Lichtsturm IV - Mark Lanvall - E-Book

Lichtsturm IV E-Book

Mark Lanvall

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Beschreibung

Die entscheidende Schlacht in einem uralten Krieg ist unausweichlich. In der Anderswelt fordern Großmeister Geysbin und seine Gefolgsleute den machtsüchtigen Herrscher Sardrowain heraus. Doch sie wissen, dass sie alleine niemals siegen werden. So versuchen sie ein Bündnis zu schmieden. Mit einem Volk, das die Alben mehr hasst als alles andere. Es lebt in ewiger Finsternis, tief unter der gläsernen Stadt. Ausgerechnet dort hofft Larinil ihren geliebten Andrar zu finden. Und sie erkennt einmal mehr, dass die Wahrheit in diesem Kampf nicht nur ein Gesicht hat. Mit "Lichtsturm IV - Das Bündnis" endet die Fantasythriller-Reihe.

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Bisher bei Lichtsturm:

Ein blutiger Bürgerkrieg tobt in Lysin’Gwendain, der Anderswelt. Auf der Flucht vor den Truppen der siegreichen Neuen Herrscher folgen einige Hundert Alben dem legendären Großmeister Geysbin und dessen Tochter Larinil in die Welt der Menschen. Hoch oben in den Bergen errichten sie die weiße Festung Galandwyn. Doch die Hoffnung, hinter den hohen Mauern des Bollwerks sicher zu sein, erfüllt sich nicht. Denn den Herrschern Lysin’Gwendains reicht es nicht, ihre Gegner vertrieben zu haben. Sie wollen sie restlos vernichten. Darüber hinaus streben sie nach der Macht auch in der Menschenwelt.

Und so stellen sie ein Heer aus Gorgoils und Pandrai auf - monströse Kreaturen, geschaffen aus den dunkelsten aller Kräfte. Dabei hilft ihnen der keltische Druidenhäuptling Bram, ein skrupelloser Mann, den die Gier nach Ruhm und einem ewig währenden Leben antreibt. Von den Albenherrschern erhält er als Lohn ein Elixier, das ihm erlaubt, sich immer und immer wieder zu verjüngen.

Für Geysbin und die Alben Galandwyns beginnt nun der Kampf ums nackte Überleben. Unter großen Opfern gelingt es ihnen, einen Angriff der Gorgoils und Pandrai abzuwehren. Doch sie ahnen, dass der Krieg damit noch nicht entschieden ist. Sie fürchten, nicht ewig standhalten zu können und dass sie eines Tages vernichtend geschlagen werden könnten. Sollte das geschehen, wären beide Welten an die dunklen Herrscher verloren. Und so wirkt Großmeister Geysbin einen gewagten Zauber. In ferner Zukunft, so hofft er, kann er mit dessen Hilfe das Blatt doch noch zugunsten der Menschen und der Alben Galandwyns wenden.

Geysbin wählt drei mutige Keltenkrieger aus. Tief ins Innere ihrer Körper setzt er einen magischen Keim. Einen, der Generationen überdauert und erst dann aufgehen soll, wenn die Zeit gekommen ist, in der die Menschheit der Bedrohung aus der Anderswelt entgegentritt. Wenn es so weit ist, so Geysbins Plan, verwandeln sich die Nachfahren der drei Krieger in mächtige Alben. Aufgabe dieser Verwandelten soll es sein, über die Menschen zu wachen. Jedem der drei Keltenkrieger schenkt Geysbin ein magisches Schwert, das in einem Stein im Knauf Erbe und Geheimnis seines Volkes trägt. Er soll den Nachfahren eines Tages die Kraft geben, ihre Bestimmung als Beschützer der Menschheit zu finden.

Einer der drei Keltenkrieger ist Kellen, ein mutiger und neugieriger Dorfhäuptling, in den sich Larinil verliebt. Sie erleben gemeinsam leidenschaftliche Stunden. Überschattet werden diese von nagenden Zweifeln. Kann es eine Liebe zwischen einer Albin und einem Menschen geben? Darf es das?

Bald aber müssen Kellen und die beiden anderen Krieger Galandwyn verlassen. Viele Jahre verstreichen, dann begeben sich Geysbin und Larinil schließlich in einen tiefen Schlaf im Inneren des Berges. Dort wollen sie Jahrhunderte überdauern - so lange, bis die Zeit gekommen ist, um den verwandelten Nachfahren der drei Krieger beizustehen, sie zu unterweisen und zu führen.

Doch Geysbins Plan misslingt. Erst zwei Jahrtausende später erwachen Larinil und er wieder. In der langen Zeit hat der Großmeister das Gedächtnis und seine magischen Fähigkeiten eingebüßt. Noch schlimmer: In seiner Verwirrung löst er die Verwandlung Hunderter ahnungsloser Nachfahren der drei Kelten aus. Und es gibt zunächst nichts, was Geysbin und Larinil unternehmen können, um den Verwandelten zu helfen. Noch dazu finden sie sich in einer Welt wieder, in der es zwar keine finsteren Kreaturen mehr gibt, dafür aber technische Errungenschaften, die sich die Alben in ihren kühnsten Träumen nicht haben vorstellen können. Hilfe bekommen sie von der jungen Historikerin Natalie, die sich - fasziniert von Aussehen und mysteriösen Fähigkeiten der Alben - um Geysbin und seine Tochter kümmert.

Einer, den der ungewollt entfachte Zauber des Großmeisters trifft, ist der frustrierte Ben. Er hat mit seiner adeligen Familie gebrochen und führt das zurückgezogene Leben als Aushilfe auf einem Campingplatz in der Nähe von München. Hin und wieder beteiligt er sich gemeinsam mit dem Hacker Maus und dessen Freundin Viktoria an gefährlichen Aktionen, die Betrüger und Volksverdummer im Internet bloßstellen. Die Verwandlung aber ändert sein inhaltloses Dasein. Während sie viele andere Menschen in Ratlosigkeit und Verzweiflung stürzt, gibt sie Ben dagegen neue Kraft. Er ordnet sein Leben, wird aber bald schon wieder auf die Probe gestellt. Rätselhafte Killer machen Jagd auf ihn, trachten ihm nach dem Leben. Ben erfährt, dass einige andere Verwandelte bereits getötet worden sind.

Er ahnt nicht, dass der jetzt schon mehr als 2000 Jahre alte Druidenhäuptling Bram hinter den Angriffen steckt. Dieser hat seinen Zorn in all den Jahrhunderten nicht überwunden. Er erkennt in den Verwandelten die Erben der Galandwyn-Alben und damit seine erbitterten Feinde. Bram, der nun unter anderem Namen als Milliardär in London lebt, nimmt den uralten Kampf wieder auf - auch deshalb, weil er hofft, dass ihn die Herrscher der Anderswelt abermals mit einem Elixier dafür belohnen. Denn nach so langer Zeit geht sein Vorrat allmählich zur Neige.

Die Bedrohung durch Bram und seine Killer bringt Ben, Maus und Viktoria mit Natalie und den beiden Alben aus der Vergangenheit zusammen. Um die Verwandelten zu finden und zu beschützen, gründen sie eine Stiftung. In einem abgelegenen Anwesen auf der Atlantikinsel Madeira weihen sie die neuen Alben in die Geheimnisse des Lichtvolkes ein und machen sie mit den übermenschlichen Kräften vertraut, die sie nun haben. Es ist ein Ort, an dem viele Verwandelte neuen Mut schöpfen. Denn Bram tut inzwischen alles, um unter den Menschen den Hass auf die spitzohrigen „Mutanten“ zu schüren.

Auf der Insel entdecken Ben und Natalie ihre Gefühle füreinander. Doch sie sind unsicher. Ben ist nun ein Albe, Natalie ein Mensch. Sie zögern, weil sie nicht wissen, ob das gut gehen kann. Larinil spürt, wie sehr diese Zweifel Ben daran hindern, seine albischen Kräfte zu entwickeln. Deshalb macht sie Natalie und Ben Mut, indem sie von ihrer Liebe zu Kellen erzählt. Denn nicht lange, nachdem der Keltenhäuptling Galandwyn verlassen hatte, war sie ihm in dessen Dorf gefolgt. Dort verbrachte sie mit ihm eine kurze, aber glückliche Zeit. Bald finden nun auch Natalie und Ben zueinander.

Ohne, dass sie und die anderen auf Madeira davon wissen, schickt sich nun aber ein weiterer mächtiger Feind an, den uralten Krieg der Alben neu aufflammen zu lassen. In der Anderswelt spürt der dunkle Albenmeister Sardrowain, dass in der Welt der Menschen die Dinge in Bewegung geraten sind. Aus alten Schriften weiß er von Geysbins Plänen. Er fürchtet, dass der Großmeister wieder stark werden könnte. Und er wittert eine Gelegenheit, seinem träge gewordenen Volk endlich zur Herrschaft über beide Welten zu verhelfen. Denn über die Jahrhunderte hat sich in Lysin’Gwendain, der Anderswelt, vieles verändert. Die monsterhaften Gorgoils haben sich gegen ihre Schöpfer gewandt und nun verschanzen sich die Alben schon seit langer Zeit in einer silbernen Stadt hinter einer gewaltigen Mauer. Sardrowain glaubt, dass er diese neue Bedrohung durch Geysbin und die Menschen nutzen kann, um sein Volk dazu zu bringen, die Trägheit zu überwinden und beide Welten zu erobern.

Zusammen mit dem jungen Offizier Andrar nimmt er einen Übergang, der ihn in die Welt der Menschen bringt. Dort nimmt er Kontakt zu Bram auf. In ihm findet er einen engen Verbündeten. Denn der ehemalige Druidenhäuptling, der nun den Namen Pieter van den Berg trägt, hat sich ein weiteres Mal verjüngt und dabei den letzten Schluck seines Elixiers verbraucht. Seine ganze Hoffnung ruht nun darauf, über Sardrowain eine weitere Flasche der magischen Substanz zu bekommen.

