwohlsein, die in Fieber und Depressionen gipfeln. Vermutlich spielt auch meine streng im Zaum gehaltene Hysterie eine Rolle … auf eine lächerliche Weise schäme ich mich auf Grund dieser Plagen, gegen die ich wohl kaum etwas tun kann, zutiefst vor dir. Ich glaube, es hat mit dem Problem älterer Herr – junge Frau zu tun.

Eines Tages mussten sich die Mutter, der Vater und der Arzt gemeinsam vor einem norwegischen Gericht einfinden und Rechenschaft über die Vaterschaft ablegen. Die Stimmung war so gut, dass man die Sitzung in dem Gerichtssaal beinahe mit einem kleinen Fest hätte verwechseln können. Der Einzige, der sich, dem Vater zufolge, querstellte, war der norwegische Richter mit dem langen Gesicht und dem schmalen Mund, der darauf bestand, sich immer wieder die genauen Umstände darlegen zu lassen. Wer hatte jetzt eigentlich Geschlechtsverkehr mit der Mutter gehabt, und wann? Und nach einem langen Tag vor Gericht fand die Mutter es angebracht, ein Glas Champagner zu trinken. Nicht doch, nein. Der Vater des Kindes musste zum Theater in Stockholm zurückeilen, und Ehemann Nummer eins hatte Nachtdienst im Krankenhaus. Dann ein Glas Wein? Hatten sie sich das nicht verdient? Sie hatte es sich jedenfalls verdient. Auf den Abend warten und hoffen, dass das Kind die ganze Nacht durchschläft. Neben dem Mädchen im Bett in der Wohnung im Drammensveien 91 liegen und hoffen, dass es nicht aufwacht und schreit. Manchmal weint das Kind die ganze Nacht, und dann weiß sie nicht, was sie tun soll, was nicht stimmt. Hat das Baby Schmerzen? Ist es krank? Wird es sterben? Wen kann sie anrufen? Wer wird aufstehen und in Schnee und Dunkelheit hinausgehen und zu ihr eilen? Am Morgen kommt das Kindermädchen, es trägt eine Schürze und eine Art Schwesternhaube und hat einen leicht urteilenden Blick, findet die Mutter, die Angst hat, zu spät zur Arbeit zu kommen, und Angst, das Kindermädchen zu verletzen, das mit ihr über ein paar Dinge sprechen möchte. Ichbinsomüde.Ichkommezuspät.Kannstdunichteinfachstillseinundmichgehenlassen. Weitere zwei Jahre werden verstreichen, bis das Kind getauft wird, aber an jenem Tag vor Gericht erhält es den Familiennamen der Mutter, und wenn die Mutter und der Vater sich treffen, oder telefonieren, nennen sie es dasBaby und unserKindderLiebe, und benutzen Worte im Schwedischen und Norwegischen, die weiche Dinge beschreiben – Sahne,Ahornblatt,Leinen,samten.

Die Mutter und der Vater waren fünf Jahre lang ein Paar, einen Großteil dieser Zeit verbrachten sie in Hammars. Das Haus war mittlerweile fertig. Zwei Frauen passten auf die Tochter auf, die eine hieß Rosa, und die andere hieß Siri. Die eine war rundlich, die andere war schlank. Die eine hatte einen Garten mit Apfelbäumen, die andere einen Mann, der auf alle viere hinabging und das Mädchen auf seinem Rücken reiten ließ, wobei es hej faderi faderullan dej und hoppla! sang. 1969 verließ die Mutter Hammars und nahm die Tochter mit. Vier Jahre später, an einem Sommertag Ende Juni, kehrte das Mädchen zurück. Sie sollte den Vater besuchen. Sie wollte nicht von der Mutter wegfahren, aber die Mutter versprach ihr, jeden Tag anzurufen.

Nichts hatte sich verändert, abgesehen davon, dass dort jetzt Ingrid wohnte. Alles stand noch da, wo es gestanden hatte, als die Mutter und das Mädchen abreisten. Die alte Standuhr tickte und schlug jede halbe und volle Stunde, goldenes Licht beschien die Kiefernholzwände und warf Streifen auf den Fußboden. Der Vater ging vor dem Mädchen in die Hocke und sagte behutsam: Eigentlich darf dich wohl nur deine Mama anfassen.

Sie war klein und dünn und kam jeden Sommer mit zwei großen Koffern nach Hammars, die auf dem Hof stehenblieben, bis irgendjemand sie ins Haus trug. Sie lief aus dem Auto und auf dem Hof herum und in ihr Zimmer und wieder auf den Hof hinaus. Sie trug ein blaues Sommerkleid, das knapp bis auf die Oberschenkel hinabreichte. Der Vater fragt: Was hast du in deinen Koffern? Wie ist es nur möglich, dass ein so kleines Mädchen zwei so große Koffer hat?

Sein Haus war fünfzig Meter lang und wurde immer länger, man brauchte einige Zeit, um vom einen Ende zum anderen zu gehen. Im Haus zu laufen war nicht gestattet. Er richtete ein und baute an, jedes Jahr ein bisschen mehr, das Haus wuchs in die Länge, niemals in die Höhe. Kein Keller, kein Dachboden, keine Treppen. Sie würde den ganzen Juli dort verbringen.

