Irgendwo. Aber am Meer - Arnold Stadler - E-Book
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Irgendwo. Aber am Meer E-Book

Arnold Stadler

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Beschreibung

In Arnold Stadlers Roman »Irgendwo. Aber am Meer« reist ein Schriftsteller zu einer Kulturveranstaltung in den Westerwald, wo er an einem »Talk« teilnehmen soll. Aber der »Event« wird zum Fiasko. Befragt, was sein Beitrag zur Energiewende sei, wie er zu Greta Thunberg und den im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen stehe, verstrickt er sich in einen hilflosen Antwortversuch. »Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!«, schallt es aus dem Publikum. Erholungsbedürftig bricht der »Experte im Nichtwissen«, dem die Gegenwart fremd geworden ist, zu einem Sehnsuchtsort seines Lebens auf: ein Haus mit Blick auf die griechische Insel Ithaka. Es wird eine tragikomische Reise durch Erinnerungen, Geschichten und Gedanken, eine Suche nach unserem Platz in der Welt: dem Ort, an dem wir – trotz allem! – glücklich sein können. Irgendwo. Aber am Meer.

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Arnold Stadler

Irgendwo. Aber am Meer

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Schriftsteller reist zu einer Kulturveranstaltung in den Westerwald, wo er an einem »Talk« teilnehmen soll. Aber das »Event« wird zum Fiasko. Befragt, was sein Beitrag zur Energiewende sei, wie er zu Greta Thunberg und den im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen stehe, verstrickt er sich in einen hilflosen Antwortversuch. »Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!«, schallt es aus dem Publikum.

Erholungsbedürftig bricht der »Experte im Nichtwissen«, dem die Gegenwart fremd geworden ist, zu einem Sehnsuchtsort seines Lebens auf: ein Haus mit Blick auf die griechische Insel Ithaka. Es wird eine tragikomische Reise durch Erinnerungen, Geschichten und Gedanken, eine Suche nach unserem Platz in der Welt: dem Ort, an dem wir – trotz allem! – glücklich sein können. Irgendwo. Aber am Meer.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Arnold Stadler wurde 1954 in Meßkirch geboren. Er studierte katholische Theologie in München, Rom und Freiburg, anschließend Literaturwissenschaft in Freiburg, Bonn und Köln. Er lebt und schreibt in Berlin, in Sallahn unweit der Elbe und in Rast über Meßkirch. Arnold Stadler erhielt zahlreiche bedeutende Literaturpreise, darunter der Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen die Romane »Rauschzeit« und »Am siebten Tag flog ich zurück« sowie der Künstleressay »Mein Leben mit Mark«.

Inhalt

I Sayn

II »Auf dem Weg zum Heimatfriedhof«

III »Wanderer, kommst du nach Ithaka«

IV »Kyriaki anoichta – Sundays open« Stopp bei Lidl

V Infinitypool mit Ithakablick

VI Auf der Asterion II oder »Irgendwo. Aber am Meer«

ISayn

Vor dem Frankfurter Hauptbahnhof stieß ich auf einen jungen Obdachlosen, der »meine Mama« sagte. Er kam aus Gelnhausen. Und aus mir war auf Schloss Sayn ein alter weißer Mann geworden, der immer noch »ich« sagte. »In welche Himmelsrichtung wirst du dich verirren?«, fragte ich mich mit einem Dichter, der ganz in der Nähe wohnte.

Ich kam zurück aus Sayn. Es war am Himmelfahrtstag, und ich musste umsteigen. Aber am liebsten hätte ich mich nun neben ihn hingesetzt und geweint. Ich hätte sein Vater sein können, wie es aussah. Aber wir feierten weder Himmelfahrt noch Vatertag.

Ich war nun fast schon ein alter Mann geworden, der immer noch »ich« sagte.

Aus »ich« war »er« geworden, ein alter Mann, jener, einst in Blond aufgebrochen, irgendwie blauäugig, und nun war ich schon lange auf dem Weg von Blond nach Weiß, über Frau und Grau nach Weiß, und das dazugehörende Shampoo hieß »Silberglanz«.

Immerhin, das konnte ich morgens im Spiegel sehen, das spiegelverkehrte Grau glänzte, es war tatsächlich wie vom Shampoo versprochen, ein Silberglanz über mir. Vielleicht sogar etwas ins Blau spielend, wie einst bei der Begum.

Meine Lesung auf Schloss Sayn hatte sich als Katastrophe herausgestellt.

