10 Lektionen aus der Geschichte für die drängendsten Fragen unserer Zeit - Roman Krznaric - E-Book

10 Lektionen aus der Geschichte für die drängendsten Fragen unserer Zeit E-Book

Roman Krznaric

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Beschreibung

Was können wir aus der Kaffeehauskultur der Aufklärung lernen, um die Spaltung unserer heutigen Gesellschaft zu überwinden? Welche Inspirationen liefert das Japan des 18. Jahrhunderts zur Schaffung einer nachhaltigen Wirtschaft? Und welche Lektionen bietet die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus zur Kontrolle künstlicher Intelligenz? Roman Krznaric zeigt, wie sich frühere Gesellschaften – oft gegen alle Widerstände – erhoben haben, um fundamentale Krisen zu bewältigen. Dabei präsentiert er in seinem Buch inspirierende Einsichten aus den letzten tausend Jahren der Weltgeschichte, die uns helfen können, zehn der größten Herausforderungen zu meistern, vor denen die Menschheit heute steht. Von der Überwindung wachsender Ungleichheit über die Wiederbelebung unseres Glaubens an die Demokratie bis hin zur Vermeidung des ökologischen Kollapses: Die Geschichte ist nicht nur ein Mittel zum Verständnis der Vergangenheit. Sie ist auch eine Möglichkeit, unsere Beziehung zur Zukunft neu und hoffnungsvoller zu gestalten.

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Seitenzahl: 504

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Welche Inspirationen liefert das Japan des 18. Jahrhunderts zur Schaffung einer nachhaltigen Wirtschaft? Was können wir aus der Kaffeehauskultur der Aufklärung lernen, um die Spaltung unserer heutigen Gesellschaft zu überwinden? Und welche Lektionen bietet die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus zur Kontrolle künstlicher Intelligenz?

Roman Krznaric zeigt, wie sich frühere Gesellschaften – oft gegen alle Widerstände – erhoben haben, um einschneidende Krisen zu bewältigen. Dabei präsentiert er in seinem Buch inspirierende Einsichten aus der Geschichte, die uns helfen können, zehn der größten Probleme zu bewältigen, vor denen die Menschheit heute steht.

Von der Überwindung wachsender Ungleichheit über die Wiederbelebung unseres Glaubens an die Demokratie bis hin zur Vermeidung von Wasserkriegen: Die Geschichte ist nicht nur ein Mittel zum Verständnis der Vergangenheit. Sie ist auch eine Möglichkeit, unsere Beziehung zur Zukunft neu und hoffnungsvoller zu gestalten.

© Kate Raworth

Roman Krznaric wuchs in Sydney und Hongkong auf und studierte an den Universitäten von Oxford, London und Essex, wo er in Politischer Soziologie promovierte. Er ist ein bekannter TED-Talker und Mitglied der Denkfabrik Club of Rome. Seine Bücher wurden in mehr als 25 Sprachen übersetzt.

Sebastian Vogel, geboren 1955, ist promovierter Biologe und renommierter Übersetzer von Sachbüchern. Er übertrug u. a. die Bücher von Richard Dawkins, Richard Leakey und Daniel Dennett ins Deutsche.

Roman Krznaric

10 Lektionen aus der Geschichte für die drängendsten Fragen unserer Zeit

            

Aus dem Englischenvon Sebastian Vogel

Von Roman Krznaric ist bei DuMont außerdem erschienen:

Der gute Vorfahr. Langfristiges Denken in einer kurzlebigen Welt

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel History for Tomorrow. Inspiration from the Past for the Future of Humanity bei WH Allen, ein Imprint von Ebury, Penguin Random House, London.

© Roman Krznaric 2024

E-Book 2025

© 2025 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Übersetzung: Sebastian Vogel

Lektorat: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: illustratoren.de/KEBirch

Satz: Fagott, Ffm

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1145-9

www.dumont-buchverlag.de

 

»Die wichtigste und eigentliche Aufgabe der Geschichte besteht darin, die Menschen durch das Wissen über vergangene Ereignisse zu belehren und sie zu befähigen, sich in der Gegenwart umsichtig und in der Zukunft vorausschauend zu verhalten.«

Thomas Hobbes im Vorwort zu seiner Übersetzung von Der Peloponnesische Krieg des Thukydides von 1628

Einleitung

Zurückblicken, um vorwärtszukommen

Was wir aus der Geschichte wissen, ist von unschätzbarem Wert für die Zukunft der Menschheit. Die Zeit, in der wir heute leben, wird ganz von der Gegenwart beherrscht. Wenn wir uns fragen, wie es weitergehen soll, werden die in der Vergangenheit angehäuften Erfahrungen gewaltig unterschätzt. Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir alle im 21. Jahrhundert stehen – von der Gefahr eines ökologischen Zusammenbruchs und dem wachsenden Wohlstandsgefälle bis zu den Risiken durch künstliche Intelligenz und Gentechnik –, greifen wir viel zu selten auf den ungeheuren Wissensvorrat zurück, den uns unsere Vorfahren Generation für Generation hinterlassen haben. Es ist dringend notwendig, dass wir zurückblicken, damit wir uns den Weg, der vor uns liegt, besser vorstellen können.

Die Tyrannei des Jetzt beherrscht zunehmend das öffentliche Leben. Die meisten Politiker und Politikerinnen sind viel zu sehr damit beschäftigt, auf die Schlagzeilen von heute zu reagieren oder den neuesten politischen Trends hinterherzulaufen, als dass sie einmal die Pause-Taste drücken und Zeit darauf verwenden würden, aus der Vergangenheit zu lernen. Die sozialen Medien halten unsere Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick fest. Und Tech-Gurus versichern uns, die neueste Technologie werde unsere Zivilisation retten: Wer braucht schon Geschichte, wo wir doch Kohlenstoffabscheidung, synthetische Biologie und KI-Algorithmen haben?

Geht es dagegen um das Alltagsleben, dann fällt auf, wie viele Menschen sich von der Vergangenheit fesseln lassen. Millionen verfolgen fasziniert historische Dokumentarfilme, hören eifrig Geschichts-Podcasts, lesen historische Biografien, besichtigen im Urlaub historische Stätten und begeben sich auf die Suche, um ihre Familiengeschichte zurückzuverfolgen. Stellen wir uns nur einmal vor, wir könnten einen Teil dieser Leidenschaft für die Vergangenheit zur Bewältigung der vielen Schwierigkeiten nutzen, denen die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten gegenübersteht!

Dazu hätten wir allen Grund. Nach Ansicht einer langen Reihe angesehener Historiker, die bis zu Thukydides, Ibn Khaldun und Thomas Hobbes zurückreicht, kann uns die Beschäftigung mit der Vergangenheit helfen, uns in der Zukunft zurechtzufinden – manchmal spricht man von »angewandter Geschichtsforschung«.1 Sie soll uns nicht in die Lage versetzen, wie Nostradamus die Zukunft vorherzusagen, sondern uns zu einer aufgeschlosseneren Fantasie verhelfen. Die Geschichte kann uns daran erinnern, wie wir uns in der Vergangenheit mit Krisen auseinandergesetzt haben. Sie kann uns unterschiedliche, lange vergessene Formen der Gesellschaftsorganisation aufzeigen, die Wurzeln der heutigen Ungerechtigkeiten und Machtverhältnisse entlarven und Hinweise darauf geben, wie wir überleben, uns positiv entwickeln und Veränderungen bewirken können. Die Geschichte ist keine Hellseherin, sondern eine Beraterin. Sie ermutigt uns, neue Fragen zu stellen und zu erkennen, dass andere Wege möglich sein könnten. Goethe verstand, welche Nahrung sie liefert, als er erklärte: »Wer nicht von dreitausend Jahren/Sich weiß Rechenschaft zu geben,/Bleib im Dunkeln unerfahren,/Mag von Tag zu Tage leben.«2

Kann die Geschichte solchen Versprechungen als Leitfaden in einer komplexen Welt wirklich gerecht werden? Im Oktober 1962, mitten in der Kuba-Krise, suchte Präsident John F. Kennedy Rat in einem kurz zuvor erschienenen populären historischen Werk: In The Guns of August [dt. August 1914] zeichnete Barbara Tuchman nach, welche Verkettung von Missverständnissen, falschen Berechnungen und Stümpereien der politischen und militärischen Eliten zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beigetragen hatte. Kennedy machte sich Sorgen, eine aggressive politische Antwort der Vereinigten Staaten könne eine ähnliche Lawine von Entscheidungen in Gang setzen und den sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow veranlassen, den Atomknopf zu drücken. Er wollte unbedingt das Seinige dafür tun, dass kein damit vergleichbares Buch über die Fehlentscheidungen vom Oktober 1962 geschrieben werden könnte: »Falls danach noch jemand am Leben sein wird, der es schildern kann, so sollen sie sehen, dass wir alles getan haben, um den Frieden zu erhalten, und alles, um unserem Gegner Bewegungsfreiheit zu geben. Ich will die Russen keinen Schritt weiter treiben, als es notwendig ist.«3

Was in der Kuba-Krise die Wendepunkte waren, ist unter Historikern noch heute heftig umstritten. Allgemein herrscht aber Einigkeit darüber, dass das Buch von Tuchman eine entscheidende Rolle für Kennedys Entscheidung spielte, sich den Falken in seiner Regierung zu widersetzen, die in Kuba einmarschieren und damit einen Nuklearkonflikt riskieren wollten, und stattdessen vorsichtiger vorzugehen und sich um eine diplomatische Lösung zu bemühen – was schließlich zur erfolgreichen Beilegung des Konflikts führte. Nach Angaben der Historikerin Margaret MacMillan wurde Kennedy bei der Lektüre des Buches »schmerzhaft bewusst, wie eine Reihe von Fehlern und Ungeschicklichkeiten zu einer großen Katastrophe führen kann«.4 Von der Bibel bis zu Mein Kampf hat eine ganze Reihe von Büchern dazu beigetragen, Kriege auszulösen. August 1914 gehört zu den wenigen, die vielleicht einen Krieg verhindert haben.

