New York machen wir das nächste Mal - Arnold Stadler - E-Book

New York machen wir das nächste Mal E-Book

Arnold Stadler

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Beschreibung

»Kaum hat der Mensch seinen Schreibtisch aufgeräumt, so glaubt er schon, es sei Ordnung möglich«, sagt Arnold Stadler, aber »Ordnung ist wohl nur eine Charakterfrage und beweist gar nichts.« Das Unaufgeräumte ist das Ordnungsprinzip von Stadlers Literatur. In ›New York machen wir das nächste Mal‹ erzählt er traurige und verträumte Geschichten: Es gibt ein unverhofftes Wiedersehen mit den alten Bekannten aus Stadlers großen Romanen, den schmerzhaft Verliebten und mit großer Geste Schüchternen. Es sind die, die ankommen und trotzdem nicht bleiben, die abreisen, um zu leben, die Ordnungs- und Glückssucher, die sich in diesen Denkbildern und Episoden wiedertreffen und so einen Empfang bereiten für ein weiteres Kapitel des einen, großen Werkes, an dem Arnold Stadler unermüdlich schreibt.

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Seitenzahl: 218

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Arnold Stadler

New York machen wir das nächste Mal

Geschichten aus dem Zweistromland

Fischer e-books

Du, sag, ist jetzt der Poldi vor uns gestorben oder nach uns? So fragte die eine Schwester die andere. Und er hätte dies auch gern gewusst.

1. Himmelreich oder Unvergessliches So-gut-wie-nichts

»Das sind so Geschichten!«, sagte Dr. Fröhlich immer, wenn er mit der Spritze kam. »Gleich wird es etwas pieksen!«, sagte er. Und es piekste.

 

Wenn Roland sein uraltes, handgeschriebenes Buch mit den Telefonnummern und den Adressen durchging, stieß er auf eine Welt von Enttäuschten.

Selbst Kinder gehörten dazu. Und sein eigener Name, den er schon auf der ersten Seite lesen konnte, war der allererste in der Liste derer, die enttäuscht waren. Er, das war jener, der von allen der Enttäuschteste war.

Von allem, von allen, und am meisten vielleicht von sich selbst.

Und doch hörte er Menschen sagen, dass sie glücklich waren.

Glücklich, dass es ihn gab. Manchmal gehörte er selbst zu diesen Menschen.

Glück! – und er ertappte sich dabei und musste zu sich sagen: Jetzt gerade warst du glücklich.

Schwarzer Wald, Schwarze Kuh, Schwarze Milch

Einst, ein Kind in den schwarzen Wäldern, fragte er seine Mutter: »Mama, geben die Kühe schwarze Milch?« Denn alle Kinder fragten so in den schwarzen Wäldern. Damals, in der Frühe, als er noch ein Kind und die Kühe noch schwarz waren.

Die Antwort hatte er vergessen, aber es gab sie. Es gab Menschen. Und ihre Gegend war immer schwarz, auch im Sommer, wenn alles schien, als blühte es und sagte ja, ja, ja der Weizen hing blond ineinander, als wäre es Liebe. Atem und Leben waren eins. Doch das Glück bildete manchmal einen rechten Winkeln auch hier.

Im Herzen Mesopotamiens

»Was hast du nur wieder mit deinen Hosen gemacht?«, fragte ihn, vom Spielen zurück, seine Mutter. Und Roland hätte ihr antworten können: »Ich habe darin gelebt.« Sagte aber etwas anderes.

Es war eine Kindheit unweit von einem Ort, der Himmelreich hieß, die Sehnsucht war also entsprechend, der Himmel über dem Himmelreich groß. Und so führten sie von Vorfrühling bis Spätherbst ein Leben im Freien.

Und selbst noch im Winter waren sie mit dem Schlitten unterwegs. Und abends kamen sie immer wieder zurück, und bis dahin mussten sie immer wieder zu Fuß mit ihrem Schlitten, bald mit ihren ersten Skiern, den kleinen Berg hinauf. Einen Lift oder gar einen Zauberer, der alles erledigt hätte, selbst die Träume, gab es noch nicht.