Ihm graut davor, dass sie kommt, guten Tag, guten Tag, hier läuft ein Mädchen auf dem Hof herum, mit Streichholzbeinen und knochigen Knien, oder tanzt einen Tanz, dieses Mädchen steckt fast immer mitten in einer komplizierten Choreographie, man kann ein Gespräch mit ihr führen, und statt darauf zu antworten, wonach sie gefragt wird, beginnt sie zu tanzen, oder sie stellt sich direkt vor ihn und fordert ihn irgendwie heraus, und dann lächelt er, was jetzt? Was sagt man? Was tut man? Dem Mädchen graut es davor, von der Mutter getrennt zu sein, aber es freut sich darauf, den Vater zu besuchen, auf alles, was dieser Ort ist, das Haus, die Insel, ihr Zimmer mit der geblümten Tapete, Ingrids Mahlzeiten, die weiten Heideflächen und der Steinstrand und das Meer, das Grün und Grau, das zwischen der Insel des Vaters und der Sowjetunion liegt (wenn man sich dorthin verirrt, kehrt man nie wieder heim), und dass alles haargenau so ist, wie es immer gewesen ist, und wie es immer sein wird. Der Vater hat Regeln. Sie versteht diese Regeln. Sie sind ein Alphabet, A ist A und B ist B, sie muss nicht fragen, Z ist, wo Z immer gewesen ist, sie weiß, wo Z ist, ihr Vater ist nur selten wütend auf sie. Er kann sehr wütend werden, er hat so ein verdammtes Temperament, sagt die Mutter, er verliert leicht die Beherrschung und brüllt herum, aber das Mädchen weiß, wo die Wut ist, und schlüpft daran vorbei. Sie ist dünn. Dünn wie ein Filmstreifen, sagt der Vater.

Die Mutter telefoniert mit dem Vater und ist aufgebracht, weil er das Mädchen keine Milch trinken lassen will. Er meint, Milch sei nicht gut für ihren Magen. Der Vater meint, viele Dinge seien nicht gut für den Magen. Aber ganz besonders vielleicht Milch. Die Mutter meint, Milch und Kinder gehörten zusammen. Das wisse doch jeder. Was der Vater über Milch sage, widerspreche einem vollkommen elementaren Wissen darüber, was für Kinder wichtig ist. Außerdem, sagt die Mutter, mische er sich doch sonst nicht in die Erziehung des Mädchens ein, aber ausgerechnet dazu, dazu! habe er eine Meinung, die Stimme der Mutter wird ein wenig schrill, jedes Kind muss Milch trinken, vorallem das Mädchen, das doch so dünn ist … Es ist meines Wissens das einzige Mal, dass die Mutter und der Vater sich über die Erziehung des Mädchens streiten.

Veränderung. Störungen. Guten Tag, guten Tag. Lass mich dich anschauen. Du bist groß geworden. Du bist süß geworden. Und dann legt er vielleicht die Daumen und Zeigefinger zu einem Viereck zusammen und betrachtet sie durch dieses Viereck. Er kneift ein Auge zu und betrachtet sie mit dem anderen. Macht ein Bild. Rahmt sie mit den Fingern ein. Sie steht ganz still und starrt ernst in das Viereck. Es ist keine richtige Kamera – wäre es eine richtige Kamera gewesen, hätte sie sich geziert und sich gefragt, wie sie auf dem Bild aussehen würde.

Herausgerissen zu werden aus dem, womit man sich gerade beschäftigt, von einem Kind. Bei seiner Arbeit, beim Schreiben nicht in Ruhe gelassen zu werden. Doch dazu kommt es nur jetzt, genau in dem Moment, wenn sie mit ihren Koffern ankommt und sie sich seit einem Jahr nicht mehr gesehen haben, nur dann wird er aus seiner Arbeit herausgerissen. Sie tanzt über den Hof. Er formt seine Hände zu einer Kamera und betrachtet sie mit dem einen, offenen Auge dadurch. Ich weiß nicht, wer die Koffer hineinträgt. Oder sie auspackt. Oder die Kleider aufhängt und die Shorts und T-Shirts in den kleinen Schrank in ihrem Zimmer räumt. Wahrscheinlich Ingrid. Schon bald kann er in sein Arbeitszimmer zurückkehren (das am einen Ende des Hauses liegt, ihr Zimmer liegt am anderen) und weiterarbeiten.

Die Mutter des Mädchens, die außer im Juli in allen Monaten des Jahres die Verantwortung für das Mädchen trägt und der Meinung ist, dass es gut für Kinder ist, Milch zu trinken, will sich auch in ein Zimmer einschließen und ihre Ruhe haben, sie will auch schreiben, sie will Regeln und ein Alphabet haben, genau wie der Vater des Mädchens. Doch es gelingt ihr nicht. Das Alphabet der Mutter verändert sich ständig, es ist dem Mädchen unmöglich, es zu lernen, obwohl sie es versucht. Ein A kann plötzlich ein L sein. Es ist unbegreiflich. A war A, und dann wurde es zu L oder X oder U. Die Mutter hat versucht, in jedem Zimmer im ganzen Haus zu sitzen, aber es geht nicht. Überall Störungen.

Meine Nerven zerknittern, sagt sie immer wieder.