Aus dieser Geschichte können wir für unsere Zeit eine Lehre ziehen, denn sie macht deutlich, wie wichtig es sein kann, aus der Geschichte zu lernen. Sie zeigt, dass Geschichte als wertvolle Warnung dienen kann, ein Gedanke, den George Santayana in einem berühmten Aphorismus einfing: »Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.«5 Es ist also oftmals nützlich, uns wie Kennedy an unsere Fehler zu erinnern und daraus zu lernen. Aber wenn die Geschichte uns als Leitfaden dienen soll, ist es ebenso wichtig, uns auch an unsere Errungenschaften zu erinnern und sie als Anregung zu nutzen. In diesem Buch werfe ich also einen doppelten Blick auf die Vergangenheit: Ich suche in positiven Beispielen – in Dingen, die richtig gelaufen sind – ebenso nach Erkenntnissen wie in warnenden Geschichten über Dinge, die schiefgegangen sind.

Ebenso halte ich es für wichtig, die altmodische Idee infrage zu stellen, in der Geschichte gehe es nur um »die Biografie großer Männer«, wie Thomas Carlyle es formulierte – um die Entscheidungen und Handlungen mächtiger Politiker, Militärführer, Wirtschaftsbosse und anderer öffentlicher Gestalten. Diesem elitären Blick auf die Geschichte hat man im Laufe der letzten 50 Jahre eine andere Denkschule entgegengesetzt, die auf die Bedeutung der »Geschichte von unten« aufmerksam macht. Die Arbeiten von Historikern und Historikerinnen wie E. P. Thompson, Christopher Hill und Natalie Zemon Davis, die Betonung der mündlichen Überlieferung und die französische Tradition der Annales haben deutlich gemacht, dass Geschichte nur allzu häufig aus dem Blickwinkel der Mächtigen geschrieben wurde, womit die Rolle der zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen sowie der ganz gewöhnlichen Bürger für die Gestaltung der Vergangenheit an den Rand rückte. Das hat Folgen. Howard Zinn schrieb in seinem bahnbrechenden Werk Eine Geschichte des amerikanischen Volkes: »Aber die meisten Geschichtsschreibungen unterschätzen die Revolte, überschätzen die Staatskunst und bestärken die Bürger dadurch in ihrer Machtlosigkeit.6

In dem vorliegenden Buch greife ich auf diese Tradition der »Geschichte von unten« zurück und gehe der Frage nach, welche Anregungen wir in unserer gemeinsamen Vergangenheit finden können, wenn wir die drängendsten Herausforderungen bewältigen wollen, vor denen die Menschheit heute steht. Das globale System ist bereits ins Wanken geraten – große Dürren, schmelzende Gletscher, Rechtsextremismus, der Zerfall von Wohlfahrtsstaaten, Energieknappheit, die Verbreitung von Viren, Cyberangriffe. Es scheint, als steuerten wir auf eine Ära der Dauerkrise zu. Geschichte ist ein Kompass, der uns helfen kann, uns in dem Durcheinander zurechtzufinden. Ich behaupte nicht, ich hätte allgemeingültige historische »Gesetze« gefunden (ein solches Unterfangen wäre angesichts der ungeheuren Komplexität der Vergangenheit ein Fantasiegebilde), und ich vertrete auch weder ein bestimmtes theoretisches Modell noch eine These über den Ablauf des historischen Wandels.7 Vielmehr verfolge ich im Geiste von Howard Zinn vor allem das Ziel, Geschichten und Erkenntnisse aus der historischen Vergangenheit ans Licht zu holen, die Changemaker in der Gesellschaft stärken können – nicht nur Politiker, sondern auch Organisatoren, studentische Aktivistinnen, Sozialunternehmer, Straßenrebellen, Erzieherinnen und andere engagierte Bürgerinnen und Bürger, die in diesem entscheidenden Augenblick der Geschichte unserer Spezies etwas bewirken wollen.

Jedes der zehn Kapitel beschäftigt sich mit einer wichtigen globalen Herausforderung, so mit Wasserknappheit, der wachsenden Ungleichheit oder den Gefahren der Gentechnik. Entnommen wurden sie den wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Zusammenbruch der Zivilisation und existenzielle Risiken, in deren Zusammenhang die grundlegenden ökologischen, soziopolitischen und technologischen Bedrohungen für das Überleben und Gedeihen der Gesellschaften benannt werden.8 Anschließend stelle ich die Frage, was wir aus den letzten tausend Jahren der Geschichte verschiedener Kulturen und Kontinente lernen können, um so derartigen Herausforderungen auf neuartige und effiziente Weise zu begegnen. Um zusätzliche Sichtweisen zu ermöglichen, erweitere ich hin und wieder die Analyse bis auf Goethes drei Jahrtausende. Damit sich die Geschichte so weit wie möglich auf unsere vielschichtige globalisierte Welt anwenden lässt, entnehme ich die Beispiele in den meisten Fällen aus großen, komplexen, urbanen Gesellschaften.

In den nachfolgenden Kapiteln – die man auch als eigenständige Essays lesen kann – mache ich deutlich, wie wichtig gesellschaftliche Neuerungen – im Gegensatz zu technischen Innovationen, die in der Regel weit mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen – für den Ablauf der Geschichte sind. Damit meine ich Neuerungen im Hinblick auf gemeinsames Handeln, die Organisation von Menschengruppen und gemeinsame Ideale im Sinne des Allgemeinwohls. Das Spektrum reicht vom zerstörerischen Potenzial gesellschaftlicher Bewegungen bis zu den radikalen Möglichkeiten der unmittelbaren Demokratie und der verborgenen Geschichte der Bewirtschaftung von Allgemeingütern. Wie sich herausgestellt hat, sind alle diese Neuerungen – die gesellschaftlichen Entsprechungen zur Dampfmaschine oder dem Smartphone – in der Lage, ganz ähnlich wie neue technische Möglichkeiten ganze Gesellschaften über den Kipppunkt der Veränderung zu treiben. Wenn wir von der Weisheit der Vergangenheit profitieren wollen, müssen wir unbedingt auf alles zurückgreifen, was wir über die außerordentliche Fähigkeit der Menschen zu Kooperation, gegenseitiger Unterstützung und gemeinsamem Handeln wissen. Die Zeit für eine Renaissance der Beziehungen ist gekommen.

Im Laufe meiner Recherchen bin ich auf eine Fülle faszinierender historischer Beispiele gestoßen, die oft den Anlass zu überraschenden Fragen gaben. Welche Erkenntnisse liefern uns die Sklavenaufstände des 19. Jahrhunderts, wenn wir unsere Sucht nach fossilen Brennstoffen überwinden wollen? Wie können wir anhand der Geschichte des Kapitalismus besser verstehen, was wir tun müssen, um die Gefahren der KI zu begrenzen? Was können wir von einem mittelalterlichen islamischen Königreich lernen, um in einem Zeitalter der wachsenden Migration kulturelle Toleranz zu schaffen, und was lernen wir vom vormodernen Japan über das schädliche Hyper-Konsumverhalten? Wie können die Konflikte, die durch die Druckpresse ausgelöst wurden, oder die Kaffeehäuser des Georgianischen London zur Anregung für Ideen werden, wie sich die durch soziale Medien hervorgerufene politische Polarisierung vermindern lässt? Vom Indien der vorkolonialen Zeit bis zum Kuba der Revolution, von der chinesischen Qing-Dynastie bis zum Kampf um Frauenrechte in Finnland liefert uns die Geschichte unerwartete Sichtweisen und Denkansätze, um uns in einer turbulenten Zukunft zu behaupten.

Ich habe Politikwissenschaft studiert. Die Welt durch die Brille der Geschichte zu sehen, war in den letzten 30 Jahren der gemeinsame Nenner aller meiner Forschungsarbeiten und Schriften, von der Doktorarbeit, in der ich die Hinterlassenschaften des lateinamerikanischen Kolonialismus untersucht hatte, bis zu Büchern und Artikeln, in denen ich Themen wie Arbeit, Empathie, Demokratie und langfristiges Denken aus historischer Sicht betrachte.9 In 10 Lektionen aus der Geschichte für die drängendsten Fragen unserer Zeit sehe ich mich selbst als Dolmetscher oder Botschafter der Vergangenheit, der sich in die Arbeit professioneller Historiker vertieft und sie in Beziehung zu den Krisen des vor uns liegenden Jahrhunderts setzt. Damit stehe ich in der Schuld all jener Historiker, die jahrelang in den Archiven gearbeitet und damit die intellektuellen Reichtümer geschaffen haben, ohne die dieses Buch nicht hätte entstehen können.

Großen Dank bin ich auch meinen Eltern schuldig: In den Gesprächen, die wir am Esstisch führten, als ich ein Teenager war, weckten sie erstmals in mir den Gedanken, aus der Geschichte zu lernen. Mein Vater erzählte immer Geschichten über seine Lebenserfahrungen nach den Traumata, die er im Zweiten Weltkrieg in Polen erlitten hatte, und über seine Flucht aus Europa nach Australien. Noch größeren Einfluss hatte meine Stiefmutter: Sie war selbst geflüchtet und hatte während des Krieges die Bombardierung ihrer Heimatstadt in Italien überlebt – später war sie eine leidenschaftliche, engagierte Geschichtslehrerin. Nach einem oder zwei Gläsern Wein fing sie unweigerlich an, von den großen historischen Gestalten, Bewegungen und Ereignissen zu erzählen, von Giuseppe Garibaldis Bemühungen zur Schaffung der italienischen Republik über den Aufstieg der Gewerkschaftsbewegung im England des Industriezeitalters bis zu den übersehenen Frauen in der Geschichte, darunter die mittelalterliche Universalgelehrte Hildegard von Bingen. Sie hatte die Begabung, Geschichte als unentbehrliche Voraussetzung für unser Weltverständnis lebendig zu machen. Sie sprach davon, wie der Aufbau eines dauerhaften Friedens auf dem Balkan ein Bewusstsein für regionale Empfindlichkeiten erfordere, die über Jahrhunderte zurückreichten. Sie erklärte, wir würden niemals staatliche Infrastruktur wie Wasserversorgung, Eisenbahn oder Gesundheitsversorgung privatisieren, wenn wir uns daran erinnern würden, warum unsere Vorfahren sich in langen Kämpfen dafür eingesetzt hatten, sie überhaupt erst in staatliche Obhut zu überführen. Und die weltweite Ökologiebewegung sollte nach ihrer Ansicht von den Strategien der Suffragetten und dem indischen Unabhängigkeitskampf lernen.