Unterstützt von einer Söldnertruppe van den Bergs greift Sardrowain die Stiftung auf Madeira an. Er entfacht einen Lichtsturm, den Larinil und Ben nur mit großer Mühe abwehren können. Die Alben der Stiftung überwinden die Angreifer - auch deshalb, weil der Offizier Andrar zu ihnen überläuft. Ernüchtert von der Skrupellosigkeit und Ehrlosigkeit des dunklen Meisters verrät er diesen und schließt sich Geysbin und Larinil an.

Sardrowain muss zurück in die Anderswelt fliehen. Es gelingt ihm aber dabei, einen der Verwandelten zu entführen, den ehemaligen Automechaniker Timo Hemander. Der Österreicher ist vom Leben enttäuscht, weil ihn Menschen, die ihm früher nahestanden, als Alben haben fallen lassen. Ein ehemaliger Arbeitskollege hat sogar versucht, ihn zu töten. Sardrowain glaubt nun, dass er Timos Zorn nutzen kann, um ihn für sich zu gewinnen. Denn seine Pläne, die beiden Welten zu erobern, will er noch immer nicht aufgeben.

Noch einmal konnten sich Larinil, Ben und die anderen also gegen ihre Feinde behaupten. Sie ahnen aber, dass van den Berg und Sardrowain sich noch nicht geschlagen gegeben haben. Ihnen ist klar, dass sie Geysbins verlorene Kräfte brauchen werden, um gegen sie bestehen zu können. Maus und Viktoria suchen deshalb fieberhaft nach einem der drei Albenschwerter, die Geysbin vor langer Zeit Kellen und den beiden anderen Keltenkriegern gegeben hat. Larinil ist davon überzeugt, dass die Steine in den Griffen der Waffen die Macht haben, ihrem Vater Erinnerungen und Kräfte zurückzugeben. Eine Spur führt ins Dahner Felsenland, wo eines der Schwerter vergraben sein soll. Doch Maus und Viktoria suchen dort vergeblich.

In der Anderswelt setzt Sardrowain unterdessen alles daran, die drei Herrscher zu überzeugen, nun zum Krieg gegen Gorgoils und Menschen zu rüsten. Vergeblich. Doch bald spielt ihm das Schicksal in die Hände. In den Wirren einer Intrige ergreift er die Macht und besteigt selbst einen der drei Herrscherthrone. Er verliert keine Zeit und beginnt, ein Heer aufzustellen und seine Truppen gegen die Gorgoils in den Krieg zu schicken. Auch die Menschenwelt behält er weiter im Blick. In Timo hat er sich nicht getäuscht. Der ist inzwischen zu seinem treuen Gefolgsmann geworden. Mit ihm hat er große Pläne. Timo soll weitere Verwandelte finden und sie auf den Kampf an Sardrowains Seite vorbereiten.

Ben, Larinil, Geysbin, Natalie, Maus und Viktoria ziehen sich nun gemeinsam mit einigen Hundert Verwandelten in eine Anlage in den Bergen Neuseelands zurück. Dort bereiten sie sich auf den Kampf gegen Sardrowain und dessen Handlanger van den Berg vor. Larinil verfällt dort dem Charme Andrars, den sie für seinen Mut, sich gegen Sardrowain zu stellen, bewundert. Allerdings stürzen diese Gefühle die Albenkriegerin in innere Kämpfe. Noch immer fühlt sie sich Kellen tief verbunden, obwohl es schon Jahrhunderte her ist, dass dieser im siegreichen Kampf gegen die Pandrai gefallen ist. Sie liebt Andrar, bleibt aber auf Distanz zu ihm.

Schließlich landet Maus einen genialen Coup, der zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Er entlarvt van den Berg alias Bram öffentlich als Auftraggeber mehrerer Morde und bringt ihn damit in große Schwierigkeiten. Gleichzeitig zweigt er aus dessen Vermögen mehrere Millionen Euro ab - nicht nur, um ihn zu schwächen. Maus und seine Freunde brauchen das Geld, um eines der drei Albenschwerter zu kaufen. Denn tatsächlich hat nun Bens überheblicher Onkel Vinzenz eines aufgetrieben und bietet es für eine unverschämte Summe zum Kauf an.

Das Geschäft klappt. Larinil nimmt das Schwert an sich und reist zusammen mit ihrem Vater und Natalie in das unterirdische Heiligtum der alten Bergfestung Galandwyn. Dort wagt sie einen gefährlichen Zauber, der Geysbin Erinnerung und Kräfte zurückgeben soll. Um Haaresbreite scheitert sie. Dann aber eilt ihr überraschend Gintwain zur Hilfe. Der alte Albe kämpfte schon in der Schlacht um die weiße Festung an ihrer Seite. Er war es, der die Alben Galandwyns später zurück in die Anderswelt führte, wo er nun als Großmeister die Feinde der drei Herrscher anführt. Auch Gintwain ist in die Menschenwelt gekommen, um Geysbin und Larinil zu finden. Ihm und der Albin gelingt es, Geysbin zu heilen.

In München spüren Ben und Andrar inzwischen ihren Widersacher van den Berg auf. In einem Verlagsgebäude laufen sie ihm allerdings in die Falle. Bedrängt von Söldnern und Kriegern der Anderswelt, überwältigt Andrar nun plötzlich Ben. Er gibt vor, noch immer ein treu ergebener Soldat Sardrowains zu sein, der sich mit einem geheimen Auftrag ins Lager der Feinde eingeschlichen hat. Ben wird unter Drogen gesetzt und in einem Kellerraum gefangen gehalten. Er bekommt nur Bruchstücke davon mit, was weiter geschieht. Jemand flüstert ihm den Namen der Stadt Frankfurt ins Ohr. Viele Stunden später finden ihn Larinil, Geysbin, Gintwain und Natalie unversehrt im Verlagsgebäude - neben der Leiche des erschossenen Pieter van den Berg. Von Andrar fehlt jede Spur. Hat er ein weiteres Mal die Seite gewechselt? Ist er in die Anderswelt geflohen? Larinil allerdings weigert sich, an Andrars Verrat zu glauben. Sie fürchtet stattdessen, dass er in großer Gefahr schwebt.

Aber um ihn zu suchen, bleibt keine Zeit. Geysbin und sie sind überzeugt davon, dass Sardrowain vorhat, in Frankfurt einen verheerenden Lichtsturm zu entfachen - offenbar, um seine Macht zu zeigen und den Willen der Menschen zu brechen.

Sie täuschen sich nicht. Ben, Larinil, Geysbin und Gintwain laufen in der Metropole am Main allerdings in eine weitere Falle. Sie können nicht verhindern, dass Sardrowain den Sturm entfacht. Hochhäuser werden zerstört, Menschen getötet. Es gelingt ihnen aber dann doch noch, den Lichtsturm auszulöschen und damit Schlimmeres zu verhindern. Dabei steht ihnen überraschend der tot geglaubte Kellen bei. Der Keltenhäuptling ist, seitdem er im Kampf gefallen ist, kein Mensch mehr. Er offenbart Larinil, dass er als konturloses Lichtwesen seit Jahrhunderten über sie und ihre gemeinsamen Nachfahren wacht. Denn Larinil und er hatten eine Tochter. Schon länger ahnt die Albin, dass Ben von ihr abstammt und dass das seine außergewöhnlichen Kräfte erklärt.

Larinil, Ben, Natalie, Geysbin ist nun klar, dass ein Krieg unausweichlich ist und dass sie Sardrowain in der Anderswelt entgegentreten müssen. Sie und Hunderte Verwandelte begeben sich dorthin, um sich Gintwains Kriegern und den mit ihnen verbündeten Gorgoils anzuschließen. Larinil macht sich auf die Suche nach Andrar.

Allein Maus und Viktoria bleiben in der Welt der Menschen zurück.

Die Neue

„Deplatziert“ war das Wort, das ihm dazu einfiel. Er war hier völlig deplatziert. Absolut falsch. Das Ambiente war lausig, die Leute eine Zumutung und überhaupt: Er musste warten! Er hätte nicht hierherkommen sollen.

Zwei Geschäftsfreunde hatten ihm Sven Werrn alias „Maus“ empfohlen, den IT-Profi. Ein schräger Typ, aber einer, der sich um die ständigen Hacker-Attacken auf das Netzwerk seiner Firma kümmern konnte. Der Beste, der in München für Geld zu haben war, hatten sie gesagt. Eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Na, wenn das so war, dann wollte er mal nicht so sein, hatte deshalb sogar einem Treffen in Werrns Büro zugestimmt. Ausnahmsweise. Dienstleister sollten sonst gefälligst zu ihm kommen, wenn sie schon sein Geld wollten. Aber das hier war erniedrigend. Ihn warten zu lassen, eine Zumutung. Zeit war schließlich Geld. Hatte dieser so genannte „IT-Profi“ davon etwa noch nie was gehört?

Geschlagene 17 Minuten war es nun schon her, dass er dieses Büro betreten hatte. Direkt am Eingang war ein unbesetzter Tresen, der auch auf dem Sperrmüll nicht weiter aufgefallen wäre. So einer, wie sie früher in billigen Kassenarztpraxen herumgestanden waren. „Bitte nehmen Sie Platz! Wir kümmern uns sofort um Sie“, war auf einem Schild aus Pappedeckel zu lesen. Wie respektlos! Und jetzt wartete er in diesem fensterlosen, schlauchförmigen Flur. An den Wänden standen mehrere durchsichtige Plexiglas-Stühle. Ihr Design war futuristisch und sie waren absolut unbequem. Er versuchte schon seit einer gefühlten Ewigkeit vergeblich, sich in eine erträgliche Sitzposition zu bringen. Dabei starrte er mangels einer Alternative auf die gegenüberliegende Wand. Sie war vollgepflastert mit gerahmten Filmplakaten. Matrix, Star Wars, Herr der Ringe und noch ein paar andere, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Für so einen albernen Unsinn hatte er weder Zeit noch Nerven.

