Münchhausen - Karl Immermann - E-Book

Münchhausen E-Book

Karl Immermann

4,8

Beschreibung

Die Lügengeschichten des berümt-berüchtigten Baron von Münchhausen Weltliteratur eines Ausnahmekünstlers erleben! Zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur gehören dieses Werk mit anhaltendem und vielfältigem Einfluss auf die Literaturgeschichte – bis heute. Spannend und vielschichtig, tiefgründig und unterhaltend, informativ und faszinierend ist dieses Machwerk dieses Ausnahme-Schriftstellers.

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Karl Immermann

Münchhausen

Eine Geschichte in Arabesken

(1839)

Table of Contents

Karl Immermann

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Erster Teil

Erstes Buch

Münchhausens Debüt

Eilftes Kapitel

Worin der Freiherr seinen Abscheu vor dem Laster des Lügens nicht allein ausspricht, sondern auch betätigt

»Was für ein schändliches Laster ist das Lügen! Denn erstens kommt es leicht heraus, wenn einer zu arg flunkert, und zweitens kann jemand, der sich's angewöhnt hat, auch einmal die Wahrheit sprechen, und keiner glaubt sie ihm dann.

Daß mein Ahnherr, der Freiherr von Münchhausen auf Bodenwerder einmal in seinem Leben die Wahrheit sagte, und niemand ihm glauben wollte, das hat bei dreihundert Menschen das Leben gekostet.«

»Wie?« riefen der Baron und seine Tochter aus einem Munde.

»Geschätzte Freunde und liebe Wirte, mäßiget Euer Erstaunen«, versetzte der Gast, indem er, wie ein Kaninchen, die Nasenflügel zitternd bewegte, und mit den doppelfarbigen Augen zwinkerte. »Nichts natürlicher, als das. Hört nur zu. Der besagte Ahnherr war leider Gottes, wie Ihr wißt, ein ungemeiner und erschrecklicher Lügensack. Wer erinnert sich nicht der zwölf Enten, die er mit einem Stücke Schinkenspeck fing, nicht seines halbierten Rosses, welches in diesem Zustande der Halbheit dennoch eine Nachkommenschaft zu erzielen vermögend war, nicht des tollgewordnen Jagdpelzes, nicht der im Posthorn eingefrornen Töne, und - und - o! o! o! - -«

Das blaue Auge des Enkels weinte, sein braunes blitzte von tugendhaftem Zorne, er konnte nicht weiterreden. Dem alten Baron und seiner Tochter gelang es endlich, ihn zu beruhigen. Der edle Redner schluchzte noch ein weniges, dann fuhr er so fort: »Es ist meiner Treu recht schlecht von mir, daß ich von meinem in Gott ruhenden Ahnherrn Übles rede, aber ehrlich währt am längsten. Dieser Mensch und Lügner hat die historische Wahrheit auf Jahrhunderte hin vergiftet, und die nachgebornen Geschlechter gewissermaßen unter die Botmäßigkeit jedes Irrwahns gegeben, der seitdem in der Welt auftrat. Ja, um mich eines Gleichnisses aus einer seiner abgeschmackten Fabeln zu bedienen, es erging der Menschheit nachmals mit jedem falschen Propheten wie dem Bären, den der Ahnherr an die honigbeschmierte Wagenstange lockte, und der sich durch und durch auf selbige hinaufleckte. Denn es mochte den Leuten etwas noch so Unglaubliches vorgeschwätzt werden, sie riefen immer: ›Das muß wahr sein; Münchhausen hat ganz andre Sachen erfahren!‹ So leckten sich die Leute vor fünfzig bis sechzig Jahren auf den Eiszapfen der Aufklärung hinauf, und als sie mit Mühe und Not von diesem wieder heruntergeschroben waren, und die grimmige Erkältung noch in ihren Eingeweiden rasselte, da kamen die Franzosen und hielten ihnen den Freiheitsbaum vor, mit einer Mischung von Sirup und Kognak bestrichen, und die Narren leckten wieder so tapfer darauf los, daß sie bald alle mit Schmerzen an dem stachlichten Stamme festsaßen, und Napoleon mit leichter Mühe sie daran hinter sich herziehen konnte. Nun, diese Begeisterung nahm denn endlich auch ein Ende mit Schrecken und gegenwärtig...«

»Gegenwärtig?« fragte der Baron erwartungsvoll. »Gegenwärtig«, versetzte der Freiherr bedächtig, »werden so viele und verschiedenartige Stangen, Bäume und Zapfen, worunter sich auch einige Eisenschienen befinden, mit Honig bestrichen, daß sich noch nicht entscheiden läßt, welches dieser Fangmittel die meisten zu fesseln imstande sein werde.«

»Aber das Wort der Wahrheit, durch welches Ihr Ahnherr an die dreihundert Menschen tötete!« rief das Fräulein Emerentia sanft und dringend.

»Recht so, meine Gnädige«, erwiderte der Freiherr. »Allegorie und Phantasiespiele sind aus der Mode, gehören der Ramlerschen Zeit an; ›Stoff! Stoff! Stoff!‹ ruft die nach Realitäten hungrige Welt. Hier ist der meinige. Münchhausen, der Ahnherr, war trotz seines greulichen Lasters eine seltenbegabte Natur. Er hatte mit Cagliostro in Verbindung gestanden, zu seiner Zeit Gold gemacht, von der Sorte, die man Knallgold nennt, man versicherte, er höre, nicht im figürlichen, sondern im buchstäblichen Sinne, das Gras wachsen, kurz, er hatte tiefe Blicke in so manches Naturgeheimnis getan. Besonders war an ihm ein scharfes Ahnungsvermögen für eigne Körperzustände ausgebildet worden, und alles, was nachmals in diesem Betreff von nervösen oder somnambülen Personen erzählt worden ist, war Kleinigkeit gegen das, was glaubwürdige Gewährsmänner mir von ihm berichtet haben. Er wußte an sich selbst jede Befindensveränderung, wie die Homöopathen die Krankheiten nennen, vorauszuspüren, und trug, sozusagen, seine ganze somatische Zukunft, im Geruch vorgebildet, mit sich umher. Daß einer merkt, wenn ein Schnupfen bei ihm im Anzug ist, will nicht viel bedeuten; aber durch den Schnupfen hindurch die späteren Übel, die ihn noch betreffen sollen, zu merken, ist allerdings nicht jedem gegeben. ›Theophilus‹, sagte der Ahnherr eines Tages zu dem Manne, der mein Vater vor der Welt heißt, ›Theophilus, ich kriege morgen einen rechtschaffenen Schnupfen, wenn der vorüber ist, gibt's ein kaltes Fieberchen, und darnach wird der Rest der bösen Schärfe als Podagra in den rechten Fuß fahren.‹ Und richtig, so kam es. Er hatte durch den Schnupfen hindurch das kalte Fieber, durch dieses hindurch das Podagra an sich abgewittert.

Sie haben gewiß von jenem südamerikanischen Indianerstamme im Gebiete Apapurincasiquinitschchiquisaqua gehört?«

»A... pa... pu... rin...« buchstabierte der alte Baron. »Jawohl, jawohl haben wir von diesem Stamme gehört«, fuhr er nach einigem Besinnen fort. »Wer sollte auch davon nicht gehört haben!«

»Apapurincasiquinitschchiquisaqua«, flüsterte das Fräulein schwärmerisch vor sich hin.

»Dieser Indianerstamm«, sagte der Freiherr, »wohnt dreiundsechzigdreiviertel Meilen südlich vom Äquator auf einem Bergplateau zweitausendfünfhundert Fuß über der Meeresfläche. Von den schneeigten Piks der Cordilleras rings geschützt, leben jene Menschen ein einfaches Ur- und Naturleben hin. Nie suchte die Habsucht und Grausamkeit der Konquistadoren sie hinter ihren beschirmenden Felsenwällen heim. Bäume gibt es nicht auf Apapurincasiquinitschchiquisaqua wegen seiner hohen Lage, aber unendliche Flächen dehnen sich an den sonnebeschienenen Abhängen der Piks aus, smaragdgrün von einer Grasart, in deren breiten, fächerartigen Blättern der Westwind, welcher da beständig weht, ein melodisches Säuseln zu erwecken nicht müde wird. Zahlreiche Herden von pfirsichblütenen Kühen und Stieren, (so lieblich scherzt dort die Natur in Farben) weiden in den grünen Grasweiden; die feurigen Kälber sind goldgelb, erst nach und nach nehmen sie jenen kälteren Farbenton an. Dieses Rindvieh ist der einzige Reichtum der unschuldigen Apapurincasiquinitschchiquisaquaner. Sie leben fast nur von der sauren oder sogenannten Schlippermilch, welche ihre schönen Jungfrauen, vom Antlitz bis zu den Fußknöcheln tätowiert, mit den feinen, rot- und gelbbemalten Fingern den strotzenden Eutern der Kühe entziehn.«

»Ihr himmlischen Mächte, wie reizend!« sagte das Fräulein, in Gefühl schwelgend.

»Das heißt«, erinnerte der Baron, und rieb sich die Stirn, »aus den Eutern gewinnen sie süße Milch, und nachher machen sie den sauren Schlipper daraus.«

»Nein!« antwortete der Freiherr. »Der saure Schlipper kommt auf jenem glücklichen Bergplateau von der Kuh, und nur, wenn er lange gestanden hat, und dem Zustande der Verderbnis sich nähert, dann geht er in Süßigkeit über.«

»Hm! Hm! Hm! Ja... aber - -« murmelte der Alte und schüttelte den Kopf.