Rolands Kindheit war seiner Erinnerung eine große Gegenwart.

Die Zeit schien, unweit vom Himmelreich, damals schon Ewigkeit zu sein, als wäre die Ewigkeit ein Stück von ihnen gewesen. Doch aus jenem ersten Leben wurde bald Schnee von gestern. Was waren schon Kinderträume! Waren sie nicht wie die Erinnerungen Schnee von gestern? Und auch das Kapital von Schriftstellern und Verliebten, die ihre große Zeit hinter sich hatten?

Nun fiel Roland zuweilen schon wieder hin wie ein Kind im Laufstall, wenn es vom Fliegen träumte. Es wurde piano piano wieder ein Laufstall-Leben. Angereichert um eine Schwarzwaldtannenschwermut.

Immer wieder lebte er aufgrund falscher Schlüsse. Das erste Mal war es so: Er sollte ein Stück Zucker hinauslegen, damit der Storch käme. Roland legte also einen Zucker auf die Fensterbank, wie von der Großmutter vorgeschrieben, und dann kam der Storch und brachte noch eine Schwester. Damals war die Sehnsucht seine Zukunft, so wie die Vergangenheit nun sein Heimweh war.

 

Seine große Schwester hat Roland einst, als es noch Nacht wurde und Wunder gab, als noch der Himmel zu sehen war und mit ihm die Sterne, alles auf einmal gezeigt, und er staunte, und seine große Schwester entlockte ihm ein großes »AAAAAAAA! – Das ist der Himmel!«. Sagte sie ihm. Und er glaubte ihr. Freilich war es auch nur ein Kinderglaube. Aber der stand nicht zur Disposition, so wenig wie die Kinderträume.

»Das Schönste auf der ganzen Welt!«, sagte sie, wie Kinder sagen, ein Kinderleben lang.

Roland sah sie noch mit diesem Satz dastehen und hörte noch das Ausrufungszeichen hinter »auf der ganzen Welt«. Auf alles, was er sie fragte, bekam er eine Antwort von ihnen, seinen Anfangsmenschen. Dann starben die Ersten. Auf alles hatten sie eine Antwort gehabt. Aber wenn er nun am Telefon fragte: »Was machst du heut Abend?«, sagten sie: »Gulasch!«

Wie sie ihm voraus war und ihrem kleinen Bruder den offenen Himmel zeigte! Unter dem sie nebeneinanderstanden. Hand in Hand. Und vielleicht war das sogar das alles ermöglichende Wunder, auf das alle anderen folgten. Sie und ihn mit seinen kleinen großen Augen in ihrem großen kleinen Hof. Über diese Augen, mit denen sie als Kinder noch den Himmel berührten, waren sie mit der ganzen Welt verbunden, mit allem verbunden, was sie sahen und hätten sehen können, mit allem, was es gab, ob sie es sahen oder nicht. So standen sie im Weltraum, auf dem Nachbargrundstück der Milchstraße. Gleich nebenan die Milchstraße, das konnten sie sehen. Die Augen in ihnen und die Sterne über ihnen und sich. Dazwischen nichts. Seine Schwester und er, nebeneinander in diesem Hof. Und dann erst wieder die Sterne. Nachdem sie eine Weile geschaut hatten, gingen sie schlafen. Die Welt war noch vollständig: Großeltern und Schutzengel. Alles noch da. »Und nachts kreuzten sich Milchstraße und Dorfstraße auf dem Nachhauseweg.« So war es.

 

Es war noch eine Zeit vor dem künstlichen Licht, das den Himmel verdunkelte. Es war um die Zeit der Rübengeister herum, in den Tagen vor Allerheiligen. Sie waren gerade von Dorle zurückgekommen, auf deren Treppe die Kinder ihren Geist abgestellt hatten, um sie zu erschrecken, wenn sie herauskommen und dies sehen würde. Das war lange vor Halloween. Es war auch, schien Roland nun, zum Erschrecken gewesen: Es war dunkel, und sie lebte allein. Machte sie dann die Tür auf, leuchtete ihr da etwas entgegen, das wie ein Skelett aussah, dabei war es nur eine dicke Rübe. Sie war gerade vom Feld geholt worden als eine der Letzten. Zuletzt von allen Früchten waren diese Rüben dran, ein Saufutter, zum Fürchten. Unbeachtet hatten sie das Jahr über im Boden gelebt und waren nach unten gewachsen, bis sie so weit waren und herausgezogen wurden.

