Salvatore - Arnold Stadler - E-Book

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Arnold Stadler

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Beschreibung

Ein Mann geht ins Kino und sieht einen Film. Diesem Film, Pasolinis ›Il Vangelo secondo Matteo‹, liegt ein Buch zugrunde, und nicht irgendeines: Das Matthäusevangelium, das folgenreichste Buch der Weltliteratur. Dieser Film öffnet dem Helden die Augen und verändert sein Leben. Arnold Stadler macht aus diesem Film wieder ein Buch, das noch einmal von der Sehnsucht nach dem ganzen anderen erzählt.

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Arnold Stadler

Salvatore

Erzählung/en

Fischer e-books

Für Hans Bender zum 90. Geburtstag und für die mit der Sehnsucht nach dem ganz Anderen.

 

Gerade hatte er Jericho verlassen. Auf dem Weg an der Straße sah er zwei Blinde, sie hatten gehört, dieser Mann komme vorbei. »Kyrie eleison! Hab Erbarmen!«, riefen sie. Die Leute zischten sie nieder: »Ruhe jetzt! Haltet endlich euer Maul!« Also schrien sie nur noch lauter: »Sohn Davids, hab Erbarmen mit uns!« Da blieb er stehen und fragte sie: »Was erwartet ihr von mir?« Sie sagten: »Herr, wir möchten, dass du uns die Augen öffnest! Wir möchten sehen!« Da hatte er Mitleid mit ihnen und berührte ihre Augen. Auf einmal sahen sie wieder, und auch sie folgten ihm.

 

Mt 20, 29–34

I.Salvatore

1.Am Tag einer Himmelfahrt. An der Elbe, morgens.

»Daraus könnte ein ganzes Buch werden!«, sagte Bernadette immer dann, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Und Salvatore? Immer noch wartete er, wenn er auch schon lange nicht mehr genau wusste, worauf.

Aber das war es ja gerade, was sein Warten ausmachte. Das hatte Salvatore mit der Zeit herausgefunden. Er wartete auf alles, als wäre es auf nichts. Als wäre es nicht nichts, sondern etwas. Und dieses Etwas wäre nicht nichts, sondern alles. Worauf er wartete. Je mehr er wartete, desto mehr wartete er. Jeder Tag konnte der erste sein. So wartete Salvatore immer noch, wenn er seine Tage hatte. Und doch mit einer Ungeduld: Noch bei der einen Zigarette, dachte er schon wieder an die nächste. Und so ein Tag war wieder einmal heute.

Wie jeden Morgen, wenn er nicht zu Hause war, rief er Bernadette an, um sich mit einem schönen Gedanken von ihr in den Tag hinein zu verabschieden – und auch, um ihr und sich Mut zu machen, als wäre das Leben etwas, das nur mit Mut und einer richtigen Verhaltenstherapie bewältigt werden könnte. Und das richtige Verhalten benötigte die richtige Einstellung: das positive Denken. Heute Morgen hatte er ihr gesagt: »Ich sehe auf einen blühenden Kirschbaum!«, und sie hatte geantwortet: »Und ich sehe auf ein schmutziges Fenster. Ich werde heute ranmüssen!« So war sie. Und so war er. Linkshändig und ein Träumer, schon am Morgen. So einer wie er liebte so eine wie sie. Auch das war ihm wieder eingefallen. Zunächst war noch gar nichts gewesen. Zeit des inneren Auges, voller Nachtgespenster. Es war noch stockfinster gewesen in seinem Zimmer, und auch in ihm, als er beschloss, aufzustehen, damit es mit dem Sich-hin-und-her-Wälzen ein Ende hätte. Oftmals war er ganz schnell eingeschlafen, und dann aber, besonders wenn es ein Alkoholabend gewesen war, den Bernadette, die sich mit dem Trinken zurückhalten konnte, »schön« nannte, schon nach einer Stunde aufgeschreckt, und ihm war alles eingefallen, wer alles dabeigesessen hatte, wie mit ihm wieder einmal die Pferde durchgegangen waren, wie er sich um Kopf und Kragen geredet hatte, ja, er kam sich immer sehr ausgelauscht vor, die anderen sagten nichts, er sagte alles, je weniger die anderen überhaupt etwas sagten, desto mehr sagte er alles, gab er alles bekannt, bis hin zur Höhe seiner Schulden bei der Sparkasse und bis hin zu der Partei, die er gewählt hatte, nämlich: gar keine. Um seinen exhibitionistischen Übermut zu krönen, sagte er zum Abschluss einer solchen Volte, dass er seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr wählen gewesen war. Und da er doch sehen konnte und einen Blick hatte für den Blick und die Mienen der anderen, hatte er ganz schnell widerrufen und seine Verlautbarungen und alles, was er gesagt hatte, als Scherz ausgegeben. Das war glatt eine Notlüge, um sich von der Welt zu distanzieren, wie sie war. Und außerdem: Er wollte nicht auch noch für die Politik der vergangenen fünfundzwanzig Jahre mit zur Verantwortung gezogen werden. Aber er hatte auch Mitleid, besonders mit jenen, die ihm die ganze Arbeit, den Regierungsdreck, abnahmen und so zu leben verstanden, als hätten sie trotz allem die Hoffnung niemals aufgegeben, mit den Frauen mehr als mit den Männern. Dafür bewunderte er sie.