»Erstaunen Sie nicht, hören Sie mich ruhig aus. Ist nicht alles Ursprüngliche sauer? Wie schmeckt die wilde und unverbildete Kastanie? Kannst du in den jugendgrünen Apfel beißen, ohne das Gesicht verzerren zu müssen, oder in die kindliche harte Pflaume? Geben Trauben, die der buhlerische Strahl der Sonne noch nicht um ihre Unschuld betrog, etwas anderes, als Essig? Pindar singt: Das Fürnehmste ist Wasser; ich aber sage: Das Ursprüngliche ist sauer.«

»O, das Ursprüngliche!« seufzte Emerentia.

»Sauer ist daher die Milch jener Natur-Kühe. Alle Haustiere verlieren bekanntlich durch den Umgang mit Menschen viel von ihrer ursprünglichen Ausstattung; Hund und Katze, die in der Wildnis zottige, energische Bestien sind, werden in unsern Stuben kleine glatte Schmeichler, und so gibt denn auch unser Hornvieh, weil es in alle Widersprüche abschwächender Kultur mit einging, einen Saft, von welchem wir zwar glauben, er sei das Ergebnis unverstimmter Kräfte, welcher aber gleichwohl in seiner süßen Schlaffheit nur die herabgekommne Konstitution der zahmen oder Kunst-Kuh anzeigt. Erst wenn diese sogenannte süße, eigentlich aber entnervte Milch eine Zeitlang gestanden hat, besinnt sie sich wieder auf ihre verscherzte Ursprünglichkeit, fährt in Reue und Scham zu den klaren Molken und dem gehaltvollen Schlipper auseinander, den die Leute in Niedersachsen auch wohl Waddicke nennen, und nun, in diesem biedern Zustande, wird sie von allen reinen Seelen in der holden Einsamkeit eines bäuerlichen Düngerhofes mit Wollust verschlürft. Aber Reue ist keine Unschuld, und unsre Schlippermilch nicht die, welche auf den Höhen von Apapurincasiquinitschchiquisaqua warm von der Kuh gezogen wird. - O tränke wieder jeder deutsche Mann saure Milch...«

»Und rauchte dazu seine Pfeife Tobak...«, fiel der alte Baron mit Wärme ein.

»... ginge dann zwischen Gemüsebeeten auf und nieder spazieren!...« rief der Freiherr.

»Und hörte nichts, als: Alle neun! oder Sandhase! von der benachbarten Kegelbahn -« seufzte der alte Baron.

»Dann wäre Germanien wahrhaft restauriert!« schloß der Gast mit Emphase.

»Aber um der Götter willen«, rief ein hagrer Mann, welcher während dieser Gespräche eingetreten war, »wir erfahren ja noch immer das Wort der Wahrheit nicht, wodurch Ihr Ahnherr dreihundert Menschen vom Leben zum Tode brachte!«

Der Freiherr sah auf seine Uhr, und sagte mit dem Tone geistiger Überlegenheit, welcher ihm eigen war: »Es möchte dazu heute zu spät sein. Auf morgen also, wenn Sie vergönnen.« Er stand auf, nahm eine Kerze, und verließ, allen eine gute Nacht wünschend, das Zimmer.

»Warum fielt Ihr ihm in die Rede, Schulmeister?« sagte der alte Baron verdrießlich zu dem Hagern. »Einen solchen Mann, mit einem so weltumfassenden Gesichtskreis muß man nie im Flusse des Wortes stören, es kommt immer dabei etwas zum Vorschein, was unterhält und belehrt, und am Ende wären wir doch wohl noch zu dem Worte der Wahrheit seines Ahnherrn gediehen, wenn Ihr ihn nicht unterbrochen hättet.«

»Schelten Sie mich nicht, mein Gönner, um diesen Freiherrn von Münchhausen, der uns da so unversehens in das Schloß geworfen ist«; erwiderte der Hagre. »Er kann den an Kürze und Lakonismus Gewohnten schon ungeduldig machen, dieser endlose Redner und Erzähler, denn er verfällt immer aus dem Hundertsten in das Tausendste. Kürze aber, die körnige Kürze der Sparter, ist wie ein Köcher, darin gar viele Pfeile stecken; indem erstens...«

»Es ist schon gut, Schulmeister«, fiel ihm der Alte in die Rede, indem er ihn mit einem zweideutigen Blicke maß. »Warum kommt Ihr heute so spät? Wir haben alles aufgespeist.«

Der Schulmeister Agesilaus ließ seine Augen in die Ecke des Zimmers dringen, worin ein kleiner Tisch stand, ärmlich gedeckt. Die Knochen eines verzehrten Huhns lagen auf den Tellern verstreut. »Es wollte sich in der Eile nicht des Schilfes genug für mein Nachtlager schneiden lassen«, versetzte er. »So bin ich denn hier nach dem Mahle erschienen, und werde mich zu Hause mit schwarzer Suppe verköstigen müssen.« Er zündete seine Blendlaterne an, schlug den groben, zerrißnen Mantelkragen, den er statt des Rockes trug, fester um sich, und entfernte sich nach höflicher Verbeugung gegen den Baron und das Fräulein.

Der Alte sah sich um und murrte: »Kein zweiter Leuchter mehr hier?« Er nahm aus dem Wandschranke ein Lichtstümpfchen, steckte es in den Hals einer Flasche, und ging mit dieser Vorrichtung aus dem Stegreife davon, in tiefen Gedanken über die Erzählungen des Gastes, ohne der Tochter weiter zu achten.

Diese hatte von allen seitherigen Verhandlungen nichts bemerkt, weil sich nach der Schilderung jenes glückseligen Bergplateaus die romantische Träumerei ihrer bemächtigt hatte, in die sie nicht selten versinken konnte. Jetzt fuhr sie aus diesen Entzückungen der Abwesenheit empor, und rief: »Großes, ungeheures Naturbild! Das Smaragdgrün der Wiesen am Abhange der Piks, vermischt mit dem Pfirsichrot der Kühe und dem Goldgelb der Kälber, sich abhebend von dem Schneeweiß der Cordillerasgipfel im Hintergrunde! O wäre ich auf Apapur... auf Apapur... auf der Bergebene mit dem unaussprechlichen Namen!«

Ein Windstoß warf das Fenster auf, dessen einer Flügel, nur noch morsch in seinen Nägeln hangend, zu Boden fiel, und klirrend zertrümmerte. Das Fräulein aber achtete dieses Umstandes nicht sonderlich, sondern hob eine Tischplatte ab, stellte sie gegen die Lücke, und begab sich dann, gleich den übrigen Personen, zur Ruhe, um von der Bergebne, mit deren langem Namen ich meine Zuhörer schon so oft habe behelligen müssen, weiterzuträumen.

Zwölftes Kapitel

Der Freiherr bringt zwar die angefangne Geschichte nicht zu Ende, handelt aber von andern außerordentlichen Dingen

Münchhausen hob am folgenden Abende ohne Vorrede also an: »Der südamerikanische Indianerstamm, welcher uns gestern beschäftigte, bringt es bei seiner sauren Milchnahrung meistens zu einem sehr hohen Alter. Es ist unter ihnen gar nicht selten, daß Männer und Frauen das hundertste Jahr zurücklegen. Weil ihre Sinne und Säfte nun immer in der unmittelbarsten Gemeinschaft mit der Natur verblieben, so wissen sie auch durch ein richtiges Gefühl, wenn die Natur sich ihr Ziel gesetzt hat. Ein solcher Sterbegreis sagt daher ganz genau Stunde, Minute und Augenblick seines Todes voraus, flicht sich die Strohflasche, worin er sich zu bestatten gedenkt...«

»Die Strohflasche?« fragte der Schulmeister Agesilaus.

»Die Strohflasche«, erwiderte der Freiherr kaltblütig. »Wenn man mir von Anfang an zugehört hätte, so würde manche Frage zu sparen sein. Holz haben sie nicht, das sagte ich schon gestern, Särge können sie folglich nicht zimmern, sie müssen sich mit getrocknetem Grase oder Stroh helfen, um ihre Leichenfutterale zu fertigen. Ein solches Futteral hat die Form desjenigen Geflechts, worin der Maraschino von Triest verschickt wird, länglicht-viereckicht, oben mit einem kurzen, etwas engeren Halse. Dahinein kriecht nun der Sterbegreis, nachdem er von seinen Angehörigen Abschied genommen hat, und endet pünktlich in dem vorhergesagten Augenblicke. Sobald er verschieden ist, binden sie eine Blase über die Mündung, und dann setzt sich die ganze Familie im Kreise um das Sterbefutteral her und ißt zum Gedächtnis des Verewigten saure Milch. Hierauf tragen sie die Strohflasche nach der Felsenbank Pipirilipi, dem allgemeinen Begräbnisorte des Volks. Dort wird sie zu den übrigen gestellt. Ich habe jene Ruhestatt selbst gesehen; sie gewährt einen schönen Anblick. Wie auf Rayolen in einem wohlversehenen Keller stehen dort auf der Felsenbank viele tausend Flaschen nebeneinander, die Vorzeit des Volks ist sozusagen auf Stroh abgezogen.«

»Sie waren auch auf dem smaragdgrünen Plateau?« fragte das Fräulein einigermaßen befremdet.

»Liebe Seele, wo wäre ich nicht gewesen!« antwortete lächelnd der Freiherr. »Ich war vor einigen Jahren europamüde, warum? weiß ich selbst nicht, denn es hatte mir niemand etwas zuleide getan, aber ich war europamüde, wie man gegen eilf Uhr abends schlafmüde wird. Beschloß also, zu reisen, so weit weg, wie möglich. Weil aber heutzutage jeder Mensch, der in Betrachtung kommen will, absonderlich unterweges, interessant sein und den Spleen haben muß, reiste ich erst nach Berlin und ließ mich dort im Interessantsein unterrichten; dafür zahlte ich zwei Friedrichsd'or Honorar. Dann ging ich nach London, und lernte dort bei einem Master den Spleen; der Tausendsassa war aber teuer, ich mußte ihm, Sie mögen es mir glauben, oder nicht, zwanzig Guineen entrichten, und außerdem schwören, das Geheimnis nicht verraten zu wollen.