Der Gipfel der Geschmacklosigkeit: In der Ecke stand doch tatsächlich eine überlebensgroße Ritterfigur oder so etwas Ähnliches. Ein gewaltiger Helm, die Rüstung war verziert mit knallroten Drachenmotiven, am Gürtel hing eine Streitaxt. Vielleicht die Figur aus irgendeinem dieser dämlichen Computerspiele, mit denen viele Leute der so genannten sozial schwächeren Klassen ihre wertvolle Zeit verplemperten.

Er räusperte sich laut vernehmlich, strich sich einen Fussel vom Revers seines anthrazitfarbenen Designer-Anzugs, verfolgte seinen Fall hinab auf den leuchtend bunten Teppichboden. Das Muster hatte bei ihm schon beim Eintreten einen Anfall von Übelkeit ausgelöst. Es bestand aus unzähligen grünen, gelben und grauen 3-D-Würfeln - wie bei einem Kinderzimmerteppich. Wo war er hier nur gelandet?

Er sollte verschwinden. Sofort. Aber diese Leute! Man durfte ihnen gegenüber nicht klein beigeben. Man musste ihnen zeigen, wer in diesem Land noch immer die Hosen anhatte. Nein, er würde nicht gehen. Mochten sie ihn auch noch so unverschämt ... ignorieren.

Da war dieser hagere, unrasierte Kerl in der abgewetzten Lederjacke, der vor den Stühlen ruhelos auf- und abwanderte. Ein Mensch, der es nie im Leben zu etwas bringen würde. So etwas konnte er mit einem Blick erkennen. Aber immerhin ein Mensch! Auf die beiden Frauen, die ebenfalls - natürlich ein paar Stühle von ihm entfernt - im Raum saßen, traf das ganz sicher nicht zu. Sie trugen alte, schmutzige Klamotten, weite Röcke, eine dunkle Strickjacke die eine, eine Jeansweste die andere. Ihre Haare und Ohren waren unter bunten Tüchern verdeckt, die sie sich wie schlecht gebundene Turbane um den Kopf gewickelt hatten. Ihre Bewegungen waren fahrig, ihre Blicke, soweit das hinter den dunklen Sonnenbrillen überhaupt erkennbar war, misstrauisch, ausweichend. Eine der Frauen hatte die Arme eng um ihren Oberkörper geschlungen, so als würde sie frieren.

Sie waren Mutanten. Daran gab es gar keinen Zweifel. Ihn konnten sie mit ihrer Verkleidung nicht täuschen. Und auch nicht mit ihrem harmlosen Getue. Er wusste Bescheid über diese Missgeburten. Und auch darüber, was sie vorhatten.

An ihm würden sie sich aber die Zähne ausbeißen. Er war ein Mann, der die Dinge anpackte. Er hatte sein Geschäft nicht in all den Jahren aufgebaut, um es sich von hässlichen Kreaturen abluchsen zu lassen - nur weil die eine Laune der Natur vielleicht ein bisschen kräftiger gemacht hat als hart arbeitende Menschen wie ihn. Das war nicht richtig und er würde sich das nicht gefallen lassen. Vielleicht war das ja jetzt die Gelegenheit, mal einen Punkt zu machen. Denn sonst hatte er mit diesem Pack ja nicht wirklich was zu tun. Es hieß ja auch, dass sich die Mutanten versteckten, um dann aus dem Verborgenen zuzuschlagen.

Zuschlagen? Er wünschte, er hätte eine Waffe dabei. Nur sicherheitshalber natürlich. Sein Blick wanderte zur Streitaxt am Gürtel der Kriegerfigur in der Ecke. Sie sah solide aus. Gefährlich. Verlockend. Vermutlich würde ihm sogar niemand ernsthaft übel nehmen, wenn er einfach ... Schließlich waren die Mutanten ja keine Menschen. Das hatte er in dem Buch gelesen. Jeder hasste sie. Wahrscheinlich könnte er rein rechtlich dafür nicht einmal belangt werden. Und es war ja schließlich auch so etwas wie Selbstverteidigung. Er musste grinsen, fühlte sich irgendwie besser - schon allein bei dem bloßen Gedanken daran, mit der Streitaxt klare Fakten zu schaffen - wenigstens hier in diesem armseligen Flur.

Die Tür ins angrenzende Büro ging auf und ein dicklicher Kerl im hellgrauen Hoodie blickte erstaunt in den Raum, seine jungenhaften Augen erfassten die Szene und es war offensichtlich, dass ihnen nicht gefiel, was sie da sahen. Das musste Sven Werrn sein, dachte er und fragte sich gleichzeitig, woher der Kerl nur diese Arroganz nahm, jetzt einfach so aufzutauchen, nachdem er ihn minutenlang hatte warten lassen. Und was zum Teufel hatte er mit diesen Mutanten-Frauen zu schaffen?

„Herr Werrn, nehme ich an“, sagte er schnell und erhob sich betont gelassen. „Endlich.“ Kein Grund, sich kleiner zu machen als notwendig. Sollten alle ruhig merken, mit wem sie es hier zu tun hatten. Und dass mit ihm nicht zu spaßen war.

Werrn ging auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen, behielt aber dabei den abgewetzten Kerl im Auge. Und die Mutanten-Frauen. Er griff zu, fest natürlich. Jemand wie er packte immer fest zu. Das zeigte Stärke.

„Hallo. Tut mir leid“, sagte der IT-Mann.

Er schaute demonstrativ auf die Uhr, ignorierte die Entschuldigung und sagte: „Kommen wir gleich zur Sache, Herr Werrn. Meine Zeit ist kostbar. In ihr Büro?“

„Ja bitte. Gehen Sie schon vor! Ich bin in wenigen Minuten bei Ihnen.“ Wieder sah er zu dem hageren Typen und den beiden Mutanten. War das sein Ernst? Noch mal warten? Eine Frechheit!

„Herr Werrn. Wenn wir ins Geschäft kommen wollen - und es ist ein lohnendes Geschäft für Sie, das kann ich Ihnen versichern - dann reden wir jetzt. Unverzüglich.“ Er sagte das mit allem gebotenen Nachdruck. Sollten ruhig alle den Ernst der Lage erkennen.

Als Werrn nicht wie gewünscht mit Demut reagierte, setzte er grimmig nach: “Sagen Sie, Herr Werrn. Wo bin ich hier eigentlich? In einem Büro für IT-Sicherheit? Oder in einem Kuriositäten-Kabinett?“ Er freute sich über die spitzfindige Frage und musste lächeln. „Lebende Kuriositäten inklusive.“ Sein abfälliger Blick fiel auf die beiden Mutanten. „Ich habe jedenfalls immer mehr das starke Gefühl, hier falsch zu sein.“

Werrn blickte ihn an. Seine Miene hatte sich schlagartig deutlich verfinstert. Das zuvor noch ansatzweise erkennbare Bedauern war verschwunden. Seine Augen fixierten ihn entschlossen.

„Was das angeht, bin ich völlig bei Ihnen. Rein gefühlsmäßig“, sagte Werrn dann hart. „Ja, Sie sind hier tatsächlich falsch. Auf Wiedersehen!“

Frechheit. Eine unglaubliche Unverschämtheit war das! Sein Blick raste zur Streitaxt.

„Gefällt er Ihnen, mein Typhoon Warrior? Habe ich mir aus Japan liefern lassen. Kaum zu glauben, aber er ist aus federleichtem Kunststoff. Sogar die Axt sieht täuschend echt aus, nicht wahr?“

Dann eben nicht. Er schnaubte, funkelte Werrn wütend an. Nun, es gab andere IT-Experten. Solche, die sich nicht mit diesem Mutantenpack einließen. Werrn würde schon sehen, was er davon hatte. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ mit schnellen, entschlossenen Schritten den Raum, das Gebäude. Sekunden später saß er in seinem Porsche-SUV und raste davon. Er hatte genug Zeit verschwendet.

Na ganz fantastisch, dachte Maus und funkelte Edwin Gerstner, den hageren Kerl in der Lederjacke vorwurfsvoll an. Dieser Vollpfosten!

„Mann, Edwin. Wir können unsere Treffen auch gleich im Web streamen. Was genau an den Vokabeln 'heimlich' und 'unauffällig' kapierst du eigentlich nicht?“

Gerstner hob abwehrend die Hände. „Hatte keine Ahnung, dass du Kundschaft hast. Konnte ich ja nicht wissen.“

„Nein, konntest du nicht. Deshalb hab ich mir auch eine ausgeklügelte Codiersoftware einfallen lassen, über die wir sorglos miteinander solche Sachen absprechen können. Verdammte Axt!“

Der Fluch musste raus. Auch wenn Maus wusste, dass solche Verbalscharmützel den beiden verwandelten Albinnen, die ihm Edwin gebracht hatte, jetzt und hier nicht wirklich halfen. Die waren vermutlich auch ohne seine Kraftausdrücke ängstlich und verunsichert genug.

„Sorry, Maus. Ich pass künftig besser auf. Aber mach dir keinen Hals. Ich kenne Typen wie den. Eigentlich richtig armselige Wichte. Haben es trotzdem zu was gebracht und sind jetzt so kotzarrogant, dass sie keine Chance auslassen, ihren tief sitzenden Frust auf all die herabrieseln zu lassen, die sie für unwürdig halten oder so.“

„Aha“, brummte Maus. „Hatte ja keine Ahnung, dass du jetzt auch noch was von Psychologie verstehst, Professor Edwin.“

„Mach dich locker, Maus! Der verpfeift uns nicht. Mit Behörden haben es solche Leute nicht so. Haben selber genug Dreck am Stecken.“

Maus antwortet nicht. In dem Punkt hatte Edwin vermutlich sogar recht. Die meisten Leute hielten sich tatsächlich gerne raus, fanden es sehr bequem, dass sich die Behörden um die Verwandelten kümmerten, inzwischen regelrecht Jagd auf sie machten. Spitzohren war es verboten, den Wohnort zu verlassen und Sonnenbrillen zu tragen. Viele wanderten beim geringsten Verdacht auf subversive Umtriebe auch gerne mal vorsorglich in den Knast. Seit Sardrowains Lichtsturm-Anschlag in Frankfurt hatten die Menschen Angst. Klar. Da verließ man sich schon lieber auf die Regierung und redete sich ein, dass es schon in Ordnung sei, was sie mit diesen seltsamen Mutanten anstellte.