Wenn die Nerven der Mutter zerknittern, tut man gut daran, ganz, ganz still zu sein.

Die Mutter und das Mädchen wohnen in einem großen Haus in Strømmen nahe Oslo. Sie wohnen auch noch an vielen anderen Orten. Aber am Anfang wohnen sie in einem großen Haus in Strømmen. Im Garten steht ein Spielhaus. In die Wand des Spielhauses hat das Mädchen seinen Namen geritzt. In welchem Zimmer die Mutter auch sitzt, das Mädchen kommt und will etwas. Sie will zeichnen. Sie will etwas fragen. Sie will etwas zeigen. Sie will radfahren. Sie will sich die Haare bürsten. Sie will tanzen. Sie will ganz still dasitzen und nichts sagen, versprochen,versprochen,keinWort. Sie will wieder tanzen. Am Ende gibt es in dem Haus keine Zimmer mehr, in denen die Mutter in Ruhe arbeiten kann, und daraufhin richtet sie sich ein Zimmer im Keller ein. (Das Haus in Strømmen wuchs, im Gegensatz zu dem in Hammars, in die Tiefe und nicht in die Länge.) Das Mädchen findet sie allerdings auch dort. Die Kellermama. Die Mutter will ein Buch schreiben, schafft es jedoch nicht. Das Mädchen findet sie überall, und daraufhin verliert die Mutter ihre Konzentration. Und wenn man die Konzentration verliert, erklärt die Mutter, ist es fast völlig unmöglich, sie wiederzufinden.

Bei der Mutter war alles so viel weniger vorhersehbar als beim Vater. Es lag an den Lebensumständen. Der Vater würde als Erster sterben, was bestimmt sehr traurig sein, aber nicht gänzlich unerwartet kommen würde, da er ja schon so alt war, der Tod des Vaters war in Vorbereitung, dessen waren sich das Mädchen und der Vater bewusst, und deshalb nahmen sie jeden Sommer so traurig Abschied voneinander. Das konnten sie gut. Es war etwas völlig anderes, als Abschied von der Mutter zu nehmen. Da schrie das Mädchen laut, und die Mutter hielt das Kind an sich gedrückt, weine nicht, sei ein großes Mädchen und weine nicht, die Mutter hielt das Mädchen fest an sich gedrückt, schaute sich um, versuchte, die Hände des Mädchens zurückzuhalten, die sich an verschiedene Teile ihres Körpers klammerten. Sieht es jemand? Die Mutter achtet stets darauf, was andere sehen und denken. Dieses schreiende Kind. Dieses spindeldürre Mädchen mit so viel Lärm in sich.

Der Vater sagte der Mutter oft, sie sei seine Stradivari. Das bedeutet: ein Instrument von höchster Qualität mit einem großen und vollen Klang. Die Mutter drückte diese Worte an ihre Brust und wiederholte sie, er sagte, ich sei seine Stradivari.

Sie ist meine Geige.

Ich bin seine Geige.

Es ist ein Beispiel dafür, dass die Mutter und der Vater sich von Metaphern verführen ließen. Keiner der beiden scherte sich darum, oder wusste, dass mehrere Untersuchungen vorliegen, die enthüllen, dass eine Stradivari in Wahrheit nicht besser klingt als andere vergleichbare Geigen.

Andererseits: Was soll man von solchen Untersuchungen halten? Es sitzt immer irgendwer im Publikum, der flüstert: Ich weiß, wie er es anstellt, er schummelt, der Typ ist gar kein richtiger Magier.

Aber was hatten die Mutter und der Vater hier fabriziert? Horch! Es ist ein Mädchen. Keine Stradivari, so viel ist jedenfalls sicher. Eine kleine, nicht gestimmte Orgel, vielleicht, die jaulte, weil die Mutter verreisen wollte. Und dieses ganze Klammern – was sollte das? War dieses Kind etwa nicht ganz bei Trost? Und was ist das eigentlich für eine Mutter, die ihre Tochter immer wieder allein lässt? (Es war die Mutter, die sie mit vorwurfsvollen Blicken bedachten, niemals der Vater.) Der Mutter war es wichtig, was die Leute sagten und dachten, dem Mädchen war es dagegen egal. Sie bemerkte die Blicke nicht. Sie klammerte sich an die Mutter. Der Gedanke, sie nie mehr wiederzusehen, war unerträglich. Sie stellte sich verschiedene Arten zu sterben vor. In erster Linie den Tod der Mutter. Und ihren eigenen Tod als eine natürliche Folge von dem der Mutter. Es konnte jederzeit passieren – die Mutter konnte an einer Krankheit oder bei einem Autounfall oder Flugzeugunglück sterben, oder ermordet werden. Die Mutter, die überallhin reiste, konnte sich in ein Land verirren, in dem Krieg herrschte, und dort erschossen werden. Das Mädchen konnte kein Loch in sich schneiden, das groß genug war, um hindurch zu verschwinden, falls die Mutter sterben sollte. Sie liebte die Mutter über alles. Nicht dass sie an Liebe gedacht hätte – an das Wort und was es bedeutete. Hätte jemand sie nach Liebe gefragt, hätte sie vielleicht gesagt, dass sie die Mutter, die Großmutter und Jesus liebte (weil die Mutter und die Großmutter sagten, dass Jesus sie liebte), und die Katzen, aber dass sie die Mutter am meisten liebte. Sie sehnte sich unablässig nach ihr, selbst wenn die Mutter im selben Raum war wie sie. Die Liebe des Mädchens war mehr, als die Mutter ertrug. Ein Kind zu bekommen war komplizierter, als die Mutter sich vorgestellt hatte. Arme und Beine und große Zähne und Lärm. Am besten gefiel ihr, wenn das Mädchen schlief. Mein feines, kleines Mädel. Wenn alle wach waren, wurde es ihr dagegen zu viel. Anhängliches Mädchen. Anhängliche Liebe. Als wollte das Mädchen wieder in sie hinein. Die Mutter würde niemals zugeben, dass ihr diese Anhänglichkeit auf die Nerven ging, sie war selbst so voller verzweifelter Sehnsüchte – so voller Fragen, wer sie sein wollte und wer sie war und was Liebe war und sein sollte. Ihre tiefste Sehnsucht war möglicherweise, bedingungslos geliebt und gleichzeitig ganz in Ruhe gelassen zu werden. Das sagte sie jedoch niemandem. Es ist beschämend und egoistisch, sich bedingungslose Liebe zu wünschen und gleichzeitig seine Ruhe haben zu wollen. Die Schotten zwischen allen Räumen in der Mutter, dunklen und vergoldeten Räumen, waren dicht.