Nachdem ich so das Interessante und den Spleen weg hatte, glückte es mir überall recht sehr. Ich trug mich bald als Engländer, bald als Neugrieche, zuweilen lag ich als Dame auf dem Sofa und hatte Migräne; dabei redete ich ein Kauderwelsch von Französisch und Deutsch, wie es zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts während der großen Sprachverderbnis Mode war. In jenen wechselnden Kostümen, und in diesem Deutsch, gorge-de-pigeon, bestand das Interessante; was aber den Spleen angeht, so führte ich immer Kampfer bei mir, um das Geheimnis frisch zu erhalten. Davon bekommt man nämlich eine blasse Couleur; ich sah bald aus, als hätte ich schon zehn Jahre im Grabe gelegen. Als ich mich eines Tages in meinem Toilettenspiegel, deren ich damals, wo ich der Eitelkeit frönte, stets mehrere besaß, zu Gesichte bekam, und meine bleiche Farbe erblickte, ging mir ein lichter Gedanke im Kopfe auf. ›Sehe ich nicht wie eine Leiche aus?‹ sagte ich zu mir selber. ›Ich will mich den Verstorbenen nennen.‹ Gesagt, getan! Dieser Einfall hat Wunder gewirkt. Einen Verstorbenen hatten die Deutschen noch nicht gehabt. Und nun gar ein Verstorbener, der so traulich mit ihnen zu plaudern wußte, und ihnen tausend Geschichtchen erzählte, die ein Lebender allenfalls auch in jedem Klatschzimmer der Sozietät hätte auftreiben können! Jung und alt, Männer und Weiber, Gelehrte und Idioten drängten sich zu den Leichenspuren des Verstorbenen; die alte Fabel wurde wieder neu, welche das Volk hinter einem geschmückten Verwesten jubelnd herwandern läßt. Geheime Künste haben es aus der Gruft emporbeschworen, die Menge zu locken. Die Jünglinge drängen sich begehrlich heran, mit der buntgeschminkten Frau Venus zu tanzen; immer weiter lockt die pestdampfende Schönheit, welche ihnen wie Zibeth und Ambra riecht, die Lüsternen; endlich auf einem Kirchhofe fallen die Gewänder von den klappernden Gebeinen ab, und ein scheußliches Skelett faucht ihnen den Spruch zu: ›Sic transit gloria mundi.‹ Aber mit mir kam es nicht so weit, vielmehr blieb ich, obgleich ein duftender Verstorbener, recht inmitten der Gloria Mundi. Nachdem ich so berühmt geworden war, strich ich durch die ganze Welt, kam auch im Vorbeigehen durch Afrika; in Algier wurde ich Arabisch mit allen Formalitäten, hatte dann gutes Logis bei Vizekönigs von Ägypten. Er wurde mein Duzbruder, und ich mußte ihm tausend Sachen erzählen, die er mir alle geglaubt hat. Weiter oberhalb nach Nubien zu, unfern der großen Katarakte, stieß mir ein hübsches Abenteuer mit einem Nilpferde auf. Ich sitze am Strom im Schilf, in naturalibus, wie mich der Herr geschaffen hat, denn anders bin ich in Afrika nie gegangen; esse mein Mittagsbrot in guter Ruhe, siehe da, schießt eine Bestie von Hippopotamos auf mich zu, und hat mich im Rachen, ehe ich noch rufen kann: ›Qui vive!‹ Ich indessen nehme in der Geschwindigkeit mein bißchen Geistesgegenwart zusammen, schreie in dem Rachen, als das Vieh mich eben verschlucken will: ›Monsieur! Monsieur! avec permission, je suis son Altesse telle et telle!‹ Was geschieht? Sie mögen es mir glauben oder nicht: Die gute Seele von Nilpferd spuckt mich auf der Stelle aus, wischt sich die Tränen aus den Augen...«

»Womit? Womit?« rief der Baron.

»... mit einem Palmblatte, welches die ehrliche Haut in die rechte Vorderpfote nimmt; errötet, und rennt beschämt davon. So weit haben es Vizekönigs schon in Ägypten gebracht, daß selbst die Hippopotamoi vor literarischen Sommitäten Respekt bezeigen.«

»Ich meine, das Nilpferd nähre sich nur von Vegetabilien, nicht von Fleisch«, wandte das Fräulein bescheiden ein.

»Es ist vermutlich kurzsichtig gewesen, und hat mich für eine Pflanze angesehen«, antwortete der Freiherr. »Ich weiß, was ich weiß; ich habe im Rachen drin gesteckt. Wahrheit muß Wahrheit bleiben, und ehrlich währt am längsten. Wo blieb ich stehen? Ja, in Afrika. Warum soll ich Sie aber mit solchen Kleinigkeiten aufhalten? Ich war bald afrikamüde, wie ich europamüde gewesen war, beschloß daher nach Amerika zu reisen, vorher aber einen Abstecher nach Deutschland und England zu machen, wohin mich verschiedne Gründe zuvor riefen.

Erstens hatte ich das Interessante und den Spleen etwas verlernt, und wollte daher wieder in Berlin und in London meinen Kursus machen. In Afrika sind die Leute gar nicht interessant, der Koran begünstigt diese Richtung nicht, eine arabische Schnauze ist wie die andre, und was den Spleen betrifft, so vertreibt den der Vizekönig von Ägypten durch die Bastonade; es gibt kein efficaceres Mittel gegen Schwermut, als sie. Einmal hatte ich mich mit ihm etwas brouilliert, wie das unter Freunden wohl kommen kann; da dachte ich an die möglichen Folgen für die Fußsohlen, und von dem Gedanken schon war aller Spleen weg, selbst bis auf die Erinnerung. Es kam zum Glück nicht zu jenen Folgen, wir versöhnten uns und aßen noch denselben Mittag Sauerkraut mit Schweineohren zusammen, denn er ist ein aufgeklärter Türke, und will nächstens in einer Schrift beweisen, daß Mahomet ein Produkt der Gläubigen sei. Wo blieb ich stehen? Ja so; bei dem Spleen. Nun, das Interesse hatte ich aus Mangel an Anschauungen in meiner Umgebung ebenfalls wieder eingebüßt. Ich mußte also schon deshalb nach Deutschland und England.

Diesmal war ich genötigt, in Berlin für den Unterricht im Interessanten eine Bonne zu nehmen, die Mère Oye, der es im Rückblick auf Personen und Zustände nicht gegangen war, wie Lots Weibe bei einer ähnlichen Gelegenheit. Denn, anstatt zur Salzsäule zu erstarren, war sie nur immer gesprächiger und merkurialischer geworden. Viele Leute wollten der guten Mère und Commère etwas am Zeuge flicken; sie sagten, all ihr Geistreicheln und Interessantisieren sei doch purer Waschschaum, aber ich muß die Mère Oye verteidigen. Auf hohe Ziele hat sie es überhaupt nicht abgesehen; sie gedenkt nur ihrer Ahnmütter, die urlängst durch Schnattern das Kapitol retteten. Und da übt sie nun mittlerweile ihr Organ, um bei Stimme zu sein, wenn dermaleinst das Kapitol des plattierten Liberalismus in Deutschland gefährdet werden sollte.«

»Warum gingen Sie aber nicht zu Ihrem alten Lehrer?« fragte der Baron.

»Der saß in Paris dazumal und las altfranzösische Manuskripte. Ich reiste von Algier über Toulon und jene Hauptstadt, und traf ihn auf der Bibliothek. Da sah ich nun ein wahres Wunder jetziger Bücherschnellfabrikation oder Schnellbücherfabrikation. Denn es ist gewiß; Sie mögen mir es glauben, oder nicht, mit der linken Hand schlug er die Blätter des pergamentenen Folianten um, der vor ihm lag, und mit der rechten schrieb er gleichzeitig ein Buch darüber oder daraus, so daß, wenn er links in Folio fertig gelesen hatte, ihm rechts ein Oktavband abgegangen war. Dazwischen diktierte er noch ein spirituelles Billett an eine Komödiantin, und unterhielt sich mit einem Arrondissementscommissair gründlich über das Pariser Grisettenwesen. Er blieb folglich nur drei Stadien hinter Cäsars Vielseitigkeit zurück.

Was aber der zweite Grund meines Abstechers nach Deutschland war, ich wollte mir dort wieder einen guten Bedienten mieten. Meinen bisherigen hatte ich abschaffen müssen; er wollte auch interessant sein, und hielt deshalb beständig Maulaffen feil. Als Interessanter von Distinktion glaubte ich Einspruch tun zu dürfen, aber da die Gewerbefreiheit überall herrschte, so war in der Sache nichts zu machen; jeder Lump durfte interessant sein.

Nur aus Deutschland wollte ich mir den Ersatzbedienten holen, denn jedes Land hat seine eigentümlichen Produkte, die man nirgends anders so gut bekommt. Spanien hat seine Weine, Italien den Gesang, England die Konstitution, Rußland den festesten Juchten, Frankreich die Revolution, und in Deutschland geraten die Bedienten am besten.«

Dreizehntes Kapitel

Der Freiherr beginnt eine historische Novelle von sechs verbundnen kurhessischen Zöpfen zu erzählen, wird aber von dem Ausbruche der Verzweiflung bei dem Schulmeister Agesilaus unterbrochen, und verspricht geordnetere Mitteilungen

»Da, wo die buschichten Anhöhen des Habichtwaldes gegen Abend, die Hügelketten des Reinhartwaldes gegen Mitternacht, der felsichte Sörewald gegen Mittag zu einem weiten Tale auseinandertreten, durch welches die Fulda in mannigfachen Krümmungen von Mittag nach Mitternacht ihre Fluten wälzt, gegen Morgen aber eine lachende Ebne sich auftut, über welcher in weiter Ferne der majestätische Meißner sein blaues Haupt erhebt, liegt Kassel...«

»O Ihr heiligen und gerechten Götter, wohin soll denn nun das wieder führen?« stöhnte der Schulmeister Agesilaus, den die Erzählungen des Freiherrn in einen Zustand versetzt hatten, welcher sich schwer beschreiben läßt.