Meist war es für Salvatore zu spät, die eigenen Dummheiten als Missverständnis oder Scherz auszugeben. Salvatore hatte es einfach nicht geschafft, sich rechtzeitig die Political Correctness wie ein zweites Hemd anzueignen und überzustreifen und so ein Doppelleben zu führen. Er trank ja nur, weil er Angst hatte vor ihnen. Er flüchtete in den Alkohol ja nur aus Furcht, dass ihm die richtigen Wörter nicht kämen. Und er redete ja nur so viel, weil er nicht wusste, was er reden sollte. Vielleicht war es bei den anderen ja auch so. Aber immer noch saß einer oder eine dabei, die nicht trank, übrig blieb, sich unberauscht an der Berauschtheit der Berauschtesten berauschte und sich alles merkte. Wofür? Wozu? Wovon? Als wären dies Wörter aus dem Lateinunterricht. Oder aus der Welt der Logik oder einer Theologie, die Glaube und Vernunft versöhnen sollte – »werch ein illtum!« –

Sie sehen schon: Dieser Salvatore war ein Theologe, der an der Theologie und den Theologen, und ein Mensch, der an den Menschen gescheitert war. Er hatte es nicht geschafft. Und vielleicht galt das jetzt schon über diesen Tag hinaus.

Am anderen Morgen fragte Salvatore seine Bernadette, ohne die er an einem solchen Morgen schon gar nicht mehr leben wollte, dann immer: »War es sehr schlimm?« (Eigentlich hätte Salvatore »ich« sagen müssen.) Und sie hat immer »Nein« gesagt. Und nach einer solchen Auskunft konnte das Leben weitergehen.

Oftmals schreckte er nach so einem Abend schon nach einer Stunde wirren Schlafes auf, und nichts half, außer dem süßen Gedanken daran, dass es einmal aus sein würde mit allem, auch mit solchen Abenden. Er hätte es auch schlicht »Kater« nennen können, wie das gewöhnliche Menschen, zu denen freilich auch Salvatore zählte, taten. Aber an diesem Morgen und in dieser Nacht war es kein Kater. Er hatte, es war dieses Mal bei den Rotariern, seinen Vortrag über Refinanzierungsmodelle gehalten. Schnell hatte er sich in dieses Thema eingelebt und eingelesen gehabt. Salvatore wusste von vielen Pleiten, angefangen mit der eigenen. Doch das meiste an Informationen kam von seinem Schwager, einem Sichersteller namens Gabor, der im Auftrag der Banken schon manche Praxis hatte schließen müssen.

»Und was ist mit den Zahnärzten? Das läuft doch immer noch, oder?«

»Der Zahnarzt ist ein Auslaufmodell!«, sagte Gabor.

Salvatore könne mehrere komplett eingerichtete Praxen von ihm haben, die er habe sicherstellen müssen; und nun wisse er auch nicht so recht, was er damit anfangen solle. »Versuch’s doch einmal im Domina-Gewerbe!«

»Stell sie doch ins Internet, das doch nicht viel mehr ist als eine einzige Kontaktbörse.«

Salvatore sagte oder behauptete nun, er kenne einen Mann, der nicht mehr zum Zahnarzt gehen könne, denn kaum sei er in einem solchen Zimmer, und noch mehr auf einem solchen Stuhl, quälten ihn schon wieder ganz und gar heimatlose Erektionen, und sie lachten. Gabor sagte: »Leute laufen auf der Welt rum!« Und Bernadette sagte: »Es gibt Sachen, die gibt es nicht«, und Salvatore lachte an diesem Tag nun zum ersten Mal, als er an diese Geschichte dachte. Da hatte Salvatore den Mann wieder einmal auf eine Geschäftsidee gebracht, und er wurde zu einem Abendessen geladen dafür. »Bring deine Frau mit.« Das war Bernadette, Gabors Schwester. Das tat Salvatore auch. Es war dann ein schönes Abendessen mit Gabor, seiner Chantal, Bernadette und ihm. Da Salvatore schon einmal Konkurs hatte anmelden müssen, schlicht pleite gewesen war, wusste, was ein Offenbarungseid war, und auch in der Schufa gelandet, wusste er auch am besten, wie man es nicht machen musste, sondern, wie man es machte. Ohne dass er gesagt hätte, mit welcher Autorität er über diese Dinge sprechen konnte, sprach er eigentlich mehr davon, wie man es nicht machen sollte, als darüber, wie man es machen sollte. Freilich war sein Vortrag nur zum Teil aus eigenen Quellen gespeist, eigentlich stammte nur die Captatio Benevolentiae, das einladende, abschreckende Beispiel, wie er es in seinen Rhetorikkursen gelernt hatte, und überhaupt die Anekdoten und die Beispiele, all die Katastrophen, die zu einem Witz geworden waren, von ihm.

Der Rest, den die Experten the beef nannten, war komplett von Bernadette und ihrem Bruder, dem Sichersteller. In eine solche Familie hatte Salvatore eingeheiratet.

Sie war Wirtschaftsprüferin und sorgte für einen gewissen ökonomischen Mindeststandard im Haus, mindestens so lange, bis Salvatore finanziell wieder auf eigenen Beinen stehen, er also komplett entschuldet sein würde. Das würde aber noch bis über sein fünfzigstes Jahr hinaus dauern. Vielleicht schaffte er es dahin überhaupt nicht mehr, und er würde zeitlebens ein Sklave sein des herrschenden Joint Venture aus Geld, welches durch das Recht geschützt war mehr als das Leben, und einem Recht, welches gekauft werden konnte.