***

In Hammars veränderte sich nichts. Besser gesagt, die Veränderungen geschahen in so kleinen Schritten, dass sie einem nicht auffielen, und sehr lange – bis zu dem Moment, als der Vater siebzehn Minuten zu spät kam, ohne es überhaupt zu merken, und auf die Art ankündigte, dass es nun vorbei war – lebte das Mädchen in dem Gefühl, so wie es genaujetzt ist, so ist es schon immer gewesen. Ordnung und Pünktlichkeit. Die Stühle standen, wo sie immer gestanden hatten. Die Bilder hingen, wo sie immer gehangen hatten. Die Kiefern vor den Fenstern waren noch genauso gekrümmt. Ingrid hatte einen langen, braunen Zopf, der auf ihrem Rücken hin und her schwang, wenn sie durch das Haus ging und staubwischte oder Kissen aufschlug. Später kamen Daniel und Maria zur selben Zeit nach Hammars wie das Mädchen. Die beiden waren älter als sie, aber immer noch Kinder. Sie kamen im Sommer. Und so war es: Tage und Nächte in dem flachen, langgestreckten Haus, umgeben von Meer, Steinen, Disteln, Mohn und karger Heide, die an die afrikanische Savanne erinnerte. Ein Sommer glich dem anderen. Jeden Abend um sechs aßen das Mädchen und die Hammarsfamilie in der Küche zu Abend. Es war Ingrid, die das Essen kochte, und es schmeckte immer gut. Nach dem Essen saßen alle eine Weile auf der braungebeizten Bank mit Aussicht auf eine kiesbedeckte Auffahrt. Dort stand ein Auto, später waren es zwei Autos und mit der Zeit außerdem ein roter Jeep. Hinter dem Fahrradschuppen lag der Wald mit den drei Wegen. Hier, an den braungebeizten Pfosten gelehnt, der das kleine Außendach an Ort und Stelle hielt, zündete Ingrid sich ihre tägliche Zigarette an.

Die braungebeizte Bank war warm und ein wenig rau – wenn man mit der flachen Hand darüber rieb, hatte man hinterher Splitter im Handteller. Das Haus war aus Holz und Stein, von einer Steinmauer umgeben. Wenn die Erwachsenen abends Zeitung lasen, ging das Mädchen alleine zum Meer hinunter. Der wellenförmige Steinstrand fiel sanft ab, und wenn sie so weit gekommen war, dass sie waten konnte, drehte sie sich um und blickte zum Haus und der Steinmauer hinauf. Und dann war es fast verschwunden, alles, verschwunden in einem Dunst aus Hellem und Grauem, Stein und Himmel, gebleicht von der Sommersonne, der Zeit, dem Tag, als hätte jemand einen Tarnmantel darüber geworfen, ganz unsichtbar war es allerdings nicht, die Fenster- und Türrahmen waren kornblumenblau, und sie konnte man sehen, dort stand ein Haus, es konnte sich nicht ganz und gar verstecken.

Manchmal sagte jemand: Warum sitzen wir nicht auf der schönen Seite des Hauses, der Seite mit dem tollen Meerblick und dem sich wandelnden Licht über dem Horizont? Trotzdem blieben sie auf der Vorderseite des Hauses sitzen, auf der braungebeizten Bank, während Ingrid an den Pfosten gelehnt stand und rauchte. Als wären alle daran beteiligt, diese eine Zigarette zu rauchen.

