100 Jahre Kampf um Gerechtigkeit - Erwin Niederwieser - E-Book

100 Jahre Kampf um Gerechtigkeit E-Book

Erwin Niederwieser

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Beschreibung

Vor 100 Jahren wurde die Tiroler Arbeiterkammer gegründet. Heute ist sie ob ihrer zahlreichen Aktivitäten und ihres Einsatzes für Arbeitnehmer*innen aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben Österreichs nicht mehr wegzudenken. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung 1921 sah das jedoch ganz anders aus: Die noch sehr junge Republik war vom Ersten Weltkrieg schwer mitgenommen und sah einer ungewissen Zukunft entgegen. Entsprechend wechselvoll war die Geschichte der österreichischen Arbeiterkammern bis 1945, von ihrer Ausschaltung im Dollfuß-Regime ab 1934 bis zur Zwangseingliederung in die Deutsche Arbeitsfront während des Nationalsozialismus.Die Wiederherstellung der Arbeiterkammern nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zur Erfolgsgeschichte: Im Rahmen der Sozialpartnerschaft hatten sie entscheidenden Anteil am wirtschaftlichen Aufstieg Österreichs, von dem auch die Arbeitnehmer*innen profitieren sollten.Erwin Niederwieser blickt mit uns zurück auf ein Jahrhundert Arbeiterkammer Tirol: 100 Jahre mit Höhen und Tiefen, Erfolgen und Rückschlägen, aber stets geprägt vom Kampf um eine gerechtere Arbeitswelt. Zahlreiche Abbildungen bereichern den Band, darunter auch viele bisher unveröffentlichte Fotos aus dem Oral-History-Projekt "Erlebte Geschichte".

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Erwin Niederwieser

100 JAHRE KAMPF UM GERECHTIGKEIT

Die Geschichte der Arbeiterkammer Tirol

Michael Wagner Verlag

 

 

© 2021 by Michael Wagner Verlag in der Universitätsverlag Wagner Ges.m.b.H.,

Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.michael-wagner-verlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilmoder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oderunter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7107-6770-8

Buchgestaltung und Satz: Michael Wagner Verlag/Karin Berner Umschlagabbildungen: AK Tirol

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlungoder direkt unter www.michael-wagner-verlag.at

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort von Landeshauptmann Günther Platter

Vorwort von AK-Präsident Erwin Zangerl

1. Die Arbeiterkammern – eine österreichische Besonderheit

2. Arbeiterkammer und Gewerkschaft

3. Die sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Interessen der Mitglieder im historischen Wandel

a) Arbeits- und Sozialrecht

b) Beratung der Mitglieder in Innsbruck und in den Bezirksstellen

c) Direkte Hilfe für die Mitglieder und ihre Familien

d) Die Bedeutung der Lehre

e) Schulungen und Schulungseinrichtungen für Betriebsräte und FunktionärInnen

f) Die Einführung der Arbeitnehmerförderung des Landes Tirol als Beispiel für interessenpolitische Erfolge

g) Betriebe in Schwierigkeiten – Hilfsmaßnahmen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

h) Konsumentenschutz

i) Bildung und Kultur

4. Organisationen im Umfeld der AK – Beispiel BFI

5. Die Arbeiterkammer und die Wissenschaft – Studien und was daraus folgt

6. Bilanz und Ausblick

7. Anhang

Ergebnisse der Arbeiterkammerwahlen

Präsidenten – Direktoren – KammerrätInnen 1921–2021

 

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Bildnachweis

 

Dank

Zum Autor

ZUM GELEIT

Ich gratuliere den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie dem Präsidenten Erwin Zangerl und seinem Team zum 100. Bestandsjubiläum der Arbeiterkammer Tirol.

Mit mehr als 345.000 Mitgliedern hat die AK Tirol einen hohen gesellschaftspolitischen Stellenwert in der gesetzlich verankerten Verpflichtung als Vertretung aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land.