Aus allem, auch aus diesen Feldern, den Rübengeistern und so weiter waren Felder der Erinnerung geworden. Da standen sie nun. Und einige davon nahmen die Kinder und höhlten sie aus und gaben ihnen Augen, Nase und Mund, dazu einen Namen. Sie nannten es, sie oder ihn nun Rübengeist. Und es waren Kinder, die diese Geister dann vor Haustüren und auf Treppenabsätze und auf Fensterbänke stellten, um die wenigen Menschen, die diese Kinder bis dahin kannten, zu erschrecken, wohl mit dem Tod, von dem sie noch gar nichts wussten. Ach, die Erwachsenen. Sie fürchteten den Tod wie die Kinder den Wauwau. Also liebten die Erwachsenen es, auf diese Weise, in ein Kinderspiel einbezogen, an das Ende und den unbezweifelbaren Tod erinnert zu werden. Dann war es gar nicht so schlimm, denn »viele Leute fürchten sich vor dem Tod wie die Kinder vor dem Wauwau«, sagte und schrieb ihr Hausheiliger, das war Abraham von Kreenheinstetten.

Es war ein Kinderspiel, das im Reigen der Spiele, die von den Jahreszeiten bestimmt waren, seinen festen Platz hatte in den Tagen vor Allerheiligen. Das war ihr Halloween, als käme der Rübengeist aus Amerika und wäre eine amerikanische Erfindung. Doch war es so wenig wie das Automobil, die Television und der Personal Computer, einst als Rechenmaschine gedacht und nicht als globales Privatbordell, hätte sich Roland nun sagen müssen. Ach, damals war er noch ein Kind und lebte ganz ohne jedes Vorurteil und ohne jede Sünde. Der Rübengeist hatte einen Nahkampfblick, ein aggressiv grinsendes Maul wie ein Präsident. Was gab es denn da die ganze Zeit zu grinsen? Die Welt war doch gar nicht danach, und die Augen anstelle der Augen warfen feurige Blicke. Denn im Inneren des ausgehöhlten Kopfes mit dem leichten, selbst von einem stumpfen Küchenmesser von Kinderhand zu bearbeitenden Rübenfleisch, im Rübenhirn oder da, wo das Rübenhirn gewesen war, stand nun eine Kerze, die böse aus allem herausleuchtete und mit ihrem Licht aus Augen, Nase und Maul blitzte, als wäre es flackerndes Blut.

Und das Dorle, das längst bemerkt hatte, dass da auf ihrer Haustreppe etwas Unheimliches vorging und dass sie es waren, Kinder, Nachbarskinder, die eine alte Frau zu Tode erschrecken wollten zum Spiel, tat so, als würde sie es nicht merken und spielte mit und lauschte. Als könnte sie noch ein letztes Mal Kind sein und mitspielen.

Und als sie schließlich mit ihren Vorbereitungen fertig waren und der Rübengeist leuchtete und sie sich davongemacht und hinter der Gartenmauer in Deckung gebracht hatten in der Erwartung, dass nun bald die Tür aufgehen würde und Dorle zu Tode erschrecken, machte sie kurz vor dem Nachtessen um sechs die Tür auf und schrie ein entsetzliches »UUUUUUUUUUUUUUUUUUU!« in die Nacht hinaus. Als wäre sie ein Uhu, den sie zu ihrer Zeit auch noch hörten, und sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie hatte ja nur abgewartet, bis ihre Köpfe hinter der Gartenmauer verschwanden, um den Kindern eine Freude zu machen, ja, sie spielte mit. Sie tat genauso, wie sie wollten und warf vor Schreck die Türe zu, und diese Kinder freuten sich wie Kinder. Und sie, drinnen, freute sich auch so und weinte vielleicht sogar, denn das war so lange her, dass ihre Rübengeisterfreunde tot waren und sie die Einzige, die noch lebte. Es war das letzte Mal.