Der Vater hatte ein Arbeitszimmer, in dem er jeden Tag saß und schrieb, rühmen kann ich mich allein dessen, dass ich fleißig gewesen bin, sagte er, das Mädchen nannte sein Arbeitszimmer das Büro, und am Abend verwandelte sich dieses Büro in ein Kino. Der Vater zog eine weiße Leinwand aus einem schwarzen Koffer, die Lampen wurden ausgeschaltet, und der Film konnte beginnen. Der schwarze Koffer war so lang, dass er, wenn er geschlossen war, an einen Sarg erinnerte – einen Sarg für einen sehr dünnen Menschen, ein Strichmännchen. Der Koffer hatte Schnappschlösser und einen Handgriff wie an einem gewöhnlichen Koffer oder einer Tasche, und stand auf einem spezialgefertigten Ständer im Arbeitszimmer.

Dann öffnete der Vater den Koffer, und der Sarg wurde zu einer Filmleinwand, die milchig weiß und so groß war, dass sie die ganze Wand bedeckte wie ein gesetztes Segel.

In einer kleinen Kammer, vom Büro durch eine Wand mit Glasscheibe getrennt, standen die Projektoren. In den ersten Jahren wurden sie vom Vater persönlich bedient, aber später brachte er es seinem Sohn Daniel bei, der für jede Vorführung zehn Kronen bekam. Das Mädchen durfte die Projektoren nicht anrühren, es war verbotener, als während der Mittagsruhe zu toben, verbotener, als die Türen in Hammars offen stehen zu lassen oder im Durchzug zu sitzen, ungefähr so verboten, wie zu spät zu kommen. In Hammars kam niemand zu spät. Doch selbst wenn man absolut pünktlich war – man war verabredet und kam exakt zur richtigen Zeit –, sagte man: Entschuldige, dass ich zu spät bin. Das war der Hammarssche Gruß, so wiedererkennbar wie Möwenschreie im Sommer: Entschuldige, dass ich zu spät bin! Und war man wider Erwarten doch ein paar Sekunden verspätet, sagte man: Verzeih mir, dass ich zu spät komme. Kannst du mir verzeihen? Ich habe keine Entschuldigung! Doch das kam so gut wie nie vor.

In den ersten Jahren bekam das Mädchen eine eigene Filmvorführung um halb sieben. Sie sitzt in dem großen, abgewetzten Sessel, die Beine liegen auf einem Puff. Der schwarze Koffer ist geöffnet und die Filmleinwand aufgespannt worden. Sie ist dünn wie eine Bohnenstange. Sie hat lange, strähnige Haare und vorstehende Zähne. Der Vater hat das Licht gelöscht, die Tür geschlossen und sich draußen hingestellt.

»Okay?«, ruft er durch die Tür.

»Okay«, erwidert das Mädchen.

Es sind Läden vor den Fenstern des Büros, es ist ganz dunkel, still.

»Zieht es dir?«

»Nein.«

»Dann legen wir los!«

Später, als das Mädchen längst gemeinsam mit den Erwachsenen Filme sah, beschloss der Vater jedoch, die alte Scheune zu renovieren, die ein paar Meter vor der Fliederhecke in Dämba stand. In jenem Sommer, in dem das Mädchen neun wurde, war das Lichtspielhaus fertig, aber niemand nannte es Lichtspielhaus, es wurde Kino genannt und hatte eine schwere, rostrote Tür mit einem großen Schlüsselloch, durch das Licht hereinströmte. Das Kino hatte fünfzehn Sitzplätze – weiche, moosgrüne Sessel – und zwei topmoderne, meergrüne Projektoren, die hinter einem kleinen Glasfenster leise in der Dunkelheit surrten.

In dem Haus in Hammars gab es einen Windfang mit drei Türen, die eine Tür war der Haupteingang und führte geradewegs zu der braungebeizten Bank hinaus, die zweite Tür führte weiter in das Haus hinein, und die dritte führte in den Garten, der von einer Steinmauer umgeben war. Im Garten gab es einen Gästeflügel, eine Waschküche, einen Rosenbusch und ein Schwimmbecken.

In den ersten Sommern in Hammars hielt das Mädchen sich am liebsten in dem Schranktrockner in der Waschküche auf. Dort war es warm und eng, und auf dem Boden unter den Stangen gab es ein wenig Platz, wo sie sich zusammenkauern konnte. In dem Schranktrockner hingen die frisch gewaschenen Kleider Ingrids und des Vaters, die entweder tropften oder dampften, der Vater trug gestreifte Pyjamas, Flanellhemden und braune Cordhosen. Seine Kleidungsstücke nahmen den meisten Platz ein. Ingrid war klein und zierlich und besaß deutlich weniger Kleider: ein paar Röcke und Blusen. Ab und zu hing das blaue Kleid des Mädchens auf einer Stange ganz außen.

Sie konnte gut schwimmen und blieb manchmal stundenlang in dem Becken, wie der Vater sagte, er übertrieb immer, nicht stundenlang, erwiderte das Mädchen. Manchmal trat er in den Garten hinaus und sagte: Deine Lippen sind schon ganz blau, jetzt kommst du sofort raus, er hatte Angst, das Mädchen könnte sich erkälten und er sich bei ihr anstecken, und deshalb unterbrach er seinen Arbeitstag, um sie aus dem Wasser zu scheuchen.