Nun fuhr ich als ein Überlebender von Limburg, wo man mich in den Zug geladen hatte, über Frankfurt nach Tuttlingen, der Stadt von »Kannitverstan«, zu meinem Auto zurück, meine Dacia! Es war an Christi Himmelfahrt.

Unterwegs auf der ICE-Neubaustrecke, irgendwo zwischen Limburg und Frankfurt Flughafen, hatte der Zug einen Jaguar überholt, und ich sah einen alten Mann am Steuer sitzen, der sich wohl aufgegeben hatte und so aussah, als wollte er lieber in den Graben fahren als sonst wohin. Ja, auch aus mir war nun wohl ein alter Mann geworden, der immer noch »ich« sagte … So ungefähr ging es durch meinen Kopf, in meinem Kopf zu, der auch noch mit der Enttäuschung leben musste, dass ich es war, und nicht Greta Thunberg.

Vor kurzem war der Mann vielleicht noch auf dem Weg zu einer Geliebten gewesen. Nun war er vielleicht unterwegs zu einer letzten Besprechung mit dem Notar. Und so schien es nun auch bei mir zu sein.

Sie hatten mich auf Sayn zur Rede gestellt, im Grunde aus Enttäuschung, weil ich es war, und nicht Greta Thunberg.

Auf dem Hinweg war ich so übermütig, so wie jetzt auf dem Rückweg niedergeschlagen.

Aber wie es so ist: Erst auf dem Rückweg, als es zu spät war, fielen mir sämtliche richtigen Antworten ein.

Gerade auf der Hinfahrt war ich noch etwas übermütiger gewesen, als ich es mir angesichts meiner Jahre und meiner Welt hätte eigentlich erlauben können.

Gewiss wusste ich dies, und der folgende Satz hatte sich im Laufe meiner Zeit zwar als richtig herausgestellt, aber als einer von jenen Sätzen, die mir auch nicht weiterhalfen: Mir scheint, dass ich auch deswegen auf der Welt bin, um mich immer wieder zu täuschen. Und so lange es allen recht machen zu wollen.

Dass du dir nun fast alles dazudenken musst, alles, was nach Glück aussieht, dazudenken musst. Und aus meinem schmerzstillenden Mercedes, längst abgewrackt, war mein Schmerzedes geworden, ein Wortspiel.

Die Abwrackprämie hätte für einen nigelnagelneuen Dacia Duster gereicht, war aber längst aufgefressen. Ich kam wieder einmal zu spät. Und kannte Leute, die nie zu spät kamen. Smarte Leute, Experten, die immer wussten, wo es langging. Das hatte ich auch nicht vergessen: Wie ich damals, am Rheinufer zu Köln, eines Morgens auf jener Bank saß, und ein Kind hatte auf mich gezeigt und »Opa« gesagt. Es zeigte auf mich und sagte: »Opa!« Der hatte gerade eine irrsinnige Nacht hinter sich, gerade vierzig geworden, und so langsam zeigte ihm das Leben seine Zähne, das wusste er wohl und wiegte sich dabei in den Nachwehen des Don-Giovanni-Glücks, das Wort »Glück« gehörte bis zuletzt zu den häufigsten, wenn es um das weite Feld der Illusionen ging. Auch in meinem Wortschatz kam dieses Wort häufiger vor als in meinem tatsächlichen Leben, das ich mir dazudenken musste. Das du dir dazudenken kannst und dazudenken musst, sagte ich mir.

In der Hierarschie der Schmerzen, so hörte es sich wenigstens an, wenn dieses Wort aus dem Mund von Inge kam, die von der Mosel stammte … oder von einem frechen Rheinländer, entschuldigen Sie bitte, Herr Dingens! … war der Altersschmerz ganz unten angesiedelt, und die Todesangst eines Alten wurde ja kaum wahrgenommen in den sozialen Medien, die ich bald mit »asoziale Medien« übersetzte. Der Schmerz, mein Schmerz, kam praktisch nicht mehr vor im Fernsehen. Der Tod und das Sterben waren an die Krimis delegiert. Ihnen überlassen. Als wäre es, kurz, bevor es so weit wäre, nur noch halb so schlimm.

Was für ein Luxusschmerz war dagegen mein erstes Zahnweh, verglichen mit dem ausweglosen Fahren zurück aus Sayn und dem Westerwald, der Raiffeisengegend.

Doch mit meiner Rolle war ich nicht allein: Sie wiederholte sich millionenfach.

 

Im vergangenen Jahr war ich außerdem zum Dieselfahrer geworden. So spät? Jetzt noch?, wurde ich fast schon zur Rede gestellt.