Das (sein) Leben war also ein klassischer Circulus vitiosus. Trotzdem blieb sie bei ihm. Es war wohl Liebe, anders konnte er sich das Verhalten seiner Frau nicht erklären. Und vielleicht war auch noch folgende Überlegung dabei: dass sie nämlich, anders als einen schönen Mann, diese hochverschuldete Existenz ganz für sich haben würde, wenigstens würde ihr keine andere diesen Salvatore streitig machen. Es sei denn, es wäre eine gewesen, die Bernadette ihren Salvatore abkaufen wollte für viel Geld. Aber das war äußerst unwahrscheinlich, so unwahrscheinlich wie ein Lottogewinn, und außerdem liebte Salvatore seine Bernadette mehr als am ersten Tag, als er noch ganz schuldenfrei war und von Bernadette nichts anderes wollte als Liebe. Wenn er auch mehr als je zuvor ganz und gar abhängig war von seiner Frau, und er wusste es auch. Es war seit dem ersten Tag auch eine irrsinnige Schuldenlast dazugekommen, und sein bester Freund, das war immer noch Uwe, Uwe von Schmieheim, ein Ungläubiger wie er, nach außen hin (den er allerdings seit fünf Jahren nicht gesehen hatte; Telefon und E-Mail verhinderten ein tatsächliches Wiedersehen), gab ihm, als er zum ersten Mal von seiner Lage hörte, in die er freilich selbstverschuldet, wie könnte es anders sein!, gekommen war, den guten Rat: »An deiner Stelle würde ich mich sofort erschießen!« Salvatore nahm davon Abstand, weil er nicht auch noch in die Hölle kommen wollte, als wäre er nicht manchmal schon in ihr. Der freiwillige Tod wurde nämlich von der katholischen Kirche mit dem ewigen Leben in der Hölle bestraft. Und Salvatore war trotz allem immer noch katholisch, wenigstens auf dem Papier. Außerdem wusste er als geschulter Theologe, dass er gar nicht hätte austreten können, niemals wäre das möglich gewesen, denn durch die Taufe hatte er den character indelebilis bekommen, ein unauslöschliches Merkmal, die Taufe, selbst Gott wäre das nicht möglich gewesen, nicht einmal dem Papst. Der eine hätte Salvatore höchstens exkommunizieren können und der andere ihn in die Hölle verfrachten. Aber Gott war nicht so. Andererseits musste Salvatore zugeben, dass er überhaupt nicht wusste, wie er war. Also lebte er vorerst trotz allem lieber hier weiter. Und am Ende würde er sich einmal sagen können, dass er sein Leben mit nichts anderem als mit dem Gedanken verbracht habe, wie er diesem Leben, das nicht viel mehr als ein Schuldenleben war, entkommen könnte.

Das Wort Schulden hing doch irgendwie mit Schuld zusammen – mit Sünde. So viel wusste er noch aus seinem früheren Leben, beendet oder gekrönt durch ein abgebrochenes Theologiestudium. Doch in seinem ersten Leben war er unter anderem auch Ministrant gewesen und hatte einst den Priester, den er sehr mochte, dem er hätte ein Denkmal setzen wollen und ein Buch widmen, wie einem, dem das Geld noch nicht etwas Göttliches war oder Gott selbst, immer wieder sagen hören »Lavabo inter innocentes manus meas«, und Salvatore hatte dabei an der richtigen Stelle seiner Worte das Richtige tun müssen: Genau dann, wenn der Priester »lavabo« sagte, musste er das Wasser aus der kleinen Kanne über seine Zeigefingerspitzen und die Daumen gießen – das hatten sie so geübt im Ministrantenunterricht und auch das, was er auf Lateinisch zu sagen hatte. Und das Wasser floss dabei (meist) in die Schale unter diesen Händen, die Salvatore auch noch nach kultischer Vorschrift richtig halten musste. Es war also vieles auf einmal, das er im Auge haben und tun musste, wie im Leben auch, damit es glückte.

Und auch die Antwort gegeben hatte er darauf, wenn auch nicht ganz verstanden. Die Hauptwörter »Hände« und »waschen« und »Unschuldige« (das waren wohl Uwe und er) hatte er aber ganz und gar verstanden. Vielleicht etwas mehr als Uwe, denn Salvatore hatte immerhin eine Großmutter in Neapel, die einen spätlateinischen Dialekt redete, angefüllt mit Albanischem, Katalanischem, Griechischem – und was weiß ich, dachte Salvatore.

Latein fiel ihm von da an leicht in der Schule, und auch das Stufengebet und die wichtigsten Gebete konnte er bald auswendig auf Lateinisch und hat dafür auch einmal zur Belohnung eine Tafel Milka bekommen, weil er das Paternoster fehlerfrei und ohne steckenzubleiben aufsagen konnte.