Maus zog seinen Geldbeutel aus der Tasche, kramte zwei Scheine heraus und drückte sie Edwin in die Hand.

Der warf einen schnellen Blick auf das Geld und sah Maus dann mit einem frechen Blick an.

„Hatten wir nicht 500 gesagt?“

„Hatten wir nicht“, protestierte Maus und ahnte gleichzeitig, dass er in dieser Diskussion den Kürzeren ziehen würde. Leider war er auf Ganoven wie Edwin angewiesen. Er konnte ja schließlich keine Kleinanzeige aufgeben. „Verwandelte gesucht. Biete Fluchtmöglichkeit in die Anderswelt.“ Wer von den Verwandelten abgetaucht war, der wollte es für gewöhnlich dabei auch belassen.

„Hey, Maus. Das Risiko ist gestiegen. Du hast doch selbst eben gesagt: Wir müssen besser aufpassen.“

Maus kramte zwei 50er aus dem Geldbeutel und gab sie Edwin.

„Deute das jetzt aber bloß nicht als Zeichen von Schwäche, Alter. Ich bin nicht der Einzige von uns beiden, der viel zu verlieren hat. Bau noch einmal so einen Mist und du bist raus. Verstanden?“

„Alles klar, Maus. Bin ja kein Vollidiot.“ Grinsend tippte er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Bis zur nächsten Lieferung.“ Dann machte er sich davon.

Maus blieb dabei: ein Vollpfosten. Aber er hatte es ja nicht anders gewollt. Viktoria und er hätten es sich in der Karibik bequem machen können, hätten all den Albenkram, Sardrowain, den Lichtsturm in Frankfurt und den Krieg in der Anderswelt vergessen können - bei Mai Tais und exotischen Sandwiches. Eine nach wie vor verlockende Vorstellung, dachte Maus. Hätte aber natürlich nicht funktioniert. Ben, Natalie, Larinil, Geysbin und die anderen waren nun mal da draußen - an vorderster Front sozusagen. Sie hatten keine Wahl. Sie mussten kämpfen. Maus und Viktoria konnten sie unmöglich einfach im Stich lassen. Das war undenkbar.

Acht Wochen war es jetzt schon her, dass ihre Freunde mit ein paar Hundert Verwandelten in die Anderswelt verschwunden waren. Natalie allerdings war schon kurz darauf wieder in München aufgetaucht, hatte Maus angefunkt, ihm berichtet, dass in der Anderswelt alles so weit ganz gut laufen würde. Aber natürlich war sie nicht zum Plaudern gekommen. Sie stellte auch die eine Frage, die sie gar nicht hätte stellen müssen. Denn natürlich waren Viktoria und er bereit, weiter nach Verwandelten zu suchen, nach Alben, die vor der Verfolgung fliehen wollten - und verzweifelt genug waren, mit in die Anderswelt zu gehen.

Maus war dabei natürlich klar, dass Zeit ein kritischer Faktor war. Sardrowain war glücklicherweise gerade im Nachteil. Er hatte mit van den Berg seinen besten Kontakt in die Welt der Menschen verloren und war deshalb im Moment wohl kaum in der Lage, weitere Verwandelte zu rekrutieren. Maus musste deshalb versuchen, so viele wie möglich vor ihm zu „erwischen“ - und zwar schnell. Was nicht so einfach war. Denn schließlich musste er sich jetzt nicht mehr nur vor potenziellen Sardrowain-Lakaien in Acht nehmen, sondern vor allem auch vor den Behörden. Die Hatz auf „Gefährder“, zu denen neuerdings alle zählten, deren Ohren spitz waren, hatte groteske Züge angenommen. Solche, die an Zeiten erinnerten, von denen Maus bis vor Kurzem gedacht hatte, dass zivilisierte Europäer sie überwunden hätten.

Edwin mochte ein übler Kerl sein. Aber er war verdammt gut als Spürhund. Er holte Verwandelte aus den Löchern, in die sie sich verkrochen hatten. Wenn auch gelegentlich mit Methoden, die Maus zum Kotzen fand.

„Was wollen Sie von uns? Was müssen wir für Sie tun?“ Die Stimme der Frau bebte, während sie das sagte. „Was auch immer es ist. Ihnen sollte klar sein, dass wir bei den Behörden nicht als Mutierte gemeldet sind. Das heißt, die Cops stecken uns schneller ins Gefängnis als wir ‚Wir haben nichts getan‘ sagen können. Aber ich schätze, das wissen Sie.“

Die Sonnenbrille auf ihrer Nase war in Schieflage geraten, was unter dem grellgelben Turban grotesk, beinahe lustig aussah. Maus allerdings war nicht zum Lachen zumute.

„Hat er das getan?“, fragte er. „Hat Edwin gesagt, er würde Sie verpfeifen, wenn Sie nicht mit ihm kämen?“

Die beiden Frauen nickten. Die mit dem gelben Turban um Nuancen energischer als die andere, die sich sonst nur schweigend in ihren Sitz kauerte. Auch sie war mit einer Sonnenbrille maskiert. Und mit einem dunkelblau und grün gestreiften Wickeltuch um den Kopf herum, was auch nicht eben elegant wirkte.

„Also sagen Sie uns, was wir tun sollen!“, sagte die Energischere mit dem gelben Turban. „Etwas, dass nur wir Mutierte tun können, vermute ich mal. Ist es illegal? Kein Problem. Wir stehen ohnehin schon abseits aller Gesetze. Ob wir das nun wollen oder nicht.“ Sie lächelte bitter. „Ich bin eigentlich Astrophysikerin, Silke Grundschullehrerin. Es sind aber wohl kaum unsere beruflichen Fähigkeiten, auf die Sie aus sind, oder?“

„Ihr wollt wissen, was Ihr für uns tun könnt? Entspannt Euch erst mal!“ Viktoria. Sie war urplötzlich im Türrahmen erschienen, blickte die Neuankömmlinge mit ihren großen, wachen Augen durch die altmodische Hornbrille an, was irgendwie einnehmend wirkte. Jedenfalls kam es Maus so vor, was möglicherweise auch daran lag, dass er Viktoria seit Jahren hoffnungslos verfallen war. Denn „einnehmend“ war ein Attribut, dass außer ihm die wenigsten mit seiner Freundin in Verbindung brachten. Schließlich war sie nicht gerade für ihr diplomatisches Geschick berühmt. Eher für herbe Spitzen und Frotzeleien.

Diesmal allerdings schien sie den richtigen Ton getroffen zu haben. Die Astrophysikerin jedenfalls nahm ihre Sonnenbrille ab und sah Viktoria neugierig an. Die Iris ihrer Augen war hellbraun, beinahe orangefarben. Selbst für albische Verhältnisse war das ungewöhnlich. Auf Maus wirkte die Verwandelte auf den ersten Blick wie eine Puppe, der man zwei Ovale aus Bernstein eingepflanzt hatte. Dabei hatte ihr Gesicht bei näherer Betrachtung nicht wirklich etwas von einer Puppe. Es war markant, mit kantigen Zügen und einer ausgeprägten Nase - nicht hässlich, aber eben auch nicht liebreizend. Es gehörte einer Frau, die unter normalen Umständen wohl genau wusste, was sie wollte. Aber die Umstände waren nicht normal, sondern meilenweit davon entfernt.

„Wir haben euch nicht geholt, um euch auszunutzen“, sagte Viktoria. „Wir wollen euch helfen, haben ein paar Antworten für euch und geben euch nebenbei die Chance, aus dem Schlamassel hier zu verschwinden. Wenn ihr darauf Bock habt, natürlich nur.“

„Ja“, bestätigte Maus. „Wobei wir nicht ernsthaft versprechen können, dass euch in allen Details gefällt, was wir anzubieten haben.“

Die Astrophysikerin mit den hellbraunen Augen und dem grellgelben Turban sagte einen Moment lang gar nichts. Ihr Blick wanderte ein paarmal zwischen Viktoria und Maus hin und her. Allerdings schien sie sich tatsächlich ein wenig entspannt zu haben - anders als die immer noch vor sich hinbibbernde Frau namens Silke neben ihr.

„Ich bin übrigens Kristin“, sagte sie dann. „Und ihr habt meine volle Aufmerksamkeit.“

Kristin glaubte an die Gravitationsgesetze, an den Durchbruch der Quantenfeldtheorie, meinetwegen auch an dunkele Materie und die Krümmung von Raum und Zeit. Das, was sie dagegen in den letzten Stunden von Maus und Viktoria gehört hatte, war verglichen damit absurd. Nein, es wäre absurd gewesen, wenn nicht trotzdem so vieles dafür gesprochen hätte. Das Lichtvolk der Alben. Ein steinalter Verwandlungszauber. Ein mystischer Krieg, der noch immer andauerte. Die Anderswelt. Aber halt! An dieser Stelle hatte Kristin nun aber wirklich Bauchschmerzen. Denn was bitte sollte das sein? Rein wissenschaftlich betrachtet. Eine der zusätzlichen Dimensionen, von der die Superstring-Theorie ausgeht? Eine, die sich den Menschen bisher nur noch nicht erschlossen hatte, weil sie nicht wahrnehmbar war? Oder sogar ein waschechtes Paralleluniversum? Kristin kannte natürlich die „Viele-Welten-Interpretation“ der Quantenmechanik. Sie sagte aus, dass alle möglichen Vergangenheiten und Zukünfte ein real existierendes Universum darstellten. Die Star-Trek-Macher hatten sich aus dieser Theorie mehr als einmal bedient. Hatten die Alben ernsthaft den Zugang zu einer parallelen Welt entdeckt?

