Tod d'Azur - Birgit Hasselbusch - E-Book

Tod d'Azur E-Book

Birgit Hasselbusch

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Beschreibung

Anonyme Anrufer, die Morddrohungen aussprechen, während man live auf Sendung ist – so hatte sich Ella ihr Volontariat bei Radio Bleue in Monte Carlo nicht vorgestellt. Doch irgendjemandem passen ihre Recherchetätigkeiten über Au-pair-Mädchen und ihre Beiträge zu diesem Thema offensichtlich nicht. Auch aus Moderations-Kollege Jens wird Ella nicht schlau. Er bittet sie privat um ein Rendezvous, will ihr bei der Sendung aber partout nicht helfen. Und der Chef de Police selbst warnt sie vor weiteren Interviews. Doch Ella lässt nicht locker und forscht mit Hilfe ihres französischen Nachbarn weiter. Bis sie auf eine Tote stößt, ein Au-pair-Mädchen verschwindet und es im Radiosender einen Mordanschlag gibt. Haarscharf am eigentlichen Ziel vorbei: Ella! Spannend und authentisch – ein außergewöhnlicher Thriller für Jugendliche

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Seitenzahl: 293

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Birgit Hasselbusch

Tod d'Azur

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Wikipedia: Au-pairVorspann1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel
[zur Inhaltsübersicht]

Wikipedia: Au-pair bezeichnet junge Erwachsene, die gegen Verpflegung, Unterkunft und Taschengeld bei einer Gastfamilie im Ausland meist mit Kindern tätig sind, um im Gegenzug Sprache und Kultur des Landes kennenzulernen.

Das französische Adjektiv au pair bedeutet wörtlich übersetzt auf Gegenleistung.

PS: In manchen Fällen kann die Gegenleistung aber auch Grenzen überschreiten und tödlich sein …

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Wenn die alle wüssten. Die Kinder, die fröhlich im warmen Sand umherspringen und ins Mittelmeer abtauchen. Oder die Mütter, die sich träge auf ihren Badelaken rekeln. Die sich nur bewegen, um eine Buchseite umzublättern, lasziv die Sonnenbrille zurechtzurücken, in Zeitlupe eine Flasche Wasser zum Mund zu führen oder die Tube Sonnencreme aufzudrehen. Ach, der herrliche Duft von Sonnencreme. Sofort fühle ich mich sommerlich, frisch und frei. Den halben Tag schon liege ich faul am Strand von Monte Carlo. Endlich mal keine Hektik. Allerdings müsste ich mich auch schon wieder eincremen. Langsam beginne ich bei den Beinen. Eigentlich bin ich eher fahrig und ungeduldig und lasse gerne mal einige Stellen aus, weil ich gedanklich schon drei Schritte weiter bin und zum nächsten Termin hetzen will. Jetzt aber habe ich alle Zeit der Welt. Als ich mit dem Eincremen beim Oberkörper ankomme, taste ich vorsichtig meinen Hals ab und berühre die silberne Kette mit dem Seesternanhänger. Die soll möglichst keine Sonnenmilch abbekommen. Keiner um mich herum ahnt, woher ich diese Kette habe und wie dieses schöne Fleckchen Erde mein Leben komplett verändert hat.

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Schlaf, Kindlein, schlaf,

Und blök nicht wie ein Schaf,

Sonst kommt des Gangsters Händelein,

Erschießt mein liebes Kindelein,

Schlaf, Kindlein, schlaf.

1.

Alle reden immer nur von den letzten Worten. Den berühmten letzten, die jemand spricht, bevor er stirbt. Was aber ist mit den ersten Worten? Ich, Ella Thomsen, werde gleich meine allerersten Worte sprechen. Nicht Mama, Papa oder Ball, sondern meinen ersten Satz ins Mikrophon. Noch dreißig Sekunden, bis der Musiktitel zu Ende ist, das Rotlicht angeht und ich die Hörer von Radio Bleue begrüße. Meine Hand zittert. Den Daumennagel habe ich vor Aufregung angeknabbert. Kein Wunder. Urplötzlich wird mir bewusst, dass ich nicht vor zehn schlafenden Klassenkameraden ein Referat halte, sondern vor Tausenden von Menschen spreche, die da draußen vor ihren Radiogeräten sitzen, im Auto, bei der Arbeit und beim Essen.

«Tu so, als würdest du zu einer einzigen Person sprechen.»

Das hat mir mein Chef geraten. Es ist nur so schwierig umzusetzen, denn mit einem Mal habe ich ein Bild im Kopf. Von Millionen Menschen, die alle nur auf mich starren. Ich schaue mich kurz im Studio um, keine Menschenseele, nur da draußen lauern die gesichtslosen Fratzen der Hörer. So schlimm wird es schon nicht werden, versuche ich mich zu beruhigen, die werden schon alle gute Laune haben. Schließlich bin ich hier an einem der schönsten Orte der Erde, am Mittelmeer. Da sind doch alle entspannt. Oder?

Ich kann nichts dagegen tun. Ich zittere.

Vielleicht hätte ich doch lieber etwas Anständiges lernen sollen. Bankkauffrau oder im Lager eines Supermarktes Kartons auspacken.

Dass mein Chef mich überhaupt so früh ans Mikrophon lässt, so ein Küken, ist ein Vertrauensbeweis. Ich möchte ihn auf keinen Fall enttäuschen. Mein Mund ist ein wenig trocken. Jetzt noch einen Schluck Wasser trinken, nein, das wäre unklug. Womöglich verschlucke ich mich, und meine ersten Worte gehen in einem Hustenschwall unter. Dann lieber den roten Kopf in Kauf nehmen. Den bemerkt keiner.