Meine Dacia war ein Diesel, und ich ein verachteter Dieselfahrer. Doppelt verachtet: von den einen, weil Dieselfahrer Mörder waren an der Zukunft der Menschheit. Von den anderen: weil es sich bei diesem Dacia-Fahrer offensichtlich um einen alten Loser handelte, der sich keinen Tiguan und kein prestigeträchtiges Fahrzeug leisten konnte. Kein E-Mobil von Elon Musk, der hierzulande vielleicht für eine bessere Ökobilanz sorgte, in den Ländern der seltenen Erden jedoch zur Zerstörung der Natur und Ausbeutung der Menschen beitrug. Und wer hätte es gedacht, dass im wasserreichen Brandenburg seiner von sämtlichen bundesrepublikanischen Staatshoheiten gefeierten E-Auto-Fabrik dereinst das Wasser ausginge! Ein trockener Sommer folgte nun auf den anderen; und früher hatte der Mensch von einem Sommer ohne Regen noch geträumt. So war das Problem, das möglicherweise auch zu jenen gehörte, die nur eine Geschichte hatten, aber keine Lösung kannten, nur ausgelagert. In Südamerika und Afrika schufteten für einen Hungerlohn in den Minen auch Kinder. Und die Natur, die sogenannte Umwelt, wurde dort immer weniger. Tatsächlich war es die Welt. Am besten für die Welt und für die Ökobilanz zu Hause wäre es vielleicht gewesen, gar keine Autos mehr zu bauen.

Mein Fahrzeug hatte ich also zum Glück am Bahnhof in Tuttlingen, der Welthauptstadt der Medizintechnik und von Kannitverstan, stehen gelassen. Und war damit nicht auf Sayn vorgefahren, das wäre ein Todesurteil gewesen; so kam ich mit einer Katastrophe davon, die in einer Erkenntnis mündete, meiner Erkenntnis, dass das schöne Leben so langsam vorbei war.

Ich hatte mittlerweile schon erfahren, dass es ein Unterschied war, in einem Jaguar ein alter weißer Mann zu sein oder in einer Dacia Duster. Und überholt zu werden von jungen Leuten, die über mich hinwegflogen und die alles besser wussten als ich.

Als wäre es Hasenweh, so schaute der im Jaguar in Richtung Taunus.

Und ich auch.

Früher war es Zahnweh, da hatte der Mensch noch Zukunft. Nun aber war es Hasenweh, und ich wusste, dass es das Unglück war, zu wissen, dass dieser Mann alles falsch gemacht hatte. Aber ich wollte nicht so weit gehen und ihn nun zum Geisterfahrerkandidaten machen.

 

Ich hatte den Verdacht, dass sie auf Schloss Sayn eigentlich Greta Thunberg hatten hören wollen und mir übelnahmen, dass ich nicht Greta Thunberg war, sondern ein weißer Alter, der für alles verantwortlich gemacht werden konnte. Und sie selbst nahmen es sich auch übel, dass sie zu mir und nicht zu Greta Thunberg gereist waren.

Dass sie mit einem wie mir vorliebnehmen mussten, der zudem nicht mit dem Foto übereinstimmte, das solche Menschen, die es immer noch gab, anlocken mochte, die vielleicht davon träumten, von mir gerettet zu werden oder mich zu retten. »Der Tourist fordert. Der Pilger dankt«, so hatte es gerade eine Pilgerherbergsmutter beschrieben.

Eine meiner ersten Lesungen war in einer Stadt namens D. gewesen. Man konnte mich damals, wie im Übrigen immer noch, über den Katalog beim Verlag bestellen. Und ich dachte schon an einen alten Schwindler, der mir einst hatte einen Gebrauchtwagen verkaufen wollen mit dem Satz: »Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß!« Und ich dachte nun an diese und jene Buchhändlerin, die es bis zu diesem Satz geschafft hätte.

Und ich lag wohl schon damals nicht ganz falsch mit meinem Verdacht, dass es vor allem das Foto im Frühjahrskatalog war, das zu den Bestellungen von mir geführt hatte. Selbst der Verlag wunderte sich, dass so viele Bestellungen eintrafen für mich, der nichts vorzuweisen hatte als sein erstes Buch.