Unmöglich! Das waren wilde Fantastereien, mit denen Kristins bodenständiger Geist noch nie etwas hatte anfangen können.

Nein, es gab eine Erklärung für die Anderswelt, wie für alles andere auch. Vielleicht eine, die dem, was Kristin passiert war, sogar einen Sinn geben konnte.

Vor weniger als zwei Jahren war sie noch ein normaler Mensch gewesen, hatte einen vernünftig bezahlten Job an der Technischen Universität, eine Mitgliedschaft im Fitness-Klub um die Ecke und Karl, von dem sie damals noch geglaubt hatte, sie würde ihn sehr bald heiraten. Karl war inzwischen Geschichte, ebenso wie alles andere in ihrem Leben. Jetzt hatte sie spitze Ohren, helle Augen, konnte rennen wie eine Gazelle und stand unter Terror-Generalverdacht. Das vorsichtige Misstrauen, mit dem die Normalos anfangs den Mutanten begegnet waren, hatte Kristin ja noch einigermaßen nachvollziehen können. Jetzt allerdings taten alle so, als hätte jedes Spitzohr höchstpersönlich die Bombe in Frankfurt gezündet - oder was auch immer das war, was die halbe Innenstadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Dabei war Kristin seit 15 Jahren nicht mehr in Frankfurt gewesen. Sie interessierte sich für Umlaufbahnen, Raketenstarts, Schwarze Löcher und Neutronen-Sterne. Nicht für Politik und schon gar nicht für Weltverschwörungen. Im Übrigen auch nicht für Fabelwesen. Scheiße. Sie war eines. Eine Albin. Ein Lichtwesen mit angeblich magischen Kräften.

Aber immerhin wusste sie das jetzt. Das war doch etwas, womit man arbeiten konnte. Es half Kristin. Bei Silke allerdings hatte auch das keinen Unterschied gemacht. Ihre Begleiterin war psychisch völlig am Ende. Auch nachdem Maus und Viktoria mit ihren Erläuterungen fertig waren über das Albendasein im Allgemeinen und die Reise in die Anderswelt im Speziellen, hatte das bei der stillen, zierlichen Frau wenig ausgelöst. Nur mit Mühe war sie dazu zu bewegen gewesen, ihr Tuch und ihre Sonnenbrille abzunehmen. Silke war vielleicht mal eine gute Lehrerin gewesen. Jetzt aber fehlte ihr die Sicherheit einer vertrauten Welt. Grübelnd spielte sie immer wieder an ihren dünnen, blonden Haaren herum, massierte die Wangen ihres beinahe kindlich wirkenden Gesichtes, und schien kaum noch zu verfolgen, was um sie herum passierte. Auch die unglaublichste Erkenntnis hatte offenbar keinerlei Bedeutung für sie, solange es keinen Rückwärtsgang gab, der sie in ihr altes Leben brachte. Silke würde trotzdem in die Anderswelt mitkommen. Da war sich Kristin so gut wie sicher. Denn das Schicksal hatte sie zur teilnahmslosen Mitläuferin gemacht. Um mehr zu sein, hatte sie wohl keine Kraft mehr.

Und dass sie in die andere Welt gehen würden, das stand für Kristin fest - trotz Viktorias sicher nett gemeinter Warnung: „Es gibt dort weder Shopping-Zentren noch freies WLAN, dafür zwei Meter große Monster und es wird an allen Ecken und Enden gekämpft. Eigentlich eine ziemlich beschissene Wahl.“

„Aber“, hatte Maus betont und seiner Freundin dabei einen strafenden Blick zugeworfen. „Ihr werdet dort immerhin nicht eingesperrt, nur weil ihr spitze Ohren habt. Alben, die älter sind als das Kolosseum von Rom, werden sich dort um euch kümmern. Und: In der Anderswelt gibt es viele Verwandelte, die Ähnliches mitgemacht haben wie ihr.“

„Es ist allein eure Entscheidung“, hatte Viktoria ergänzt. „Ich würde es jedenfalls machen, wenn ich eine Albin wäre.“

Gute Argumente, fand Kristin. Vor allem der Aspekt mit dem Nicht-Eingesperrt-Werden gefiel ihr. Außerdem war sie neugierig. Eine fremde Welt, von der Wissenschaft noch völlig unerforscht? War es nicht das, wofür sie vor langer Zeit Astrophysikerin geworden war? Was hatte sie also schon zu verlieren?

Im Moment allerdings sah es hier so gar nicht nach Abenteuer aus. Maus und Viktoria hatten sie in den Münchner Norden gebracht. Jetzt stapften sie mitten in der Nacht durch das finstere Dickicht der Isar-Auen, stolperten über Wurzeln, passierten stinkende Ecken, in denen sich Besoffene offenbar erleichtert hatten. Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit verkündete Maus plötzlich: „Wir sind da.“

„Wir sind ... wo?“, blaffte Kristin genervt zurück und zupfte sich den bescheuerten Turban zurecht, unter dem sie ihre Ohren wieder einmal versteckte. War sie vielleicht am Ende doch einem durchgeknallten Sektarier auf den Leim gegangen? Alben. Die Anderswelt. Wie angenehm wissenschaftlich war es dagegen, ein Mutant zu sein. Aber dann passierte etwas, das ihre Zweifel auf Schlag in Luft auflöste.

Vor ihnen an einer lichten Stelle brannte sich auf einmal ein grelles Kreuz in die Dunkelheit, als würden zwei unsichtbare Jedi-Ritter ihre Lichtschwerter kreuzen. Aus der Mitte löste sich gleich darauf eine weitere Linie aus brennendem Licht, bewegte sich stetig auf den Boden zu. Dort angekommen, teilte sich die Linie, driftete auseinander, öffnete sich zu einem bestimmt drei Meter hohen Lichtkreis, in dessen Innerem nun eine blutrote, undurchsichtige Nebelwolke waberte. Kristin hatte keine Ahnung, mit was zum Teufel sie es hier zu tun hatte. Nur in einem Punkt war sie sich sicher: Feuerwerk war das nicht.

Silke schrie neben ihr auf, als sich aus der Waberwolke eine Gestalt löste. Sie war plötzlich da. Einfach so. Ohne sich auch nur einen feuchten Dreck um die Gesetzmäßigkeiten der Physik zu scheren. Die Gestalt war ein Verwandelter. Ein Mann. Um die 30 vielleicht. Schlank, gut aussehend, hellgraue Augen. Sein Blick hatte etwas, das ihr gefiel. Irgendwas zwischen Gentleman und Haudegen. Er lächelte und strahlte dabei erfrischend viel Sicherheit aus. Kristin mochte ihn sofort.

„Hi. Ich bin Ben“, stellte er sich vor. „Habt ihr Lust auf eine richtig abgefahrene Reise?“

Silke stöhnte leise auf und Kristin befürchtete, dass sie gleich kollabieren würde.

Immerhin zwei, dachte Ben. Er wusste, wie schwer es Viktoria und Maus inzwischen hatten, Verwandelte zu finden. Solche, die noch nicht in „Untersuchungshaft“ saßen, auf Schritt und Tritt überwacht wurden oder bereit waren, ihr vermeintlich sicheres Versteck zu verlassen. Immerhin zwei. Wobei eine davon eher so aussah, als würde sie sich lieber unter einem Stein verkriechen, als mit ihm in die Anderswelt zu kommen. Aber dazu war es jetzt wohl zu spät.

„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte er, um die zitternde, blasse Frau zu beruhigen. „Ein bisschen wie Achterbahn vielleicht.“ Es funktionierte nicht.

„Silke wird mitkommen“, sagte die andere Frau. „Sie hat Angst, aber sie kommt mit. Für sie ist alles besser, als alleine gelassen zu werden.“

Ben nickte. Er wusste, wie es sich anfühlte, von einem Tag auf den anderen kein Mensch mehr zu sein. Er hatte das alles selbst durchgemacht. Sein Glück war damals allerdings gewesen, dass er das Menschsein ohnehin reichlich sattgehabt hatte. Das machte einen Unterschied, denn mit der Verwandlung hatte sich sein Leben nicht wirklich verschlechtert. Im Gegenteil.

Bei Silke war das ganz offensichtlich anders. Natürlich. Wie so viele Verwandelte hatte sie als Mensch eine Existenz gehabt, eine Familie vielleicht, einen Job, Alltag, Sicherheit. All das lag jetzt in Trümmern. Nicht jeder kam damit klar. Ben hoffte inständig, dass es ihr in der Anderswelt besser gehen würde - immerhin ohne die ständige Angst festgenommen oder vermöbelt zu werden. Aber wie konnte er da sicher sein? Ein Hort des Friedens war die Anderswelt nämlich auch nicht gerade.

„Alles im grünen Bereich bei euch, Alter?“, fragte Maus.

„Jep. So grün, wie es eben sein kann. Mal den Umstand beiseitegelassen, dass es dort keine Computer und Burgertempel gibt, würde dir Galandwyn gefallen. Geysbin glaubt allerdings, dass uns Sardrowain nicht mehr lange in Ruhe lassen wird. Er hat den Osten der Anderswelt erobert und wird wohl gerade etwas übermütig. Vermutlich nervt ihn auch, dass er keinen direkten Draht mehr zu den Menschen hat.“

Ben sah in Maus‘ grinsendes Gesicht. Dass van den Berg, der zweitausend Jahre alte Druidenhäuptling, nicht mehr existierte, war immerhin etwas, das sie erreicht hatten. Ein Stachel im Fleisch des Despoten, wenn man so wollte. Klar, dass ihn das ärgerte.