Das alles verbindet sich mit einer Warnung. Orientierung in der Vergangenheit zu suchen, ist ein potenziell gefährliches Unterfangen, denn Geschichte lässt sich allzu leicht nutzen und missbrauchen. Josef Stalin, Mao Zedong und unzählige andere Diktatoren verstanden es hervorragend, ihre Gräueltaten aus den Geschichtsbüchern wegzuretuschieren. Im Balkankrieg der 1990er-Jahre manipulierten serbische Politiker die Vergangenheit: Sie behaupteten, Kroatien und Bosnien seien Teil des alten Serbischen Reiches, und deshalb hätten sie einen rechtmäßigen Anspruch darauf. Eine ähnliche Mythologie schufen auch die Kroaten.10 Heute predigen populistische Politiker in ihrem Bemühen, Immigranten auszusperren, eine imaginäre Geschichte der nationalen Reinheit. Politische Macht gründet sich häufig auf die Fälschung der öffentlichen Erinnerungen.

Wenn man aus der Geschichte lernen will, ist es entscheidend, dass man die vielen Schwierigkeiten anerkennt. Ein solches Buch könnte wirken, als würde es die Rosinen aus der Vergangenheit herauspicken. Das stimmt, denn Rosinen sind zum Picken da. Geschichtsschreibung ist immer selektiv – sie erfordert Entscheidungen über Themen, Zeiträume, wichtige Akteure, die Bedeutung von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht, die Rolle von Kultur und Technik, die Nutzung quantitativer Daten und andere methodische Fragen. Entscheidend ist, dass Klarheit über den Ansatz herrscht. Aus den unzähligen historischen Zusammenhängen habe ich bewusst Ereignisse und Geschichten ausgewählt, die Anregungen liefern, wenn wir die zehn wichtigsten Krisen bewältigen wollen, vor denen die Menschheit im 21. Jahrhundert steht. Ich konzentriere mich aktiv auf die gemeinsamen Bemühungen und Initiativen ganz normaler Menschen, denn dies ist der Bereich, in dem wir potenziell die größte Handlungsmacht haben. Die meisten von uns sind im Gegensatz zu John F. Kennedy keine mächtigen Akteure in Politik, Medien oder Wirtschaft, die unmittelbaren Einfluss auf politische Programme nehmen können. Die Geschichte zeigt aber, dass wir anfangen können, eine unsichere Zukunft zu gestalten, wenn wir gemeinsam und in Solidarität mit anderen tätig werden. Ich hoffe, die von mir herausgepickten Rosinen liefern Nahrung für Gedanken und Handeln.

»Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort macht man Dinge anders«, schrieb L. P. Hartley in seinem 1953 erstmals erschienenen Roman The Go-Between. Können wir wirklich damit rechnen, dass wir von den Gesellschaften früherer Zeiten etwas lernen können, obwohl sie anscheinend so anders waren als unsere? Ich glaube, dass das möglich ist, solange wir achtsam und demütig vorgehen. Es stimmt: Unsere Vorfahren hatten sich nicht in digitalen Netzen verfangen und manipulierten auch nicht das Genom des Menschen. Aber sie standen vor vielen Herausforderungen, in deren Wesen sich die Probleme der Gegenwart widerspiegeln, von Armut und Pandemie bis zu Kriegen und Wasserknappheit. Analogien können uns auch helfen, Verbindungen über große Zeiträume herzustellen: Selbst zu einer Technologie, die scheinbar so modern ist wie die künstliche Intelligenz, gibt es Parallelen in der Vergangenheit. Entscheidend ist aber, dass wir Unterschiede ebenso deutlich benennen wie Ähnlichkeiten und dass wir uns vor übermäßig vereinfachten oder falschen Vergleichen hüten: Nicht jeder Diktator ist ein neuer Adolf Hitler, nicht jeder Krieg ist ein neues Vietnam, nicht jede Wirtschaftskrise ist ein weiterer Wallstreet-Crash.11

Eine Frage, die besondere Aufmerksamkeit erfordert, betrifft die Identität und gesellschaftliche Stellung. In dem Fachgebiet der angewandten Geschichtsforschung dominieren bis heute weiße Männer.12 In Anerkennung der Einseitigkeiten und Verzerrungen, die sich daraus ergeben können, habe ich auf ein breiteres Spektrum wissenschaftlicher Arbeiten zurückgegriffen, so auf die von Abeba Birhane und Kehinde Andrews, die Erkenntnisse aus der Kolonialgeschichte in ihre Erforschung der Rassenvorurteile in der KI und des heutigen Erbes der Kolonialreiche einbeziehen.13 Ebenso bin ich mir bewusst, dass ich ein Autor aus dem globalen Norden bin, der Region, in der »wir« in diesem Buch zum größten Teil ansässig sind. Zum Ausgleich habe ich mich bemüht, neben der Geschichte Europas und Nordamerikas so weit wie möglich auch die des globalen Südens und der nichtwestlichen Kulturkreise einzubeziehen (eine zusammenfassende Tabelle solcher Beispiele findet sich im Schlusskapitel).

Und schließlich besteht die Gefahr, dass man die Vergangenheit romantisiert. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die Menschheitsgeschichte von Tragödien durchsetzt ist: Kriege sind ausgebrochen, Menschen haben gehungert, Ausbeutung war gang und gäbe, Gesellschaften sind zerfallen. Das alles sollte aber die Errungenschaften nicht überschatten. Immer und immer wieder haben unsere Vorfahren sich erhoben, um sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren, Krisen zu überleben und – häufig gegen alle Wahrscheinlichkeiten – Städte oder Zivilisationen aufzubauen. Damit werden sie für uns zu einer Quelle der Anregung, wenn wir uns mit den Schwierigkeiten unserer Zeit auseinandersetzen. Über das letzte Jahrtausend verteilen sich Chancen und Wege, die wir uns bisher kaum jemals ausgemalt haben.

Letztlich handelt dieses Buch von der Kraft des historischen Denkens. Historisch zu denken, ist ein Gegengift gegen die Tyrannei des Jetzt und eine Entgegnung auf die verbreiteten Fortschritts-Narrative, die in der Technologie der Zukunft die Erlösung sehen. In der Geschichte gibt es Kapitel, die uns eine Botschaft der radikalen Hoffnung vermitteln: Wenn wir gemeinsam handeln und auf die außerordentliche Kooperationsfähigkeit unserer Spezies zurückgreifen, finden wir unter Umständen überraschende Wege, um uns inmitten der ökologischen, politischen und technischen Turbulenzen zurechtzufinden, die um uns herum wüten.

Wenn wir uns auf den Weg ins Morgen machen, sollten wir in unseren Köpfen ein altes Sprichwort der Māori verankern: Kia whakatōmuri te haere whakamua – »Den Blick in die Vergangenheit gerichtet, gehe ich rückwärts in die Zukunft«.

1

Die Sucht nach fossilen Brennstoffen überwinden

Rebellenbewegungen und die Macht des Ungehorsams

Die West India Interest war eine der mächtigsten politischen Lobbyistengruppen der britischen Geschichte. »The Interest«, wie sie häufig einfach genannt wurde, führte Plantagenbesitzer, Kaufleute, Finanzexperten, Politiker, Juristen, Geistliche und Journalisten zusammen, die alle ein einziges Ziel verfolgten: die Sklaverei in den britischen Kolonien in der Karibik beizubehalten. Am aktivsten war sie zwar Anfang des 19. Jahrhunderts, ihre Geschichte findet aber in den ökologischen Konflikten unserer Zeit einen unerwarteten Widerhall.

Großbritannien hatte 1807 den Sklavenhandel abgeschafft, nicht aber die Sklaverei selbst. Damit verblieben auf den im britischen Besitz befindlichen Zuckerplantagen auf den westindischen Inseln mehr als 700.000 versklavte Menschen. In den 1820er-Jahren wuchs der öffentliche Druck, ihnen vollständige Gleichberechtigung zu gewähren, und das veranlasste die Interest, einen energischen Gegenfeldzug in Gang zu setzen. Ihr »literarisches Komitee« lobte 1823 für den Kampf einen Etat von jährlich 20.000 Pfund aus (was heute 1,8 Millionen Pfund entspricht), um Flugblätter zu verteilen, in denen die Sklaverei befürwortet wurde, und Artikel in führenden Presseorganen zu platzieren. Das taten sie in dem unverfrorenen Bemühen, die öffentliche Meinung zugunsten der Sklaverei zu beeinflussen.

Um seine Aussagen zu untermauern, bediente sich die Interest zahlreicher Argumente. Sklaverei, so behauptete John Gibson Lockhart, einer ihrer energischen Unterstützer und Schwiegersohn des Romanschriftstellers Sir Walter Scott, befreie die Afrikaner aus der »Barbarei«, und wenn man sie freilasse, würden sie wahrscheinlich zu »gesetzlosen Banditen« werden, die »in Blut schwelgen«. Außerdem, so schrieb er im Blackwood’s Edinburgh Magazine, erlitten sie »nicht ein Tausendstel des Elends«, von dem die Sklavereigegner sprächen.1 Andere erklärten, man könne darauf vertrauen, dass die Plantagenbesitzer ihre Angelegenheiten selbst regelten und bereits einen Verhaltenskodex aufgestellt hätten, mit dem Praktiken wie das Auspeitschen von Frauen verboten wurden.2 Die Gleichberechtigung werde nicht nur den »völligen wirtschaftlichen Ruin« der Plantagen und der vielen Tausend Menschen in Großbritannien bedeuten, deren Arbeitsplätze und Lebensunterhalt von der Sklavenwirtschaft abhingen, sondern auch die Verbraucher würden geschädigt, weil sie gezwungen wären, den teureren Zucker aus Indien und anderen Ländern zu kaufen.3