«Du bist rot wie ’ne Glühbirne, Baby, du bist heiß. Jetzt leg los. Ella die Erste in zehn, neun, acht …»

So spornt mich unser Techniker Jean-Luc mit einem feisten Grinsen an. Auf einmal ist er hinter der Glasscheibe erschienen und spricht über die Taste zu mir. Abhauen geht nicht mehr. Sagt man nicht immer, Lampenfieber kitzelt das Beste aus einem heraus? Ich ziehe den Regler mit der Musik herunter, mache das Mikrophon an und spreche meine berühmten ersten Worte: «Bonjour und hallo, hier ist Ella Thomsen für Sie. Das ist meine Premiere bei Radio Bleue. Und ich kann Ihnen sagen: Mein anderes erstes Mal war nicht halb so aufregend!»

Jean-Luc klatscht durch die Scheibe Beifall, und mein Chef Theo Reimer verdreht leicht die Augen. Aber er lächelt dabei. Ich habe großes Glück mit ihm. Bislang war er noch nie sauer auf mich, selbst dann nicht, wenn ich totalen Bockmist baue. Vielleicht sieht er in mir die Tochter, die er nie hatte. Oder er hat einfach keine Lust auf Streit, den hat er mit seiner Exfrau schon häufig genug, hat er einmal gesagt. Die Sendung geht richtig gut los. Ich komme zum eigentlichen Thema.

«Wenn ich nicht hier beim Radio angefangen hätte, würde ich jetzt als Au-pair-Mädchen in London arbeiten», plaudere ich weiter. «Daraus ist nichts geworden. Ich wüsste aber gerne, wie es ist, Au-pair-Mädchen in Monte Carlo zu sein!? Wie sind die Familien, habt ihr viel Freizeit und esst ihr von goldenen Tellern? Hier bei Radio Bleue möchten wir eine Sendung nur über euch und das Leben als Kindermädchen machen. Legt die Schnuller aus der Hand und ruft mich an!»

Ich gebe die Telefonnummer durch und spiele die nächste Musik ab.

«Das war gut, wirklich», lobt Jean-Luc. «Du hast die Mädchen direkt angesprochen. Wenn die nicht alle gerade Windeln wechseln, bekommst du bestimmt viele Anrufe. Hier klingelt es schon, ich gehe ran!»

Ich wünsche mir so sehr, dass meine erste Sendung ein Erfolg wird. Völlig enthusiastisch hatte ich meinem Chef das Thema vorgeschlagen. Au-pairs. Damit würde man auch eine jüngere Zielgruppe ansprechen als bisher. Jetzt müssen nur noch genügend Mädchen anrufen, die ich dann zum Interview treffen kann, um Porträts über sie zu machen. Für eine Sondersendung. Ich habe alles genau vor Augen und Ohren.

«Hab ich es doch gesagt. Du hast schon eine Anruferin dran!» Jean-Luc hält den gestreckten Daumen hoch.

Yes, denke ich, oder besser Oui. Es läuft.

Ich blende den Musiktitel aus und spreche auf die letzten Takte des Liedes.

«Eben noch an der Wickelkommode, jetzt schon bei Radio Bleue live auf Sendung. Welches Au-pair-Mädchen habe ich dran?», frage ich fröhlich.

«Das ist nicht wichtig!», sagt eine Frau.

Ich erschrecke, weil sie so unfreundlich klingt.

«Lassen Sie die Finger von den Au-pair-Mädchen, sonst … sonst …»

«Sonst muss ich selbst die Windeln wechseln?», gehe ich dazwischen.

«Sonst passiert was!», antwortet die Frau barsch.

Klack, aufgelegt.

Mit weit aufgerissenen Augen starre ich das Mikro an. Was war das denn?

Ich bin so geschockt, dass ich komplett vergesse, etwas zu sagen. Jean-Luc macht hektische Zeichen hinter der Scheibe.

Ich muss mich fangen.

«Ja, äh, ein schlechter Scherz war das, hoffe ich mal», stammele ich, «auf den Schreck ein bisschen Musik!»

Langsam setze ich die Kopfhörer ab, drehe mich vom Mikrophon weg und schaue entgeistert meinen Chef und den Techniker an. Haben die beiden auch gehört, was ich da gerade gehört habe?

So habe ich mir meine erste Sendung bei Radio Bleue nicht vorgestellt – gleich vom ersten Anrufer anonym bedroht zu werden.

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2.

Der Vater meiner Freundin hatte mir das Volontariat bei Radio Bleue besorgt. Auf der Abifeier. Ich stand mit Maria in einer Ecke, und ihr Vater kam zu uns, um mich für meine Rede, die ich in der Aula gehalten hatte, zu loben. Spontan hatte ich mich hinreißen lassen, alle Liebesbeziehungen des Abi-Jahrgangs witzig Revue passieren zu lassen. Selbstverständlich nicht, ohne eine versteckte, sarkastische Bemerkung gegen meinen Ex loszulassen, der mit seiner Chemie-Tischnachbarin angebandelt hatte. Vor versammelter Lehrer- und Schülermannschaft hatte ich über die beiden irgendetwas gesagt wie: Anstatt in Reagenzgläsern haben die beiden eher am lebenden Objekt herumexperimentiert. Ich hatte, mit zwei Ausnahmen, die Lacher auf meiner Seite.

Marias Vater, Herr Rösner, meinte, ich solle unbedingt Journalistin werden.

«In meiner Anwaltskanzlei brauchen die Mitarbeiter elendig viele und sauteure Rhetorikkurse, um öffentlich sprechen zu können. Und selbst nach dem Coaching bekommt kaum einer seinen Text stolperfrei rüber», erklärte er und fügte noch hinzu: «Erst recht nicht mit locker eingestreuten Gags.»