„Wir müssen gehen“, sagte Ben und sah dabei die beiden Verwandelten auffordernd an. „Der Übergang darf nicht lange offenbleiben. So eindrucksvoll er als Lichtspektakel auch ist. Besser wir sind durch, bevor ihn jemand entdeckt. Das gilt übrigens für beide Welten.

Die Mutigere der beiden Verwandelten nickte, packte Silke an der Hand und trat neben Ben.

„Wir sehen uns“, sagte Maus. „Liebe Grüße an die anderen Kinder!“, fügte Viktoria hinzu. „Und feiert nicht zu viel!“

Ben winkte, dann wandte er sich dem Übergang zu. Augenblicke später waren er und die beiden Frauen darin verschwunden.

Auf der anderen Seite wurden sie auf direktem Weg in die Hölle gespuckt. Nichts, aber auch gar nichts hatte Ben darauf vorbereitet. Als Gintwain nur Minuten vorher den Übergang für ihn geöffnet hatte, war es hier noch so ruhig gewesen wie in der Kaffeeküche einer Seniorenresidenz. Etwa hundert Alben, darunter auch eine Gruppe Verwandelter, hatten im Licht der Dämmerung den Übergang gesichert, hatten sich hinter den schulterhohen Wällen positioniert, die vor ein paar Wochen hier aufgeschüttet worden waren. Oder auf einem der erhöhten Schießstände, die im Abstand von zwanzig Metern rund um den Übergang angelegt waren – mit Ausnahme der Südseite. Die musste nicht geschützt werden, weil das Dickicht aus meterdicken Bäumen und stacheligen Büschen hier undurchdringbar war. Aber verflucht! Was heißt hier schon sichern? Niemand hatte ernsthaft mit einem Angriff gerechnet. Sardrowains Truppen waren weit weg. Jedenfalls hatte das Ben geglaubt. Bis zu dem Moment, in dem sich Ben und seine beiden Begleiterinnen mitten in der Hölle materialisiert hatten. Bolzen flogen, schnitten sirrend durch die Luft, töteten. Männer und Frauen schrien, gingen verletzt zu Boden, zerbarsten zu Staub. Bens Wahrnehmung schaltete augenblicklich auf Zeitlupe, so wie sie es immer tat, wenn es gefährlich wurde. Und verdammt noch mal: Das hier war gefährlich! Ben sah, dass die Soldaten San‘tweynas gerade die Wälle überrannten, die Kriegerinnen und Krieger Galandwyns reihenweise mit Schwertern oder Speeren niedermachten. Und sie stürmten geradewegs auf den Übergang zu – auf ihn und die beiden Frauen. Wieder surrten Armbrustbolzen. Auch, wenn die meisten rennend abgefeuert wurden und deshalb schlecht gezielt waren: Ihre schiere Masse machte es nur zu einer Frage der Zeit, bis einer von ihnen treffen würde. Ben streckte die Arme aus und ließ die Kraft des Lichts aus seinem Körper fluten.

„Bleibt dicht hinter mir!“, rief er den beiden Frauen zu und erkannte im Augenwinkel, wie die Mutigere Silke packte und in seinen Windschatten zerrte. Ein flimmernder, durchsichtiger Schirm spannte sich vor Ben auf. Bolzen prallten dagegen, glitten davon ab, fuhren berstend in den Boden. Er spürte die Wucht jedes einzelnen Schlags. Jedes Mal, wenn er einen der vielen sicheren Treffer abwehrte, fraß es etwas von seiner Kraft auf.

Eine der Verwandelten kreischte hysterisch auf. Ben sah nicht, was hinter ihm passierte, aber er ahnte, dass es Silke war und dass sie die Nerven nun völlig verloren hatte. Scheiße. Lange würde das nicht gut gehen.

„Nicht, Silke!“, schrie die andere Verwandelte. „Du bleibst bei mir! Hörst du?“

Eine Gestalt löste sich aus dem wabernden Schutzschild, den Ben allzu hektisch aufgebaut hatte. Er dachte daran, den Schild zu erweitern, die Verwandelte mit seiner Kraft irgendwie wieder einzufangen. Aber das schaffte er nicht.

Es war zu spät. Ein Bolzen fuhr Silke durch die Schulter, hinterließ eine klaffende Wunde. Einen kurzen Moment blieb sie verblüfft stehen. Dann beendete ein weiterer Treffer in den Kopf ihre Flucht vollends. Silke zerfiel zu silbernem Staub.

Es gab signifikant viele Dinge, wegen der Kristin hätte verblüfft sein müssen: die albischen Soldaten in den seltsamen mittelalterlichen Uniformen. Die Tatsache, dass diese wie verrückt auf sie schossen und losstürmten. Der unsichtbare Schutzschirm, den der nette Typ namens Ben herbeigezaubert hatte. Silkes Verwandlung in einen Haufen Silberstaub. Am meisten verblüffte Kristin allerdings, dass sie dabei einigermaßen cool blieb. Sie nahm hin, was da passierte. Es war nicht so, dass es ihr egal war. Sie hatte absolut keine Lust, zu sterben. Immer noch nicht. Aber auf eine seltsame Weise empfand sie den ganzen Wahnsinn, der gerade um sie herum tobte, als passend. Wenn schon Fabelwesen, dann mit aller Konsequenz. Was hatte sie erwartet? Dass ein Zollbeamter freundlich auf sie zukam, ihren Pass verlangte und sie auf die Einreisebestimmungen in die Anderswelt hinwies?

Aber war das alles auch echt? Oder hatte sie vielleicht nur zu viel von der roten Blubberwolke eingeatmet, die in diesem komischen Portal waberte, das sich in den Isarauen geöffnet hatte?

„Bleib dicht hinter mir, ...! Wie heißt du eigentlich?“, fragte Ben. Er sagte das so ruhig wie möglich. Kristin merkte ihm allerdings an, dass es ihn unheimlich viel Kraft kostete, diesen Schutzschild aufrechtzuerhalten. Ständig prasselten kleine Pfeile auf ihn ein. Und dann rannten auch noch Soldaten mit Schwertern und Spießen auf sie zu.

„Kristin“, antwortete sie. „Pass auf den da mit dem Überbiss auf!“

Mit beinahe fanatischem Blick stürmte der Kerl auf sie zu, mit einem Spieß in den Händen, der direkt auf sie zielte. Ben sah ihn, machte mit der rechten Hand eine Wischbewegung. Im gleichen Moment traf den Soldaten so etwas wie ein unsichtbarer Schlag, der seinen Angriff mit Wucht stoppte und ihn zur Seite warf.

„Treffer“, entfuhr es Kristin. Was sagte sie da eigentlich? Da war kein Spiel. Menschen starben. Oder eigentlich Alben.

„Ja“, sagte Ben. „Nur leider wird das nicht mehr lange gut gehen. Kannst du erkennen, ob der Übergang noch offen ist? Ich schätze, bei Maus und Viktoria ist es jetzt gerade etwas sicherer.“

Kristin sah sich um. „Der ist weg.“

„Scheiße“, fluchte Ben und warf mit seiner unsichtbaren Kraft zwei weitere Angreifer aus den Latschen. Dabei stöhnte er allerdings so laut, dass Kristin nicht davon ausging, dass er das mit allen so würde machen können, die gerade nach ihrem Leben trachteten. Und nun hatte auch sie richtig Angst. Das hier würde kein gutes Ende nehmen. Vielleicht wäre sie in einem deutschen Untersuchungsgefängnis doch besser aufgehoben gewesen.

Dann aber kam die „Kavallerie“. Und wieder wunderte sich Kristin, dass sie nicht ansatzweise so verblüfft war, wie sie es hätte sein müssen. Denn die „Kavallerie“ war eine wilde Horde von Ungeheuern. Diese Kreaturen liefen zwar aufrecht auf zwei Beinen, allerdings hatten sie wuchtige Körper und Tierköpfe. Und keine Kreatur sah so aus wie die andere. Kristin kam es so vor, als hätte man die Einzelteile von Stieren, Pferden, Bären, Böcken und eben Menschen durcheinandergewürfelt und neu kombiniert. Minotaurus meets das Biest und wer weiß noch was. Das war unglaublich. Und es rettet ihnen das Leben. Denn die wilde Horde drängte die Angreifer innerhalb von Minuten zurück - zumindest diejenigen, die nicht von Knüppeln, Äxten oder Breitschwertern niedergemacht wurden. Wenige Minuten später war das Gemetzel vorbei - so plötzlich, wie es begonnen hatte.

Es war doch irgendwie immer dasselbe, dachte Maus und brummte mürrisch.

„Sag jetzt nichts, Dicker!“, sagte Viktoria, klang dabei aber auch nicht gerade euphorisch. Wie könnte sie auch? Es war kühl, stockdunkel und fing gerade an zu regnen. „Ich weiß genau, was dir gerade im Kopf herumspukt. Und weißt du, warum?“

„Hm?“, hakte Maus nach.

„Weil es immer derselbe Gedanke ist, der wie ein Flummi zwischen deinen Schädelwänden hin und herdötzt. Immer dann, wenn wir gerade eine Fuhre in die Anderswelt abgeliefert haben und danach mitten in der Nacht in zielsicher der Gegend Münchens unterwegs sind, in der man besser nicht alleine unterwegs ist.“

„Ich mein ja bloß. Ben und die beiden spitzohrigen Ladys werden da drüben vermutlich mit großem Helau und Häppchen empfangen, während wir uns hier unberechenbaren Gefahren aussetzen. Es sind ja nicht nur die Behörden und Sardrowains Gefolgsleute. Hier tummelt sich allerlei lichtscheues Gesindel.“

„Na na. Du wirst mir doch jetzt nicht erzählen wollen, dass du an Geister und Vampire glaubst.“

„Mach dich nicht lächerlich, Süße! Zaubernde Albenmeister, Minotauren und rätselhafte Portale in andere Welten sind ja wohl eine Selbstverständlichkeit. Aber wer bitteschön glaubt schon an Geister und Vampire?“ Er lachte auf und schaffte es, dabei ein wenig hysterisch zu klingen.