Das vielleicht einflussreichste Argument der Interest-Vertreter war das Eingeständnis, die Sklaverei sei zwar moralisch fragwürdig, aber man sei dafür, die Gleichberechtigung durch einen allmählichen Prozess im Laufe mehrerer Jahrzehnte herzustellen, um das Chaos zu vermindern, das eine sofortige Abschaffung mit sich bringen würde. Schließlich fehle es den versklavten Menschen an der »Bildung« und »Zivilisation«, um ihre Freiheit verantwortungsvoll zu nutzen. Dazu bemerkt Kehinde Andrews, Professor für Black Studies, sarkastisch: »Angeblich konnte man nicht damit rechnen, dass die Wilden begriffen, wie man frei ist.«4 Ein 1824 erschienener Artikel nannte »1860 als frühesten Zeitpunkt, zu dem … wir zur Freilassung gelangen können, ohne dass jemand verletzt wird«. Gleichzeitig, so fuhr der Artikel fort, sei es entscheidend, »die Rechte der Plantagenbesitzer zu schützen«, die für den Verlust ihres Privateigentums »eine großzügige, gerechte Entschädigung erhalten müssen«.5

200 Jahre später saß ich in Edinburgh in einer TED-Klimakonferenz und hörte zu, wie Ben van Beurden, der damalige Vorstandsvorsitzende von Shell, nahezu dieselben Argumente im Zusammenhang mit fossilen Brennstoffen vorbrachte. Er setzte sich kaum verschleiert für einen jahrzehntelangen allmählichen Übergang ein und sagte, Shell wolle »auf der richtigen Seite der Geschichte« stehen und von seinem »ererbten Geschäft« der Öl- und Gasproduktion wegkommen. Aber dieser Übergang müsse »mit einem akzeptablen Tempo des Wandels« erfolgen und könne nicht zu schnell ablaufen, weil sonst die Gefahr bestehe, dass das vorhandene Geschäft »implodiert«. Tatsächlich musste Shell weiterhin Öl und Gas produzieren, um den Übergang zu erneuerbaren Energien wie der Windkraft zu finanzieren. »Wir brauchen die herkömmlichen Geschäftsfelder, um die Zukunftsstrategien zu finanzieren«, sagte er. »Ich kann sie nicht morgen sterben oder am ausgestreckten Arm verhungern lassen.«6 Außerdem, so argumentierte er weiter, sei Shell verpflichtet, auch weiterhin fossile Brennstoffe zu produzieren, weil danach eine so große Nachfrage von den Verbrauchern bestehe. Angesichts solcher Tatsachen verpflichte sich das Unternehmen, bis 2050 CO2-neutral zu werden. Alles, was schneller gehe, sei unrealistisch.

Van Beurdens geschliffene Rechtfertigung des allmählichen Übergangs blieb nicht ohne Widerspruch. Mit ihm auf dem Podium saß die Klimaaktivistin Lauren MacDonald. Sie wies auf die Heuchelei bei den grünen Zielen von Shell hin: Das Unternehmen hatte nicht nur erst kürzlich Millionen ausgegeben, um die Behauptungen der Klimaforschung in Misskredit zu bringen, sondern setzte sich jetzt bei der britischen Regierung auch dafür ein, Bohrlizenzen für Offshore-Ölfelder vor der schottischen Küste zu erhalten. Bevor sie öffentlichkeitswirksam die Bühne aus Protest verließ, weil man van Beurden auf einer Konferenz über die Bewältigung der Klimakrise eine Plattform gegeben hatte, stellte sie ihm eine gezielte Frage: »Wenn Sie hier sitzen und sagen, Ihnen liege etwas an der Bekämpfung der Klimakrise, warum legt Shell dann Widerspruch gegen ein Gerichtsurteil ein, in dem der Konzern in den Niederlanden zur Verminderung seiner Kohlenstoffemissionen verpflichtet wurde?« Darauf gab er die abwehrende Antwort, das Urteil sei »völlig unvernünftig«, denn Shell solle demnach seine CO2-Emissionen viel schneller vermindern als andere Konzerne. Das sei eindeutig unfair und ungerecht, deshalb habe er gegenüber seinen Aktionären die »Pflicht«, Berufung gegen das Urteil einzulegen.7

Lassen wir die Geschichte sprechen. Die Produktion fossiler Brennstoffe verursacht zwar grundlegend andere Schäden als das unverzeihliche Verbrechen, Menschen zu versklaven, beide Fälle machen aber auf auffällige Weise deutlich, mit welcher Macht wirtschaftliche Eliten ihren Standpunkt angesichts des Wandels vertreten. Wie der Kampf zur Abschaffung der Sklaverei, so litt auch der Kampf um die Abschaffung der Kohlenstoffemissionen unter der Uneinsichtigkeit und dem Schneckentempo-Gradualismus der eigennützigen Geschäftsinteressen und der Regierungen, die ihnen verpflichtet sind.8

Man ist leicht versucht zu glauben, es gebe schnelle Fortschritte. Auf derselben Konferenz hörte ich, wie Al Gore einen aufmunternden, optimistischen Vortrag hielt, der klang, als stehe eine Welt mit 100 Prozent sauberer Energie unmittelbar vor der Tür: Die Preise für erneuerbare Energien sanken, die Elektroauto-Revolution war im Gang, und selbst das Kentucky Coal Museum hatte jetzt Photovoltaikmodule auf dem Dach.

Aber werfen wir einmal einen ehrlichen Blick auf die Zahlen. Wie stark sind die jährlichen globalen Kohlenstoffemissionen zurückgegangen, seit auf dem Erdgipfel von Rio 1992 erstmals die Alarmglocken läuteten? Sie sind nicht zurückgegangen. Vielmehr sind sie um mehr als 50 Prozent gestiegen, und das Jahr für Jahr, abgesehen von einigen kleineren Dellen nach der Finanzkrise von 2008 und in der Covid-Pandemie.9 Seit Rio hat die Menschheit mehr CO2 in die Atmosphäre entlassen als in ihrer gesamten vorherigen Geschichte. Trotz aller technischen Fortschritte und Versicherungen von Konzernen wie Shell liefern erneuerbare Quellen nur elf Prozent der globalen Energieproduktion; der größte Teil davon ist Wasserkraft, nur zwei Prozent sind Windenergie, und ein Prozent stammt von der Sonne.10 Nicht mehr als ein winziger Krümel der Gesamtmenge. Um bei einer Erwärmung von weniger als 1,5 Grad zu bleiben, müssten die globalen CO2-Emissionen von jetzt an mindestens zehn Jahre lang jedes Jahr um 8 bis 10 Prozent sinken. Um das in den richtigen Zusammenhang zu stellen: Als die Weltwirtschaft 2020 in den Covid-Lockdown eintrat, als Unternehmen schlossen, Flugzeuge am Boden blieben und die Straßen sich leerten, sank die CO2-Menge nur um 6,4 Prozent.11 Wir brauchen mehr. Jedes Jahr.

Die Zeit für Allmählichkeit ist längst vorüber. Dass wir einen schnellen, grundlegenden Wandel brauchen, ist nur allzu deutlich. Aber lässt er sich erreichen, wenn mächtige fossile Brennstoffkonzerne immer noch darum kämpfen, die Pumpen weiterlaufen zu lassen, und wenn die meisten Regierungen zu ängstlich sind und nicht die radikalen Maßnahmen umsetzen, zu denen sie in Kriegszeiten oder bei einer Pandemie bereit sind? Welche Hoffnung besteht noch, wenn erneuerbare Energien in der Stahl- und Kunststoffindustrie bisher kaum einen Fuß in die Tür bekommen und wenn China 2050 immer noch 40 Prozent seiner Energie aus fossilen Brennstoffen beziehen wird?12 Sollten wir uns nicht damit abfinden, dass die meisten Energierevolutionen der Vergangenheit – von Holz zu Kohle oder von Pferdewagen zu mechanischen Motoren – quälend langsam verlaufen sind und 50 bis 100 Jahre gedauert haben?13 Mit anderen Worten: Wie können wir uns in einer Welt, die sich rapide aufheizt, mit einem Wandel im Schneckentempo zufriedengeben?

Sich auf Wundertechnologie zu verlassen, ist gefährliche Fantasie. Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS), bei der Kohlenstoff aus der Atmosphäre tief unter der Erde gespeichert wird, könnte wahrscheinlich zu einer Lösung beitragen, aber die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen, und derzeit spricht kaum etwas dafür, dass man damit der Atmosphäre das CO2 auch nur annähernd in den Mengen und mit der Geschwindigkeit entziehen kann, die notwendig sind, um einen Zusammenbruch des Klimas zu verhindern.14 Andere technische Neuerungen wie das Geoengineering sind nicht nur riskant, sondern auch nahezu vollkommen unerprobt. Es gibt aber einen anderen Weg: Wir sollten unsere Hoffnung nicht einfach in technische Neuerungen setzen, sondern in die neuen Strategien von Rebellenbewegungen, die revolutionäre Veränderungen herbeiführen können. Wie könnten wir besser nach Erkenntnissen suchen als mit einer nochmaligen Rückkehr zu dem Konflikt rund um die Abschaffung der Sklaverei?

Eine Geschichte von zwei Aufständen

In Großbritannien gelang es der Lobby der Sklavereibefürworter, die Freilassung während der gesamten 1820er-Jahre zu verhindern. Zu einem nicht geringen Teil half ihnen dabei die Bewegung der Sklavereigegner, die sich 1823 in der London Society for Mitigating and Gradually Abolishing the State of Slavery Throughout the British Dominions (»Londoner Gesellschaft zur Linderung und allmählichen Abschaffung des Zustandes der Sklaverei in allen britischen Besitzungen«) zusammengeschlossen hatten. Der Name sagt alles. Ihre Führungspersonen, darunter William Wilberforce und Thomas Fowell, waren grundsätzlich konservativ und machten sich nur allzu gern das herablassende Argument der Sklavereibefürworter zu eigen, die versklavten Afrikaner seien für die Freiheit noch nicht bereit und deshalb müsse die Gleichberechtigung in gemessenem Tempo eingeführt werden.15

Bis 1830 war aber die Frustration über diese Strategie des allmählichen Überganges gewachsen. Radikale Frauenrechtsaktivistinnen wie Elizabeth Heyrick forderten die sofortige Freilassung. Mittlerweile war eine neue Regierung der Whigs an der Macht, setzte den Duke of Wellington, einen Sklavereibefürworter, Premierminister und Held von Waterloo ab und installierte mehr Abschaffungsbefürworter in der Regierung. Aber selbst das reichte noch nicht aus, um das Gleichgewicht kippen zu lassen.