Die Buchhändlerin holte mich am Bahnhof ab. Ja, die Stadt D. hatte tatsächlich einen Bahnhof, der aus zwei Gleisen bestand, für jede Richtung eines. Ein Abstellgleis gab es freilich auch. Genügte das etwa nicht? Doch ich … Nachher, beim Wein, bekannte sie mir, dass sie mich aufgrund des Fotos bestellt hatte, und wie enttäuscht sie war, dass das Foto und ich nicht übereinstimmten und dass sie mich aufgrund dieses Fotos nicht erkannt hatte, obwohl ich der einzige Fahrgast war, der in D. den Zug verlassen hatte und auf die Buchhändlerin zuging, die ich gleich entdeckte und erkannte, obwohl ich kein Foto von ihr gesehen hatte … auf sie zuging, zögerlich, als schämte ich mich für mich, als wäre ich der Komplize eines Betrugs. Oder auch nur, als Irrwisch, der ich war, der Komplize des Nichts. Mit Don Quichotte oder sonst so einem, wie es sie zu allen Zeiten gab, im Gepäck, mit einem Buch, das eine Lichtung in Aussicht stellte und doch nur ein Holzwegreiseführer war, der solche Fragen beantwortete, die keiner gestellt hatte. Ein Verfasser von Holzwegliteratur. Ja, ich wusste es schon, als ich ihr schließlich gegenüberstand: Ich sah nur ein maßlos enttäuschtes Gesicht, als ich ihr meinen Namen sagte. Doch wie es der Teufel will: Bald sagte ich »Gertrud« zu ihr, denn es war noch schön mit uns, und bis zum heutigen Tag können wir über diese und jene Episode aus unserem Leben lachen, die eigentlich zum Weinen ist. Oder nicht?

Und was aus all den Lesern, die mein erstes Buch gekauft hatten, geworden war?

 

Der Taxifahrer hatte mich vom Bahnhof Hadamar nach Sayn gefahren, auf einer Autobahn, die auch den Westerwald durchschnitt, ja vierteilte.

Ich sagte ihm, dass ich lange auch ein solches Auto gefahren habe wie er, es war ein Mercedes. Um meine Angeberei zu korrigieren, so dachte ich, müsse ich ihm noch sagen, dass ich auch einmal Taxi gefahren sei, also Taxifahrer gewesen sei wie er, dass ich auch einmal so dachte wie er und dass ich mich immer mehr von all diesen Menschen entfernte, die wussten, wo es langgeht, und die wie selbstverständlich zu Greta flogen oder in jede Versammlung »Quatsch« hineinrufen konnten und die strategisch günstigste Stelle zu jeder Zeit an jedem Ort wussten. »Solche darwinistischen Alphatiere sind das, ich sage Ihnen!« Nun war ich schon wieder bei Antworten auf Fragen, die mir keiner gestellt hatte. Manchmal, so wie bei der fraternisierenden Bemerkung, ich sei einst auch als Taxifahrer unterwegs gewesen, handelte es sich auch um unverlangte Lügengeschichten. Aber, wenn es schon sein musste: Ich log niemals, um einem Menschen zu schaden, und immer so, dass ich der Erste war, der es am Ende glaubte. Das glaubte ich.

Die Schwalben waren auch vom Kilimandscharo an den Rhein zurückgekehrt. – Wie ich. (Wenn es auch nicht alle geschafft hatten.) Nun flogen sie schon wieder auf meinem Weg zur Schlosstreppe zwischen mir und einem Himmel, der für mich aber immer noch »Heaven« war, hin und her.

Ich war schon etwas spät, die Gäste strömten schon hinauf.

»Was wollen die denn?«

»Wohin wollen denn die?«

Ich konnte ja nicht »zu mir« sagen. Sogleich sagte ich mir: Die gehen zu einer anderen Veranstaltung! Doch »ohne mich fängt das hier nicht an!« So versuchte ich mich schon meinem Taxifahrer gegenüber aufzuplustern, dass wir schon etwas spät dran seien. Dieser Mann hatte mir unterwegs sein Leben – wie weit dies eben in einer Dreiviertelstunde möglich war – erzählt, und wie weit er mittlerweile von allem entfernt sei, und dass auch das vollkommen egal sei. Und so fort. Er habe ja auch nicht mehr so lang bis zur Rente. Dass auch der Tod immer näher rückte: Ein solches Gesicht machte er aber nicht. Dass er an so etwas gedacht hätte: Dies schien auch bei ihm ziemlich unwahrscheinlich. Aber er werde wohl sein Leben lang weiterfahren müssen. Ich hatte ihn wieder einmal für älter gehalten als mich. Ich würde mir wohl ein Leben lang jünger vorkommen, als ich war. Also noch nicht ganz den anderen gewachsen. Ja, ich hielt alle für älter als mich, intuitiv, weil ich von allen, mit denen ich zu tun hatte, gezeigt bekam, dass sie mir überlegen waren. Und ich kombinierte wieder einmal falsch: Alter und Überlegenheit. Denn ich lebte wohl in einer Zeit, in einer Weltgegend, da das Wort »Erfahrung« nichts mehr wert war. Dabei war auch mein Taxifahrer, der mich von Hadamar nach Schloss Sayn im vorderen Westerwald gefahren hatte, vielleicht zehn Jahre jünger als ich.