Er fand schon immer, ich habe viel Talent. Ich fand, wir hatten einfach alle zu viel getrunken. Mein angesäuselter Zustand war ein Grund, dass ich mich intensiv mit Herrn Rösner unterhielt. Immer wenn ich bei meiner besten Freundin Maria war, war er noch bei der Arbeit. So viele Worte wie auf dieser Abifeier hatte ich noch nie mit ihm gewechselt. Der zweite Grund war, dass mein Ex mich aus einiger Entfernung skeptisch beobachtete. Es gefiel mir, dass er sich zwischen Jungsklo und 7 b versteckte, um herauszufinden, was ich, die bekloppte Ella, mal wieder im Schilde führte. Bei mir wusste er angeblich nie, woran er war. Weil ich eben noch fröhlich, liebevoll, himmelhochjauchzend und im nächsten Moment aufbrausend, wütend und zu Tode betrübt sein konnte. Oder urplötzlich die irrsinnigsten Einfälle hatte. Mein Ex konnte damit nicht umgehen. Ich zuckte nur mit den Schultern.

«Ich bin eben Skorpion! Musste dir halt eine Waage suchen.»

Die Chemie-Tante ist Steinbock – und er Spießer.

 

«Ich könnte dir vielleicht einen Platz bei einem Radiosender besorgen!», sagte Marias Vater. «Ein Bekannter von mir hat den aufgebaut, meine Firma hat ihn beraten. Er sucht einen Volontär, also jemanden, der eine Radio-Ausbildung macht. Das wäre bestimmt das Richtige für dich. Soll ich mal nachfragen?»

Mir war schon bewusst, dass andere in meinem Alter sonst was dafür täten, genau so ein Angebot zu bekommen, und dass dies meine große Chance war. Mein Plan, später mal irgendwas mit Sprachen zu studieren, war nicht wirklich ausgegoren. Eigentlich hatte ich schon einer Familie in England zugesagt, dort als Au-pair-Mädchen anzufangen. Was sollte ich jetzt sagen? Wer würde schon lange zögern, wenn er die Wahl hätte zwischen Windeln und Mikrophon? Und zwischen England und Frankreich!?

«Der Radiosender ist übrigens in Monaco, an der Côte d’Azur, in der Nähe von Nizza. Die senden aber auf Deutsch», erklärte Herr Rösner, der es offenbar ziemlich gut mit mir meinte. Dabei dachte ich immer, er würde noch nicht einmal meinen Namen kennen.

«Willst du nicht dahin?», fragte ich Maria.

«Nö, zu dir passt das viel besser. Ich habe ja schon den Studienplatz!», antwortete sie nur. Nie klang das Wort Studium schöner. Ich hätte sie knutschen können.

«Der Sender ist für die vielen Touristen, die dort Urlaub machen», fuhr mein neuer Förderer fort.

«Oder durchgängig da unten im Süden wohnen. Na, Ella, hilft dir das vielleicht bei der Entscheidung?»

Ich nickte nur, aber innerlich schrie ich längst: «Na klar!»

«Ich rufe gleich morgen bei ihm an. Versprechen kann ich aber nichts!»

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3.

Seit ein paar Monaten sitze ich nun in der Radioredaktion in Monte Carlo, bei Radio Bleue. Im Fürstentum! Gleich um die Ecke von dem Ort, an dem Charlène ihrem Fürsten Albert das «Oui»-Wort gegeben hat. Mein neuer Arbeitsplatz bietet freie Sicht aufs Meer!

Aber dafür habe ich momentan keinen Blick. Theo Reimer versucht, mich zu beruhigen.

«Ella, was glaubst du, wie viele Spinner beim Radio anrufen? Nimm dir das bitte nicht so zu Herzen.»

Ich kann immer noch nicht fassen, dass die Frau mich bedroht hat.

«Wieso sagt die so etwas? Es geht doch nur um Au-pair-Mädchen.»

«Was weißt du denn? Vielleicht war das eine Frau, deren Mann mit dem Kindermädchen durchgebrannt ist. Weiß man doch nie», phantasiert Jean-Luc sich eine Erklärung zusammen. «So was passiert dauernd!»

«Ach ja? Wie viele Drohungen hast du denn schon bekommen?»

Jean-Luc blickt zerknirscht.

«Jetzt mal abgesehen von der Drohung meiner Exfreundin, mich zu vernichten – keine!»

«Mann, nicht solche Scherze bitte, das ist eine ernste Sache.»

Theo Reimer mischt sich ein. «Mach dir nichts draus, Ella. Es gibt wirklich immer wieder Bekloppte, okay?»

«Na gut!»

Ich bin eigentlich nicht der Typ, der sich leicht einschüchtern lässt. Aber die Worte der Frau klangen bedrohlich. Vielleicht auch nur, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass mich jemand anmachen würde. Immerhin ist mir damit etwas Außergewöhnliches passiert. An diese erste Sendung werde ich mich immer erinnern. Hauptsache, meine Eltern bekommen davon nichts mit. Sie würden es vielleicht nicht ganz so locker sehen.

 

Sie hatten gleich mehrere Einwände: «Wohin willst du? Nach Monte Carlo? Das ist doch nicht echt da!»