Sämtliche Fenster im Haus mussten, selbst an schönen Sommertagen, geschlossen bleiben. Der Vater fürchtete sich vor Fliegen und Durchzug. Gespräche mit dem Vater begannen in der Regel so:

»Zieht es dir?«

»Nein.«

»Bist du sicher?«

»Ja.«

»Ich möchte nicht, dass du dich erkältest.«

»Ich bin nicht erkältet.«

»Das weiß ich, aber ich möchte nicht, dass du dich erkältest.«

Meistens durfte das Mädchen jedoch so lange schwimmen, wie sie wollte. Der Vater saß in seinem Büro und arbeitete, Ingrid kümmerte sich um den Haushalt, während Daniel sich mit Dingen beschäftigte, mit denen Jungen sich in ihrem Zimmer beschäftigten – das Mädchen interessierte sich nicht sonderlich dafür. Und wenn sie lange genug in dem Schwimmbecken gebadet hatte, krabbelte sie in den Schranktrockner. Am besten ging dies, wenn er nicht komplett mit Wäsche gefüllt war, denn wenn über allen Stangen Kleider hingen, blieb kaum noch Platz für das Mädchen, und je mehr Kleider, desto wärmer war es in dem Trockner, nicht nur warm, sondern schwül wie in einem Dschungel; wenn der Schranktrockner voll war, musste sie kriechen, ja, sich fast hineinkämpfen, und wenn die Wäsche noch nass war, klatschten ihr Hemdärmel, Hosenbeine, Kleiderschöße ins Gesicht und auf den Körper, als würde man am ganzen Leib von großen Tierzungen abgeleckt.

Eines Tages öffnete Ingrid die Tür und zog sie heraus. Sie sagte, es sei gefährlich, in dem Schranktrockner zu sitzen. Ingrid hatte schönes Haar. Es war fast immer geflochten, aber wenn ein Fest gefeiert werden sollte, drehte sie es am Morgen auf Haarrollen, um es am Abend offen tragen zu können. Dann fiel es in Wellen auf ihren Rücken herab.

Vieles war gefährlich. Die üblichen Dinge natürlich, zum Beispiel, sich eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen (Tod durch Ersticken), in nasser Unterhose, Bikinihose oder nassem Badeanzug herumzulaufen (Tod durch Blasenentzündung), die Zecke falsch herum zu drehen, wenn du sie aus dem Körper entfernen wolltest (Tod durch Blutvergiftung), zu schwimmen, bevor mindestens eine Stunde nach dem Essen vergangen war (Tod durch Krampf), in fremde Autos einzusteigen (Tod durch Entführung, Vergewaltigung, Mord), Süßigkeiten von Fremden anzunehmen (Tod durch Vergiftung, eventuell Entführung, Vergewaltigung, Mord) – aber es gab auch Gefahren, die typisch für Hammars waren: Man sollte das Strandgut am Ufer unterhalb des Hauses nicht anrühren, die Schnapsflaschen, Zigarettenschachteln, Shampooflaschen, Konservendosen mit Etiketten in fremden Sprachen, fremden Buchstaben, nicht anfassen, nicht daran riechen, und um Gottes willen nicht trinken (Tod durch Vergiftung), nicht im Durchzug sitzen (Tod durch Erkältung), sich nicht erkälten (Tod durch Verbannung aus Hammars), nicht im Schranktrockner sitzen (Tod durch Ersticken, eventuell durch elektrischen Schlag), nicht zu spät kommen (wenn du zu spät kamst, war der Tod ein Trost, der Tod war, wenn überhaupt etwas, die einzig denkbare Entschuldigung für einen Mangel an Pünktlichkeit). Gib diesem Mädchen eine Karte, und sie folgt ihr – und keiner dieser Regeln trotzt sie, nur jener, nicht im Schranktrockner zu sitzen. Ingrid hatte sie mehrmals ermahnt, aber das Mädchen schlich sich trotzdem hinein und ließ sich von der Wärme umschließen. Bis zu jenem Tag, an dem ein gelbes, liniertes Blatt an der Tür des Schranktrockners hing, auf dem mit den großen Druckbuchstaben des Vaters stand: WARNUNG!BADENDENKINDERNISTESVERBOTEN,SICHIMSCHRANKTROCKNERAUFZUHALTEN!

Der Vater sprach ein schönes Schwedisch und hatte sich angewöhnt, sie in der dritten Person anzusprechen. Wie geht es meiner Tochter heute? Im Gespräch benutzte er keine englischen Worte, es sei denn, er redete über sein Schwimmbecken, auf das er maßlos stolz war. Der Swimmingpool. Dieser lag ausgestreckt im Gras wie eine stattliche, juwelenbehängte ältere Dame in einem langen, blaugrünen Kleid. Der Swimmingpool war sechs Meter lang und bis zu drei Meter tief, rechteckig und ja, blaugrün, und roch nach Chlor, und nachts fielen Wespen – die entweder zum Grund sanken oder krabbelnd auf der Oberfläche liegen blieben – sowie Spinnen und Käfer und Marienkäfer und Zapfen aus den Bäumen und gelegentlich auch Vögel in ihn hinein. Jeden Morgen musste alles, was in den Pool gefallen war, mit dem Kescher herausgefischt werden. Auch für diese Arbeit bekam Daniel zehn Kronen. Früh, früh am Morgen lag die alternde Dame da und blinzelte, es krabbelte und kroch überall auf ihr, an der Oberfläche und auf dem Grund, sie war umgeben von hohem Gras und hohen Kiefern – ein blaugrüner, leuchtender Fleck auf der Karte.