Das nächste Mal, als sie mit ihren Rübengeistern kamen, war sie tot. Bald nachdem zum letzten Mal der Wurstwagen am Samstagmorgen in ihrem Hof gehupt hatte und sie zum letzten Mal herauskam, um einen Wurstring für das Nachtessen dazuzukaufen, auf das sie sich ein Leben lang freute, starb das Dorle, mit einem Lächeln oder »mit links«, sagte man.

Die Kinder aber freuten sich auf die Nacht drinnen im warmen Haus, auch wenn sie sich vor dem Dunkel fürchteten. Sie waren vom Schutzengel, Vater und Mutter, Großvater und Großmutter beschützt und vor der Welt sicher und freuten sich im Schlaf an den Jahreszeiten und am Leben, ohne dass sie es wussten.

 

Es war in der Zeit, als Roland noch im Schlaf wuchs und seine Schwester, die ihm um drei Mal Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter voraus war, ihm die wichtigsten Sterne zeigte. Aber es stellte sich heraus, dass sie nur einen mit Namen nennen konnte: Es war der Große Wagen. Roland wusste nicht, wo sie diesen Namen aufgeschnappt hatte. Das waren ja gleich sieben Sterne auf einmal, dazu auch noch Fixsterne, die bis zum Jüngsten Tag niemals zusammenkommen und eins sein würden. Und doch, ob Fixstern oder nicht: Es schien, als wäre da einer am Himmel unterwegs. Es war ein Großer Wagen.

Sie, mit ihrer kindlichen Phantasie, sahen aber nur dieses Fahrzeug. Der Fahrer dazu fehlte. Ehrlich gesagt: Viel mehr konnten sie auch nicht erkennen. Sie sahen zwar den ganzen Himmel voller Sterne damals, als es noch möglich war, aber diese Kinder kannten ja ihre Namen nicht. Und wussten auch gar nicht, ob dieser Name überhaupt stimmte. »Der Große Wagen?« War er am Fahren oder am Fliegen? Wohin war der denn im Blindflug unterwegs? Und woher? Roland hörte, dass er die Milchstraße befuhr, und sah, was zu sehen war. Es müssen Adleraugen gewesen sein, denn noch Jahrzehnte später sagte die Augenärztin, das seien Adleraugen.

 

Am Anfang gab es noch kein Fernsehen, das Kindern die Welt erklärt hätte. Als das Fernsehen ins Haus kam, war alles erst noch schwarzweiß. Und doch war es eine Verheißung, als begänne das richtige Leben erst jetzt und alle, die vor ihnen gewesen und gelebt hatten, hätten noch nicht ganz gelebt, als wären sie keine richtigen Kinder und Menschen gewesen. Das Glück beim Zappen stellte sich erst später ein, denn es gab nur ein Programm, das um 17 Uhr begann. Und so lange saßen Menschen, die es nicht erwarten konnten, vor dem Testbild. Die ersten richtigen Fernsehmenschen sahen selbst die Kinderstunde am Sonntag. Und bis es so weit war das Testbild, auch schwarzweiß. Und als alles schon wieder vorbei war, noch vor Mitternacht, schauten sie weiter zum Testbild hin und waren voller Hoffnung, dass vielleicht doch noch etwas käme wie ein Wunder. Und manche schliefen beim Testbild ein, auch aus Erschöpfung und Enttäuschung, weil sie es nicht fassen konnten, dass schon wieder alles vorbei war. Das Dorle aber fing mit dem Fernsehen nicht mehr an. Das war für die Menschen nach ihr. Sie ging mit den Hühnern ins Bett. Dann nahm sie bald das Weihwasser, machte das Kreuzzeichen, löschte das Licht, sprach das Nachtgebet und schlief oftmals noch beim Nachtgebet mit gefalteten Händen ein. Und am anderen Morgen gab es vielleicht schon Eisblumen am Fenster. Noch ein Wunder, das ausgestorben ist.