Den Wendepunkt brachte das folgende Jahr mit einem Akt von Umwälzung und Trotz, der Schockwellen durch ganz Großbritannien laufen ließ: der Sklavenaufstand von 1831 in Jamaika. Er gehörte zu einer ganzen Serie von Aufständen, die in der Karibik in den vorangegangenen beiden Jahrzehnten ausgebrochen waren, so in Barbados und Demerara. Der Aufstand von Jamaika war aber die größte Revolte gegen die Versklavung in der britischen Geschichte und trug entscheidend zu ihrem Verschwinden bei. Nach Angaben des Historikers David Olusoga war er »der letzte Faktor, der die Waage in Richtung der Abschaffung ausschlagen ließ«.16

Angeführt wurde der Aufstand von Samuel Sharpe, einem Sklavenarbeiter und Baptistenprediger. Er war 31 Jahre alt und hatte ursprünglich vorgehabt, unmittelbar nach Weihnachten, wenn normalerweise die Zuckerernte begann, einen friedlichen Sitzstreik zu veranstalten und eine Entlohnung zu verlangen. Gleichzeitig erkannte er aber auch, dass militantere Aktionen notwendig waren, und hielt nach den Gottesdiensten geheime Treffen ab, um seine Anhänger wachzurütteln und in Milizengruppen mit »Colonels« und »Captains« zu organisieren. Am 27. Dezember begann der Aufstand mit einem Angriff auf die Plantage von Kensington, die auf einem hohen Bergrücken lag. Die Rebellen setzten sie in Brand, sodass die Flammen über viele Kilometer sichtbar waren und das Signal für Angriffe auf die umliegenden Plantagen gaben.17

Das brennende Anwesen Roehampton, Sklavenaufstand von Jamaika, Januar 1832.

Der Aufstand war in jeder Hinsicht ein Weckruf und verbreitete sich buchstäblich wie ein Lauffeuer über die Insel. Wenig später hatten sich mehr als 20.000 versklavte Menschen der Rebellion angeschlossen, setzten mehr als 200 Plantagen in Brand und übernahmen die Kontrolle über ein großes Gebiet im Nordwesten Jamaikas. Die Revolte wurde zwar durch Regierungstruppen vollständig niedergeschlagen, aber es dauerte bis Ende Januar 1832, um die Aufständischen endgültig zu unterwerfen. Als Regierungssoldaten auf eine Plantage vorrückten, legte eine Frau die Wäsche weg, die sie gerade wusch, und lief los, um die Zuckerfabrik in Brand zu setzen. Bevor sie erschossen wurde, rief sie: »Ich weiß, ich muss dafür sterben, aber meine Kinder werden frei sein.«18 Am Ende des Aufstandes waren über 200 Rebellen durch die Kämpfe getötet worden, im Gegensatz zu nur 14 Weißen.

Dann folgte der offizielle Gegenschlag. Ungefähr 626 Aufständische wurden wegen Hochverrats vor Gericht gestellt, 312 von ihnen zum Tode verurteilt. Die weißen Kolonialherren versammelten sich rund um die Galgen und sahen bei den Hinrichtungen zu, insbesondere bei der des mittlerweile berüchtigten Anführers Samuel Sharpe, der die Stufen hinaufging und dabei Verse aus der Bibel zitierte. Seine Eigentümer erhielten 16 Pfund und 10 Schilling als Entschädigung für den Verlust ihres Eigentums. Für die Kolonialherren »waren Sklaven eher Rinder als Menschen«, wie die britisch-jamaikanische Autorin Andrea Levy es formulierte.19 Fast 150 Jahre später, 1975, wurde Sharpe zum Nationalhelden Jamaikas erklärt.

Der Aufstand von Jamaika hatte in Großbritannien umwälzende Wirkungen. Einerseits wurde er für die Bewegung der Sklavereigegner zum Anlass, auf sofortige Freilassung zu drängen, denn in der Öffentlichkeit waren viele nicht nur über die Gewalt gegenüber den Aufständischen entsetzt, sondern auch über den weißen Mob, der jetzt Missionare terrorisierte, weil diese die Rebellion unterstützt hatten. Andererseits verbreitete sich im Establishment die Angst vor weiteren Erhebungen: Man fürchtete, die Kontrolle über die Insel ebenso zu verlieren, wie die Franzosen sie über ihre Kolonie Saint-Domingue (Haiti) durch einen Sklavenaufstand unter Führung des legendären Toussaint Louverture verloren hatten. »Der gegenwärtige Zustand kann nicht viel länger anhalten«, schrieb Lord Howick von der Kolonialbehörde, Sohn des Premierministers Earl Grey, an den Gouverneur von Jamaika. »Einzig die Emanzipation wird die Gefahr wirksam abwenden.«20

Da die amtierende Whig-Regierung Jamaika für ein Pulverfass hielt, das jeden Augenblick wieder explodieren konnte, verabschiedete sie 1833 den historischen Slavery Abolition Act, das Gesetz über die Abschaffung der Sklaverei. Das war aber bei Weitem kein eindeutiger Sieg für die Sklavereigegner oder für die versklavten Menschen selbst. Der West India Interest gelang es, sich für den »Verlust von Eigentum« außerordentlich hohe finanzielle Entschädigungen zu sichern, die 40 Prozent des jährlichen Staatshaushalts entsprachen – nach heutigem Geldwert 340 Milliarden englische Pfund (die Auszahlung der Summe durch die britische Regierung war erst 2015 beendet). Im Rahmen des Projekts Legacies of British Slave Ownership (»Hinterlassenschaften des britischen Sklaveneigentums«) wurden 47.000 Entschädigungsempfänger dokumentiert, darunter Vorfahren des früheren Premierministers David Cameron. Dies zeigt, wie tief die Institution der Sklaverei in der Gesellschaft verwurzelt war. Der Gedanke, die versklavten Menschen selbst zu entschädigen, stand nicht auf der Tagesordnung. Ganz im Gegenteil: Die Interest sorgte in dem Gesetz für eine Bestimmung, wonach sie gezwungen waren, mindestens vier Jahre als unbezahlte »Gehilfen« weiterzuarbeiten, bevor sie juristisch frei waren. Eine solche Geschichte der Ungerechtigkeit gibt den heutigen moralischen Forderungen nach Reparationen für die Nachkommen des transatlantischen Sklavenhandels neues Gewicht. Kehinde Andrews schreibt: »Der Reichtum Großbritanniens und der westlichen Welt insgesamt wurde auf dem Rücken der Sklaverei aufgebaut; daraus folgt, dass gegenüber den Nachkommen der Versklavten ein Schuldenverhältnis besteht.«21

Die Geschichte von der Abschaffung der Sklaverei stellt den Mythos, wonach die Gleichberechtigung vorwiegend auf das Wohlwollen einer klugen weißen Elite – auf Menschen wie den Parlamentarier William Wilberforce – zurückzuführen sei, infrage. Sie war vielmehr eine Folge verbreiteter Proteste und Kämpfe. Ein Teil davon war friedlich und legal, so die Massenversammlungen, die öffentlichen Petitionen und der Zuckerboykott unter der Führung britischer Aktivisten wie Elizabeth Heyrick und Thomas Clarkson. Entscheidend waren aber nach Ansicht des Historikers Adam Hochschild »die riesigen Sklavenaufstände auf den britischen Antillen, vor allem aber die letzte große Erhebung auf Jamaika, die so unzweifelhaft zur Beschleunigung der Freilassung beigetragen hatte« und »die … alles andere als friedlich waren«.22 Zwar ist es wichtig, die vielfältigen Ursachen für die Abschaffung der Sklaverei anzuerkennen – darunter Faktoren wie die abnehmende Bedeutung des Zuckers für die britische Wirtschaft –, klar ist aber, dass Ungehorsam und Widerstand einen wichtigen Kipppunkt und damit den Wandel herbeiführten.

Ein weiterer entscheidender Aspekt der Geschichte bleibt aber noch zu erzählen. Wie kam es, dass genügend Abgeordnete bereit waren, das Gesetz zur Abschaffung zu unterstützen, nachdem das Parlament über Jahrzehnte voller Politiker gewesen war, die auf der Gehaltsliste der West India Interest standen?

Auch hier lautet die Antwort: Aufstand. Dieses Mal war er allerdings hausgemacht.

Am Abend des 28. August 1830 schlich sich eine Gruppe von Landarbeitern im Osten von Kent, nicht weit von dem alten Wallfahrtsort Canterbury, auf einen Bauernhof und schlug eine der entscheidenden Erfindungen der Industriellen Revolution in Stücke: eine Dreschmaschine. Das ländliche Großbritannien steckte zu jener Zeit in einer Krise mit hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen, die bei den Landarbeitern zu akuter Armut führten. Das Symbol für ihre Notlage wurde die Dreschmaschine. Im Laufe der folgenden neun Monate wurden im Rahmen eines Aufstandes, der sich schnell über das ganze Land verbreitete, Hunderte solcher Maschinen zerstört. Die Landarbeiter gingen gegen die Großgrundbesitzer vor, zertrümmerten Maschinen, setzten Farmhäuser in Brand und verlangten höhere Löhne sowie die Wiederherstellung des Gemeindelandes, das von mächtigen Landbesitzern »vereinnahmt« worden war. Mit fast 3000 nachgewiesenen einzelnen Revolten war es bis heute der größte Aufruhr der britischen Geschichte.23

Ihr Anführer war der berüchtigte, schwer fassbare Captain Swing. Die Arbeiter übermittelten ihre Forderungen und Brandanschlagsdrohungen in der Regel mit einem handgeschriebenen Brief, der an den Landbesitzer gerichtet und mit der geschwungenen Unterschrift des »Captain Swing« unterzeichnet war. Den fraglichen Captain gab es in Wirklichkeit nicht. Er war eine politische Erfindung, ein überlebensgroßer mythischer Rebell, der in den Köpfen der ländlichen Oberschicht den Schrecken der Revolution verbreitete.