Zum Glück spuckte sie das Dickicht der Isarauen gerade wieder aus. Wenigstens das. Noch zwei Straßen weiter, dann würden sie am Auto sein.

„Mann, Dicker. Was soll ich sagen? Dass ich mich besonders wohl dabei fühle, kann ich auch nicht eben behaupten. Aber ich sag nur drei Worte.“

Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.

„Nämlich?“, drängte Maus etwas genervt.

„Es ist verdammt wichtig!“

„Das waren vier Worte.“

„Scheißegal. Mit dem ’verdammt' habe ich improvisiert. Das zählt nicht.“

Maus grinste frech. „Quatsch. Du hast dich verzählt.“

„Hab ich nicht. Ich werde ja wohl noch bis vier zählen können.“

„Du hast dich verzählt“, wiederholte Maus und gab dem ’verzählt' dabei eine schadenfrohe Melodie - so, als käme es von einem frechen Bengel auf dem Hof einer Grundschule.

Viktoria versetzte ihm einen Knuff gegen den Oberarm, grinste jetzt aber auch.

„Du bist ein total nerviger Drecksack, Maus. Und ich hab dich lieb.“

„Danke, ich dich auch“, sagte Maus und machte urplötzlich halt. Sie waren gerade um die Ecke gebogen und blickten nun in eine Straße, wie es Hunderte in diesen typischen alten Wohngebieten der 60er Jahre gab. Verklinkerte Mauern, Holzfenster, von denen die Farbe abblätterte, Mini-Vorgärten, teils verwahrlost, teils pedantisch gepflegt. Maus hatte schon bei ihrer Ankunft eine hohe Dichte an Gartenzwergen festgestellt. Aber das war es natürlich nicht, was ihn gerade erschreckt hatte. Es waren die vier jungen Männer, die ganz in der Nähe seines alten Toyotas abhingen. Zwei saßen auf dem Randstein, rollten mit den Füßen zwei der vielen kleinen leeren Flaschen in der Rinne hin und her. Die anderen beiden standen sich gegenüber und unterhielten sich leise und rauchten dazu zwei Zigaretten. Sie trugen zerschlissene Jeans, T-Shirts, die Plattencover von weniger bekannten Heavy-Metal-Bands zeigten. Ihre lausig gestochenen Tattoos auf den Unterarmen zeigten Totenköpfe, Schlangen und Sprüche, die Maus gar nicht lesen wollte.

Es hatte keinen Zweck, sich das schönzureden. Die vier Kerle waren nicht auf dem friedlichen Heimweg vom Bibelkreis. Sie waren knülle und hatten das gelangweilte Hirn voller zorniger Gedanken. Einen Moment lang überlegte Maus, in welche Gruppe der vorhin diskutierten unliebsamen Begegnungen die vier passten. Für die Behörden arbeiteten sie nicht. So viel war klar. Für Sardrowain vermutlich auch nicht. Sie lauerten ihnen nicht absichtlich auf. Sie gehörten in die dritte Schublade: lichtscheues Gesindel - wenn auch nicht wirklich Geister und Vampire.

„Doch nicht so alleine hier“, murmelte Viktoria und ging so wie Maus langsam weiter auf das Auto zu. Er hoffte, dass die vier Kerle sie einfach in Ruhe lassen würden. Aber das taten sie natürlich nicht.

„Oh, was für ein liebes, schönes Scheiß-Pärchen!“, blaffte der Erste und grinste doof. Die zwei Sitzenden standen auf, schwankten dabei bedenklich.

„Schön“, lallte ein anderer, dessen viel zu kleiner Kopf unter einer speckigen, roten Kappe steckte. „Ihr habt euch aber eine beschissene Gegend für nen Mondscheinspaziergang rausgesucht. Ist unser Territorium.“

„Echt?“, fragte der Dritte und erntete höhnisches Gelächter.

„Klar“, bestätigte dann wieder der mit der roten Kappe. „Kostet euch was. Zufälligerweise genau so viel, wie ihr gerade dabeihabt.“ Wieder dummes Gelächter.

Die vier bauten sich breitbeinig vor Viktoria und Maus auf. Die meinten es ernst. Und erfüllten dabei so ziemlich alle Klischees, die Maus aus billigen Filmen kannte. Das Ding war nur: Maus hatte keinen Bock. Dafür hatte er in den letzten Monaten einfach zu viel mitgemacht.

„Jetzt ehrlich, Leute“, sagte er. „Ihr solltet euch mal anschauen. Harmlosen Bürgern auflauern und Geld abknöpfen? Das ist grotesk. Sorry, ich würde ja gerne ein Wort nehmen, das ihr auch versteht. Es gibt nur leider kein treffenderes.“

Die vier Kerle schauten sich ein wenig verwirrt an.

„Spinnt der Monster-Arsch?“, fragte einer von denen, die bisher noch nichts gesagt hatten, und sah dabei seine Kumpels Hilfe suchend an. Er konnte wohl noch immer nicht so ganz einordnen, warum sein Gegenüber mit Fremdwörtern um sich warf, anstatt panisch in seiner Umhängetasche nach Geld zu wühlen.

Viktoria ging es da offenbar nicht viel anders.

„Maus. Ich kann dein Bedürfnis nach Zoff nachvollziehen. Trotzdem glaube ich, dass die Variante mit dem Geld-rausrücken für uns besser ist.“

Höhnisches Gelächter.

„Maus!“, wiederholte der mit der roten Kappe. „Dein Mäuschen hat verdammt recht. Wäre echt gesünder für euch.“

Maus nickte verständnisvoll, öffnete den Reisverschluss seiner Umhängetasche und ließ die rechte Hand darin verschwinden.

„Leute, ich will echt keinen Ärger“, sagte er. „Und ihr wollt einerseits Geld, andererseits weiterleben, unterstelle ich mal.“

Jetzt holte er die kleine Walther CCP hervor, die er von Natalie bekommen hatte - heimlich natürlich, denn Viktoria hatte nach dem Überfall auf Bens Anwesen im Chiemgau eine Abneigung gegen Schusswaffen entwickelt. Sie hätte ihm das Ding eiskalt abgenommen.

Zum Glück war sie cool genug, ihn in der gerade aktuellen Situation damit in Ruhe zu lassen.

„Scheiße“, schimpfte einer der Typen. „Mist“, ein anderer. Der mit der roten Kappe hob beschwichtigend die Hände und taumelte ein paar Schritte rückwärts.

„Ich schlage euch einen Deal vor“, sagte Maus und wunderte sich selbst darüber, wie herrlich sachlich seine Stimme dabei klang. „Ersten: Ich lass euch leben. Zweites: Ihr verzichtet dafür darauf, uns feige auszurauben. Was den dritten Punkt angeht, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ich rufe die Polizei und lasse euch einbuchten. Oder aber ihr arbeitet künftig für mich und bekommt sogar ehrliche Kohle dafür. Was wählt ihr?“

Der mit der roten Kappe überlegte nicht lange. Ihm war der Ernst der Lage offenbar ziemlich klar.

„Schon gut. Arbeiten, Alter. Aber steck das Ding weg!“

„Vergiss es!“, erwiderte Maus. „Damit würde ich ja meinen strategischen Vorteil bei unseren Verhandlungen aufgeben.“

Die vier Kerle nickten eifrig. Die nackte Angst stand ihnen in den Gesichtern.

„Also der Deal wäre der: Ihr sucht für mich nach Verwandelten, die sich versteckt halten. Für jeden, den ihr findet, gibt es 100 Euro.“

„Mutanten klatschen!“, jubelte einer. „Das ist geil!“

„Wenn ihr sie auch nur am Ohrläppchen zupft, gibt es keine Kohle, dafür mach ich euch den Ärger, den ihr verdient. Ihr sagt mir nur, wo ich sie finde, mehr nicht.“

„Geht klar“, sagte der mit der roten Kappe. „Hoffe, du bist richtig reich, Mann. Denn wenn jemand die guten Verstecke in der Stadt kennt, dann wir. Wie erreichen wir dich?“

„Gar nicht. Ich bin nicht so bescheuert, euch Halsabschneidern auch noch meine Adresse zu geben. Ich bekomme von euch einen Kontakt. Insta, What’s App, was ihr wollt. Und ich melde mich regelmäßig. Drauf könnt ihr eure hässlichen Tattoos verwetten.“

Keine zwei Minuten später saßen Viktoria und Maus im Auto auf dem Weg nach Hause. Sie schwiegen eine ganze Weile, dann machte Maus den Anfang.

„Tut mir leid, Süße. Ich hätte dir das mit der Walther sagen müssen.“

Viktoria lachte. „Kein Ding, Dicker. Ich hab längst mitbekommen, was du da in der Tasche hast.“

„Du hast ... was?“

„Klar. Bin ja nicht ganz blöd. Seit wann schleppst du spießige Umhängetaschen mit dir rum? Sagen wir: Ich war neugierig.“

Maus nickte. Alles klar, dachte er. Ihre Angst war offenbar größer als ihre Abneigung gegen Schusswaffen. Er fragte sich allerdings, ob das jetzt gut oder eher schlecht war.

„Larinil würde jetzt vermutlich so was sagen wie: Wir haben den Krieg nicht gesucht, aber er hat uns gefunden.“

„So etwas in der Art“, bestätigte Viktoria. „Vielleicht noch ein bisschen schwulstiger.“

„Jep.“

„Du warst übrigens gerade richtig gut, Dicker. Hat nur noch der Satz 'Nimmt das, ihr Finsterlinge' gefehlt. Richtig cool!“

„Danke“, sagte Maus und war erleichtert. Dann seufzte er.