 

Jetzt wartete nur noch das Meer auf ihn. Das Meer war das letzte der Wunder, von denen Roland wusste, dass es sie gab. Seit jener Postkarte, die ihm den Golf von Neapel zeigte, die Stadt, den Vesuv und das blaue Meer auf einmal, auf das er mit seiner ganzen Sehnsucht hinlebte. Doch das Meer stellte sich als vieles heraus, zuletzt als ein unabsehbarer gefährlich blauer Bauch, in dem alles verschwand. Was war ein Meer anderes als ein Meer? Und doch. Am Ende schien ihm, er wäre wegen nichts anderem hier gewesen, um dies alles zu sehen.

 

Einst ging Roland durch ein Föhrenwäldchen im Sand gleich hinter der Dünung von Longeville sur Mer. Und als er auf der Höhe derselben stand, im Begriff, sich selbst »Da ist es also! Das Meer!«, zu sagen und »schau!«, sah er das Blau, als reimte es sich auf seine Augen, als wären »Augen« und »Meer« ein Endreim, dabei waren sie doch nur zwei Pole. Wie schön! Dachte er, als wäre alles ein Reim auf »Blau«, auch »Anfang« und »Ende«. Das ganze Blau, das nun weiterging von allen Tropen bis zu den Eisbergen. Und davor und dazwischen sah Roland Menschen und Menschenzeichen, nackt oder fast nackt, so wie sie geschaffen waren, Menschen, die auf Muschelsuche oder nach sonst etwas waren, vielleicht auf der Suche nach sich selbst. Und da dies nicht möglich war, suchten sie wenigstens einen, der aussah wie sie oder noch etwas besser. Das war die Sehnsucht.

 

Versuch über Zeit und Vergänglichkeit, und schon ist es Abend.

 

Kinder! Sie spielten selbst auf dem Friedhof ihre Versteckspiele, duckten sich hinter Grabsteinen und schauten hinter ihnen hervor. Bald träumten sie vom Fliegen. Und flogen.

Ein paar Jahre später träumten sie von einem Ferienhaus, vom Bleiben auf einem toskanischen Hügel mit dem Blick aufs Meer bis nach Amerika. Und auch der Supermarkt und die Tankstelle sollten nicht weit sein. Und alles versichert. Und vor jeder Mauer ein Bewegungsmelder.

 

Kinder können nicht rückwärtsschauen, sagt man.

Schon im Auto wird ihnen dabei schlecht. Sie müssen es auch nicht, denn die Welt liegt fast noch komplett vor ihnen, und von ihrer Versehrtheit wissen sie noch nichts, bis sie das erste Mal das Knie aufgeschlagen haben und auf dem Boden liegen.

Ja. Dachte Roland.

Es hat oft geblutet, und das meiste ist vergessen, nur die Erinnerung ist eine Bluterkrankheit, als wäre sie ansteckend und meldepflichtig, und der infizierte Schriftsteller muss sich ein Leben lang sagen:

»Ich blute, ich erinnere mich, es tut weh, ich bin.«

Gleichschenkliges Dreieck

Immer, wenn sie sich trafen, war es auf dem Weg zum Friedhof. Von dort aus sah man fast alles. Er lag irgendwie über ihnen und hatte die Form eines Herzens. Denn der Weg gabelte sich gerade an der Tür, die in ihn hineinführte. Rechts und links ging es an ihm vorbei, aber der Weg in der Mitte führte geradewegs auf jenes Tor zu. Und dann kamen sie, immer wieder erleichtert, wenn auch nur vorläufig, durch dieselbe Tür heraus. Dieser Friedhof, der ihr Heimatfriedhof war, sah wie ein stilisiertes Herz aus oder wie ein abstrahiertes. Wem das zu viel war, sagte einfach: Unser Friedhof sieht wie ein Herz aus.

Es gab aber auch Menschen unter ihnen, die wären nie darauf gekommen, dass dies ein Herz sein sollte. Für sie war es ein Dreieck, ein gleichschenkliges, dem man lieber so lange wie möglich aus dem Weg ging, mehr nicht. Die hohen Bäume waren ein Ärgernis, das immer nur Sauerei machte. Und die schön bemooste Mauer dahinter, die diese Welt von der anderen abgrenzte, war ihnen nichts als eine die beiden Seiten verbindende Gerade, die etwas abschloss. Dass es wahrscheinlich für immer war, daran wollten die meisten lieber nicht denken.