Echt schon, aber anders. Ganz anders. Understatement ist nicht bei den Monegassen. Da wird geklotzt und nicht gekleckert. Eine gewisse Summe muss man schon auf den Tisch legen, um die Aufnahmeprüfung für das Fürstentum Monaco zu bestehen. Ohne ein Guthaben im mindestens siebenstelligen Bereich heißt es auch hier: Rien ne va plus. Nichts geht mehr. Dann bekommt man keine Wohnung. Warum die so begehrt sind, versteht sowieso keiner. Wenn man nicht wüsste, dass Monte Carlo zusammen mit Saint-Tropez und dem Cap d’Antibes das très Schickste an der Côte ist und ein Appartement mit Blick auf den Hafen das absolute Must für jeden A-, B- und auch Y-Promi, würde ich denken, ich wäre in Hamburg-Mümmelmannsberg gelandet. Da, wo ein Hochhaus neben dem anderen steht. Also eine Art Sozialbausiedlung für Reiche. Wo man anstelle von Besenkammern Pelzkammern hat, sein Kleingeld mal eben im Casino loswird oder am Hafen für den Gegenwert eines Lottojackpots einen halben Tag auf einer der Yachten abhängen kann.

Ich wohne nicht in Monaco. Das kann ich mir nicht leisten, finde es aber auch gar nicht schlimm. Wer will schon in einem Land wohnen, in dem man rund um die Uhr von tausend Kameras beschattet wird? Die hängen an jeder Straßenecke. Big Brother auf Monegassisch. Stattdessen habe ich ein klitzekleines studio in Nizza angemietet, en miniature, Schlafnische, kitchenette (Küche mit Bar und Hockern), ein Sessel und ein Minibad. Nicht weit entfernt von der wunderhübschen Altstadt und dem Strand! Die allererste Wohnung meines Lebens ist zwar kleiner als die Speisekammer zu Hause in Deutschland, aber wen stört’s, wenn man mit 19 Jahren allein (in Worten: ohne Eltern!!) wohnen kann.

Okay, meine Eltern greifen mir finanziell ein klein wenig unter die Arme. Sie haben mir sogar ein winziges, gebrauchtes, zerschrammtes Auto gekauft. Als mein Chef Theo Reimer das sah, lachte er laut.

«Das gefällt mir. Eine Schrottkarre zwischen all den Nobelkarossen! Endlich mal ein Mädchen ohne Schickimicki!»

Dafür würde mein Volontärsgehalt auch gar nicht reichen. Bei der Wohnungssuche hat mir Theo Reimer geholfen. Ein Mann übrigens, den ich sofort adoptieren würde, wäre das nicht komplett unlogisch. Ich finde, er ist genau so, wie man gerne seinen Vater hätte: nicht zu streng, nicht zu nachgiebig, spendabel, lustig, ernsthaft, einer, der Tacheles redet. Wenn man Mist baut, sagt er Sätze wie: «Gleich klatscht es. Aber keinen Beifall!»

Da weiß ich wenigstens sofort, woran ich bin. Und nach Feierabend lässt er mich machen, was ich will. Das Wort Mentor klingt so hochtrabend, aber im Grunde ist er genau das für mich. Er hat mich Frischling als Volontärin eingestellt und mir alles beigebracht, was man als Radiofrau so wissen muss.

«So hältst du ein Mikrophon, Ella. So stellst du auf Pressekonferenzen die richtigen Fragen, so bearbeitest du dein Tonmaterial im Computer, so hältst du die Hände an den Reglern im Studio – und SO lässt du die Finger besser von Tonassi Jean-Luc!»

Wie gesagt, wie ein Vater.

 

Wohl fühle ich mich bei Radio Bleue, dem kleinen, aber sehr feinen Sender mit zehn Mitarbeitern, die moderieren, Musik auswählen, Beiträge machen oder aber im Marketingbereich Werbekunden an Land ziehen. Seit einem knappen halben Jahr habe ich nun schon diesen Arbeitsplatz an der Sonne. Ich darf sogar diese Sondersendung vorbereiten! Dabei soll es um Monaco und den Lebensstil der Menschen hier gehen und um Dinge, die mir selber am Herzen liegen. Deswegen habe ich das Thema Au-pair-Mädchen vorgeschlagen. Obwohl ich bedroht worden bin in der Sendung, will ich dranbleiben. Das nehme ich mir fest vor, als ich aus dem Radiogebäude auf die Straße trete.

 

«Sie haben aber viel Müll!», sage ich zu einer Frau, die gerade mit zwei riesigen Papiertüten aus dem Nachbarhaus tritt. Darauf nur die teuersten Modelabels.

Die Frau ist sehr blond und sehr aufgetakelt.

«Das ist kein Müll», gibt sie zurück.

«Wie kein Müll?», frage ich. «Was denn dann?»

«Das lassen Sie mal meine Sorge sein», sagt die Blondine schnippisch.

Schnellen Schrittes geht sie zu den Mülltonnen und wirft die Tüten hinein. Danach klopft sie sich die Hände ab und verschwindet wieder.

Schade um die Tüten, denke ich. Die sehen gut aus. Da würden sich meine neuen Badesachen schön drin machen. Aber wieso hat sie gesagt, dass es kein Müll ist?

«Denkst du wirklich, sie hat Müll weggeworfen?», fragt Jean-Luc, der das Gespräch offenbar belauscht hat. Wie aus dem Nichts ist er hinter mir aufgetaucht.

«Ja, was denn sonst?»

«Den Müll entsorgt ihre Haushälterin. Sie selbst wirft immer nur ihre Klamotten weg.»

«Waaas? Ihre Klamotten?», frage ich ungläubig.

«Genau. Sie kauft aus Langeweile bei Chanel oder Gucci für ein paar Tausender Hosen, Jacken und Schuhe, und dann trägt sie sie einmal oder gar nicht, weil sie zu Hause merkt, dass ihr die Sachen doch nicht stehen, und dann wirft sie sie ein paar Wochen später weg.»