In der Kirche war Uwe Salvatores Assistent, der ihm im rechten Augenblick das kleine weiße Handtuch reichen musste, und er reichte es weiter, hielt es hin, denn Salvatore war schon Oberministrant. Es geschah alles zum rechten Zeitpunkt, beziehungsweise: So hätte es sein sollen, denn manchmal gab es ein Missgeschick. Gemeinsam, wie es vorgeschrieben war, zu zweit, assistierten sie dem Priester und sie ministrierten. Das mit den »Unschuldigen« mochte gerade noch so hingehen, eigentlich passte das Wort nicht mehr so recht zu ihnen, schließlich konnten sie längst sehen und blond von braun unterscheiden, und sie hatten schon ihre Vorlieben und konnten, damals, als man noch singen konnte und durfte, ohne Anstoß zu erregen, schon singen – damals waren es noch Schlager wie Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n-, wenn auch vorerst nur im Feld der Sehnsucht. Der Rest war Handwerk.

Sie, diese Hände, waren also so wenig »unschuldig« wie der Priester »schuldig« war, dachte Salvatore im Nachhinein. Bald war die lateinische Messe verboten, und Salvatore hatte, wenn er an seinen Priester dachte, Mitleid mit ihm, wie der noch auf seine alten Tage die neue Messe einüben musste, vom Allerheiligsten abgewandt, und das, was ihm lieb war, verboten: So herzlos war die Kirche mit ihm. Er schlurfte dann noch ein paar Jahre zum Altar, so wie Onkel Hannemann zu seinen Tischen, der eine vom übrig gebliebenen Tischwein, der andere vom Messwein Alkoholiker geworden, aber die Gäste waren nicht mehr zufrieden mit der neuen Art: Es schmeckte ihnen nicht. Also blieben sie bald weg, dann, als Onkel Hannemann aufhörte oder aufgab und durch einen Albaner ersetzt wurde, der schon durch sein falsch ausgesprochenes Prego als Mogelpackung durchschaut wurde. Und der Priester starb, mehr ein Martyrer als sonst etwas.

Und dann – es war lange her, und noch lange vor dem Tod seines Priesters – das Herzstück der heiligen Messe, die Eucharistie. Es war noch nicht das hässliche Wort Gottesdienst, sondern eine einzige Danksagung: die Heilige Messe. Das deutsche Wort Gottesdienst war geschult am Preußischen, Militärdienst, Staatsdienst. Die römisch-lateinischen Wörter der katholischen Kirche stammten zumeist auch aus dem römischen Militär, aus der Verwaltung, waren Verwaltungssprache von einst. »Wie immer«, dachte Salvatore. Das Wort Gottesdienst hatte jedenfalls mit dem Wort Evangelium nichts zu schaffen und erinnerte Salvatore an Wilhelm II., der ja auch evangelischer Bischof gewesen war, was auch kaum einer noch wusste. Und mit dem Unwissen des Menschen, der Größe der Welt und der Kürze seines Lebens konnte der Mensch in Schach gehalten, ausgebeutet und regiert werden.

Als Salvatore das durchschaut zu haben glaubte, sagte er sich: »Niemals mehr Gottesdienst, nur noch Eucharistie, auf Deutsch: Danksagung.«

Es war also die Eucharistie, welche zum Gedächtnis an das Leiden und den Tod des Erlösers gefeiert wurde und den Menschen immer mehr erlöste, bis der Messias, der schon einmal gekommen war, wiederkommen würde. Und so lange würde er bei ihnen sein, wie am Ende des Matthäusevangeliums fest versprochen. Dies war ein Kinderglaube, und der stand nicht zur Disposition.

Und damals war er bis in die Seele hinein ergriffen von diesen Worten und Zeichen und Wundern und Dingen. Doch das war lange her. Heute hatte Salvatore einmal im Jahr noch eine Sehnsucht danach, ergriffen zu sein. Er konnte sich noch daran erinnern, wie es war, auch an jene Sehnsucht nach dem Ergriffensein, die mit dem Ergriffensein zusammenfiel.

 

Salvatore war mit seinem Latein immer wieder bald am Ende gewesen. Auch wenn er dieses und jenes Wort und Ding verstand.

Immerhin hatte er einen Vater, der aus Kalabrien kam, eigentlich aus der Basilicata, doch das war zu kompliziert in Leer, wenn er den anderen erklären sollte, woher er mit seinen dunklen Augen und seinem Namen kam, als müsste er sich dafür rechtfertigen, ausgerechnet in Leer, wo von seinen Verwandten nur noch seine Tante übrig geblieben war. Sie lebte mit Onkel Hannemann zusammen, der noch mit sechzig in der Pizzeria Da Giuseppe arbeitete und die Pizzas an den Tisch brachte, fast schon missmutig heranschlurfte, sehr einleuchtend, und auch etwas gebeugt, und doch machten die Gäste ein Gesicht, als wäre es das erste Mal und etwas Großes begänne nun. Doch spätestens als Onkel Hannemann wiederkam, um zu fragen: »Hat es geschmeckt?« und ohne hinzuhören, ja hinhören zu wollen, schon dabei war, abzuräumen, waren die Pizzaesser wieder die alten und saßen so da, als wäre nichts gewesen, waren wieder die alten Kartoffelesser wie auf dem Bild von Van Gogh, und bald sagten sie, vielleicht etwas enttäuscht: »Gehen wir?«

 