Ich habe meinen Vater mit britischen und amerikanischen Journalisten sowie Filmstudenten Englisch sprechen hören, was er mit einem starken, teils schwedischen, teils deutschen, teils russischen, teils amerikanischen Akzent tat, es ist ein jazzartiger Sound, der an nichts erinnert, was ich sonst jemals gehört habe und der überhaupt nicht zu ihm passt – yes,yes,asFaulkneroncesaid,thestoriesyoutell,youneverwrite. Er fand, Norwegisch sei eine schöne Sprache, und wiederholte oft das Wort buskedrasse, von dem er glaubte, es wäre die norwegische Bezeichnung für Hosenanzug – buksedrakt.

Jeden Tag nahm er – der Vater des Mädchens – ein morgendliches Bad im Swimmingpool. Dann stand das Mädchen hinter dem Rosenbusch und schaute ihm zu. Eigentlich fand sie den Vater zu alt, um nackt zu schwimmen, zu alt, um überhaupt schwimmen zu gehen. Also ehrlich! Im Wasser herumplantschen wie ein großer Käfer! Er schwamm immer allein. Frühmorgens. Vor dem Frühstück. Bevor er in seinem Arbeitszimmer verschwand. Das Mädchen wusste nicht, woran er dort arbeitete. Er schrieb – das wusste sie, auf gelben, linierten Blättern.

Im Sommer schrieb er, das restliche Jahr über drehte er Filme oder arbeitete am Theater.

Manchmal saß er im Gästehaus mit einer Frau zusammen und schnitt einen Film, dies geschah zu einer Zeit, in der man die Zelluloidstücke tatsächlich noch auseinanderschnitt und zusammenklebte, einen ganzen Sommer saß er dort und schnitt Die Zauberflöte, und dann strömten Emanuel Schikaneders Libretto und Mozarts Musik aus den Fenstern, es war der einzige Sommer, in dem die Fenster sperrangelweit offen standen, und ganz Hammars spitzte die Ohren. Tamino sang von seiner geliebten Pamina und fragte: Wann wird das Licht mein Auge finden, und der Chor antwortete: Bald Jüngling, oder nie.

Wenn der Vater nicht schnitt, schrieb er jedoch, und am Nachmittag gab er die gelben, linierten Blätter Ingrid. Sie war in der Lage, seine Handschrift zu entziffern, was kaum einem anderen gelang, und schrieb auf der Maschine alles ins Reine. Wenn der Vater schrieb, durfte er unter gar keinen Umständen gestört werden, das wusste das Mädchen nur zu gut, erhateinsolchesTemperament, sagte die Mutter, ehe sie die Tochter zu dem Haus schickte, das einst gebaut worden war, damit sie selbst darin wohnte, was heißt Temperament, fragte das Mädchen, er wird schnell wütend, sagte die Mutter, ist das schlimm, sagte das Mädchen, nein, sagte die Mutter und zögerte kurz, oder doch, wenn man andere verletzt schon, aber wenn man niemals zeigt, dass man wütend ist oder traurig, oder ängstlich, dann kann man einen großen Klumpen im Bauch bekommen, und das ist auch schlimm, hat Papa einen Klumpen im Bauch, sagte das Mädchen, nein, sagte die Mutter, er hat keinen Klumpen im Bauch, aber manchmal wird er wütend und sagt Dinge, die er nicht so meint … und wettert und brüllt … und dann können andere einen Klumpen im Bauch bekommen … das meine ich, wenn ich sage, dass er Temperament hat … er geht leicht in die Luft … Geht in die Luft?, fragte das Mädchen, was heißt das? Die Mutter seufzte, es bedeutet, dass man … dass man … dass man ein Streichholz anzündet, und plötzlich steht das ganze Haus in Flammen … Aha, sagte das Mädchen, das genau wusste, dass sie den Vater eigentlich nicht stören sollte, ihn aber gelegentlich trotzdem störte. Sie klopfte an seine Bürotür und sagte, er müsse kommen – in ihrem Zimmer sei eine Spinne, die er wegmachen müsse. Sie traue sich nicht, dort zu bleiben, wenn er nicht sofort mitkam und sie wegmachte. Oder einen Käfer. Oder eine Wespe. Er brüllte nicht los. Er ging nicht in Flammen auf. Er seufzte nur kurz und stand auf und ging hinter ihr durch das Wohnzimmer und die Küche und in ihr Zimmer. Sie war so dünn. Als wäre sie mit den Insekten verwandt. Außerdem mochte er die norwegischen Worte, die sie piepste. Øyenstikker – Libelle. Das Mädchen mochte die schwedischen. Trollslända. Und sie hatte keine Angst vor ihm. Sie hatte Angst vor Bremsen. Broms. Und vor Schnaken. Harkrank.

Als sie erwachsen wurde und fließend Schwedisch sprach, bat er sie, stattdessen Norwegisch zu sprechen. Zumindest, wenn sie mit ihm redete. Er meinte, wenn sie Schwedisch spreche, gehe ihre Stimme nach oben und werde hoch und hell wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war, und dass sie sich nun, als Erwachsene, an eine tiefere Stufe auf der Tonleiter halten solle. Kleidsamer. Und diese tiefere Stufe gelang ihr nur, wenn sie Norwegisch sprach.