Mittlerweile war Greta Thunberg auf der Welt, der Weltbühne, erschienen, und das Wort Erscheinung war in den vergangenen Jahren immer peinlicher geworden, nun aber war es durch Greta rehabilitiert. Und wie in alten Zeiten, da sich die Wundergläubigen vor der Erscheinungsgrotte versammelten, standen nun auch in Hamburg Tausende von Menschen, die so viel Angst hatten vor der Klimakatastrophe und der Zukunft wie ich, und lauschten andächtig der kleinen Greta.

Sie plante auch eine Fahrt mit dem Schiff nach New York, aber nicht aus Flugangst, sondern aus Flugscham. Und ich war davon überzeugt, dass Greta von einer Million Followern am Kai von Manhattan erwartet würde.

Ich kam vom Land, aus einem Dorf, auf das sich »Ast« und »fast« und »Gast«, »Hast« und »Mast« und »passt« reimte, und vielleicht auch noch »bast cast dast«, nast und quast und zast. Nasty und dusty, »old« auf »white«, »man« auf »dirty«, also fast alles. Und ich kannte meine Pappenheimer, auf deren Feldern und Wäldern nun die sogenannte Energiewende ausgetragen werden sollte. Und ich hatte mich mitten unter ihnen längst als Don-Quichotte-artig herausgestellt, in einer Version im Zeitalter des ökologischen Fußabdrucks und der zweihundert Meter hohen Windmühlen.

 

»Diese Geschichte hat keinen Plot. So wenig wie die Geschichte einen Plot hat. So wahr ich keinen Plot habe.« So hätte ich meine Geschichte zusammenfassen sollen auch auf Sayn. Und Heimat gab es auch schon längst nicht mehr für mich, wohl aber immer noch ein ortloses Heimweh. Es war ja auch noch ein Gespräch über Heimat zwischen dem Publikum und mir angekündigt.

Ich war also von meinem Taxi aus hinauf zum Schloss gegangen.

Dann schlenderte ich noch etwas herum und sah verträumt zum Schlossteich hinüber und dachte wohl über das Leben nach.

Den richtigen Weg fand ich, indem ich den anderen folgte.

Immerhin hier, an diesem Abend, wenn auch nicht im Leben.

Und ohne eine Musik und ein gastronomisches Angebot ging es auch nicht mehr. Schließlich musste den Gästen etwas geboten werden. Sie hatten dreißig Euro bezahlt für mich. Eine bloße Lesung war längst zu wenig. Es musste schon noch ein sogenanntes Gespräch dabei sein. Und dann vor allem ein wenig Musik und ein »kulinarisches Angebot«. Ich glaubte, im Lauf der Zeit herausgefunden zu haben, warum sie das Wort »kulinarisch« so liebten, besonders jene, die etwas Französisch und Italienisch konnten. Und doch: Das Wort »lecker« durfte mittlerweile, schließlich lebten wir in der Zeit der leckeren Salate, der vegetarischen Verheißungen und in der Kinderzeit der veganen Existenz, an keinem Tisch mehr fehlen, und ich vermutete, dass Frauen dieses Wort noch etwas mehr verwendeten als Männer.

Das entscheidende Wort war auch hier »lecker«: Das Wort verfolgte mich. Ich hatte es in der Lodge am Kilimandscharo gehört, wie bei fast jedem Essen, zu dem ich geladen war; nur hier im Schloss hätte das die Fürstin nicht durchgehen lassen. Nicht einmal »Guten Appetit!« durfte man sich in Adelskreisen wünschen, bei der Strafe der Exkommunikation. Die Fürstin würde aber wohl gar nicht kommen, wahrscheinlich nicht deswegen, weil ich es war, sondern eher, weil sie es und das Wort »lecker« nicht ertragen hätte. Also würde sie niemals erfahren, dass auch ich das Wort »lecker« scharf missbilligte. Sie ekelte sich vor diesem Wort vielleicht genauso wie ich. Über dieses Wort hätten die Soziologen von Allensbach einmal eine demoskopische Studie anfertigen können. Das Wort »demoskopisch« war aber mittlerweile ganz schön aus der Mode gekommen, wie ich auch, mit all meinen Fragen und Sätzen, dachte ich.