»... liegt Kassel, die Hauptstadt des Kurfürstentums Hessen. Reinliche, breite Straßen durchschneiden die obere oder Neustadt, deren Gebäude fast alle von regelmäßiger Bauart sind, während die untere oder Altstadt mehr dem Schmutze und der Krümme anheimgefallen ist. Mehrere schöne öffentliche Plätze verschönern jenen schöneren Teil der Stadt, unter allen jedoch ist der Friedrichsplatz der schönste, an welchem sich das prachtvolle Schloß mit seinen langen Fensterfluchten erhebt.

Es war um die Zeit, als nach der glücklichen Herstellung der alten Verhältnisse Kurfürst Wilhelm in die Hallen seiner Väter zurückgekehrt war, und unter mehreren früheren bewährten Einrichtungen auch jene Verlängerung des Haarwuchses wieder eingeführt hatte, welche man im Deutschen mit dem Namen Zopf zu belegen pflegt. Auch diese Zeit ist längst vorüber, die Kunde von ihr klingt fast wie die Mär von dem versunkenen Eilande Atlantis; der historischen Dichtung aber ziemt es, nichts in der Geschichte verlorengehen zu lassen, nicht einmal den ehemaligen kurhessischen Zopf.

Es war spät abends und Kassels Bewohner schliefen schon, oder legten sich zu Bett. Auf dem Schlosse aber war es im Kabinett des Fürsten noch hell. Die Soirée war zwar geendigt, jedoch hielt der alte würdige Herrscher noch einige seiner Auserwählten um sich versammelt. Man hatte sich auf die gewohnte Weise von der Zwischenregierung und von dem wunderbaren Umschwunge der Dinge unterhalten. Der Kurfürst, welcher seine Gardeuniform, Klappenweste und steife Stiefeln trug, stand fest auf das spanische Rohr mit goldnem Knopfe gestützt, und sagte: ›Es bleibet dabei, Ich agnosziere nichts von dem, was Mein Verwalter Jérôme inzwischen angeordnet hat. Wer darunter leidet, mag sich an Meinen Verwalter halten, dem Wir nicht die Macht gegeben hatten, auf seinen Kopf neue Sachen einzuführen, und der mithin bei derartigen Tathandlungen Mandatum exzedieret hat. Wir wissen wohl, daß Wir dieserwegen der Zensur etlicher unruhiger Köpfe unterliegen, aber das läßt Uns völlig unangefochten in Unsrem Gewissen, und Wir vertrauen hierinnen gänzlich der göttlichen Providenz, die Uns nach kurzer Überwältigung in Unsre Erbstaaten zurückgeführet, und deutsche Treue und Redlichkeit auf Unsrem Territorio retablieret hat. Habt Ihr das Edikt verfasset, wodurch den Domänen-Ankäufern alle und jegliche Hoffnung, sich in ihrem unrechtfertigen Besitze zu maintenieren, entzogen wird?‹

›Das ließ ich meine eiligste Sorge sein‹, versetzte der Angeredete, der Geheime Rat Vellejus Paterculus. ›Es war in der Tat hohe Zeit, daß deutsche Treue und Redlichkeit bei uns retabliert wurde.‹

›Man kennet Mich noch nicht gehörig‹, fuhr der alte kräftige Fürst mit erhobener Stimme fort. ›Ich habe schon einmal die Gassenkehrer zur Korrektion der Weichlinge und Schwelger in neumodischen französischen Kleidern die Straßen fegen lassen, und es dürfte passieren, daß sich gleiches oder ähnliches abermalen ereignete, wenn man Uns zuviel Ärgernis gibt. Dieses Kassel war unter der Wirtschaft Meines Verwalters ein liederlicher Ort geworden, und alle Zucht und Sitte hatte Abschied genommen.‹

Eine Dame näherte sich dem Fürsten, und sagte mit schmeichelndem Tone: ›Ereifre dich nicht, Väterchen, du hast ja beides, Zucht und Sitte, hier wieder eingeführt.‹

Sie und der Geheime Rat Vellejus Paterculus wurden hierauf entlassen. Nur der Baron von Rothschild verblieb noch bei dem Fürsten. Er war nach Kassel gekommen, um mit seinem erlauchten Geschäftsfreunde Abrechnung zu halten, und hatte jetzt zu vernehmen, daß der Kurfürst die in des Barons Händen beruhenden Fonds ihm nicht länger zu sieben Prozent lassen könne, sondern auf dem achten fortan bestehen müsse.

Der Baron von Rothschild war durch diese Nachricht und Eröffnung im tiefsten erschüttert. Er schwor bei dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs, daß ihn eine solche Maßregel in das Verderben stürze, da aber sein hoher Gläubiger fest darauf bestand, und ihn für den Fall des Weigerns mit der Kündigung bedrohte, so gab der Baron endlich mit blutendem Herzen nach und erwog zu seinem Troste im stillen, daß in seiner Bank das Pfund mit zwanzig Prozent wuchre, ihm sonach allerdings zwölf noch übrig verblieben.

Der Fürst hatte bei der ganzen Verhandlung seine Haltung unerschütterlich bewahrt. Jetzt stieß er das Fenster auf, sah in die sternenklare Nacht und sagte: ›Wenn Ich consideriere, daß Ich wieder hier im Palais bin, und welche Interessen Mir die englischen Gelder, die Ich dazumal für das amerikanische Corps erhielt, in Seinen Händen getragen haben, Rothschild, so muß Ich sprechen: Der alte Gott lebet noch und lässet nicht zuschanden werden.‹

Der Baron erwiderte etwas verstimmt: ›Warum soll nicht leben der alte Gott, da noch leben Eur' Hoheit? Wie kann man werden zuschanden mit acht Prozent?‹

Während sich diese Begebenheiten im Innern des Schlosses zutrugen, erzählten unten in der Wachtstube die sechs Gebrüder Piepmeyer ihren Kameraden Gespenstergeschichten. Die sechs Gebrüder Piepmeyer waren die sechs Söhne des Kastellans Piepmeyer auf der Löwenburg. Dieser Mann hatte, wie es bei solchen Aufsehern herrschaftlicher Schlösser der Fall zu sein pflegt, die loyalsten Gesinnungen, und in denselben auch seine Söhne erzogen. Man konnte daher von dieser Familie behaupten, daß in sieben Individuen nur ein und dasselbe hessische Herz schlage. Vater Piepmeyer war derjenige gewesen, welcher sich bei dem Einzuge des Kurfürsten auf einen Eckstein gestellt, jubelnd seinen durch alle Verführungen der Fremdherrschaft hindurch geretteten Zopf geschwungen und gerufen hatte: ›Durchlaucht! Durchlaucht! meiner sitzt noch!‹ was dem alten Herrn die erste wahre Regentenfreude in seinen Staaten bereitet haben soll. Sobald nun die sechs Söhne Piepmeyer, welche zwei Paar Drillinge waren, die Mutter Piepmeyer in zwei nacheinanderfolgenden Jahren ihrem Gatten geschenkt hatte, in das Soldatenalter traten, ließ Vater Piepmeyer alle sechs an einem und demselben Tage in die kurfürstliche Zopf- und Stiefeletten-Garde eintreten. Sie hatten alle sechs dasselbe Maß, nämlich sechs Fuß, drei Striche; hielten auf die völlige Identität ihrer Stiefeletten und Zöpfe, und sahen einander überhaupt zum Verwechseln gleich, so daß der Kommandeur sie mit verschiedenfarbigen Strichen über der Nase bezeichnen lassen mußte, um sie im Dienst unterscheiden zu können. Karl Piepmeyer bekam einen gelben, Heinrich Piepmeyer einen blauen, Ferdinand Piepmeyer einen roten, Guido Piepmeyer einen orangefarbnen, Christian Piepmeyer einen grünen, Romeo Piepmeyer einen silbergrauen und Peter Piepmeyer einen schwarzen Strich über der Nase. Aber außer dem Dienste, wo sie sich als Menschen fühlten, wischten sie die Striche ab.

Diese sechs Brüder von der Löwenburg erzählten den andern hessischen Wachtmannschaften folgende Geschichte: ›Ihr mögt es nun glauben oder nicht, aber so ist der alte Herr alle Jahre, während er in der Fremde war, an seinem Geburtstage jedesmal droben auf der Burg gewesen. An diesem Tage war es von frühmorgens an schon immer unruhig droben, es tat sich ein Schwirren in den seidnen Gardinen hervor, die Gardinenbetten knackten, die Harnische in der Rüstkammer rasselten, der Wetterhahn auf dem Turme hat unaufhörlich mit den Flügeln geschlagen. Schon als Knaben bemerkten wir alles dieses und noch mehreres, aber wir achteten dessen nicht, bis uns der Vater, nachdem wir fünfzehn Jahre alt und konfirmiert worden waren, beiseite nahm und uns das Burggeheimnis entdeckte, welches in nichts anderem bestand, als daß der Kurfürst, wiewohl weit entfernt im böhmischen Lande, dennoch auf seiner Burg seinen Geburtstag feire. Er komme nämlich um sechs Uhr abends gerade zur Stunde, wo vor Zeiten an der Ständetafel die Gesundheit ausgebracht worden sei, und man die Kanonen vor der Aue gelöst habe, in das gelbe Kommodenzimmer, worin der alte Fritz als kleiner Junge abgemalt hängt, gegangen, und verlustiere sich dort eine halbe Stunde lang.