«Das glaube ich jetzt nicht. Wieso tauscht sie sie nicht um?»

«Das wäre ihr zu peinlich und der Weg zu weit. Außerdem hat ihr Mann so viel Geld, dass sie jeden Tag einen ganzen Kleiderschrank im Müll versenken könnte. Solche Leute gibt’s hier in Monaco.»

«Wieso bringt sie die Sachen denn nicht in die Altkleidersammlung?»

«So weit denkt sie nicht.»

«Aber das ist doch total bekloppt! Sind die Leute hier echt so?»

«Sie schon!»

«Und holt sich nicht irgendjemand ihre Kleidung da wieder raus?»

«Doch. Die Müllabfuhr!»

Ich stelle mir einen Riesen-Designer-Müllberg vor, auf dem ungetragene Prada-Täschchen neben nagelneuen Oscar-de-la-Renta-Höschen liegen.

«Woher weißt du das eigentlich alles so genau?», will ich von Jean-Luc wissen.

«Ach, ich kenne die Frau», sagt er und blickt zur Seite.

Woher, will ich gar nicht mehr wissen. Vermutlich von einer Tätigkeit, bei der die Frau ihre neue Kleidung auch nicht trägt …

 

Mann, sind die hier alle reich. So viele Geldscheine gebündelt in einem kleinen Ort, der nur ein Stück größer als Helgoland ist. Und mittendrin Touristen, die aus allen Ecken der Welt kommen, kurz die Pracht bestaunen, um danach wieder von ihren Reisebussen verschluckt zu werden. Au-pair-Mädchen hingegen leben inmitten der Reichen und Schönen, obwohl sie selber vielleicht aus eher armen Verhältnissen kommen. Wie kommen sie wohl mit diesem Luxusleben, zu dem sie nur halb gehören, klar? Ich würde zu gerne wissen, was für Mädchen hier arbeiten, ob es ihnen gut dabei geht oder ob sie sich ausgebeutet fühlen. Und ob die Kinder, auf die sie aufpassen, Diamantenschnuller haben. Natürlich würde ich wahnsinnig gerne einige der Wohnungen oder Häuser inspizieren. Vor allem möchte ich eins unbedingt live und in Farbe sehen: eine Pelzkammer.

«Wie kommst du auf Pelzkammern?», will Theo Reimer wissen.

«Na ja, in einem Zeitungsartikel habe ich einmal gelesen, dass viele Monegassen diese Kammern haben sollen.»

«So ein Quatsch. Ich kenne niemanden, der so etwas hat!», schüttelt Reimer den Kopf.

«Und genau deswegen muss ich sie suchen!», raune ich ihm verschwörerisch zu, und er grinst.

«Mal abgesehen von dieser blöden Anruferin war deine erste Sendung übrigens nicht schlecht. Ein bisschen Sprechunterricht brauchst du aber noch. Dann klingst du nicht mehr wie eine Operndiva!», sagt Reimer.

«Ich befürchte, das ist kein Kompliment!?»

«Man soll ja im Radio nicht singen, sondern sprechen, und das möglichst nicht über mehrere Oktaven. Also, du bist noch lange kein Profi, aber das bekommen wir schon hin! Du darfst weitersingen, äh, moderieren!»

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4.

«Schröder hier, aus Nizza. Guten Tag!», höre ich eine Stimme am anderen Ende, als ich ans Telefon gehe. Oh, eine Hörerin! Sofort wird mir mulmig. Bitte nicht schon wieder eine Drohung! Aber nein, die Frau ist viel älter. Die mit der Morddrohung hat zwar deutsch gesprochen. Aber irgendwie mit Akzent. Vielleicht ist sie Engländerin? Frau Schröder will etwas ganz anderes, was fast so schlimm ist wie eine Morddrohung.

«Ich vermisse seit einigen Tagen ihre nette Moderatorin, diese Désirée. Schade, dass sie nicht auf Sendung ist, ich hör sie doch immer so gerne.» Désirée von Strobel ist die andere Frau im Sender und gerade in Deutschland zu einer Probewoche beim Fernsehen. Bisher hatten wir nicht viel miteinander zu tun, weil Désirée am Morgen moderiert. Wenn sie es beim Fernsehen nicht schafft, kommt sie wieder zurück nach Monaco. Wie erkläre ich jetzt bloß Frau Schröder, wo Désirée steckt? Das mit der Probewoche ist nämlich top secret. «Die Désiréeeee», beginne ich und dehne ihr ré um ein paar éeees, «hat es mit dem Hals. Sie kriegt zurzeit keinen Ton raus, Mandelentzündung oder so.»

«Ach, die Arme! Das tut mir aber leid. Grüßen Sie sie bitte von mir. Sie soll Honig mit Zitronenminze und Thymian nehmen, ich schicke ihr was.»

«Tun Sie das, Frau Schröder», ermuntere ich die Frau, verabschiede mich und überlege, ob mir auch ein Hörer irgendwann mal etwas schicken wird. Désirée bekommt ständig Fanpost; ihr Fach ist immer proppenvoll. Désirée ist auch die Einzige, die Autogrammkarten hat. Dabei habe ich auch eine sehr schöne Unterschrift.

 

Eine halbe Stunde nach diesem Telefonat will ich zur Toilette. In dem Moment fliegt die Tür auf, und ausgerechnet Désirée stürmt herein. «Hallöööchen, da bin ich wieder. Gab es etwas? Irgendwelche Anrufe?»

Désirée schaut mich kaum an und stellt sich gleich vor den Spiegel.