Die Gründung der Arbeiterkammer vor 100 Jahren durch die Initiative der Gewerkschaften war ein Meilenstein auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dieser Weg des Miteinanders konnte auch von der Auflösung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1938 nicht dauerhaft unterbrochen werden, denn bereits im Jahr 1945 – gleich nach dem Ende der Nazi-Herrschaft – setzte die Arbeiterkammer ihren erfolgreichen Weg zur Schaffung und Gestaltung von Grundlagen eines modernen Sozialstaats unermüdlich bis zum heutigen Tage fort.

Errungenschaften und Regionalisierung

Ob 8-Stunden-Tag, Arbeitslosenversicherung, 5 Wochen Urlaub im Jahr oder Elternkarenz: Vieles, was uns heute als selbstverständlich erscheint, wurde in den vergangenen 100 Jahren gemeinsam von den Arbeiterkammern, dem Österreichischen Gewerkschaftsbund und den Gewerkschaften für die Menschen erkämpft. Heute gilt es, neue Herausforderungen zu meistern – etwa die Globalisierung, den demographischen Wandel oder die aktuelle Corona-Pandemie. Durch die Regionalisierung der AK Tirol mit Anlaufstellen in allen Bezirken können wichtige Serviceleistungen für Mitglieder zu Fragen im Arbeits-, Sozial-, Konsumenten-, Wohn- und Steuerrecht sowie in Wirtschafts-, Jugend- und Bildungsbelangen durch Expertinnen und Experten auch wohnortnah angeboten werden.

Corona-Krise gemeinsam meistern

Die nächsten Wochen und Monate werden für uns alle eine herausfordernde Zeit auf dem Weg heraus aus der Corona-Krise. Die im Jahr 1957 gegründeten Sozialpartner werden dabei im Miteinander eine große Rolle spielen. Als Landeshauptmann von Tirol möchte ich mich deshalb weiterhin mit aller Kraft für dieses Miteinander in unserem Land einsetzen.

100 JAHRE AK – 100 JAHRE SCHUTZ UND HILFE FÜR ARBEITNEHMERINNEN UND ARBEITNEHMER

Es war ein weiter und oft beschwerlicher Weg, den Tirol in den letzten 100 Jahren zurückgelegt hat. Aber es war ein erfolgreicher, nicht zuletzt, weil diese vergangenen 100 Jahre auch vom Wirken der Arbeiterkammer geprägt waren. Dadurch hat sich das Leben der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sukzessive zum Besseren verändert – mittlerweile tragen fast alle Lebensbereiche die Handschrift der AK. Dabei war der Beginn ein überaus schwieriger. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ging nicht nur die Ära der k. u. k. Monarchie zu Ende, die Menschen hatten in den kommenden Jahren schwer an den Kriegsfolgen zu leiden. Ein Zeichen dafür, dass das neue Österreich als nicht überlebensfähig angesehen wurde, waren auch die Anschlussbestrebungen an Deutschland, die vor allem in regionalen Abstimmungen wie in Salzburg oder Tirol gipfelten.

Vor diesem Hintergrund beginnt die Tiroler Arbeiterkammer am 1. Mai 1921 ihre Tätigkeit, damals noch in Räumlichkeiten in der Innsbrucker Hofburg. Schon in der ersten Funktionsperiode herrscht ein beeindruckendes Tempo: Die Betreuung der Mitglieder wird ausgebaut, „Amtsstellen“ in Kufstein, Kitzbühel, Landeck und Lienz werden errichtet. Vieles, was bis heute Bestand hat, wird ins Leben gerufen. Es folgen Jahre, in denen die Arbeiterkammer viel bewegt und umsetzt, doch die politischen Entwicklungen arbeiten gegen die Kammern und schränken sie immer mehr ein. Die Jahre 1933/1934 bringen schließlich das Ende für die von den ArbeitnehmerInnen frei gewählten Organe der Kammer, im autoritären Ständestaat werden sie vollkommen ausgeschaltet. 1938, nach der Besetzung Österreichs, erfolgt die Auflösung der Arbeiterkammern, ihr Besitz wird der „Deutschen Arbeitsfront“ übertragen. 1945, nach dem Ende des Nazi-Regimes, beginnt auch der Wiederaufbau der Arbeiterkammer, bereits 1946 ist die AK Tirol wieder in allen Bezirken vertreten.