In diese Welt, wo es so war, wie es war, wuchs Salvatore hinein, immer mehr. Und nun saß er an der Elbe auf jenem Bänkchen, diesem Bänkchen und sah ins Wasser und sah die Wellen, als kämen sie auf ihn zu. Doch immer noch glänzten seine Augen (was er freilich nie sah, nicht einmal im Spiegel), wenn er an seine Großmutter dachte, die die Sprache von Matera sprach: ein für alle außer ihm völlig unverständliches Italienisch, gerade in der Zeit, als Salvatore sprechen lernte und das Fernsehen der alten Sprache ein Ende machte und durch ein Fernseh-Italienisch ersetzte. Und auch dem alten Leben, den Sommerabenden, zum Beispiel, im Freien, auf einem Stuhl vor dem Haus, mit all den anderen, dem anderen, alten italienischen Leben hat das Fernsehen ein Ende gemacht und durch das Fernsehleben ersetzt, ob das der Mensch wusste oder nicht. Dazu brauchte es keine Menschen mehr. Es konnte überall geführt werden. Auch in New York, auch in Leer. Ein TV-Gerät und etwas Geld für den Strom genügten, und eine Satellitenschüssel. Und einer oder eine, die für alles bezahlte.

Die Höhlenstadt Matera war mittlerweile komplett mit Satellitenschüsseln versorgt.

Matera war einmal sein Jerusalem gewesen, hoch oben: Da wohnten einige wenige Verwandte immer noch in den Höhlen, in die sie zurückgekehrt waren, nachdem Mussolini sich für diese Höhlen geschämt hatte – und die ganze Höhlenstadt in den Bergen umgesiedelt wurde in schöne neue Wohnblocks im Tal, unweit des neuen Bahnhofs, alles im stile faschista.

Zurück zur Zentrale!

Es war Liebe, welche Bernadette dazu trieb, für ihren Salvatore einen kompletten Vortrag, den sie vom Internet heruntergeladen hatte, auch noch zu strukturieren. Vermehrt um ein paar Sätze aus Salvatores Leben, die er selbst beigesteuert und erlebt hatte. Damit es mit ihm weiterginge und auch er seine kleinen Erfolgserlebnisse hätte im Leben.

Salvatore hatte sich diesen Vortrag also eigentlich erschwindelt. Man hätte ihn selbst in dieser Gesellschaft von Hochstaplern und Experten einen Hochstapler nennen können, das war er aber gar nicht. Er war nur ein Mann mit Phantasie und wenig Fortune, und er war glücklicherweise so geartet, dass er diesem »wenig« immer noch ein »bisher« hinzufügen konnte. Dabei war Salvatore damals, als er durch die norddeutsche Tiefebene tingelte, längst alt genug zum Sterben, und innerlich, wie Tante Mausi gesagt hätte, fast am Verhungern. Salvatore hatte schon so viel erlebt, die Mondlandung zum Beispiel, und den Leuten wurde damals gesagt, dass das Leben nun nicht mehr weitergehe wie bisher.

 

In der vergangenen Nacht war es zunächst auch nicht dunkel gewesen, bis Salvatore die Rollläden zum Anschlag herunterließ. Aber auch dann war es noch nicht ganz dunkel gewesen: nur so lange, bis sich seine armen, guten, grünen, blauäugigen, bestechenden und eigentlich unbestechlichen Augen an die Mogelpackung gewöhnt hatten, und doch wieder eine Idee von Licht von draußen durch eine einzige Ritze des nicht recht schließenden Rollladens drang. Und dann war es auch jener böse rote Punkt, genannt Stand-by, der ihn nicht schlafen ließ, bis er schließlich den Stecker ziehen wollte, was streng verboten war und was das System zum sogenannten Absturz gebracht hätte. Aber das TV-Gerät hing freischwebend im Raum, ohne Steckdose etc., mit einer unsichtbaren Zentrale verbunden. Und Salvatore blieb nichts anderes übrig, als die schwere Polyester-Überdecke über das Gerät zu werfen, was auch nicht einfach war, so glatt war sie und es, und rutschte mehrfach und fiel auf den Boden. Schließlich hatte er es geschafft. Er musste nicht frieren. Aber das war auch schon fast alles. Aber das half auch nichts. Denn er, der, was das Elektrische anging, auch kein Experte war, aber hellhörig und mit den verschiedensten Ängsten ausstaffiert, hatte Angst, die Decke könnte Feuer fangen und er würde überleben, und alle anderen, an die er dachte, die in dieser Nacht in diesem Hotel Ruhe gesucht und wohl auch gefunden hatten, würden in ihrem Hotelbett verbrennen; er aber einen Prozess bekommen, für alles zur Verantwortung gezogen werden, verurteilt werden, gevierteilt werden und sterben.

Also war er so aufgeregt, dass an Schlaf in dieser Nacht nun gar nicht mehr zu denken war.

Das musste man sich zu allem dazudenken. Zu Bernadette aber, die er jeden Morgen mit einem freundlichen Wort in den Tag entlassen wollte, wie er es bei seinem katholischen Verhaltenstherapeuten, der damals eingeschaltet wurde kirchlicherseits, gelernt hatte, erzählte er von seiner Schlaflosigkeit und womit sie gefüllt war, kein Wort. »Bin etwas gerädert«, sagte er nur. »Sehe auf einen blühenden Kirschbaum.« Und den Brunnen im Garten hörte er auch, der die Verbindung von Tag und Nacht herstellte, von immer und nie.