«Nö!» Ich schüttele den Kopf. Vielleicht ist es kindisch, aber mich wurmt es irgendwie, dass Désirée ständig Fananrufe bekommt.

Vielleicht ärgert es mich auch nur, dass ich mich im Spiegel direkt mit ihr vergleichen kann.

Ich: schulterlange, straßenköterblonde Fusselhaare. Und Désirée: lange, glänzende, schwarze Mähne. Sie moderiert die Frühsendung, steht jeden Morgen um halb fünf auf, was man ihr aber nicht ansieht. Mein Teint ist viel fahler und blasser. Könnte auch an ihrer dicken Make-up-Schicht liegen.

«Und wie war’s beim Fernsehen?», traue ich mich zu fragen.

«Ach ja, gut. Sehr gut! Ich kann mich einfach nicht entscheiden, was ich will. Radio in Monte Carlo oder Fernsehen in Deutschland!»

Désirée macht das geschickt, finde ich. Was sie eben gesagt hat, kann alles bedeuten. Vielleicht hat sie eine Absage beim Fernsehen bekommen und tut jetzt so, als könne sie sich nicht von Radio Bleue trennen.

Ich will ihr aber nicht zu viele Gemeinheiten unterstellen.

«Sag mal, du hast eine Drohung in deiner ersten Sendung bekommen?», wechselt Désirée das Thema.

So wie sie es sagt, klingt es, als habe ich in meiner ersten Sendung ein neues T-Shirt bekommen.

«Äh, ja. War eine komische Sache», erkläre ich.

«Ich hatte noch nie eine», meint sie beinahe schmollend.

Wie ist die denn drauf?

«Komisch. Ich finde nämlich, du machst deine Arbeit ganz gut. Mich würde nur mal interessieren, was dich hierher verschlagen hat.»

Tja, was wollte ich eigentlich noch mal hier? Meinen Exfreund vergessen vielleicht.

Jetzt bin ich also hier, im Land des blühenden Lavendels, in dem mir hoffentlich auch etwas blüht. Vielleicht sogar ein kleines Abenteuer? Neues Land, neues Spiel, neues Leben, neue Liebe!

Vielleicht kann ich meinem Ex und seinem neuen Reagenzglas schon bald eine Ansichtskarte schicken mit den Worten: «Macht euch um mich keine Sorgen. Heute roter Teppich in Monte Carlo, morgen Vernissage auf Korsika. Gros bisous von Ella. PS: Grüße auch von Jean-Paul.» Oder wahlweise Jean-Philippe oder wem auch immer! Vielleicht kann ich aber auch bald mit Ella und Guillaume unterschreiben.

Guillaume ist mein Nachbar in Nizza. Er wohnt gemeinsam mit zwei Freunden schräg über mir im Dachgeschoss. Die drei studieren Informatik, was nicht wirklich aufregend klingt. Er ist aber nicht so ein typischer Computer-Freak, blass, weltfremd, gefangen in seinen Bits and Bytes.

Im Gegenteil: 21 Jahre alt, hat wahnsinnig was auf dem Kasten, zumindest technische Sachen, von denen ich keinen blassen Schimmer habe. Er hat mir schon so viel beigebracht. Und möglicherweise folgt noch einiges. (Nicht nur im technischen Bereich!) Na gut, er ist ein filou, komm ich heut nicht, komm ich morgen. Aber er hat lachende Augen und ist witzig. Das find ich klasse. Auch diesen lässigen Auftritt, als er sich mir vorgestellt hat: Plötzlich steht ein Typ mit halblangen Haaren vor meiner Tür, im engen weißen T-Shirt und selbstgenähten Surfer-Shorts. Und was macht er? Er fragt nicht, ob ich etwas Zucker für ihn habe, sondern eine Steckdose. «Salut, ich bin Guillaume. Wir probieren da oben so einiges aus, also mit unseren Computern. Alle Steckdosen sind belegt, ich müsste aber dringend mein Handy aufladen. Geht das?»

Coole Nummer. Na klar, darf er das. Schade nur, dass er nach dem Einstöpseln sofort wieder nach oben verschwindet. Lange sitze ich neben seinem Handy und kann mich nur schwer beherrschen, schnell mal die Kontakte und SMS meines neuen Nachbarn zu checken. Später bringe ich das gute Stück aufgeladen nach oben, selbst bis zu den Haarspitzen mit Hormonen aufgeladen.

Ich betrete das Computer-Reich, stolpere über Kabel, leere Pizzakartons und ein paar Freunde von Guillaume.

«Mann, Guillaume, eine ordentliche Deutsche, hättest du nicht mal den Abwasch machen können?», piesackt ihn sein Mitbewohner.

«Stimmt, ich hätte die Pizzakartons mal in die Spülmaschine stellen können», gibt Guillaume grinsend zurück.

«Soll ich schnell was helfen?», frage ich und merke, wie bekloppt das ist. Denn ich habe ja nun gar nichts damit zu tun. War noch nie in der Wohnung, habe hier noch nie etwas gegessen oder getrunken und will den Abwasch machen.

«Das ist nett von dir, Ella, aber ich habe ja noch nicht einmal echtes Geschirr!»

So sieht es also aus, wenn Jungs was mit Technik ausprobieren. Ich überlegte, wie es wohl wäre, wenn er auch mal etwas mit mir ausprobieren würde.

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5.

Endlich! Heute Abend treffen wir uns. Guillaume und ich um 19 Uhr im Café Nice. Unser erstes Tête-à-Tête. Ob Guillaume es auch so romantisch sieht, bezweifele ich eher. Ich selber kann mich kaum auf das Rendezvous vorbereiten, weil ich immer noch versuche, eine Au-pair-Agentur an die Strippe zu bekommen.