Doch einst war sie 113 Zentimeter groß und konnte sich hinter einem Rosenbusch verstecken, ohne gesehen zu werden, und den Vater stören, wenn ein Tausendfüßler in ihrem Zimmer war, um den man sich kümmern musste. Ein tusenfoting. Ritterwanzen. Weberknechte.

Ich muss sie vielleicht irgendwie nennen. Das Mädchen. Ich kann es auch lassen. Als der Vater sechzig wurde, lud er alle neun Kinder zu seiner Geburtstagsfeier nach Hammars ein. Es war im Sommer 1978 – dem Sommer, in dem das Mädchen zwölf wurde. Ich erinnere mich nicht, wie ihr das mit dem großen Fest – dem ersten von vielen – präsentiert wurde, ihr dürfte nicht bewusst gewesen sein, dass sie so viele Geschwister hatte, oder es war ihr vielleicht so bewusst, wie ihr auch bewusst war, dass es in Norwegen viele Provinzen gab. Sie hatte gerade die fünfte Klasse beendet und würde mit ihrer Mutter demnächst in die USA ziehen und dort zur Schule gehen. Ihr norwegischer Erdkundelehrer hieß Jørgensen, sie würde ihn vermissen. Sie war gut in Erdkunde. Ihre Spezialität waren Karten. Und sicher, sie wusste, dass sie neun Geschwister waren, auf die gleiche Weise, wie sie wusste, dass neun der größten Wasserfälle der Welt in Norwegen lagen. Sie hatte sich aufgeschrieben, wie sie hießen. Mardalsfossen, Mongefossen, Vedalsfossen, Opo, Langfossen, Skykkjedalsfossen, Ramnefjellsfossen, Ormalifossen, Sundifoss. Außer Daniel und Maria, die sie bereits kannte, hatte sie ihre Geschwister nur auf Bildern gesehen. Viele glauben, dass der Vøringsfossen einer der größten im Land ist, aber das stimmt nicht. Bei Weitem nicht. So kann man sich irren, sagte Jørgensen immer. Es war der Tag vor dem großen Festtag, der Vater hatte am 14. Juli Geburtstag, dem französischen Nationalfeiertag, und sie würde endlich allen begegnen. Allen acht auf einmal. Sie saß auf der braungebeizten Bank vor dem Haus und wartete. Von Zeit zu Zeit stand sie auf, ging in den Wald und pflückte Walderdbeeren, die sie auf einen Halm fädelte. Dann setzte sie sich wieder hin. Sie wollte den Walderdbeerenschmuck aufbewahren und einer ihrer Schwestern schenken, sie hatte vier, aber die Zeit verging und niemand kam und am Ende aß sie alle selbst auf. Das verwaschene blaue Sommerkleid reichte ihr bis knapp über den Po. Sie hatte Mückenstiche auf dem Oberschenkel und der Hand. Kein Ort war so still wie Hammars, wenn sie für sich allein auf der Bank saß und die Grashüpfer auf der Steinmauer erwachen sah. Wenn sich ein Auto näherte, hörte man es schon von Weitem. Wenn sie Autos hörte, lief sie normalerweise auf die Straße und bis zum ersten Viehgitter, das ihrem Vater zufolge die Grenze seines Grundstücks markierte, und fuchtelte mit den Armen, weil das Auto wenden und verschwinden sollte. Sie wollten hier keine Leute haben. Heute lief sie jedoch nicht auf die Straße hinauf und verjagte Leute. Der Vater bereute dieses verdammte Fest bestimmt. Es war eine gute – eine richtig lustige Idee! – gewesen, als sie ihm seinerzeit gekommen war. Alle Kinder bei einem Fest. Aber man sollte sich vor seinen guten Ideen in Acht nehmen, schrieb Aksel Sandemose, den der Vater gelegentlich zitierte, manchmal ist man so begeistert von der Idee, dass man alles andere vergisst. Sandemose sprach über das Schreiben, aber wenn man zu einem Fest einlädt, gilt bestimmt das Gleiche. Und im Übrigen: Das Mädchen hegte den Verdacht, dass dieses Fest nicht allein die Idee des Vaters gewesen war, sondern auch Ingrids. Wenn all seine Kinder nach Hammars kommen durften, würden auch all ihre Kinder die Erlaubnis erhalten zu kommen. Nicht nur die jüngste, Maria, sondern auch die drei anderen. Ingrid hatte ihre Kinder verlassen, als sie den Vater des Mädchens heiratete, und nun vermisste Ingrid sie unablässig, aber ihr neuer Mann wollte, dass es nur sie beide gab. Keine Kinder. Sie hatten so lange aufeinander gewartet, seine zahlreichen Ehen und Frauengeschichten und ihre Ehe mit dem Baron hindurch. Oder war es ein Graf gewesen. So ist die Liebe. Sie sitzt auf der braungebeizten Bank, und jemand hat gesagt, soistdieLiebe. Die Mutter des Mädchens schüttelt den Kopf, wenn die Frauengeschichten des Vaters zur Sprache kommen, sie will nichts von Ehefrau Nummer vier hören, ichwillnichtsvonihnenhören