Mit der Zeit mischten sich Stimmen dazu. Kinderstimmen von nebenan und Vogelstimmen durcheinander. Und dann das Licht. Und dann war es hell.

Das alles war das Gegengewicht zum Tod: Das Leben war das.

Salvatore hatte noch seinen Kaffee zu Ende getrunken, um dann einen freien Tag zu verbringen, erst morgen ging es weiter, als wäre es das Leben, und auch nicht so recht gewusst, wie es nun weiterginge.

»Erst einmal an die Elbe!«, hatte er sich gedacht, hatte seine Sachen in den Wagen gepackt, den Schlüssel abgegeben, das Telefonat mit Bernadette, seiner Frau, die so hieß und nicht wusste, warum, bezahlt, bis ihr Salvatore den Hintergrund ihres Namens erklärte, und war mit seinem uralten Wagen, der zehn Jahre zuvor ein Angeberschlitten gewesen wäre, mit dem nachträglich eingebauten Navigationssystem, an die Elbe gefahren, die er auch so, aus einem ihm angeborenen Orientierungssinn, dem eine Liebesbeziehung zwischen der Sonne und ihm zugrunde lag, gefunden hätte. Er hatte sie lange nicht gesehen und kannte sie so gut, als wären sie per du.

Sie, Bernadette, war mit ihrem Namen gar nicht glücklich und hatte bis dahin ein Leben lang geglaubt, ihre Eltern hätten aus einer Laune heraus, nach einem schönen Mädchen aus einer Vorabendserie, nach diesem Namen gegriffen – oder schlimmer noch, sie nach ihrem Vater genannt, der Bernd hieß. Aber keinen Tag gab es, an dem sie sich nicht eine gute Nacht gewünscht hätten, und dennoch war das Leben vielleicht nichts anderes als ein Geschwätz, wie es in Psalm 90 hieß. »Wir beenden unser Leben wie ein Geschwätz.« So etwa stand es bei Luther, den er widerwillig zitierte, weil er diesen Luther gar nicht leiden konnte. Aber Salvatore musste doch zugeben, dass dieser Mensch eine Sprache hatte für das Sprachverschlagende.

 

Nun saß Salvatore auf diesem Bänkchen, das auf diesem Deich stand. Alles auf demselben Bänkchen.

Auf dem Weg zu jenem Bänkchen auf dem Deich hatte Salvatore eine Weile bei der Schifflände gestanden, und das war auch seltsam: Denn das Stehen auf dem Boden erweckte in ihm immer diese Sehnsucht, zu gehen, während das Wasser und das Fließen in ihm viele Wünsche auslösten, am meisten vielleicht jenen: zu bleiben, und wäre es für immer.

Und wie ein Virus schlich sich mit diesem Verlangen (das sie Sehnsucht nannten) schon wieder, abermals der Gedanke ein, dass er sterblich war und dass sein Leben nichts als ein Geschwätz war, über das er nie hinauskam. Das war ja, wie der Wind, die Gewalt von nichts über etwas, so diktierte ihm das seine linkshändige Großhirnrinde. Salvatore glaubte indes, beim Thema seines Tages wie Lebens angekommen zu sein. Sehnsucht, was für ein Wort! Wie aufrecht stand es vor ihm.

Mit solchen Gedanken im Kopf, seinem Glücks- und Unglücksdepot, seiner Schaltzentrale, die doch nicht recht funktionierte, und eigentlich nicht mehr als sein Sehnsuchtsspeicher war, dachte Salvatore, sein Leben (und alles) in die dritte Person umzuschreiben, damit es für alle wäre.

Salvatore hatte Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Theologie studiert. Was unweigerlich zum Ende des Glaubens geführt hatte. Allein die Sehnsucht blieb, wie du und ich.

Doch mit seiner Sehnsucht konnte Salvatore in der Kirche, in einem Unternehmen, das sein Heil bei Unternehmensberatern suchte, nichts werden. Bei Leuten, Bischöfen, Theologen, die ihr Glück auf den gesunden Menschenverstand setzten (fides quaerens intellectum). Für seine Sehnsucht gab es in den sogenannten Kirchen keinen Platz. Salvatore suchte aber, selbst nach Erlösung, immer noch. Und er wusste das, was er längst vergessen hatte, nun mit einem Mal wieder. Solche Menschen gab es, immer noch, auch wenn sie in den Bilanzen nicht vorkamen, wo der Mensch ja gar nicht als Mensch, sondern als Verbraucher geführt wurde und galt.

Doch schon der Name, mit dem er auf der Welt herumlief, deutete darauf, dass dies, was ihm hier an Leben und Ausleben geboten wurde, nicht alles war. Ja, seine Sehnsucht ging über jedes Ausleben hinaus.

 

Zwei Männer, die auch nicht zum Vatertagspublikum zählten, kamen mit ihrem Golf GTI angefahren, Einheimische, am Verlauf ihrer Gesichtszüge zu erschließen. Die Gegend war vor kaum mehr als tausend Jahren noch von slawischen Seminomaden bewohnt, doch mit ihren ausrasierten Nacken entsprachen sie nicht dem Schönheitsideal der Zeit, als Salvatore sehen lernte.