«Hier ist Ella Thomsen von Radio Bleue. Ich möchte einen großen Beitrag über Sie und die Au-pair-Mädchen machen. Rufen Sie mich doch bitte zurück. Merci!»

Wie oft hatte ich diesen Spruch bereits auf Band hinterlassen? Ob der Anrufbeantworter kaputt ist? Auf all meine Nachrichten habe ich bisher keine einzige Antwort bekommen. Die können ja schlecht Urlaub machen. Und an meinem Französisch kann es auch nicht liegen. Das ist inzwischen wirklich ganz passabel. Auch dank Guillaume. Ohne die blöde Agentur komme ich nicht an die Au-pairs heran, und die ganze Geschichte wird nicht rund. Denn in der Sendung hat sich außer der «mörderischen» Frau niemand gemeldet. Vor Wut zerkaue ich meinen Kugelschreiber.

«Na, komm, Ella, es eilt ja nicht, die melden sich bestimmt bald», tröstet mich Theo Reimer. «Ansonsten suchst du dir vielleicht einfach ein anderes Thema!?»

«Bestimmt nicht», gebe ich energisch zurück. «Kurz vorm Ziel aufgeben ist nicht mein Ding. Du hast doch gesagt, ich soll die Anruferin nicht ernst nehmen. Das wäre ja so, als wenn man kurz vor einem Treffen mit einem Mann sagt, man wolle doch nicht mehr. Und dann weiß man nie, was daraus geworden wäre. Apropos: Ich muss los!», rufe ich nach einem Blick auf meine Uhr. Ich schalte meinen Computer aus und pferche meine Unterlagen in mein Fach.

«Na, dann viel Spaß mit deinem Computer-Crack!»

Reimer zwinkert mir zu. Okay, manchmal hat er auch nervige väterliche Anzeichen. Ich verdrehe die Augen und sprinte die Treppe hinunter.

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Schlaf, Kindlein, schlaf,

Dein Vater ist ein Schaf,

Deine Mutter ist ein Vollidiot,

Die Oma, die ist lange tot,

Schlaf, Kindlein, schlaf

6.

«Oh, nein. Bitte tun Sie das nicht!» Ich flehe die Polizistin an, die gerade einen Strafzettel hinter meinen Scheibenwischer klemmt.

«Zu spät», sagt die. Ein anderer Mann befestigt zeitgleich eine Kralle am linken Reifen meines VW Polo. Losfahren ist nicht.

«Zut alors», fluche ich. Ein wütendes «Putain», «La vache» oder gar «Fait chier» schicke ich noch hinterher. Mehr Schimpfwörter habe ich auch gar nicht im Repertoire. Die Polizistin hört mich nicht mehr, sie ist schon weitergegangen, die nächsten Parksünder aufschreiben.

Wie kommen die auf die Idee, mich mit so einer Wegfahrsperre aufzuhalten? Okay, natürlich ist das absolute Halteverbot kein besonders günstiger Parkplatz. Aber stehe ich da nicht schon seit Monaten, tagein, tagaus?

Ich setze mich auf den Bordstein und pfriemele am Vorderrad herum, um die Kralle zu entfernen. Doch nichts tut sich. Ich reiße, drücke, hebele und fluche weiter. Bei 27 Grad läuft mir der Schweiß über die Stirn und den Rücken hinunter. Wie gut, dass ich heute die transparente, helle Tunika angezogen habe. Ich darf gar nicht daran denken, dass Guillaume bei einem eiskalten Getränk im Café auf mich wartet. Ich hatte mich so sehr auf diesen Tag gefreut und darauf, Guillaume endlich näher kennenzulernen. Stattdessen liege ich unter meinem Auto.

«Na, will er nicht?», höre ich eine deutsche Stimme über mir.

«Und ob er will. Wenn er jetzt allerdings so lange auf mich warten muss, befürchte ich, dass er nicht mehr wirklich will, weil er denkt, ich will nicht», platze ich heraus, in Gedanken an Guillaume.

«Ich wollte eigentlich wissen, ob der Wagen nicht will», sagt die Stimme.

Äh, peinlich, was rede ich da? Und wieso kann er überhaupt Deutsch? Er muss mein Hamburger Kennzeichen gesehen haben und davon ausgegangen sein, dass ich Deutsche bin. Ich brauche jemanden, der mir beispringt.

«Können Sie mir helfen, die Kralle abzubekommen?»

Der Fremde erleidet beinahe einen Herzanfall angesichts der Bitte.

«Sind Sie wahnsinnig?», ruft er empört. «Die buchten Sie sofort ein! Und mich gleich mit! Die sehen hier alles.»

Mit dramatischer Geste zeigt er auf eine Kamera, die direkt über uns angebracht ist.

«Das ist eine Rundumbewachung. Da sollte man besser nicht nachts sturzbetrunken einen Laternenpfahl küssen», stimme ich ihm zu.

Die Antwort scheint mein Gegenüber zu erheitern.

«Um das zu sehen, würde ich mich sogar einbuchten lassen», erwidert er lachend, und ich frage mich, in was ich da hineingeraten bin. Was erzähle ich diesem Unbekannten eigentlich für einen Schwachsinn? Ich will so schnell wie möglich zu Guillaume! Mehrfach habe ich erfolglos versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen. Ob das Café im Funkloch liegt? Als ich wieder unter dem Auto hervorkrieche, steht da ein Typ, Haare mittelbraun und ein wenig größer als ich. Outfitmäßig so lala, Jeans und Jackett und ein gebügeltes T-Shirt ohne jede Falte.