Diese Festschrift zu 100 Jahren AK Tirol soll zeigen, vor welchem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umfeld die AK ins Leben gerufen wurde, wie ihre Arbeit begann, wie sie aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs neu erstand, was sie leistete und wie sie mithalf, aus einem einst armen Land ein soziales zu gestalten. Dafür wurde die Arbeiterkammer vor 100 Jahren gegründet und seither bemühen wir uns täglich, diesem Auftrag zu folgen. Wie, das beschreibt dieses Buch.

1. DIE ARBEITERKAMMERN – EINE ÖSTERREICHISCHE BESONDERHEIT

2021 – 100 Jahre Arbeiterkammer in Tirol

Kein Krieg, kein Erdbeben, keine Staatskrise. Ein winzig kleines Virus hat das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben seit über einem Jahr fast vollständig zum Erliegen gebracht. Die Zahl der Arbeitslosen ist die höchste in den letzten hundert Jahren.

In den Gründungsjahren der Arbeiterkammer war alles anders. Dem Haller Salz oder dem Erz aus Brixlegg stand nicht mehr ein Binnenmarkt von 51 Millionen Einwohnern offen und Tirol endete plötzlich am Brenner. Das neue Österreich zählte 6,5 Millionen Einwohner. Nach über vier Jahren Krieg herrschten Hunger und Elend.

Die Geschichte der Arbeiterkammer lässt sich in mehrere Phasen einteilen.

Die Vorgeschichte beginnt im Revolutionsjahr 1848, dann folgt der Beschluss des Arbeiterkammergesetzes 1920. Dann die Aufbauphase, zugleich die Zeit der Verteidigung der großen Sozialgesetze aus den Anfängen der Ersten Republik. Auf das Ende der Selbständigkeit 1934 folgt die Zerschlagung 1938.

1945 wiedererrichtet, spielt sie eine bedeutende Rolle beim Wiederaufbau und die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft gilt als wesentlicher Grund für den Aufstieg Österreichs zu einem der wohlhabendsten Länder der Welt.

1920 – Über die „Unentbehrlichkeit“ von Arbeiterkammern

Wien, 26. Februar 1920, Parlament: Die Konstituierende Nationalversammlung der Republik Österreich tritt zu ihrer bereits 64. Sitzung zusammen.

Auf der Tagesordnung steht das Gesetz über die Errichtung von Kammern für die Arbeiter und Angestellten. Am Vortag wurde das Gesetz über die Handelskammern beschlossen, die Zustimmung zum Arbeiterkammergesetz ist zwischen den Parteien im Parlament vereinbart.

Wilhelm Scheibein (Pfeil) in der Konstituierenden Nationalversammlung. Gesetzliche Interessenvertretung bedeutet: Welche Aufgaben mit wie viel Geld und mit welcher Organisation zu erledigen sind, bestimmt das Parlament.

Seit 1848 hatte sich die gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft um Arbeiterkammern bemüht, nachdem die Unternehmen durch die neuen Handelskammern vertreten wurden. Dazu gibt es in der Literaturübersicht ausführliche Beschreibungen, z.B. jene von Josef Rohringer1, Franz Borkowetz2 oder Heimo Halbrainer3.

Staatskanzler Dr. Karl Renner hatte am 11. Juli 1917 auf Seite 1 der Arbeiter-Zeitung unter dem Titel „Die Unentbehrlichkeit von Arbeiterkammern in der Übergangswirtschaft“4 die Sinnhaftigkeit von Arbeiterkammern begründet: Die „Arbeitskraft“ und vor allem die qualifizierte Facharbeit ist der wichtigste Faktor für den Wiederaufbau, verbunden mit einer auf breiter demokratischer Basis beruhenden Gesetzgebung. Es sei notwendig, dass „die Arbeiterschaft in allen Stellen der staatlichen Lokalverwaltung vollen Rechtes zur Mitgestaltung berufen wird“ und daher ist „das erste Bedürfnis … die Errichtung von Arbeiterkammern, wie sie Industrie, Handel und Gewerbe mit den Handelskammern … und die Landwirtschaft in den Landeskulturräten“ bereits seit langem besitzen.