Das nächste Jahr gab uns der Vater die Sache zu schauen. Nämlich, wir steckten uns mit ihm sacht hinter den grünen Vorhang im gelben Kommodenzimmer. Was geschieht? Wie die Glocke auf dem Schloßturm sechs schlägt, hören wir auf dem langen Rittergange, der zum Zimmer führt, Türe nach Türe aufklappen, endlich springt auch die vom gelben Kommodenzimmer auf, und herein tritt der Herr, wie er leibt und lebt, steife Stiefeln, gekollerte Hosen, Montierung, dreieckichter Hut, Klebelocken, kurz alles und jedes. Setzt sich an das Fenster, was nach dem Garten sieht, macht sich eine Pfeife Tabak an, raucht, daß der Dampf davon geht, kuckt unterweilen in den Garten, klopft, wie die Pfeife zu Ende geraucht ist, dieselbe aus, daß wir nachmals noch die Asche auf dem Getäfel gefunden haben, erhebt sich dann, geht still aus dem gelben Kommodenzimmer und so weiter, wo wir denn die Türen im langen Rittergange nacheinander wieder zuklappen hören. Das ganze gelbe Kommodenzimmer war voll Rauch, Varinas linker Hand oben, wir haben alle sieben, wir sechs Brüder und unser Vater, deutlich die Sorte gerochen.‹

Als die Gebrüder Piepmeyer diese Geschichte ihren Kameraden erzählt hatten, erhob sich in der Wachtstube ein hitziger Streit; denn...«

Aber der Freiherr konnte seine Geschichte nicht weiterführen, denn es erhob sich auch in dem Zimmer, worin die Gesellschaft versammelt war, ein heftiger Lärmen. Bei dem Schulmeister Agesilaus brach nämlich in diesem Augenblicke die Verzweiflung, in welche ihn die Erzählungen des Freiherrn versetzt hatten, auf die gewaltsamste Weise aus. Er warf seinen groben und zerrissenen Mantelkragen ab, und rannte in der kurzen wollnen Jacke, die er unter demselben trug, mit den Gebärden eines Verlornen im Zimmer auf und nieder. »Nein, was zuviel ist, ist zuviel, und der menschlichen Geduld sind ihre Grenzen gesteckt!« rief er schluchzend aus. »Meine hochverehrten Gönner, ich bitte zehntausendmal wegen dieser meiner Unhöflichkeit um Vergebung, aber ich kann mir nicht helfen, ich muß mir Luft machen, sonst bin ich ruiniert mit Kind und Kindeskind! Münchhausens Lügen, Homöopathie, kurhessische Zöpfe, saure Milch, Apapurincasiquinitschchiquisaqua, Mama Gans, Rhinozerosse, Verstorbne, Vizekönigs von Ägypten, altfranzösische Manuskripte, Grisetten, Juchten, Rothschild, Varinas linker Hand oben - - wer dabei den Verstand behalten will, der muß einen weniger geordneten Kopf haben, als ich leider besitze. Herr von Münchhausen beginnen zu erzählen, dann fangen wieder andere Personen an, in diesen Erzählungen zu erzählen; wenn man nicht schleunig Einhalt tut, so geraten wir wahrhaftig in eine wahre Untiefe des Erzählens hinein, worin unser Verstand notwendig Schiffbruch leiden muß. Bei den Frauen, die mit Schachteln handeln, stecken oft vierundzwanzig ineinander, so kann es fürwahr auch hier mit den Geschichten gehen, denn wer schützt uns davor, daß alle sechs Gebrüder Piepmeyer sich wieder von sechs Wachtkameraden sechs Geschichten vorplaudern lassen, und daß solchergestalt sich die historische Perspektive in das Unendliche verlängert? Herr von Münchhausen wollten uns das Wort der Wahrheit vertrauen, wodurch Ihr Ahnherr an dreihundert Menschen tötete; statt dessen werden wir auf die Cordilleras und von da nach Afrika gehetzt, und jetzt sind wir wieder in Hessenkassel, und wissen nicht, warum wir da sind. Herr von Münchhausen, ich halte Sie für einen großen, wunderbar begabten Mann, aber ich bitte Sie um die einzige Gnade, erzählen Sie etwas geordneter und schlichter. Sie wollen, wie ich vernehme, unsrem Herrn Baron länger die Ehre Ihres Besuchs schenken; es muß Ihnen daher selbst daran liegen, uns nicht schon in den ersten Tagen außer Fassung zu setzen und geistig zu vernichten.«

Nach dieser Rede entstand eine bedeutende Pause. Der Wirt sah verlegen, der Gast groß vor sich hin, das Fräulein warf einen Blick des Zorns auf den Schulmeister, einen Blick der begeistertsten Hingebung auf den Freiherrn. Der Schulmeister stand atmend in einer Ecke, und schien sehr angegriffen zu sein.

Zuerst redete der Freiherr wieder und sagte: »Daß ich so brüsk unterbrochen worden bin, tut mir leid. Ich kann versichern, daß ich meinen Stoff beherrsche, und daß in meinen Geschichten, wie in meinem Geiste, alles zusammenhängt. Ich würde Sie aus der hessischen Wachtstube wieder zu den Indianern auf der smaragdgrünen Bergebne...«

»O die smaragdgrüne Bergebne!« rief das Fräulein enthusiastisch.

»... auf der smaragdgrünen Bergebne zurückzuführen imstande gewesen sein, und Sie würden bald eingesehen haben, in welcher Verbindung die sechs verbundenen kurhessischen Zöpfe mit dem Worte der Wahrheit stehen, durch welches mein Ahnherr an die dreihundert Menschen vom Leben zum Tode brachte. Freilich für manche sind manche Kombinationen zu hoch.«

»Jawohl!« rief das Fräulein scharf und bitter. »Kaviar ist nicht für das Volk. Anders als sonst in Menschenköpfen, malt sich in diesem Kopf die Welt.«

Da sich keine behagliche Unterhaltung wieder machen wollte, sagte endlich der alte Baron, der dem Schulmeister eigentlich im stillen beistimmte: »Das Schlimmste wäre nun, wenn wir Ihrer ferneren, so sehr interessanten Mitteilungen verlustig gingen, lieber Münchhausen.«

»Mein Geist hat die Eigenheit«, erwiderte dieser, »daß er, wie ein Räderwerk, sofort stillsteht, wenn auch nur ein Zahn, nur ein Federchen gebrochen wird. Alles, was den Vorfällen in der Wachtstube zu Kassel folgte, die ganze Ideenverbindung zwischen diesen Ereignissen und meines Ahnherrn Worte der Wahrheit, von welchem ich ausging, ist nun für immer verloren und bleibt Ihnen auf ewig verhüllt; das einzige, was ich zusagen kann, besteht darin, daß ich die Geschichte von den sechs verbundenen Zöpfen zu Ende erzähle. Dann muß ich, wenn Sie mich noch weiter hören mögen, auf andre Materien übergehen.«

Der alte Baron rückte ihm freundlich näher, und flüsterte ihm schmeichelnd ins Ohr: »Und bei diesen Materien haltet Ihr Euch mehr an der Stange, nicht wahr, trautestes Münchhausenchen? Ich bitte Euch nicht der Sache halber darum, die ist gewiß so am besten versorgt, wie Ihr sie gegriffen habt; es ist nur wegen unsrer schwachen Fähigkeiten, zu denen Ihr Euch herablassen müßt, wenn wir durch Euch aufgeklärt werden sollen.«

»Ich will alles Fernere heruntererzählen, trocken wie die Zeitung«, erwiderte der Freiherr. »Übrigens kann ich versichern, daß ich mich nach den besten jetztlebenden Mustern gebildet habe, und meine Darstellung so einrichtete, wie die Autoren, welche das Zeitalter und die Nation gegenwärtig entflammen und hinreißen, es mich gelehrt haben.«

Vierzehntes Kapitel

Die angefangene historische Novelle kommt glücklich, wenn auch auf unerwartete Weise zu Ende

»Nach der Erzählung der sechs Gebrüder Piepmeyer entstand, wie ich sagte, in der Wachtstube zu Kassel ein großer Streit. Einige Hessen wollten die Wahrheit derselben bezweifeln, und meinten, daß niemand bei lebendigem Leibe umgehn könne. Ein Skeptiker aus Witzenhausen sagte, kein Geist rauche Tabak, und noch viel weniger bleibe von seiner Pfeife Asche nach, das Ganze sei daher eine ›Einbildungskraft‹ der Gebrüder Piepmeyer, wie er sich ausdrückte.

Dagegen sagten vier Gardisten aus Schaumburg, mit Potentaten verhielte es sich anders, als wie mit Partikuliers, die hätten etwas voraus, sie könnten überall und doch nirgends sein. Zwei Ziegenhainer riefen: ›Wenn er da war und sich verlustieren wollte, so tat er rauchen, und wenn er rauchen tat, so tat Rauch und Asche darnach kommen.‹ Einer aus Hofgeismar drehte diese Sätze um, und folgerte also: ›Weil Piepmeyers Asche finden taten, so hat er rauchen getan, und weil er rauchen getan hat, so hat er auf der Löwenburg sein getan.‹

Es nahmen immer mehrere Wachtmannschaften an diesen Debatten teil, und der Lärmen wuchs von Minute zu Minute. Da rief der kommandierende Fähnrich, ein junger Herr von Zinzerling, aus einer der ersten Familien des Landes, mit seiner hohen Diskantstimme in das Getöse hinein: ›Ihr Sakramenter, in dreier Teufel Namen, räsoniert nicht weiter!‹ - Jede Untersuchung hörte demnächst auf, und alle Wachtmannschaften enthielten sich aus Subordination selbst der stillen Gedanken über den Gegenstand.