Die eine oder andere würde ihren Mann mitbringen. Oder mit ihrer Freundin kommen, als ginge es zu den Chippendales. »Wann genau ist aus Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll eigentlich Laktoseintoleranz und Veganismus und Helene Fischer geworden?« Die Frage war nicht von mir. Doch irgendwie wollte auch ich es wissen. Aber sie, diese Frage, war trotz des »eigentlich« sehr genau. War meine Frage, die an meinem »irgendwie« scheiterte. Die mir der Kilimandscharo auch nicht beantworten konnte (vgl. A. St.: Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo), so wenig wie es die Wellen des Meeres vermochten, mir zu antworten, auch wenn ich manches Mal, an einem der Meere stehend, mit ihnen, den Wellen, glaubte per Du zu sein, sein zu können, sein zu dürfen. Ja, mit ihnen zu verschmelzen, in ihnen aufzugehen wie im Sinn des Seins … Wenn ich einst hinausschaute, passte kein Blatt mehr zwischen uns, zwischen das Meer und mich, mich und dich, und auch nicht zwischen meine Augen und meinen Himmel, zwischen den Kilimandscharo und mich, und einst auch nachts zwischen die Milchstraße und meine Augen, einst, als es noch einen Nachhauseweg gab. »Wann genau war einst?« … Und immerhin hätte ich mir sagen können, dass ich diese Frage als eine gute Frage entdeckt hatte. Sie war auch die Frage meines Lebens. Irgendwo im Lauf der Zeit war mein Leben umgekippt. Und nun erfuhr ich es zum ersten Mal »so richtig«, wie man sagte. Das Schicksal hatte für mich dafür einen Abend auf Schloss Sayn ausgewählt, ausgewühlt, ausgewohlt, ausgewöhlt, ausgewallt, ausgewellt, ausgewillt, ausgewollt, ausgewullt …

Vorsicht, mein Lieber! Du willst dich doch nicht um Kopf und Kragen reden? Dabei wollte ich doch eigentlich nichts als leben. Mich dann und wann etwas sonnen. Was war Glück? Nun wusste ich es. Das Leben? Es war nicht zum Spaß, sondern weil es sein musste. Einst hatte ich zu leben und zu schreiben begonnen; und ich hatte trotz allem eine unbändige Kraft und einen Lebenswillen sondergleichen, schon beim ersten kindlichen Versuch, dem Leben zu entkommen und zu leben. Kein anderes als mein Leben hatte mich schließlich auch hierher nach Sayn geführt. Trotz allem hatte ich »ja« gesagt. Sonst hätte ich gar nicht erst zu schreiben begonnen und zu singen. Nun sagte ich nur noch »ich«. Ich sang, von mir, als verriete ich mein Leben an die Welt, als wäre es wie bei einem Verhör, wenn der Gefangene schließlich doch singt.

Ohne eine Musik ging es auch hier nicht mehr, schließlich musste den Gästen etwas geboten werden. Sie hatten dreißig Euro bezahlt. Aber so, dass es in den Augen des vermuteten Publikums sexy ausschauen sollte. So dachte ich es noch auf dem Hinweg zu meiner Lesung und dem Gespräch, sorry, »Talk«, ein Wort, das noch von meinen Eltern deutsch ausgesprochen und mit der entsprechenden Drüse kombiniert worden wäre und von einem Menschen mit einer Rechtschreibschwäche immer noch.

Vielleicht gab es in diesem riesigen Schloss noch eine andere Veranstaltung um diese Zeit, das war ja oftmals so in den Literaturhäusern und an den Unis, in deren Treppenhäusern die Menschen unterwegs waren, manchmal auch zu mir, das wusste ich spätestens dann, wenn ich sie tuscheln hörte: Das ist er! Auf Sayn konnte doch noch gleichzeitig ein Weinfest sein oder eine Tupperabendkonferenz der Vertreterinnen aus ganz Deutschland. Sayn war ja auch ein Event-Hotspot.