 

Marieluischen und Roland waren im früheren Leben, das sie sich im späteren immer wieder dazudenken mussten, einmal eine erste Liebe gewesen.

Jetzt vielleicht nach einer Ewigkeit und drei Tagen, wie man dafür zu Hause sagte, wenn etwas vorbei war, gab es sie immer noch und waren doch nicht mehr als zwei zweibeinige Reste, die sich auf dem Weg zum Friedhof trafen und etwa an der Stelle stehen blieben, wo der Schlitten, mit dem sie damals diesen Friedhofshügel hinuntergefahren waren, einst noch einmal an Fahrt zugelegt hatte. Ja, da trafen sie sich nun und sagten: »Bist du auch da!?« – »Bischd au do?« – eine Frage, auf die keine Antwort nötig war. Sie war ja schon eine Feststellung: Ja, es gibt dich noch. So begrüßten sie sich auf dem Weg zum Friedhof, der die Form eines gleichschenkligen Dreiecks oder eines Herzens hatte.

Für Marieluischen war es eher ein ungutes Dreieck, das all ihren Terminen ein Ende machte. Er aber hätte niemals das Wort »Dreieck« verwandt, das, in Berlin, wo er nun schon lange genug das Jahr über lebte oder nicht, leicht zu »Dreck« wurde in seinen Ohren – und schon gar nicht das Wort »gleichschenklig«, denn er machte sich etwas aus Wörtern, und sie waren ihm nicht gleichgültig; »gleichschenklig« gefiel ihm nicht. Und außerdem: Dieses Wort hatte eine Vorgeschichte.

Sein zweiter Name Sebastian stammte von jenem Heiligen der Passivität, das heißt, er war von einem, der alles mit sich machen ließ. Das war in der Welt, in der er sein Leben, das er sich auch nicht ausgesucht hatte, leben musste, nichts wert. Seine Welt war nachtaktiv wie die Wildschweine. Er träumte.

Und mit einem Mal sah Roland Sebastian sich wieder an der Tafel stehen, plötzlich aufgerufen von einer Geometrielehrerin namens Assunta Himmelheber, deren Vater noch Ritterkreuzträger und SS-General gewesen war. Marieluischen, der Vierzehnjährigen von einst, fiel aber nun vor allem jene Erektion ein. Es war fast das Schönste und Gemeinste, was es an einem falschen Ort zu einer falschen Zeit geben konnte. Da stand er nun an der Tafel in seiner kurzen Lederhose, ja, so war es!, diktierte ihm seine Erinnerung und machte aus einer so verlorenen wie unsichtbaren Welt eine zweite Gegenwart, ja – und er sollte ein gleichschenkliges Dreieck konstruieren, zusammen mit seinem nichtsnutzigen, späteren und im Lauf des Lebens dann wieder abhandengekommenen Freund, der dazu auch noch Willy hieß, der mit diesem wenig prestigeträchtigen Namen nichts werden konnte, schon gar nicht bei Fräulein Himmelheber und den Frauen, auf die es doch damals am meisten ankam.

 

Damals, in Frau Himmelhebers Zeiten, ließ Willy sich bald mit Ebu ansprechen von den Jungen und Mädchen in der Klasse, besonders von seinen geliebten. Aber so erektionsfreundlich war dieser Name nun auch wieder nicht, auch damals nicht.

Die allermeisten Mädchen machten sich trotz dieses Namenswechsels nichts aus Ebu. Und Jungen fanden sich auch nicht und waren ihm außerdem egal bis eklig. Denn er hatte schon in jungen Jahren ein naturtrübes bis verrecktes Gesicht, wie sie zu Hause in Mesopotamien sagten, und wer es da nicht schafft zu glänzen, wenigstens ein Mal im Leben, das war schon drei Pünktchen wert …

Aber wenn er die Hose auszog … Aber davon hatten die allermeisten nichts.