„Süße. Wir machen das noch ein bisschen weiter. Ein bisschen jedenfalls noch. Aber Geysbin und die anderen sollten gefälligst schleunigst diesen albernen Krieg gewinnen.“

„Und dann?“, fragte Viktoria. In ihrer Stimme klang Hoffnung mit - so als wäre alles doch in Wahrheit ganz einfach.

„Dann geht es ab auf die Insel - für den ganzen Rest unserer irdischen Tage.“

Sieben Festungen

Kristin hatte schlecht geschlafen. Nein. Sie hatte genau genommen überhaupt nicht geschlafen. Ihr war natürlich inzwischen klar, dass Alben - und sie war schließlich eine von ihnen - viel weniger Schlaf brauchten als Menschen. Zwei bis drei Stunden pro Nacht reichten in ihrer neuen Existenz völlig. Dass sie aber in dieser Nacht überhaupt kein Auge zugetan hatte, sagte ihr vor allem eines: doch nicht so cool. Die Ereignisse des vergangenen Tages hatten ihre Spuren hinterlassen. Natürlich. Wie denn auch nicht? Silke war tot. Das traf sie, auch wenn Kristin nie wirklich zu ihr hatte durchdringen können. Dazu war Silke zu verschlossen gewesen, zu anders. Vermutlich wären sie auch in einer normalen Welt und in einem normalen Leben niemals Freundinnen geworden.

Aber nichts war schließlich normal. Sie waren beide Verwandelte. Leute, die man am liebsten zusammenschlug oder ins Gefängnis steckte. Oder beides. Das hatte sie verbunden. Kristin hatte sich für Silke verantwortlich gefühlt. Und jetzt war Silke tot. Ihr Leben ausgelöscht von albischen Soldaten mit Spießen und Armbrüsten in einer Welt, die abseits dessen existierte, was Kristin bisher als Realität verstanden hatte.

Ben hatte sich entschuldigt, nachdem sie die Ungeheuer, die er Gorgoils nannte, gerettet hatten. „Wir haben nicht mit einem Angriff gerechnet. Jedenfalls nicht hier und so bald.“

Wie surreal war das alles! Kristin musste an ein paar einschlägige Fantasyfilme denken. In „Narnia“ waren Kinder durch einen Kleiderschrank in eine Fantasiewelt gelaufen. Wissenschaftlich betrachtet natürlich völliger Unsinn. Aber von dem, was sie gerade hier erlebte, war es so weit nun auch wieder nicht weg. Eine Fantasiewelt? Vielleicht war das hier ja die Realität? Und ihr altes Leben, das ihr so unendlich weit weg erschien, war ein einziger Fake gewesen? Kristin hatte noch keine echte Idee, wie sie das alles einordnen und sortieren sollte. Es war eben alles surreal. Immer noch. Auch hier, wo sie jetzt war.

Ben, ein alter Mann namens Gintwain, ein paar andere Alben und diese Gorgoils hatten sie mit einem wolkenähnlichen Zeppelin in eine weiße Burg gebracht, die rund um die Spitze eines Berges gebaut war. Viel mehr hatte Kristin nicht erkennen können. Nur noch, dass die Burg spitze Türme, die rund um den Bau herum angeordnet waren. Und dass sie nicht das einzige Gebäude dieser Art auf Bergspitzen war. Galandwyn nannten Ben und Gintwain diesen Ort. Und sie betonten mehr als einmal, dass sie hier in Sicherheit war. Jetzt aber auch wirklich. Kristin hatte trotzdem nicht schlafen können.

Es klopfte an die Tür der kleinen Kammer, in die Ben sie am Abend davor gebracht hatte. Alles darin war schneeweiß und irgendwie verschnörkelt. Das weiche Bett mit den bestickten Kissen und Decken. Der Beistelltisch mit seinen schlanken geschwungenen Beinen. Und natürlich auch die Wände, die Decke und der Boden. Steril wirkte der Raum zwar trotzdem nicht. Aber auch nicht wirklich gemütlich. Sollte das ihr neues Zuhause sein? Dann hätte sie ein paar entschiedene Wünsche an das Hotel-Management. Aber vielleicht klopfte das ja gerade an.

„Ja bitte!“, sagte Kristin und fragte sich, ob man das in dieser Welt wohl so machte. Eine sehr hübsche schwarzhaarige Frau betrat die Kammer. Sie sah freundlich aus, irgendwie einnehmend. Die Züge ihres Gesichtes waren weich, ihre Augen wach. Wenn man genauer hinsah, erkannte man aber auch eine gewisse Härte und Entschlossenheit in ihnen. Was Kristin aber am meisten wunderte: Diese Frau hatte weder spitze Ohren noch helle Augen. Sie war ein Mensch.

„Hi Kristin. Ich bin Natalie. Hast du ein bisschen schlafen können?“

„Nicht wirklich“, antwortete Kristin wahrheitsgemäß. „Weiß auch nicht, warum. Jetlag vielleicht?“

Natalie grinste. Gut. Wenigstens jemand, der mit ihrem direkten Humor etwas anfangen konnte.

„Darf ich mich setzen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, zog Natalie den einzigen Stuhl in der Kammer an Kristins Bett heran und nahm darauf Platz. Kristin kam sich vor wie bei der Visite im Krankenhaus. Denn sie lag noch immer in den Federn und trug unter ihrer Decke ein weites, langes Nachthemd, das natürlich ebenfalls weiß war. Dass Natalie Jeans, einen dunkelblauen Wollpulli und Sneakers trug, machte ihr Hoffnung. Denn immerhin bedeutet das, dass auch sie in dieser zauberhaften Welt auf ihre gewohnte Kleidung nicht unbedingt verzichten musste.

„Therapie-Sitzung?“, fragte Kristin unumwunden.

Natalie grinste wieder und schüttelte den Kopf.

„Nee. Dafür wäre ich denkbar ungeeignet. Hab Geschichte studiert, nicht Psychologie.“

„Geschichte. Und? Hilft es dabei, diesen ganzen Irrsinn hier auf die Reihe zu bekommen?“

„Ja und nein. Nein, wenn ich ernsthaft davon ausgehen würde, dass es in den gängigen Lehrbüchern Antworten gäbe. Ja, wenn ich mir ein paar der aufgeschriebenen Details genauer anschaue. Denn einige Quellen kommen der Wahrheit erstaunlich nahe. Wenn man diese im Kontext dessen, was ich erlebt habe, neu interpretiert, dann wird es spannend.“

Kristin hob skeptisch die Augenbrauen.

„Fabelwesen mit spitzen Ohren und hellen Augen?“

„Babylon, Ägypten, Griechenland, Kelten, Rom. Überall. Die Isländer verlegen noch heute Straßen, wenn sie glauben, ein Elfenhügel ist im Weg. Das Christentum hat in Europa viele der alten Überlieferungen dämonisiert. Ich schätze, das macht es den Menschen auch heute noch leichter, Böses in deinem Volk zu sehen.“

„Und was ist mit stierköpfigen Riesenviechern auf zwei Beinen?“

„Minotaurus. Im Labyrinth auf Kreta. Um nur das bekannteste Beispiel zu nennen. Hybridwesen gibt es aber auch in anderen Mythologien - angefangen mit denen der alten Sumerer.“

Kristin nickte stumm. Das war alles natürlich noch immer der blanke Irrsinn. Aber Natalies Erklärungen machten es auf einmal um Einiges greifbarer. Da waren sie wieder: wissenschaftliche Thesen und Ideen, denen man nachgehen konnte. Auch wenn sie ziemlich abenteuerlich klangen. Aber bitte sehr: Ist nicht auch Einstein verspottet worden, als er erstmals von der Krümmung von Raum und Zeit gesprochen hatte? Das hier war eben nur eine andere Fachrichtung. Allerdings:

„Die Anderswelt? Wo genau sind wir hier eigentlich?“

Natalie seufzte. „Danke für die Frage. Auch auf eine mystische Schattenwelt gibt es natürlich immer mal wieder Hinweise. Bei den Kelten zum Beispiel. Was nicht wundert, weil sie in der Antike den direktesten Draht zu den Alben hatten. Allerdings haben die Kelten uns leider nicht den Gefallen getan, irgendwas darüber aufzuschreiben. Deshalb ...“

Sie warf Kristin einen verschwörerischen Blick zu.

„Deshalb hoffe ich auf andere Quellen. Und darauf, dass wir selbst etwas darüber herausfinden.“

„Wir?“ Eben noch auf dem Schlachtfeld. Und schon inmitten einer wissenschaftlichen, interdisziplinären Feldstudie. Über eines konnte sich Kristin nicht beschweren: Langweilig war ihr neues Leben nicht.

Und Natalie war ihr außerdem sympathisch. Keine überflüssige Gefühlsduselei. Kein „Du wirst schon sehen. Es ist alles gar nicht so schlimm, wie es aussieht.“ Stattdessen gab es in Rekordzeit einen Forschungsauftrag. Kristin fand das gut. Sie wollte endlich wieder etwas tun, nicht nur davonrennen. Sie wollte Antworten statt immer nur neue Fragen.

„Ja, wir. Gesetzt den Fall, du hilfst mir dabei, Kristin. Habe gehört, dass du eine ziemlich gute Astro-Physikerin bist. Das könnte nützlich sein. Für diese Welt muss es eine Erklärung geben. Es gibt für alles eine Erklärung. Und wenn nicht, dann hat man sie nur noch nicht gefunden.“

Kristin grinste.

„Gut gesprochen. Gibt es eine Hypothese?“

„Negativ. Ich jedenfalls hab nicht den Hauch einer Ahnung, was die Anderswelt sein könnte. Es gibt hier aber einen steinalten Alben, der dabei gewesen ist, als dein Volk hier sesshaft geworden ist. Vor ein paar Tausend Jahren. Er heißt Geysbin. Weißes Haar. Sehr schlaue, verschwurbelte Sprüche. Der Merlin-Typ. Du wirst ihn mögen.“

Kristin sah sie empört an.

„Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm.“