Die Nacht hatte inzwischen den ersten Strahlen des Frühlichts Raum gegeben, welche den Ofen und die Bänke der Wachtstube mit gelbrötlichen Streifen säumten. Unvergleichlich war die Wirkung eines scharfen Schlaglichtes am oberen Zinnrande eines Bierkrugs, von welchem ein seltsamer, aber verstandner Reflex den Knopf des Feldwebelstocks traf, welcher darüber am dritten Haken hing. Überall tiefe, satte Farbentöne, klare, durchsichtige Schatten! Die Wachtstube schien keine wirkliche Wachtstube zu sein, sie war heute mehr, sie war eine gemalte.

Was Piepmeyers betrifft, so hatten sie ihre Postenstunden abgestanden, sie durften sich nun einem kurzen Schlafe überlassen. Ruhig lagen sie nebeneinander auf der Pritsche und schnarchten. Hinter der Pritsche hingen ihre sechs Zöpfe einträchtig herunter, damit der Wachtfriseur dieselben auch während ihres Schlummers neu einflechten könne.

Um diese Zeit ereignete sich folgende wunderwürdige Begebenheit. Nämlich der Wachtfriseur Isidor Hirsewenzel trat in die Wachtstube.«

»Darin sehe ich denn eben kein großes Wunder!« fuhr der alte Baron unwillkürlich heraus.

»Alles in der Natur und in der Geschichte hängt zusammen«, sagte der Freiherr mit Würde. »Man höre mich ohne Unterbrechung an, das Wunder folgt dem kurhessischen Wachtfriseur Isidor Hirsewenzel auf der Ferse.«

»Dieser Isidor ist doch nicht...« sagte das Fräulein schüchtern.

»Der nämliche Hirsewenzel, welcher seither die deutsche Bühne mit einer so unermeßlichen Anzahl von Stücken bedacht hat«, versetzte der Freiherr. »Unser Mann und Held, aus einem guten aber herabgekommenen Geschlechte in Olgendorf, einem Flecken in der Nähe der Lüneburger Heide entsprossen, hat einen sonderbaren Lebenslauf gehabt. Dramatiker wurde er erst spät; von der Natur war er durchaus zum Lederhändler bestimmt. Der erste Laut, den sein kindlicher Mund von sich gab, klang wie: Leder! Kein Spielzeug von Holz oder Blech vergnügte den heranwachsenden Knaben, die muntre braun- und gelbbemalte Erbsenflinte war ihm ein Greuel, mit Abscheu stieß er das gefällig konstruierte grüne Nürnberger Wägelchen, das schuldlose Weihnachtsschaf mit den sinnigen roten Lackaugen zurück, dagegen begannen seine Blicke zu leuchten, wenn er der Peitsche ansichtig wurde, und der fünfgeflochtenen Schnur, wenn er das lederüberzogene Hottpferd besteigen durfte, wenn man ihm die kleine Scherzpatrontasche umhing. Später war er oft halbe Tage lang aus der väterlichen Wohnung verschwunden, und wo fand man ihn wieder? In irgendeiner der Gerbereien, welche dem Städtchen die Hauptnahrung gaben. Ja, einmal war er, kecken Jugendmutes voll, selbst in eine Lohgrube gesprungen, um zu versuchen, ob er nicht noch lebend seine Haut in den so heiß verehrten Zustand bringen möchte; leider zog man ihn zu früh heraus, als die Ledrifikation erst halb vor sich gegangen war. Unentwickelt blieb demnach der höhere Zustand seiner Bedeckungen, indessen wollten die Kundigen versichern, er habe nach jenem Versuche denn doch immerdar ein dickes Fell behalten.

O Ihr Väter und Erzieher, die Ihr die heilige Aufgabe habt, die Keime der Euch anvertrauten Pflanzen in die Blüte zu fordern, hieher tretet, und lernt an einem furchtbaren Beispiele vor den Folgen schaudern, wenn Ihr die Stimme der Natur mißachtet, und die Gerte, welche rechts hinaus wachsen will, links hinüber zwingt. Nicht allein macht Ihr den Baum zum brandigen Krüppel, nein! er wird auch seine Nebenstämme anstecken, das Ungeziefer, welches die krankende Krone ausbrütet, wird die Verwüstung viel weiter tragen, als Ihr ahnen und berechnen könnt!

Isidor Hirsewenzel von Olgendorf hätte für Deutschland ein Lederhändler werden können, wie wir ihn noch nicht besessen haben. Möglich, daß in der Tiefe seiner Seele Gedanken schlummerten, wodurch der Dampf vom Throne des neunzehnten Jahrhunderts gestoßen, und die gegerbte Haut zur Weltbeherrscherin erhoben worden wäre! Aber der Vater verstand den Sohn nicht. Er verstand nicht die zukunftschwangern Regungen des Geistes, der über Bälgen, über Alaun und Lohbereitung, über Sämisch- und Kalkgerberei erfindungengebärend brütete. ›Du bist ein Narr, Dorus‹, sagte der harte Vater zu ihm, ›Leder kann aus der Mode kommen, die Menschenliebe ist so hoch gestiegen, daß sie sich unversehens auf das Vieh werfen kann; woher aber soll Leder kommen, wenn jeder Hund und Ochs unser Bruder, jedes Schaf unsre Schwester wird, und wir des verwandtschaftlichen Lebens schonen? Du also wirst das werden, mein Sohn, wozu ich dich bestimmt habe.‹

Isidor weinte, verzweifelte, aber seine Tränen und Seufzer verfingen gegen den eisenfesten Vater nichts; Isidor mußte Perückenmacher werden. Das heißt: Vor der Welt wurde er simpler Friseur, in der Stille aber errichtete er zu seiner Tröstung, um seinem Triebe zum Kompakten zu folgen, um sich durch das zerstreute Haar, durch die charakterschwache Pomade, durch den gesinnungslosen Puder dem Zähen, Ledernen wenigstens anzunähern, jene wunderbaren Haargebilde, welche die Welt längst über Schwedenkopf und Naturscheitel vergessen zu haben schien.

Ich will kurz sein. Sowie der alte Hessenfürst zurückgekehrt war, entstand über seinen Wunsch, oder vielmehr Befehl, die größte Verlegenheit. Die Novella I. de capillis pudrandis zopfificandisque war erlassen, aber es ging mit dieser, wie mit so mancher Institution, sie hatte ihr Dasein vorläufig nur auf dem Papiere, und das war die Hauptfrage: Konnte der Zopf eine Wahrheit werden? Denn man wußte niemand, der jene Haarformationen der Urwelt noch zu bereiten verstand. Der alte Herr besaß zwar seinen in diesen Dingen ergrauten Künstler, allein es widersprach der Rangordnung und Etikette durchaus, daß dieselbe Hand, welche um die Majestät beschäftigt war, sich gemeinen Köpfen widmen solle.

In dieser Not und Bedrängnis sprang unser Meister aus seinem Puderdunste, wie Äneas aus der Wolke. Er verstand zu frisieren, Toupets einzusalben und aufzusteifen, Zöpfe von allen Längen- und Dickenmaßen zu flechten. Er wurde präsentiert, tentiert, approbiert, placiert. Der Staat konnte hiemit für organisiert erachtet werden.«

»Nun also, dieser Mann betrat die Wachtstube...« sagte das Fräulein, welche bei aller Begeisterung für den Erzähler sich doch nach einem rascheren Fortschritt der Geschichte sehnte.

»Noch nicht, meine Gnädige«, versetzte Münchhausen kalt, »so weit sind wir noch nicht. Die historische Darstellung erheischt langsame Entfaltung; auf den Landstraßen sind Eilwagen eingeführt, aber, Sie wissen es ja selbst, unsre Romanciers fahren in ihren Geschichten noch mit der sächsischen Kutsche, welche sich ehemals zwischen Leipzig und Dresden bewegte, und zur Vollendung dieser Reise drei Tage gebrauchte, vorausgesetzt nämlich, daß der Weg gut war.

In unsrem Isidor war während seiner Lehrjahre eine große psychische Revolution vorgegangen. Man sah ihn einsam durch die Wälder streifen, er floh der Brüder wilde Reihn, aber ach! das Schönste suchte er nicht auf den Fluren, womit er seine Liebe schmückt'! Die Liebe erstarb in diesem Busen, eine sinistre Falte des Unmuts lagerte sich auf der denkenden Stirn, Entschlüsse reiften in ihm, die zum Schrecken des Geschlechts finstre Taten wurden. Haarscherer durch Bestimmung, dem inneren Berufe nach Lederhändler, Perückenmacher aus Resignation, wurde er Tragiker aus Menschenhaß, dem leider die Reue bis jetzt nicht gefolgt ist. Ja, meine Freunde, alle jene Trauerspiele, worin entweder der Held die Stiefeln seines Bruders zu putzen hat, die Geliebte aber ihn auf jene Welt vertröstet, in welcher er nicht mehr nach Wichse riechen wird, oder worin der Landrat Friedrich Barbarossa seine Dienstleiden erzählt, der Steuerexekutor Heinrich der Sechste sich mit Beitreibung der Gefälle-Reste plagt, oder der biedre, aufgeklärte Pastor Friedrich der Zweite aus Gielsdorf wegen Rationalismus verdammte Scherereien mit dem Lyoner Konsistorium hat, die stuhlsetzenden Kämmerlinge jedoch, also die Abräumer, eigentlich die einzigen handelnden Personen sind, ja, meine Freunde, alles das, und o Gott! wie unendlich viel mehr hat nur die Misanthropie Hirsewenzels geboren. Wir wären damit verschont geblieben, wenn er seinem wahren Berufe hätte folgen dürfen.«

»Könnte man denn nicht noch jetzt dem Fortschritte des Unheils Einhalt tun?« fragte das Fräulein, sonderbar verlegen.