Es war nicht einmal der Schwanz, sondern eher die Art und Weise, die Architektur dieses Körpers, wie sich seine Teile harmonisch in das Ganze einfügten. Es ist schon wahr, dass man den Menschen nicht nach seinem äußeren Anschein bewerten soll. Und doch.

Der Mensch schleppt ja zum Beweis, wenn es vorbei ist mit ihm, oftmals Fotos an. Was sind Fotos? Sind es nicht Lügen, die Beweischarakter haben?

Willy aber konnte kein einziges lügenhaftes Foto vorlegen, das ihm hätte später zum Beweis dienen können, dass er aber früher einmal so aussah, dass sich alle nach ihm umdrehten.

Allein die Mutter hätte sich noch zu einer Hymne aufgeschwungen und hätte aber notgedrungen auf andere Felder ausweichen müssen: »Aber gescheit ist er! Und wie er rechnen kann! Und gerade Glieder und schön gewachsen!«

Das stimmte. Und war doch alles. Aber nicht einmal diese Mutter hätte auf jenes kirgisische Sprichwort Anspruch haben wollen: »In den Augen einer Truthahnmutter ist jedes Kind ein Schwan.« Nein, er gab nie etwas her, und jene, die diesen grausamen Satz hätten bestätigen können, ja müssen, waren zum Glück bald alle tot. Nur die Gleichaltrigen lebten noch. Freilich bezogen sich all diese grausamen Sätze auf dieses Gesicht, das nichts hergab als den Gedanken, mit diesem Menschen lieber nichts zu tun haben zu wollen.

 

Auch wenn nun seither dreißig oder bald vierzig Jahre vergangen sein mochten, kannten sie ihren Platz im Leben. Wussten jene Lümmel und Gören von der letzten Bankreihe, die sie gewesen waren, immer noch, dass Fräulein Himmelheber Ebu mit dem richtigen Namen aufzustehen aufforderte: »Willy, an die Tafel!« Und dann, schon ab 16: »Herr Lezeter, an die Tafel bitte!« Aber er, der wollte gar nicht, dass jene Erscheinung, der er so nah war, besonders nachts, nun plötzlich nicht mehr »Du« sagte. Dass sie nun plötzlich »Sie« sagte, schmerzte ihn. Als distanzierte sie sich von ihm. Er aber hatte geglaubt, dass da mehr wäre zwischen ihm und ihr.

Zwischen ihm und ihr: Ja, das stimmte. Mehr war leider nicht. Nur Willy träumte davon, dass sie abends, auf zwei Wochen im Landschulheim im Teutoburger Wald, nackt vor ihm auf dem Flokatiteppich läge und fragen würde: »Kommst du?«, und sagen würde: »Komm!« Nein. Seine Träume waren sehr einseitig. Es war in der Zeit, als die Jungs noch rot wurden.

Die Konstruktion eines gleichschenkligen Dreiecks wäre eigentlich etwas für Anfänger gewesen. Und gerade für diese zwei, die doch sonst eine Eins schrieben in Geometrie. Beide mit einer Erektion, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen. Die Morgenstunden in der Schule waren damals die richtige Zeit dafür, in jener Zeit, als Bisamratte und Morgenlatte noch einen Reim ergaben.

Ach, jene Zeiten, Unzeiten, wo es schon am Morgen zu unerwünschten Erscheinungen oder Auftritten jenes über alles entscheidenden Glieds in der Kette der so unübersehbaren wie unrevidierbaren Geschichte kommen konnte.

Das meiste davon war schon grausig genug.

Ach, Fräulein Himmelheber, diese Lehrerin, die auch ihre Geschichte hatte, damals zu Zeiten, in der Nacht, bevor sie bei ihnen an der Tafel stand, etwas erlebt haben mochte, etwas, das sich zu einem Ganzen fügte. Der Mann, von dem hier die Rede ist, hatte aber einen Korken, wie sie in jener Gegend sagten. Willy Lezeter oder Ebu. Womit auch gesagt sein konnte, dass Namen nicht Schall und Rauch waren.