In vielen Regionen entwickelte sich für die Captain Swing Riots oder Captain Swing Rebellion, wie sie genannt wurde, eine breite öffentliche Unterstützung. In Otmoor in Oxfordshire rissen vermummte Arbeiter Zäune ein und besetzten ein Gelände, das der lokale Adlige Lord Abingdon abgesperrt hatte. Mehr als 40 von ihnen wurden von der lokalen Yeomanry, einer Armeeeinheit, gefangen genommen, aber als man sie zum Oxford Castle transportieren wollte, gelang es einer Menge von Feiernden bei der St. Giles’ Fair, die Häftlinge von den Soldaten freizubekommen. Die größte Unterstützung erhielt Captain Swing jedoch von radikalen Stadtbewohnern wie dem Journalisten William Cobbett: In ihren Augen war die Rebellion der Ausdruck der gesellschaftlichen und politischen Ausgrenzung der Landarbeiter und zeigte die Notwendigkeit auf, das politische System des Landes zu reformieren. Ganz oben auf der Tagesordnung standen eine Erweiterung des Wahlrechts zugunsten einer größeren Zahl arbeitender Menschen und die Beseitigung des Systems der »rotten boroughs«, parlamentarischer Erbhöfe, die es den Abgeordneten ermöglichten, sich mit einer winzigen Zahl von Stimmen wählen zu lassen, und die im Wesentlichen vom konservativen Establishment kontrolliert wurden.

Der Swing-Aufstand hatte unter anderem die unerwartete Folge, dass die wachsenden Bestrebungen für eine Parlamentsreform sich stark beschleunigten. In der herrschenden politischen Klasse machte sich eine hysterische Angst vor revolutionären Unruhen breit, nachdem man bereits durch die nationalistischen Revolten, die 1830 überall in europäischen Städten aufflammten, nervös geworden war.24 Prominente Politiker wie Premierminister Earl Grey vertraten die Ansicht, Reformen seien der einzige Weg, um die Gefahr weiterer Landarbeiteraufstände zu bannen. »Meine Reform hat vor allem den Zweck, der Notwendigkeit einer Revolution vorzubeugen«, schrieb er. »Ich reformiere, um zu erhalten und nicht umzustürzen.«25 Im folgenden Jahr erhielten Bestrebungen zu einer Parlamentsreform in entscheidenden Wahlen gerade in den Regionen die größte Unterstützung, in denen die Aufstände unmittelbare Auswirkungen gehabt hatten. Nach Ansicht zeitgenössischer Fachleute

»hätten die reformwilligen Whigs in der Wahl von 1831 im Unterhaus keine Mehrheit der Sitze erhalten, wenn es nicht die Gewalt der Swing-Aufstände gegeben hätte. Ohne eine solche Mehrheit wäre der Reformprozess mit ziemlicher Sicherheit zum Stillstand gekommen.«26

Aber was hat das alles mit der Bewegung der Sklavereigegner zu tun? Die neu gewählte Whig-Regierung, die durch die Auswirkungen der Swing-Aufstände gestärkt war, konnte das Reformgesetz von 1832 durchsetzen, die weitreichendste Umgestaltung des politischen Systems seit mehr als 100 Jahren. Durch die Beseitigung der »rotten boroughs« verloren Dutzende von konservativen Politikern, die den sklavereifreundlichen Standpunkt der West India Interest vertraten, in der nachfolgenden Wahl im Dezember 1832 ihre Macht. Nachdem die Whigs jetzt im Parlament eine Zweidrittelmehrheit besaßen, reichte ihre mächtige Stellung aus, um im folgenden Jahr das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei zu verabschieden.27

Diese Geschichte von zwei Aufständen – die in den üblichen Darstellungen über die Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien häufig kleingeredet werden – enthält auch für uns heute eine Lehre. Die Revolte von Jamaika und die Captain-Swing-Proteste waren Kipppunkte, deren unerwartetes Zusammentreffen zeigt, wie Volksaufstände und radikaler Widerstand grundlegende politische Veränderungen beschleunigen können. Bei aller Komplexität und ihren vielfachen Ursachen kann man die Geschichte über die Abschaffung der Sklaverei nicht erzählen, ohne anzuerkennen, welch wesentliche Rolle dabei von unten kommende Störungen und Ungehorsam spielten, die weit über die üblichen politischen Strategien der Lobbyarbeit, Petitionen und Demonstrationen hinausgingen.

Damit erhebt sich eine potenziell umstrittene Frage. Welche Rolle sollten solche außerparlamentarischen Aktionen im heutigen Kampf zur Abschaffung der Kohlenstoffemissionen spielen? Vielleicht handelt es sich ja bei den Aufständen von Anfang der 1830er-Jahre um Ausnahmen, und die heutigen Umweltaktivisten wären besser beraten, wenn sie sich streng an das Drehbuch halten und Reformen innerhalb der juristischen Grenzen des bestehenden Systems anstreben würden. Wie ich aber im nachfolgenden Abschnitt darlegen werde, waren es keineswegs Ausnahmen. Die Aufstände waren vielmehr frühe Beispiele für den »radikalen Flankeneffekt«, wie man ihn nennt – für eine der umwälzendsten gesellschaftlichen Neuerungen, die von der Menschheit entwickelt wurden.

Die verborgene Geschichte der radikalen Flanken

Was ist eigentlich eine »radikale Flanke«, und wie schafft sie umwälzende Veränderungen? Bei der Erforschung gesellschaftlicher Bewegungen hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgestellt, dass einige der erfolgreichsten Protestbewegungen der Geschichte, die für grundlegende Rechte und soziale Gerechtigkeit kämpften, großen Nutzen daraus ziehen konnten, dass radikalere Organisationen oder Gruppierungen sich an ihrer Seite an den Konflikten beteiligten. Solche radikalen Flankengruppen nehmen extremere Standpunkte ein als die gemäßigte Mainstream-Bewegung, sodass deren Forderungen für die Machthaber besser erträglich oder »vernünftiger« erscheinen. Die Radikalen verändern die Begrifflichkeit der Debatte und tragen dazu bei, das sogenannte »Overton-Fenster« (das nach dem amerikanischen Politologen James Overton benannt ist) zu verschieben, jenes Spektrum politischer Maßnahmen, die nach Ansicht der Regierungen zu einem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit politisch akzeptabel sind. Außerdem können sie ein Gefühl der politischen Krise verursachen, das für die Gemäßigten von Vorteil ist – eine Überzeugung bei führenden Akteuren, dass die Radikalen stärker werden, wenn man den Forderungen der Gemäßigten nicht nachgibt, und dass die Situation damit außer Kontrolle geraten könnte. Ohne radikale Flanke ist es für Politiker unter Umständen allzu einfach, die Veränderungsbestrebungen in der Bevölkerung zu übergehen. Die radikale Flanke ist ein Schlüssel zur Freisetzung des politischen Willens.28

So weit kurz gefasst die Theorie, die häufig als »radikaler Flankeneffekt« bezeichnet wird. Wie aber steht es mit historischen Belegen? Der Kampf um die Abschaffung der Sklaverei in den britischen Territorien war ein auffälliges Beispiel für die Wirkung des radikalen Flankeneffekts: Die Mainstream-Reformbewegung hätte in Großbritannien noch über Jahrzehnte ihren Feldzug führen können, hätte es nicht die Rebellion in Jamaika und die Captain-Swing-Aufstände gegeben, die eine politische Krise auslösten und damit den Wandel beschleunigten. Die Theorie als solche wurde aber erstmals in den 1960er-Jahren im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten entwickelt.

Die Bürgerrechtsbewegung unter der Führung von Martin Luther King Jr. war in der öffentlichen Vorstellung häufig ein Triumph der friedlichen Sitzblockaden, Busboykotte und anderer Formen des gewaltlosen zivilen Ungehorsams. Zunehmend erkennt man aber auch, dass eine solche bereinigte Version der Geschichte die Bedeutung der Black-Power-Bewegung herunterspielt. Sie war die radikale Flanke des Kampfes um Rassengerechtigkeit mit Schlüsselgestalten wie Malcolm X, Kathleen Cleaver und Angela Davis, aber auch mit Organisationen wie der Nation of Islam und den Black Panthers. Sie verfolgten eine stärker konfrontative Taktik und stellten radikalere Forderungen als die Mainstream-Bewegung: Viele Black-Power-Aktivisten sprachen sich für die Gründung eines eigenen Staates der Schwarzen und einen revolutionären Aufstand aus, wobei sie offen Waffen zur Selbstverteidigung trugen und an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligt waren.29

Wenn die etablierte Politik den Forderungen der vergleichsweise gemäßigten Bürgerrechtsbewegung nicht nachgab, so die Befürchtung von deren Vertretern, würden mehr Afroamerikaner zu den militanten Organisationen abwandern. Ein leitender Regierungsbeamter warnte Präsident Kennedy, man müsse größere Zugeständnisse machen, sonst »werden die Schwarzen sich zweifellos nach unerprobten und weniger verantwortungsvollen Anführern wie Malcolm X umsehen«.30 Dieser Befürchtung war sich auch King selbst sehr wohl bewusst: Aus seiner Zelle im Gefängnis von Birmingham schrieb er 1963, wenn keine Möglichkeiten für gewaltlosen Protest zugelassen würden, »werden Millionen Schwarze aus Frustration und Verzweiflung Trost in schwarzen nationalistischen Ideologien suchen, und dann werden in den Straßen des Südens Ströme von Blut fließen«.31 Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts erwiesen sich seine Worte zunehmend als prophetisch: In den Jahren 1967 und 1968 brachen in Städten mehr als 400-mal Rassenunruhen aus; es war vielleicht die größte Welle gesellschaftlicher Unruhen in den Vereinigten Staaten seit dem Bürgerkrieg.