Aus dem Mund der enttäuschten Veranstalterin, die schon einen Blick in den Veranstaltungsraum hineingeworfen hätte, würde ich, dachte ich, also gleich nach der Begrüßung etwa Folgendes hören: »An diesem Wochenende sind hier so viele Veranstaltungen, das Weinfest in Andernach, das Rheinfestival, die Lange Nacht der Museen von Rheinland-Pfalz, dazu ein wichtiges Fußballspiel im Fernsehen, gleichzeitig singt Helene Fischer beim Open Air in Vallendar« – das würde die ultimative Erklärung sein. Und da der Mensch naturgemäß kein Heiliger war, gingen sie dahin, wo Helene Fischer in Latex zu sehen wäre. Irgendwer musste ja hingehen, die Puffgängernation Nr. 1 war jedoch die Schweiz, die Zahlen von Rheinland-Pfalz kannte ich nicht. Ich wusste nur, dass es nun nicht mehr in Brasilien oder auf Kuba, sondern im calvinistischen Teil der Schweiz die meisten Prostituierten gab auf der Welt: allein fünftausend Brasilianerinnen und fast ebenso viele Brasilianer gingen da ihrer Arbeit nach, das wusste ich aus dem BLICK, und schauen Sie einmal ins Net: In Freiburg gab es nur zwei Escort-Einträge, in Basel waren es fünfhundert. Ja, die Schweizer Millionen wollten auch ihr Futter haben.

All die Erklärungen und Faktenchecks. Allzeit war irgendwo ein wichtiges Spiel. Die arme Frau Lutze-Wild, ich hätte schon Mitleid mit ihren Sätzen, die sie für alles und mich finden müsste. Da ich nicht alles sein konnte … Und wie sie nun meine mangelnde Attraktivität, mein Lockkapital mit einzelnen Sätzen von mir wiedergutzumachen versuchen würde, die allein schon durch ihr Alter imponierten und sich bewährt zu haben schienen.

Sie würde dem Publikum plötzlich – gab es die unschöne Steigerung »plötzlichst« eigentlich auch? – Sätze von mir wie einen Ball zuwerfen oder gleich auf den Kopf zielen. Sätze wie »Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich immer noch so viel Hoffnung hatte«. Vielleicht dachte sie wie ich, dass sie mit solchen Sätzen den Menschen wie du und ich – wie dich und mich – ins Herz treffen müsste. Sie warf ihnen Sätze wie einen Ball entgegen, als wäre das Publikum eine Jury, die über Leben und Tod eines Schriftstellers zu entscheiden hätte, oder auch nur über den Deutschen Buchpreis.

Doch sie lachten nur, und ich hätte weinen können über so viel Abwesenheit.

Sie lachten an der Stelle des Lebens zum ersten Mal, wo ich zum ersten Mal hätte weinen können.

So dachte ich mir meine unmittelbare Zukunft von Sayn aus.

Doch von Tag zu Tag war meine Zukunft der jeweilige Abend; die Zukunft: Das war im Leben doch meist der Abend, und dann die Nacht, und wer richtig am Leben war, fieberte dieser Tageszeit entgegen. Und dachte dabei an etwas anderes als ein Joint Venture aus Schlaflosigkeit und Albträumen.

Ja, die Nacht. Früher hatte ich bei »Nacht« noch an etwas ganz anderes gedacht als an mich, nun ein atemloses Joint Venture aus Schlaflosigkeit und Albträumen und »ich weiß nicht«.

 

Im Vorgespräch war mir noch einmal klargemacht worden und deutlich, dass heutzutage eine bloße Lesung dem Publikum nicht mehr reichte; es sollte also außer dem »Gespräch mit dem Autor« noch etwas dazukommen, wie bei einem Festvortrag die als Leckerbissen angekündigte Musik als Rahmen, samt einem »reichhaltigen kulinarischen Angebot«.

Die Musik durfte keineswegs fehlen. Und ich sollte bitte meine Lesung als Auftritt verstehen und mit den Musikern in Häppchen aufteilen. Und bitte rechtzeitig zur Mikroprobe erscheinen und mit den Künstlern das Programm besprechen! Der Tiefpunkt einer Lesung war, das wusste ich nun, wenn ich im Nachhinein zu hören bekam: »Man hat überhaupt nichts verstanden!« Dieser Satz kam meist aus dem Mund von alten weißen, weizenblond oder rostrot gefärbten Frauen. »Keineswegs sollten Sie länger als fünfzehn bis zwanzig Minuten lesen. Mehr geht heute nicht mehr.« Das war die Vorgabe. Und dann das Gespräch mit dem Publikum. »Der Autor ist bereit, sein Buch zu signieren.« Diesen Satz würde ich auch noch über mich ergehen lassen, auch dann, wenn außer der Veranstalterin und ihren Helferinnen, außer dem kulinarischen Equipment und außer den Jazzmusikern in der Westerwaldvariante kein Mensch erschienen sein würde. Wunderbare Musiker würden es sein, das wusste ich schon jetzt, und ich freute mich wirklich, denn die Musik hatte manchen Literaturabend gerettet, so vor kurzem auch der Gitarrist in der Stadtbibliothek von Koblenz. Die Jazzformation würde auf meinen Wunsch All of me spielen und singen, die viel von den zahlreichen Amis in der Gegend, ursprünglich Besatzer, dann fast Kolonialherren, gelernt hatten, wenn auch nicht alles. Und wenn trotz all der Anstrengungen der Veranstalter die meisten Plätze leer blieben, hätte man vor Ort immer noch ein wunderbares musikalisches Programm und einen ganzen Sack voller Entschuldigungen. Im Vorfeld hatte ich nichts darüber erfahren, wie der Kartenvorverkauf lief. Ich war es gewohnt, mit Wörtern wie »schleppend« und »zäh« zu rechnen und mit Sätzen wie »wir können es uns überhaupt nicht erklären«.