Auch Marieluischen oder Marlene, wie sie dann zu Schulzeiten hieß, weil auch sie solche Beine hatte, von denen man auch in Mesopotamien wusste, sah die beiden nun wieder so dastehen, wie alle ungläubig lachten. Außer Fräulein Himmelheber. Und Marlene, der die zweite, nicht minder folgenreiche Erektion galt, wie sie das gleichschenklige Dreieck nicht hinbekamen.

Es war ja auch noch im Sommer, und es gab noch diese kurzen Lederhosen, die er von seinem älteren Bruder geerbt hatte und austragen musste.

Alle sahen die beiden an der Tafel stehen, wo sie statt des gleichschenkligen Dreiecks nur eine Erektion schafften und mit einem Riesenzirkel, der auch schon fast wie ein perverses Penetrationsinstrument in den Augen eines Vierzehnjährigen aussah, und einem entsprechenden ausfahrbaren Lineal und einer Kreide, die für die entsprechenden Augen die Form eines Dildos hatte, herumfuchtelten.

Doch der Mensch ist verschieden: Der eine sieht am meisten, was der andere am wenigsten wahrnimmt.

Ihm wäre ausnahmsweise lieber gewesen, es wäre Winter gewesen, wenn das Leben noch mehr nach innen ging als sonst.

Im Winter war es damals so kalt in diesem Klassenzimmer, und draußen war es noch kälter. Und das Frühjahr war derart, schien ihm, dass es erst immer im nächsten Jahr blühte.

 

Nun sei es aber wirklich genug von jenem gleichschenkligen Dreieck, an das sich Marlene immer noch erinnern konnte, im Gegensatz zu Fräulein Himmelheber, die schon tot war. Noch zu Schulzeiten zur Frau geworden, hätte sie dann endlich ihren Namen wechseln können und Assunta Adam heißen, aber leider kam es zu einem Doppelnamen, der die Sache auch nicht besser machte. Assunta Himmelheber-Adam hieß sie nun. Bald errichtete sie im Neubaugebiet mit ihrem Mann Herbert ein Einfamilienhaus und führte ab da eine Lehrer-Doppelexistenz. Mit sechzig wurde sie pensioniert, wohingegen ihr Mann noch bis 65 hätte weitermachen müssen, wäre er nicht rechtzeitig vor Erreichen der Passionsgrenze gestorben. Und Assunta Adam-Himmelheber war nun auch schon seit drei Jahren tot. Da war der Uhrzeiger beim Jahr 84 stehengeblieben. Das Haus aber stehe seither zum Verkauf und niemand wolle es haben, wie ihm Marlene zu berichten wusste. Das war auch schon fast alles. Und mehr gab es ja auch nicht.

 

Sie, frech wie am Anfang, stellte sich ihm nun vor als jüngste Großmutter von Mesopotamien, zwischen Donau und Rhein, der an dieser Stelle auch fast ein rechtwinkliges Dreieck bildete, als wollte er den Schwarzwald abschirmen und ihm ein Gewicht geben auf der Landkarte, Neckar und Lech in jenem Land am Fuße der Alpen.

Sie hatte ein kleines Mädchen neben sich, an der Hand. Und jenes Mädchen hieß Jennifer. Es quengelte an ihrer Seite und sagte, vielleicht wegen Rolands grauer Haare, nun mehrmals das Wort »Opa« vor sich hin. Tatsächlich, das war Marlenes jüngstes Enkelkind. Also gab es noch mehr davon, auch ältere, die wohl schon lesen und schreiben konnten. Wahrscheinlich saßen die beiden, Marko und Noah, schon mehrere Stunden täglich vor dem Computer und konnten sich bereits die Welt herunterladen. Marlene war nun blond. Er war grau geworden. So war es. »Das Grau steht dir!«, sagte sie unaufgefordert. Er wusste aber nicht, ob sich Marlene bei aller Liebe wie einst doch nicht über ihn lustig machte, und schon damals wusste er es nicht und hat nie herausbekommen, wie sie war und wie sie es meinte. Dann erklärte sie aber, ohne dass er sie danach gefragt hätte, ihre Haare seien nicht gefärbt, sondern mit der Zeit einfach blond geworden.