Reverend King mochte »den ausgezeichneten Weg der Liebe und des gewaltlosen Protests« predigen, aber der Erfolg der Bürgerrechtsbewegung hing von dem entgegengesetzten Druck der Black-Power-Organisationen ab. Nach Ansicht des Gesellschaftskritikers Andreas Malm erzielte die Mainstream-Bewegung in den 1960er-Jahren juristische Fortschritte wie das Ende der Rassentrennung, »gerade weil sie über eine radikale Flanke verfügte, welche sie in den Augen der Staatsmacht wiederum als kleineres Übel erscheinen ließ«.32

Wie sich herausstellt, haben viele Bewegungen, die traditionell als friedlich, gemäßigt und regelkonform dargestellt werden, von einer radikalen Flanke profitiert. Ein Beispiel ist die Kampagne für das Frauenwahlrecht in Großbritannien. Anfangs wurde sie von der National Union of Women’s Suffrage Societies (NUWSS) organisiert, die sich eine friedliche, nicht auf Konfrontation angelegte Strategie zu eigen gemacht hatte. Im Jahr 1903 jedoch gründete Emmeline Pankhurst aus Frustration über den mangelnden Fortschritt die radikalere Women’s Social and Political Union (WSPU); diese kritisierte Petitionen, öffentliche Versammlungen und andere »ehrenwerte« Methoden der NUWSS und machte sich das Motto »nicht Worte, sondern Taten« zu eigen. In den folgenden zehn Jahren ketteten sich WSPU-Mitglieder an Geländer, störten öffentliche Versammlungen, warfen Fenster von Regierungsbüros ein, setzten Briefkästen in Brand und begaben sich in den Hungerstreik, wenn sie inhaftiert waren. Die WSPU war eine klassische radikale Flankenorganisation, die auf eine Mischung aus gewaltlosen und militanteren Taktiken zurückgriff und insbesondere auf Eigentum abzielte. Pankhurst erklärte dazu: »In dieser oder jener Form militant zu sein, ist eine moralische Verpflichtung.«33 Welche Wirkung ihre Mitglieder hatten, ist zwar ein wenig umstritten, aber nach Ansicht der Historikerin June Purvis trugen ihre Aktionen dazu bei, das Frauenwahlrecht zu einer der wichtigsten politischen Fragen ihrer Zeit zu machen, und weckten quer durch das politische Spektrum ein feministisches Bewusstsein, womit sie der breiten Bewegung zur Einführung des Frauenwahlrechts besonderen Schub verliehen.34

Sklaverei, Bürgerrechte und Frauenemanzipation sind nur einige von vielen Beispielen für radikale Flankenbewegungen, die eine entscheidende Rolle spielten. Auf der Liste stehen auch die Iranische Revolution, der Arabische Frühling in Ägypten, der Sturz der Monarchie in Nepal, die Schwulenbewegung und viele andere.35 Heute werfen sie eine entscheidende und politisch sensible Frage auf: Sollte die moderne Klimabewegung ebenfalls stärker auf die Kräfte einer radikalen Flanke zurückgreifen?

Die kleine Flamme der Allmählichkeit anfachen

Im Winter 2018 stand ich auf dem Londoner Parliament Square in einer Menge von mehreren Hundert Menschen; einige von ihnen waren damit beschäftigt, ein Loch in den unberührten Rasen zu graben und darin einen schwarzen Sarg zu beerdigen, auf dessen Seiten in großen Lettern »unsere Zukunft« geschrieben stand. Es war eine der ersten Aktionen einer neuen Bewegung namens Extinction Rebellion (XR). Die Polizei war mit starken Kräften vor Ort, umringte die Menge und drängte uns immer enger zusammen – eine Taktik, die als »Einkesseln« bekannt ist. Nachdem wir den Polizeikordon passiert hatten, zogen wir alle von dem Platz ab; wir folgten dem Sarg, der jetzt in einer Pseudo-Trauerprozession hinausgetragen wurde. Anschließend teilte sich die Menge und beteiligte sich an einer Reihe von »Schwarm«-Straßenblockaden: Die Menschen setzten sich auf die Straße, blockierten wichtige Brücken und Verkehrsknotenpunkte und forderten von der Regierung, sie solle den Klimanotstand ausrufen und die Bestrebungen zum Erreichen der Kohlenstoffneutralität stark beschleunigen. Wütende Autofahrer hupten und riefen den Demonstranten Schimpfworte zu, weil sie ihre Fahrt unterbrechen mussten. Die Polizei nahm eifrig diejenigen fest, die ihren Platz nicht freiwillig räumten, und mühte sich mit Aktivisten ab, die ihre Hände am Pflaster festgeklebt hatten.

In der Vergangenheit hatte ich mich in der Mainstream-Klimapolitik engagiert, Berichte für internationale Nichtregierungsorganisationen geschrieben und sowohl Politiker als auch Regierungsbeamte in einschlägigen Fragen beraten. Ebenso hatte ich mich im Laufe der Jahre an vielen Klimademonstrationen beteiligt, manchmal zusammen mit Zehntausenden von Menschen. In den meisten Fällen hatte ich dabei allerdings das Gefühl gehabt, dass sie, was die politische Tagesordnung anging, kaum etwas bewirkten, ganz ähnlich wie die Demonstrationen gegen den Irakkrieg zehn Jahre zuvor. Jetzt aber beteiligte ich mich zum ersten Mal an einer »direkten Aktion«, mit der die Grenzen der Legalität überschritten wurden. In Wirklichkeit wollte ich eigentlich nicht dabei sein. Mir liegt nichts daran, anderen Menschen das Leben schwerzumachen. Viel lieber sitze ich in einer alten Bibliothek und arbeite an den Recherchen für ein Buch. Aber wie vielen anderen, so war auch mir klar geworden, dass das chronische Versagen der Regierung, was handfeste Maßnahmen gegen die Klimakrise anging, im Leben zukünftiger Generationen und des Planeten, auf dem sie leben, viel größeres Unheil anrichten werden als ich heute im Leben der Pendler. Ich war frustriert über das langsame – tödliche – Tempo des Wandels und hatte die Erkenntnis gewonnen, dass es die effizienteste Alternative war, mich der radikalen Flanke anzuschließen. Es war der beste Weg, den ich mir vorstellen konnte, um zu einem guten Vorfahren zu werden.

Den Mainstream-Medien gelingt es hervorragend, die radikaleren Organisationen, die sich gegen den Klimawandel wenden, zu dämonisieren, von Extinction Rebellion mit ihren »Die-Ins«, bei denen sich Tausende von Demonstrierenden auf die Straßen legen und den Verkehr unterbrechen, bis zu den Blickfang-Taktiken von Just Stop Oil, die beispielsweise orange Farbe auf berühmte Kunstwerke schütten (wobei sie sorgfältig darauf achten, diese nicht zu beschädigen). Die Aktivistinnen und Aktivisten werden im besten Fall häufig als »Idioten« und im schlimmsten als »Terroristen« gebrandmarkt, und Tausende von ihnen wurden bereits wegen ihrer Aktionen inhaftiert. Ob ihre Methoden zu rechtfertigen sind oder nicht, ist eine komplizierte Frage, bei der man sowohl strategische als auch moralische Argumente in Rechnung stellen muss.

Das wichtigste strategische Argument, das gegen die Bewegungen der radikalen Flanken vorgebracht wird, lautet: In der Regel funktioniert es nicht. Nach dieser Ansicht verprellen sie nicht nur die Öffentlichkeit, sondern ihre Konfrontationstaktik färbt auch auf gemäßigtere Bewegungen ab, was durch die Assoziation zu einem Rufschaden führt – manchmal spricht man vom »negativen radikalen Flankeneffekt«.36 Dies geschah 1961, als Nelson Mandela die Organisation uMkhonto we Sizwe (Speer der Nation) gründete, einen bewaffneten Guerillaflügel des Afrikanischen Nationalkongresses ANC. Zwar erklärte Mandela während des Prozesses, man habe nur deshalb den militanten Weg eingeschlagen, weil »alles andere fehlgeschlagen war« und »alle Kanäle des friedlichen Protestes für uns versperrt waren«, er verschaffte aber dadurch der südafrikanischen Regierung die Möglichkeit, die parallel dazu laufende gewaltfreie Kampagne des ANC und seinen zivilen Widerstand in Misskredit zu bringen.37 Ein Beispiel aus der Klimabewegung ereignete sich im Oktober 2019: Damals kletterten zwei Aktivisten von Extinction Rebellion während der morgendlichen Rush Hour auf einen Zug der Londoner U-Bahn und unterbrachen so den Pendlerverkehr aus einem relativ armen, ethnisch gemischten Stadtteil, sodass sich die Wut gegen die Rebellen richtete. Die Aktion löste quer durch das politische Spektrum und auch bei vielen XR-Mitgliedern Empörung aus, denn sie waren überzeugt, man solle auf die Privilegierten und Mächtigen abzielen, nicht aber auf Menschen, die nur mit Mühe in ihrem Leben zurechtkommen und den öffentlichen Nahverkehr nutzen.

Für diesen negativen radikalen Flankeneffekt sprechen auch Befunde, wonach militante Bewegungen in der Regel eine relativ geringe Erfolgsquote haben. In einer Studie zu 323 gesellschaftlichen und politischen Bewegungen seit 1900 gelangten Erica Chenoweth und Maria Stephan zu dem Schluss, dass »gewaltlose Kampagnen nahezu doppelt so häufig zum vollständigen oder teilweisen Erfolg führen wie ihre gewalttätigen Entsprechungen«.38 Bewegungen, die zu den Waffen greifen, wie die Fretilin-Guerillas in Osttimor oder der Leuchtende Pfad in Peru, scheitern in der Regel, während solche, die auf die friedliche Beteiligung großer Menschenmassen setzen, ihre Ziele mit größerer Wahrscheinlichkeit erreichen. Beispiele sind die People Power Revolution, die 1986 auf den Philippinen zur Absetzung von Ferdinand Marcos führte, oder die Samtene Revolution 1989 in der Tschechoslowakei, bei der eine halbe Million Menschen auf die Straßen ging und die abgewirtschaftete kommunistische Regierung stürzte. Der entscheidende Wendepunkt zum Erfolg, so die Autorinnen, ist eine Beteiligung von 3,5 Prozent der Bevölkerung, die ein Anliegen unterstützen. Die Folgerung liegt auf der Hand: Radikale Flanken, in denen sich eine relativ kleine Zahl militanter Aktivistinnen und Aktivisten engagieren, sind die falsche Strategie. Vergessen wir also die Gewehre, und vergessen wir auch die orange Farbe.39