«Ich kann Ihnen aber auch anders helfen. Ich kenne nämlich jemanden bei der Polizei», schlägt der Fremde vor, und ich schöpfe Hoffnung. «Und übrigens: Ich bin Jens Freese aus München!»

«Was machen Sie denn hier?», frage ich.

«Ich fang hier beim Radio an. Als Moderator. Hier in dem Gebäude ist es, glaube ich.»

«Wie bitte, bei uns? Bei Radio Bleue», platze ich erstaunt heraus.

«Ach, Sie sind da auch?», erkundigt sich Jens interessiert.

«Ja, aber unser Chef hat nichts davon gesagt, dass ein Neuer kommt.»

«Na ja, so neu bin ich ja auch gar nicht mehr. Schon 29.»

Ich lache. «Sehr witzig, so habe ich es natürlich nicht gemeint. Wir wussten wirklich nicht, dass Sie kommen.» Ich weiß nicht, wie ich es finden soll, dass auf einmal noch ein Moderator mit im Spiel ist. Ob meine Chancen auf eine eigene Sendung dadurch sinken? Innerlich schüttele ich den Kopf über mich und mein Konkurrenzdenken. Lass den doch erst mal ankommen. Aber wieso hat Theo Reimer uns das verschwiegen?

Jens kann offenbar Gedanken lesen.

«Der Chef wusste bis vor kurzem noch gar nichts davon. Mich hat der Besitzer des Senders, Andreas Schmidt, in Deutschland eingestellt und irgendwie vergessen, euren Chef zu informieren. Ist irgendwie blöd gelaufen. Hoffentlich ist Herr Reimer nicht sauer deswegen?»

Das wüsste ich auch gerne. Normalerweise mag er es gar nicht, wenn über seinen Kopf hinweg entschieden wird. Außerdem habe ich schon ein paarmal mitbekommen, wie Reimer sich über die «idiotischen Entscheidungen» von diesem Schmidt aufgeregt hat. Toll wird er es nicht finden. Aber für die internen Streitereien kann Jens ja nichts.

«Ich bin übrigens Volontärin hier, seit einem guten halben Jahr. Ella heiße ich, aus Hamburg, hallo!» Ich gebe ihm die Hand.

«Na, wenn wir Kollegen sind, können wir uns ja auch duzen, oder?»

«Gute Idee. Und wen kennst du nun bei der Polizei?»

«Ach, einen Bekannten von Schmidt. Ich habe Glück gehabt. In München gibt es zwar auch viele Radiosender. Aber das hier ist etwas ganz Besonderes. Eine coole Herausforderung, oder?»

Ich nicke und bin erleichtert, dass Jens offenbar auch über Connections an den Job gekommen ist.

«Der Typ bei der Polizei kann uns vielleicht mit deiner Kralle aus der Patsche helfen. Obwohl die Polizei hier megastreng sein soll.»

Ich finde es schon ein bisschen arrogant, wie Jens Freese so selbstsicher behauptet, alles regeln zu können. Bestimmt ist er ein Hochstapler! Sehr gespannt bin ich, wie er das machen will. Einfach ins Polizeipräsidium reinmarschieren, mit den Fingern schnippen und dem Erstbesten zurufen: «Entfernen Sie binnen zehn Sekunden die Kralle am Auto dieser Frau. Sie ist in geheimer Mission unterwegs und darf keinesfalls weiter behindert werden!»

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7.

Nachdem ich wieder aus meiner Action-Phantasie aufgetaucht bin, sind Jens und ich im Büro von Kommissar Alain Magnien. Da dieser kein Wort Deutsch spricht, erklärt Jens ihm die Sache mit der Autokralle. Sein Französisch ist richtig gut. Ich bin ein wenig neidisch, dachte, ich sei im Sender die große Ausnahme, und nun kommt noch einer, der auf Französisch weiter als bis drei zählen kann. Beide lachen und feixen, als würden sie sich seit Jahren kennen und die Kralle wäre lediglich ein Kavaliersdelikt. Als das Telefon klingelt, nimmt Monsieur Magnien den Anruf entgegen und setzt plötzlich einen sehr ernsten Gesichtsausdruck auf.

«Oui, on arrive! Wir kommen», sagt er in den Hörer und steht dabei stramm.

Wer kann das denn wohl gewesen sein? Jens zuckt auch nur mit den Schultern. Ein paar Etagen fahren wir mit dem Fahrstuhl nach oben. Zu Hauptkommissar Bernard Cochet. Oha, gleich die oberste Adresse! Fast so, als würde man in einem Supermarkt auf der Suche nach Milch den Filialleiter rufen. Wieso um alles in der Welt sollte sich ein Kommissar für den zerschrammten Polo einer Deutschen interessieren?

 

«Bonjour», grüßt Cochet, den ich mir ganz anders vorgestellt habe. Ich dachte, Hauptkommissare sind jenseits der sechzig, haben schütteres Haar und sehen aus wie eine Mischung aus Derrick und Columbo. Dieses Exemplar ist um die vierzig und eine Mischung aus allen je da gewesenen James-Bond-Darstellern. Sozusagen ein Sean Roger Pierce Craig. Er begrüßt mich in gutem Deutsch und bietet mir beinahe akzentfrei ein Wasser an. Ich wundere mich. Es kommt selten vor, dass Franzosen etwas anderes als Französisch sprechen.

Ich gebe mich vorsichtshalber etwas reserviert, weil ich keine Ahnung habe, was ich hier soll.

«Meine Mutter stammt aus dem Elsass», erzählt Cochet und streicht sich über seine schwarzen Haare, die voller Gel richtig schmierig aussehen. «Deswegen spreche ich ganz passabel Deutsch!»