»O, meine Gnädige!« rief Münchhausen begeistert; »es bleibt doch ewig wahr, das Wort unsres Schiller: ›Was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt!‹ Sie haben da in Ihrer Einfalt einen großen Gedanken gefunden. Ja, wir wollen, da gegenwärtig auf so vieles subskribiert wird, eine Subskription durch ganz Deutschland eröffnen, zu dem Ende, mit vereinten Nationalkräften für Hirsewenzel eine Gerberei in Schlesien unter den Wasserpolacken anzupachten, ihm so einen heitern Abend des Lebens zu schaffen, die Bühne aber von ihm zu befrein. Ich bin überzeugt, selbst unsre Fürsten, denen ja Poesie und Literatur so sehr am Herzen liegen, geben etwas dazu, einen Gulden oder einen Taler, je nachdem sie über Gulden- oder Talerland herrschen. Doch für jetzt nur weiter in meinem Texte.

Als in Isidor der Gedanke an sein verfehltes Dasein einmal recht zum Durchbruch gekommen war, da rief er aus: ›Weil Ihr mich im Leben nicht habt zum Leder kommen lassen, so will ich Euch, da ich Euch leider nicht ans Leben selbst kommen kann, wenigstens das Bild des Lebens, die Bühne ruinieren.‹

........ Die Welt Ist noch auf einen Abend mein. Ich will Ihn nützen, diesen Abend, daß nach mir Kein Pflanzer mehr in zehen Menschenaltern Auf dieser Brandstatt ernten soll.

Meine Vorgänger im Geschäft, Iffland und Kotzebue, machten die Misere zu Helden; ich will die Sache umkehren, und Helden zu miserabeln Personen machen. Müllner wirkte durch Schuld und Blut, Houwald durch alte Camillen und Bilder, die an den Galgen gehören, ich will durch Langeweile wirken. Ich will die Langeweile zur dramatischen Dynamis erheben, der Sandmann in den Augen der Helden soll meine Katastrophen bewirken. Meine Helden sollen lieber sterben, oder sonst ein Unglück erleben, als daß sie noch länger meine Redensarten abhaspeln. Ich will Euch ein Stück schreiben, namens ›König Enzian‹, ein Stück, dessen Perspektive nicht der Stern der Hoffnung über dem Grabe, nicht die Nacht des Tartarus unter den Füßen des hinsinkenden Frevlers, nicht die reinliche Entsagung der Wüste oder des Klosters sein soll, sondern eine Chambre garni im Felsen bei Zwielicht, oben mit einem Deckel versehen, worin der gähnende Mietsmann mit seiner gähnenden Geliebten bei hinlänglichem Essen und Trinken nichts zu tun hat, als Kinder zeugen, die bei der Geburt, anstatt zu schrein, auch schon gähnen. Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch, es wird eine Krankheit über unsern Weltteil heraufziehn, geheißen die Cholera. Hin und her werden die Ärzte raten, woher das Miasma gekommen, welches die Seuche fortleitete, und man soll nicht erraten, daß es aus der Grube aufstieg, in welche ich den König Enzian verspündete. Wehe über dich Sand-Jerusalem, die du die Juden begünstigest, und kreuzigest immerdar die Propheten; du sollst zweimal die Cholera kriegen, weil du meinen »Enzian« so oft wirst haben spielen lassen! Ich will einundzwanzigmillionendreihunderttausend und einen halben Vers, folglich einen halben Vers mehr machen als Lope de Vega; alle sollen parallel nebeneinanderherlaufen, wie die lombardischen Pappeln zu beiden Seiten der Chaussee von Halle nach Magdeburg, und dieses Wunder soll nur von dem Wunder der Kühnheit übertroffen werden, womit ich versichern will, daß ich nie einen unschönen Vers verfertigt habe. Nicht durch Fehler und Ausschweifungen will ich die Bretter reizen; nein, ich will das Theater nivellieren, entnerven und abmergeln. Es soll aus meiner Feder nichts kommen, was selbst der Zensur von China verdächtig werden könnte, ich will ein völlig etatsmäßiger Poet werden, gleichwohl aber will ich von mir behaupten, ich sei durch große Geschichtsepochen, die von keinem Etat etwas wußten, zu Tränen der Rührung hingerissen worden, denn Klingeln gehört zum Handwerk. Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch, es wird die Zeit kommen, da die Schauspieler meine Rollen im Schlaf abspielen, das Auditorium schläft, und der Kritiker Gottsched am folgenden Tage während seines Nachmittagsschläfchens eine Rezension in die velinpapiernen Blätter stiftet, worin er sagt, das neuste geniale Werk aus meiner unermüdlichen Feder habe das Publikum zum Enthusiasmus hingerissen. Mit einem Worte: Ich will Ich sein, und nur mir selber gleich!‹

Wie Isidor Wort gehalten hat, das wissen die blasierten Hofräte, Justizräte, Geheimen Sekretarien und Papierjuden von Sand-Jerusalem, aus welchen gegenwärtig das dortige Theaterpublikum allein noch besteht. Kein Mädchen schleicht sich mit einem Bande seiner dramatischen Werke ›ernster oder komischer Gattung‹ (ich weiß nicht, warum er den bezeichnenden Ausdruck: Sorte, verschmäht hat?) frühmorgens oder gegen Abend in die duftende Fliederlaube hinten im Garten, wo das gelbe Nasturtium blüht, und der Convolvulus auf seinen Ranken den Falter wiegt und den goldgrün glänzenden Käfer, und liest sich an seinen Sachen heimlich-glühend in die Bekanntschaft mit ihrem pochenden Herzchen hinein; kein Student, der droben auf dem Weinberge am Flusse von seinem Jugendbruder Abschied nimmt, und mit ihm das Stammbuchblatt wechselt, schreibt einen Vers von Isidor hinein, keinen Künstler haben seine sogenannten Gestalten zu einem Bilde entzündet. Wer um sechs Uhr abends noch eine Spur von Stimmung in seiner Seele fühlt, ja, wer auch nur die Aussicht auf einen Robber Whist hat, der meidet das Haus, worin Isidor seine dramatische Suppenanstalt für Arme errichtet hat, und den Gottsched befriedigt, und die Blasierten von Jerusalem abfüttert. Es ist ihm gelungen, seine dämonische Drohung in Erfüllung zu setzen. Ja, sie dreschen nunmehr das dreimal gedroschene leere Stroh und worfeln die Spreu, die nicht einmal der Gastwirt Angely seinen vierfüßigen Gästen vorgesetzt hätte. Die Bühne kam nach dem etwas derben Ausdrucke der Jugend durch Isidor auf den Hund. Er, er hat es verstanden, wie man die Deutschen behandeln soll. Denn nicht durch Blitze des Genius ist diese sogenannte Nation zu entzünden - wie kann man nasse Wolle in Brand stecken? - sondern man muß immerfort dasselbe tun, es mag ausfallen, wie es will; dann sagen sie: ›Der muß es doch verstehn.‹ Es ist ihnen überhaupt nur daran gelegen, daß das Inventarium in allen literarischen Wirtschaftsrubriken vollständig sei; denn sie sind gute Haushälter. Sie würden, wenn Hirsewenzel sich nicht gefunden hätte, auch einen zweiten Cronegk, oder Gellert oder Weiße wieder aufgenommen haben. Isidor, hundertmal abends kritisch totgeschlagen, feierte am andern Morgen seine Auferstehung mit drei neuen mittelmäßigen Stücken, die wie ein Echo die ihm vorgerückten Albernheiten wiederholten. Die Leute aber sagten: ›Der versteht es, so muß man es machen.‹ Selbst der Heroismus erlahmte endlich an dieser Beharrlichkeit der Industrie; man ließ die Fabrik zuletzt spulen und schnurren, ohne ferner Eingriffe in ihre tranduftigen Räder zu versuchen. - Aber in die Walhalla kommt er doch nicht, wenn sie fertig wird und ihre Bestimmung behält, und nicht mit der Zeit vielleicht in ein Bräuhaus verwandelt wird. Der Graf von Platen kommt hinein, und der gehört auch hinein, trotz aller seiner Torheiten und Mißgriffe, aber Hirsewenzel kommt nicht hinein und schriebe er auch noch einundzwanzigmillionen Verse mehr. Doch ist es freilich noch ungewiß, ob er überhaupt sterben, und ob nicht vielmehr der Tod jedesmal einnicken wird, so oft er ihn sieht.

Nun, Gott beßre das deutsche Theater!

Melpomene sitzt, von der Szene verscheucht, unten im Keller, da wo die Arbeitsleute an den Versenkungen und Verwandlungen hantieren, der Dolch ist ihrer entkräfteten Hand entfallen und rostet im Moder, im Moder liegt die Maske, welche die gemeinen menschlichen Züge verschönernd bedecken soll; Schimmel überzieht dieselbe, und einer der Theaterarbeiter hat ihr die Nase platt getreten. Droben aber über ihrem Haupte, auf dem Podium, scharrwerkt der lärmende Emporkömmling mit seinen breitgerührten und doch hölzern gebliebenen Jamben. Ach, die Arme! Nicht einmal weinen kann sie mehr. Isidor hat sie mit dem Stockschnupfen angesteckt, und verlangt nun grausam spottend von ihr, sie solle Makuba schnupfen lernen, dadurch helfe er sich in allen Nöten.

Das alles ist weltbekannt. Nicht so bekannt ist aber der Umstand, daß der Tragöde alle die Stücke, die seitdem wie ein nie versiegender Spülicht zwischen den Kulissen hervorgebrodelt sind, bereits während seiner Beschäftigung mit Zöpfen und Frisuren in müßigen Nebenstunden verfertigte. Ja, meine Freunde, er hat sie sämtlich auf den Vorrat gearbeitet; die Manuskripte lagen in seinem Haaratelier geordnet zwischen den übrigen Fabrikaten und Sachen, ungefähr so: ein Zopf; ›die Erdennacht‹, eine Perücke; ›Genoveva‹, Pomade; ›Rafaële‹, der Puderbeutel; ›Die Schule des Lebens‹, und so weiter. Daher es ihm leicht war, hernachmals den Markt von Sand-Jerusalem mit seiner Ware zu überführen.