Die Studie von Chenoweth und Stephan wurde häufig zitiert, wenn man Klimaproteste auf der Grundlage einer gewaltlosen massenhaften Mobilisierung rechtfertigen wollte, aber sie hat einen seltsamen Aspekt: Sie ist irrelevant.40 Die Autorinnen untersuchten gezielt Bewegungen, die einen Regimewechsel (beispielsweise den Sturz einer Diktatur) herbeiführen wollten, nicht aber solche, die sich auf einzelne politische Ziele wie Frauenwahlrecht, ethnische Gleichberechtigung oder Umweltschutz konzentrieren. Damit ist erklärt, warum die Suffragetten und die US-Bürgerrechtsbewegung – zwei der erfolgreichsten gesellschaftlichen Bewegungen der Neuzeit – nicht einmal in ihren Datenbestand aufgenommen wurden. Wenn es um den Klimawandel geht, greifen radikale Flankenorganisationen wie Just Stop Oil in Großbritannien, Ende Gelände in Deutschland oder Climate Defiance in den Vereinigten Staaten nicht zu den Waffen und wollen auch nicht ganze Regierungen stürzen, sondern sie setzen sich im Regelfall für politische Veränderungen wie ein Ende der staatlichen Subventionen und der Lizenzen zur Ausbeutung fossiler Brennstoffe ein. Deshalb hat es wenig Sinn, sie mit Guerillagruppen zu vergleichen, die im Gebirge kämpfen, und von vornherein so zu tun, als wären sie zum Scheitern verurteilt.41

Aussagekräftiger ist der Vergleich mit gesellschaftlichen Bewegungen, die auf politische Veränderungen abzielten, wie die Suffragetten, die Bürgerrechtsbewegung oder die Bewegung der Sklavereigegner. Bei diesen und vielen anderen Strömungen spielten die radikalen Flanken eine entscheidende Rolle dafür, dass die Kampagnen zum Erfolg führten. Bisher lassen die Anhaltspunkte darauf schließen, dass auch die globale Klimabewegung auf ähnliche Weise von solchen radikalen Rändern profitiert.42 Die Mitglieder von Extinction Rebellion werden vielleicht dafür kritisiert, dass sie auf einen Zug klettern, aber viel schwerer als solche »negativen« Aktionen der radikalen Flanken wiegt die Reaktion der Öffentlichkeit auf ihre direkten Aktionen, die sich mittlerweile auf 84 Länder ausgeweitet haben, darunter auch solche im globalen Süden. Wie sich in Umfragen gezeigt hat, ist der Anteil der Menschen, für die der Umweltschutz oberste Priorität hat, durch die Aktionen von XR auf Rekordwerte gestiegen.43 Mehr als 40 Regierungen und mehr als 2000 regionale Verwaltungseinheiten haben auf die Forderungen reagiert und den »Klimanotstand« ausgerufen. Dass XR den Themenkatalog der Öffentlichkeit verändern kann, wird auch von Teilen der Mainstream-Umweltbewegung anerkannt, so von Fridays for Future und Friends of the Earth, die ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht haben.

Radikale Flankenorganisationen wie XR haben dazu beigetragen, den politischen Raum für politische Veränderungsinitiativen zu öffnen: Im Jahr 2023 wurde die niederländische Regierung nach Straßenblockaden von Klimaaktivisten gezwungen, eine Parlamentsabstimmung abzuhalten – die erfolgreich war – und die Subventionen für fossile Brennstoffe schnell zu beenden.44 Der konstruktive Widerspruch solcher Gruppen hat das Overton-Fenster verschoben und die politischen Möglichkeiten erweitert, selbst um den Preis, dass einige Teile der Öffentlichkeit verprellt wurden. Dies ist der unvermeidliche Preis für ihren Erfolg.45

Auch Just Stop Oil dürfte einige Gartenbaubegeisterte verärgert haben, als die Organisation auf der exklusiven Londoner RHS Chelsea Flower Show vegane orange Farbe auf die Pflanzen schüttete. Ihre Mitglieder bedienen sich aber weiterhin solcher Taktiken, weil sie damit rechnen, dass die so erzielte Medienpräsenz insgesamt positive Auswirkungen auf das Bewusstsein der Öffentlichkeit hat, sodass sich das Risiko lohnt. Obwohl die Mehrheit der britischen Bürger sich gegen die provokativen Methoden der Organisation ausspricht, zeigt die umfassendste Studie über ihre Aktionen, dass »es keine Hinweise gibt, wonach die Proteste die Unterstützung für die Klimapolitik oder für die Ziele von Just Stop Oil verringert hätten«. Im Gegenteil: Die Daten lassen darauf schließen, dass als Folge der Proteste »die Zahl der Menschen, die bereit sind, sich an irgendeiner Form von Klimaaktivismus zu beteiligen, von 8,7 auf 11,3 Prozent der britischen Bevölkerung gestiegen ist, was ungefähr 1,7 Millionen zusätzlichen Menschen entspricht«.46 Mittlerweile erhält Just Stop Oil sogar Unterstützung von Prominenten: Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton bekundete Sympathie für die Unterbrechung des Großen Preises von Großbritannien, und BBC-Sportkommentator Gary Lineker, der auf X (früher Twitter) mehr als acht Millionen Follower hat, verteidigte öffentlich die Aktivisten, die in Wimbledon die Tennisplätze stürmten. Dazu meinte Lineker: »Die Geschichte zeigt uns, dass nur Demonstrationen, die etwas stören, auch etwas bewirken.«47 Wenn man schon Sportidole auf seiner Seite hat, verändert sich etwas.

Strategisch sprechen also unter dem Strich überzeugende Argumente für die radikalen Flanken der Klimabewegung. Wie steht es mit der Moral? Ein Argument, das ständig in sozialen Medien auftaucht, betrifft die Unbequemlichkeiten, die dadurch bereitet werden: Danach haben Protestierende kein Recht, mit Aktionen wie der Straßenblockade unschuldige Pendler auf ihrem Weg zur Arbeit aufzuhalten. Aber dies ist kaum ein Vergleich mit der viel drastischeren »Unbequemlichkeit« einer Zukunft, in der unsere Kinder vor Waldbränden fliehen müssen, Millionen Menschen die Überflutung ihres Zuhauses erleben und eine Milliarde Klimaflüchtlinge unterwegs sind.

Ein zweites Argument lautet, es sei moralisch falsch, Gesetze zu brechen, und das Rechtsstaatsprinzip sei unantastbar. Aber wo wären wir ohne die illegalen Sitzblockaden der Bürgerrechtsbewegung oder die Generalstreiks, zu denen Mahatma Gandhi allen Gesetzen zum Trotz aufrief und die das indische Kolonialreich zum Einsturz brachten? Wenn nie jemand Gesetze gebrochen hätte, würden wir uns wahrscheinlich vieler grundlegender Menschenrechte, die wir heute für selbstverständlich halten, nicht erfreuen. Politiker tun radikale Flankengruppen häufig als »Extremisten« oder »Gesetzesbrecher« ab, aber darin spiegelt sich ein akutes Versagen wider: Sie verstehen nicht, wie progressiver politischer Wandel abläuft und was der Demokratie ihre Bedeutung und Vitalität verleiht. Von der Sozialaktivistin Abbie Hoffman stammt die Bemerkung: »An dieser Stelle beginnt und endet meine Kritik an der Demokratie. Kinder müssen lernen, Autoritäten nicht zu respektieren, sonst ist Demokratie eine Farce.«48 Es ist eine großartige Ironie: An den Wänden der Klassenzimmer für den Geschichtsunterricht meiner Kinder hängen Bilder heldenhafter Gesetzesbrecher wie Gandhi, Martin Luther King Jr. und Emmeline Pankhurst. Soll man sie wirklich herunterreißen?

Ein drittes ethisches Argument gegen die radikalen Flanken lautet: Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen. Dahinter steht die Angst vor dem Abgleiten in den Ökoterrorismus wie bei den fiktiven Kindern von Kali, einer in Indien ansässigen Geheimorganisation, die in dem 2020 erstmals erschienenen Science-Fiction-Roman Das Ministerium für die Zukunft von Kim Stanley Robinson Drohnenschwärme rund um die Privatjets der Ölmanager fliegen lässt, sodass sie abstürzen. Aber auch dieses Argument geht an der Sache vorbei. Praktisch alle radikalen Klimaorganisationen lehnen Gewaltanwendung ausdrücklich ab. Stattdessen engagieren sie sich mit gewaltfreien Taktiken: Sie kleben sich vor den Türen von Ölkonzernen fest, stören internationale Tagungen, besetzen Kohlekraftwerke oder halten Öltankwagen auf, wenn sie ihre Depots verlassen; hinzu kommen eher karnevalistische Aktionen wie Straßenpartys auf zentralen Kreisverkehren oder das Guerilla Gardening.

Ein Wandbild in der Schule meiner Kinder: Emmeline Pankhurst, die Gründerin der radikalen Womens’s Social and Political Union, wird von der Polizei festgenommen. An ihrer Seite stehen militante Suffragetten, darunter Emily Davison (ganz links mit Hut), die 1913 starb, nachdem sie während einer Protestaktion vom Pferd von König George V. umgerannt worden war. Wandbild von Soham De, mit freundlicher Genehmigung des Rumble Museum.

Darauf könnte man erwidern, dass solche Aktionen, die häufig mit der Zerstörung oder Verletzung von Privateigentum verbunden sind, selbst Gewalttaten darstellen. Diese Ansicht wird von vielen Politikern und manchen Experten vertreten, darunter auch Chenoweth und Stephan: Sie definieren Gewalt weit gefasst als »physische Schädigung von Menschen und Eigentum«.49 Eine derartige Wertschätzung des Eigentums hat tiefe historische Wurzeln: Sie geht zurück auf das 17. Jahrhundert und Denker wie John Locke, die den Schutz des individuellen Privateigentums für ein Grundrecht hielten. Aber warum sollte Eigentum ebenso heilig sein wie ein Menschenleben? Es besteht doch sicher ein Unterschied zwischen einer Terroristengruppe, die einen Politiker ermordet, und Klimaaktivisten, die rote Farbe auf die Stufen einer Bank schütten, wenn diese in fossile Brennstoffe investiert, oder Rassenaktivisten, die die Statue eines Sklavenhändlers stürzen.

Ein Beispiel sind die Tyre Extinguishers, eine anonyme Gruppe, die nur ein einziges Ziel hat: »Es unmöglich zu machen, in den Ballungsräumen der Welt ein riesiges verschmutzendes Allradfahrzeug zu besitzen. Wir wehren uns gegen Klimawandel, Luftverschmutzung und gefährliche Autofahrer.« Ihre Methode richtet sich gegen SUV