Das war in den Ferien bei seiner Großmutter, zu der er Nonna sagte mit fehlerfreiem Akzent, die damals schon in Neapel lebte. Erst sah er den Vesuv von ihrem Fenster aus und dann den Schnee und sagte »Aaaaaaaaaaaa!« – und dann kam das andere dazu, was er sah. Das war auch zu einer Zeit, als er allmählich braun von blond unterscheiden konnte und zu unterscheiden begann und er immer noch Ministrant war und von seinem Kinderglauben noch nicht abgefallen.

 

Sie nahmen sich für den Tag mit, was sie für den Tag brauchten. Und aus dem Kofferraum, was sie für die nächsten Stunden brauchten. Ihn übersahen sie. Er war ja kein Fisch.

Es waren zwei Angler, Fischer wie Petrus und Andreas, Johannes und Jakobus, nur zweitausend Jahre später und mehr als zweitausend Kilometer von jenem Ort entfernt. Petri Heil! – mehr wussten sie aber von Petrus nicht – Kafarnaum wahrscheinlich nie gehört … Und doch:

Sie wussten, was es war, was sie brauchten. Und warteten auf nichts, außer auf Fische. Diese Fischer wuchsen noch in ihr Glück hinein. Es gab also noch Sehnsucht.

Und Salvatore begann so langsam wieder an Dinge zu glauben, die es gab und die trotzdem nicht sichtbar waren. Denn diesen Glauben hatte er eigentlich nie aufgegeben.

Die Hoffnung und die Liebe waren ja auch nicht sichtbar oder nur ganz selten wie ein Wunder. Und er hoffte nun mit einem Mal wieder, dass das Unsichtbare mehr wäre als das Sichtbare.

Ohne dass sie es je erfahren hätten, war er schon dabei, für ein volles Netz zu beten. Alles war möglich. Das Bild brauchte vielleicht gerade ihn und seine Sehnsucht. Das, was er sehen konnte, war wenig und doch so viel, es reichte an den Saum des Unsichtbaren. Und das Wasser war an diesem Tag ein Spiegel. Es war der Himmel mit seinen Wolken, der sich in allem spiegelte.

Das, was er sehen konnte, war nicht viel. Und das meiste, was er von der Welt sah und sehen konnte, war auch nicht viel, und grauenhaft. Oder nicht?

Waren die Bilder, die ihm von der Welt gezeigt wurden, vom dem, was sichtbar war und im Fernsehen zu zeigen war, etwa nicht grauenhaft? Und was er zu Hause gesehen hatte, die Orden und Auszeichnungen auf dem Samtkissen in der Vitrine im Jagdzimmer unter dem ausgestopften Auerhahn und den Eulen? Einst waren sie ein Stück weit geflogen, unweit der Erde, aber von unten gesehen war es doch ein Stück weit auf der Seite des Himmels, bei Nacht.

Die armen Fische. Sie glaubten, auf der Landseite hätten sie nun einen Freund fürs Leben. Sodass sie ganz zutraulich wurden und schon dabei waren, mit der Angel eine Freundschaft fürs Leben zu schließen. Doch es wartete nur eine Begegnung, die zum Tode führen würde.

 

Doch jene Fischer, die Salvatore, nun vom Parkplatz weg an dieser schönen Stelle seiner Geschichte angekommen, etwas weiter flussabwärts mit seinen Augen, seinen ersten Waffen, entdeckte, wie sie da im Wasser standen, bekamen an diesem Tag eine erste Wut, schon als sie Salvatore entdeckt hatten, wie er immer näher kam und die Fische störte und davon abhalten würde, in ihre Angel zu beißen, und »Petri Heil« zu verunmöglichen. Ganz anders als ihre Kollegen am See Genezareth, als Jesus auf sie zukam und sagte: »Kommt, gehen wir!« Und keinen Augenblick lang mussten sie überlegen. Das war lange her.

Die Fischer von heute – es war am Tag einer Himmelfahrt, der nun »Vatertag« hieß –, sie bekamen geraume Zeit später, schon fast Mittag, erst recht eine Mordswut, als ein erstes Vatertagsrudel auftauchte, sich ihnen in den Weg stellte. Eine Wut wie Jäger auf dem Hochsitz bekamen sie, denen ahnungslose Wanderer, die sich unterhielten, als wären sie auf dem Weg nach Emmaus, die Wildschweinjagd, wenn nicht den Tag, wenn nicht das Leben verdarben. So schauten sie wenigstens.

Und dann war es wieder still. Und sie beruhigten sich wieder wie sein Onkel, ja Freund Hannemann bei der transzendentalen Meditation.

Wann war eigentlich Fischerzeit? War es, wenn sie (die Fischer, wie auch die Fische) frei hatten? Oder konnten sie sich im Prinzip immer ans Wasser stellen? Oder hing es von der Stelle ab, ob es ein Fluss, ein See oder ein Meer war? Gab es für sie eine richtige Tages- oder gar Jahreszeit? – Das alles hätte er nachlesen können, aber so war es immer bei ihm. Immer wenn so eine Frage auftauchte, auf die es sicher eine Antwort gab, dachte er daran, wenn er zu Hause wäre, wollte er nachlesen, wie es war. Und dabei blieb es.