Doch meine Farben reichen bei diesem Bilde nicht aus und mein Pinsel ist zu stumpf; ich fühle das wohl. Solche tiefsinnige ästhetisch-poetische Seelenentwicklungsgemälde abzuwickeln, daß sie jedem so klar werden, wie baumwollnes Garn, müßte ich Hotho sein, der in den ›Vorstudien des Lebens und der Kunst‹ an seiner eignen Geschichte ›aufgewiesen‹ hat, daß man den ›Don Ramiro‹ schreiben, an den ästhetischen Artikeln der Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, herausgegeben von der Sozietät für wissenschaftliche Kritik, mitarbeiten, und dennoch sich wichtig vorkommen kann.

Man sang vor Zeiten, als Don Ramiro zur Welt gebracht wurde:

Don Ramiro, Don Ramiro! Langes Leben spinn' dir Klotho; Rühmen werden dich die Weisen, Und dich lesen wird Herr Hotho.

Ich ahme diesem Volksliede nach und singe:

Don Ramiro, Grand zu Hotho, Du allein, du könntest schildern Hirsewenzels trag'sches Werden Dir gemäß mit Hegels Bildern.

Isidor näherte sich den sechs Gebrüdern Piepmeyer mit Kamm und Nadel bewaffnet. Er kniete nieder, lösete die Bänder, welche die sechs Haarwüchse fesselten, so daß sie in sechs Fluten von sechs Nacken herniederwallten, und nachdem er mit seinem Geräte in diesem Sechsgelock Ordnung gestiftet hatte, ging er daran, zu strählen und zu flechten.

In diesem Augenblicke empfing er in seiner melancholischhumoristischen Weltanschauung die Gestalt des Till.

Sie erinnern sich gewiß dieser wundersamen Figur, mit welcher unser damaliger Wachtfriseur, nunmehriger Dichter, so vielen genialen Spaß auszurichten sich bemüht hat. Meistens hat der Till es mit einem Barbierer, namens Schelle, er verschmäht aber auch Rätinnen und Polizeidirektoren nicht, nein! es ist zum Totlachen, was für Späße der Till angibt, der durchtriebene Vogel, der Till... und wenn ich an den Till denke, und an Till und Schelle, und Schelle und Till... und an Tell und Schille... und an alle die Späße von dem Till, so - - so - -«

Der Freiherr brach bei der lebhaften Erinnerung an Tills Späße in ein konvulsivisches Lachen aus, welches so klang, als wenn hölzerne Klötzchen in einer Büchse von Blech hin- und hergeschüttelt werden. Der alte Baron klopfte ihm den Nacken, Münchhausen erholte sich wieder und fuhr fort:

»... so kann ich nur bedauern, daß die ›Meerrettiche‹, die der Dichter auch in sechs Paar Trilogien auf seinem Krautfelde ziehen wollte, nicht fertig geworden sind. Doch vielleicht kommen sie noch nach, denn bei Hirsewenzel ist nichts unmöglich. Bis nun der Meerrettich zum Rindfleisch abgesotten sein wird, müssen wir uns mit dem Till behelfen, dem ich wohl eine Petersilie wünschen möchte, das gäbe eine Mariage von Küchenkräutern, worüber jeder Köchin das Herz im Leibe poppern würde.

Ich habe immer, wenn ich die Tille sah, an einen Menschen denken müssen, den ich einmal in einem Dorfe zwischen Jüterbog und Treuenbrietzen, mich dünkt, es hieß Knippelsdorf, oder so ungefähr, kennenlernte. Die Gegend um Knippelsdorf ist etwas unfruchtbar, nur bei großen Überschwemmungen werden die Felder grün, dann gibt es große Festlichkeiten, wobei sich die Leute in Grütze satt essen. Aber hübsche Kiefern haben sie da, und Windhafer, soviel ihr Herz begehrt. Die Achse war mir am Wagen gebrochen; ich mußte ein paar Stunden im Kruge sitzen, bis der Stellmacher sie, nämlich die Achse, repariert hatte. Dieser Aufenthalt zeigte mir ›Knippelsdorfer Zustände‹. Es war neun Uhr morgens, und ein schöner heißer Julius, indessen schien der Tag durch die runden Fenster der Krugstube nicht absonderlich hell, sie waren gar zu verschmaucht. In der Stube gingen die Hühner spazieren, uneigennützig, denn zu essen gab es da nichts, wie ich erfuhr, als ich nachfragte. Zu trinken konnte ich bekommen, wenn ich bis zum folgenden Tage bleiben wollte, da würden sie Dünnbier von Zahne holen, sagten sie. Es roch abscheulich in der Stube, aber auf Reinlichkeit hielten sie doch, denn eine Magd im Negligé mit fliegendem Haar wischte gehörig den langen Tisch ab, und nachher mit demselben Tuche die irdenen Teller. Eine Anzahl von Fliegen summte in der Stube, und die schlug ein höhnischer, blasser, verdrossen-schläfriger Mensch tot, derselbe eben, an den ich mich nachmals immer bei den Tillen erinnerte. Er trug eine Nachtmütze schief überm Ohr, den tönernen Stummel hatte er im Munde, in herabgetretenen Pantoffeln schlorrte er auf und nieder. So oft er eine Fliege mit der Klatsche erlegt hatte, verzog er die schlaffen Lippen zu einem unangenehmen Lächeln und machte einen Spaß über die tote Fliege. Man konnte sich darauf verlassen, auf jede tote Fliege kam ein Spaß; ich habe sie aber sämtlich vergessen. Die Magd lachte nicht darüber, ich konnte auch nicht darüber lachen. Sie sagte mir, als ich mich nach ihm erkundigte, er sei der jüngere Bruder des Krugwirtes und habe nicht guttun wollen, deshalb müsse er jetzt das Gnadenbrot essen. Seine einzige Beschäftigung sei, sich über die Fliegen aufzuhalten, die er totgeschlagen habe.

Der Till also ging dem Hirsewenzel, wie gesagt, auf, als er die sechs Zöpfe der Gebrüder Piepmeyer einflechten wollte. ›Halt‹, dachte er, ›hier kannst du sofort für diesen komischen Heros die Studien nach dem Leben machen. Laß uns eine Verwickelung bilden, die an grenzenloser Lustigkeit und kühner Laune alles hinter sich läßt, was Shakespeare, Holberg und Molière ersonnen haben. Ich werde die Zöpfe der Piepmeyers unentwirrbar zusammenflechten, und wenn sie dann aufstehn, und nicht voneinander können, und bei dem Ziehen und Zerren unter Schmerzen Gesichter schneiden, o welche Fülle von komischen Anschauungen werde ich dann haben, ich sehe schon ganze Dutzende von Tilliaden fertig.‹ Gesagt, getan; er flocht Peter mit Romeo, Romeo mit Christian, Christian mit Guido, Guido mit Ferdinand, Ferdinand mit Heinrich, Heinrich mit Karl zusammen, so daß vier Piepmeyers, ein jeder doppelseitig, linker und rechter Flügel aber einseitig gefesselt waren. Als Isidor sein Werk vollbracht hatte, steckte er sich hinter den Wachtofen, um die Wirkung dieser Intrige zu beobachten.

Ruhig schliefen die Opfer Hirsewenzelscher Komik, träumten von Brot und Fleisch und doppeltem Traktament und hatten kein Arg. Als nun der Tag höher zu steigen begann, und die Strahlen der Sonne den Ordensstern an der Bildsäule Landgraf Friedrichs des Zweiten auf dem Platze vor dem Schlosse vergoldeten, mit einem Worte, als es sechs geschlagen hatte, trat der Feldwebel zu der Piepmeyerschen Pritschabteilung, um die Farbenstriche über den Nasen der Brüder aus seinem Vorrate zu erneuen, denn die ganze Strenge des Dienstes sollte nun bald wieder beginnen. Als er indessen einen Blick über die Pritsche hinaus in ihr Jenseits tat, und die seltsame Verflechtung der brüderlichen Hinterhaupthaare wahrnahm, da entsank ihm vor Erstaunen der aufgehobene Malerpinsel und er starrte die Erscheinung einige Sekunden lang lautlos an. In der Tat war diese auch verwunderlich genug anzuschauen; Piepmeyers sahen von hinten aus wie ein kurhessischer Garderattenkönig.

Indessen kommt ein Feldwebel immer bald wieder zu sich selber. Auch der unsrige gewann nach kurzer Ratlosigkeit seine ganze Fassung sich zurück, und fuhr die Verbündeten mit den wackern Worten an: ›Kerls! Euch soll ja ein Kreuzsternschockmillion-Donnerwetter sechstausend Klafter tief unter den Winterkasten in die Erde schlagen!‹

Von diesem biedern Zurufe des tüchtigen Manns fuhren Piepmeyers gleichzeitig aus dem Schlummer auf, und wollten sich gleichzeitig erheben. Da ihnen aber dies Schmerzen verursachte, so sanken sie zurück, tasteten gleichzeitig nach ihren Zöpfen, entdeckten die Ursache der Schmerzen und sagten gleichzeitig wie aus einem Munde, kalten Blutes: ›Herr Feldwebel, es muß sich, derweil wir schliefen, ein dummer Junge in die Wacht geschlichen und einen Jux mit uns verübt haben.‹ - ›Auf Ehre, so ist es‹, sprach der Fähnrich von Zinzerling, der herzugetreten war. ›Feldwebel, machen Sie den einen Mann los, und der kann wieder seinen Brüdern helfen. Wo bleibt der Schelm, der Hirsewenzel?‹ -