Man kannte mich in dieser Gegend nicht, trotz mancher Auftritte in Edenkoben, an der Mosel, in der Jugendstrafanstalt von Wittlich, immer wieder in der Landeshauptstadt Mainz oder in der ältesten Stadt Deutschlands, dem zeitweisen Regierungssitz des Römischen Weltreichs, das war Trier. Und immer wieder war Koblenz auf meiner Auftrittsliste erschienen. Koblenz war ein Wort, an dem meine erste Lateinlehrerin die Entwicklung dieses Namens vom lateinischen Confluentes zum deutschen Koblenz grimassenartig nachstellte – es sah aber auch ein wenig nach einem oralen Automatismus aus – und so lange »Confluentes« ganz schnell vor sich hinsagte, bis daraus Koblenz geworden war. Und an der Stelle, wo die Mosel und der Rhein eins wurden, stand immer noch das Denkmal für Wilhelm den Großen, Deutscher Kaiser, aber nicht Kaiser der Deutschen oder gar Deutschlands. Karl der Große und seine Nachfolger hatten es nicht verdient, mit diesem preußischen Nachspiel zu enden, dachte ich. Und die Kaiser-Wilhelm-Spitze, die nun längst wieder Kilimandscharo hieß, hatte ich mit meinen Augen doch auch gerade bestiegen. Ich war also schon seit Jahrzehnten in Rheinland-Pfalz herumgetingelt, und in diesem und jenem Seitental. Doch man kannte mich da immer noch nicht »richtig«. Wie Frau Lutze-Wild mir einen Teil meines Lebens zu erklären sich bemühte.

Also würde die Veranstalterin versuchen, die Gäste mit dem Wort »berühmt« zu überrumpeln und meine Auszeichnungen, Preise und Mitgliedschaften aufzählen und dabei sagen, es sei nur ein Teil davon, wenn sie alles aufzählen würde, käme ich gar nicht mehr zum Lesen. »Berühmt« sagten sie vor allem dann, wenn einer vor Ort nicht berühmt war. Das hatte ich mittlerweile auch herausgefunden.

Vielleicht wollte sie mich doch mit einem vollen Haus überraschen, aber das würde ich aus einer naturgemäßen Skepsis mir gegenüber meinen Mitstreitenden anrechnen. Eigentlich war »ja« mein Lieblingswort. Doch von Natur aus rechnete ich lieber mit dem Wort Nein als mit dem Wort Ja, wenn es um meine Einschaltquoten ging. Das sollte aber nicht zu einer Beschimpfung der wenigen, die gekommen waren, ausarten. Die Veranstalterin würde sich wohldosiert bei denen bedanken, die »trotz allem« gekommen waren und ihren Weg zu mir gefunden hatten. Sie hatten schließlich dreißig Euro bezahlt! – Und da das für so etwas wie eine Lesung mit mir viel zu viel gewesen wäre, waren ein Glas Prosecco sowie ein kleines Lunchpaket im Wert von fünfzehn Euro inbegriffen. Das war ein Argument.

»Lass es sein! Sag: Es war nichts … Wie lange noch willst du dich dir und den anderen zumuten!«, dachte ich auf dem Weg in den Saal. Das Fragezeichen erübrigte sich bei dieser Frage. Vielleicht war mir schon etwas bang vor dem Publikum, dem ich mein Leben ausbreiten sollte. Und gerade auch sechs Tage am Kilimandscharo gehörten doch zu meinem Leben. Ich wusste, dass schon zwei Querulanten genügten, um aus etwas eigentlich Schönem etwas Schreckliches zu machen. Nur Schreiben war noch schöner als Lesen, manchmal auch schrecklicher.