Und erst die Fragen, die in seinem linkshändigen Hirn auftauchten, auf die es definitiv keine Antwort gab, zum Beispiel nach dem Warum der Freude auf den Fisch auf dem Tisch und wie das richtige Essen war, bestehend aus Festem, Halbfestem und aus Flüssigem, bestehend aus etwas und aus nichts: Das waren die Pausen zwischen Gabel und Mund, die den Menschen so glücklich machen konnten, und wäre es nur eine Pizza gewesen und zwei, drei gute Pils wie eine Vorfreude und das Vorspiel und wie alles, was der Mensch nicht nachlesen konnte. Und auch nicht kaufen. Das war die Freude des Bankrotteurs.

Nun wissen Sie es: Salvatore war ein promovierter Träumer. Und wollte, wenn es mit dem Schreiben nichts würde, auf Fliegen umsatteln, um richtig abstürzen zu können. Denn dass er endlich sein Buch schreiben müsse, also etwas, in dem alles stand und gesagt war – mit diesem Gedanken lief er eigentlich seit seiner Turnhallen-Zeit herum – wie sie per Trillerpfeife im Kreis herumgescheucht wurden. Den anderen war dies anscheinend egal, sie hatten mittlerweile schon Kinder gemacht und in die Welt gesetzt; er aber konnte das so sehr nicht vergessen, dass er sogar mit dieser Nichtigkeit das erste Kapitel seines Buches bestreiten wollte.

 

Dieser Fluss war noch schöner als sein Name, die Elbe, und bald sah Salvatore auf das Geländer der Schiffanlegestelle, welche im Sommer zweimal am Tag, einmal hin, einmal zurück, diesen Ort mit der Welt verband, von hier nach Bitter ging es und zurück. Das Stehen der Angler, die ihn nun schon vergessen hatten, aber auch das Sitzen auf dem Deich, waren etwas Seltsames, das Kommen und das Gehen, wie auch das Leben und der Tod, dachte er, etwas Seltsames waren, wie alles, das einen Anfang und ein Ende hatte: nur die Wurst hatte zwei, Apage, Satanas! Weiche, Satan! Schon die Wörter für die Dinge und Sachen zerbröselten ihm manchmal zu einer völligen Bedeutungslosigkeit, zu etwas, das nichts war, zum puren Wort. Und Salvatore bekam manchmal an dieser Stelle des Sich-Auflösens einen Kalauer-Anfall.

Manchmal hatten seine Kalauer Hoheit über sein Leben, zum Glück hielt er sich bei seinen Vorträgen ganz an den Text von Bernadette, der Wirtschaftsprüferin, nur in den Nebenbemerkungen, quasi zur Seite hin gesprochen, durften sie dabei sein zur Aufmunterung. Und dann gab es Gelächter: Das war das Geheimnis seines (relativen) Erfolgs seiner Vortragstätigkeit – eine Melange aus Ernstem und Erheiterndem, aus Fakten und Leben. Aus seinem Kopf ließen sich aber diese unseriösen Wortspielereien nicht so einfach vertreiben. Es hätte eines Exorzisten bedurft, oder sagen wir lieber: eines Therapeuten, und manchmal war viel zu viel in seinem Kopf, manchmal zu wenig und manchmal gar nichts, manchmal schien ihm, er habe alles vergessen, und manchmal war es nichts, das er vergessen konnte, das ihn seit der Turnhallen-Zeit quälte, so war es – es! –, und Freud hätte seine Freude gehabt mit so einem Kopf wie seinem und hätte so einen Kopf wie den seinen als krank bezeichnet. »Apage, Satanas!«, sprach er vor sich hin, und er meinte damit seinen Kopf, aus dem manchmal nur Schlechtes kam, als wäre er eine Kloake.

So saß er immer noch und lehnte und schaute und sah immer nur einen Teil von sich: seine Beine und dann das Wasser, direkt hinter diesen Beinen, ein Bild vor seinen Augen war es, und das war seltsam. Er stand kurz wieder auf, damit seine Beine nicht einschliefen; und auch zum Beweis, dass er jederzeit gehen konnte.

Schon lange nicht mehr war es wie am ersten Tag gewesen, ein Morgen. Wie an diesem Morgen. Mit seinen Schöpfungsgeräuschen, der Stille als Tonart und Grundakkord, darüber sich der Hahnenschrei erhob und »Ich werde dich verraten«. Und diesen Angeln, die das Glück des Fischers waren.

Schon lange nicht mehr hatte er gehört, was unbedingt dazugehörte, Tage wie am ersten Tag, da selbst die Motorsäge Klang war, ein Jubilieren aus dem Wald, von der Waldseite her, der ihn mit Freude erfüllte, und auf der Himmelseite das Flugzeug dort oben, als wäre es ein Echo des Himmels, zurückgelassen von einem, der längst woanders war; und auch das Krähengeschrei war noch ein Jasagen, zu allem, auch dass es einmal ein Ende hätte mit allem. Ja, die Welt war Klang. Er vernahm, wie sich in junger Ferne die hörbaren Hähne um das Leben stritten und freuten. Wie sie das Leben und das Sterben übten, spielten, und wie beides zusammenfiele, ein letztes Mal, dann beim Finale ganz zum Schluss.

Das war (wäre, würde gewesen sein) auf der anderen Seite des Flusses, so hörbar still war dieser Tag. Im Grunde konnte Salvatore bis China hören, bis Laotse und dem entsprechenden Spruch (so etwa: »Ein Leben lang die Hähne vom anderen Ufer des Flusses hören, und niemals hinübergehen wollen.«).