Bemühungen um eine gesetzlich garantierte Vertretung der Arbeitnehmerinteressen bei der Ausformung von Gesetzen und gegenüber der staatlichen Verwaltung gab es ab Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Ländern, aber nur die besondere politische Konstellation in Österreich in den Nachkriegsjahren 1919/20 führte über die Beschlüsse des Handelskammergesetzes und des Arbeiterkammergesetzes zu einem System von gesetzlichen Interessenvertretungen, in welches auch andere berufliche Gruppierungen (Landwirtschaft, Ärzte, Ingenieure u. a.) einbezogen wurden.

Es ist die Zeit der jungen Republik. Die Machtverhältnisse werden neu geordnet. Adel, Klerus und deren Parteien haben an Bedeutung verloren, Bürgertum und Arbeiterschaft haben gewonnen, auf den Bauern ruht die Hoffnung, dass der Hunger endlich vorbei sein möge. Frauen waren bei der Wahl am 16. Februar 1919 erstmals wahlberechtigt, die Provisorische Nationalversammlung hatte im November 1918 beschlossen, dass alle volljährigen Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht haben, Frauen wie Männer.

Man muss sich das politische Umfeld vor Augen führen: Die Habsburgermonarchie war nach über 600 Jahren zu Ende, der Staat der Österreicher, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Bosnier, Kroaten, Montenegriner, Polen, Italiener, Rumänen, Serben und Ukrainer, Frauen wie Männer, war nicht mehr, aufgelöst in viele Nachfolgestaaten mit neuen Grenzen, die ihre Wirksamkeit nach und nach entfalten sollten. Tirol hatte Südtirol verloren, und die traditionell enge Zusammenarbeit der Gewerkschaften Österreichs und des Trentino war binnen weniger Jahre Vergangenheit, zugedeckt von den Gräueln des Faschismus in Italien und den aufkommenden diktatorisch-totalitären Tendenzen in Österreich.

Doch kommen wir zurück in die Konstituierende Nationalversammlung am 26. Februar 1920. Den Vorsitz führt Präsident Karl Seitz (SD), Bundeskanzler ist Dr. Karl Renner (SD), sein Vizekanzler ist Jodok Fink (CS), der für den Gesetzentwurf zuständige Sozialminister ist der Sozialdemokrat Ferdinand Hanusch.

Die Sitzung hat um 11.40 Uhr begonnen, es ist kurz nach Mittag, als der ehemalige Schlossergehilfe Franz Domes5 als Berichterstatter die Diskussion eröffnet. Domes ist Vorsitzender des Metallarbeiterverbandes und sozialdemokratischer Abgeordneter.

Ferdinand Hanusch: Sozialreformer und verantwortlich für das Arbeiterkammergesetz

Geboren am 9. November 1866 in Oberdorf/Horni Ves in der heutigen Tschechischen Republik, gestorben am 28. September 1923 in Wien. Hilfsarbeiter, dann auf der Walz, Fabriksarbeiter, Gewerkschaftssekretär, Abgeordneter. Von Ende Oktober 1918 bis Oktober 1920 Sozialminister. „Während seiner zweijährigen Tätigkeit baute er eine Sozialgesetzgebung auf, die als Vorbild für andere Staaten diente. Ihm zu verdanken ist ein zeitgemäßes Krankenkassenwesen und ein großer Ausbau der Sozialversicherung, Urlaubs anspruch für Arbeiter, der durch Kollektivvertrag garantierte Mindestlohn, die 48 Stunden Arbeits woche, das Verbot der Kinderarbeit für Kinder unter 12 Jahren, die Arbeitslosenversicherung, das Betriebsrätegesetz, die sechswöchige Karenzzeit für gebärende Frauen und die Errichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte.“6

Dass diese Verbesserungen möglich waren, hatte zwei Gründe: Einerseits handelte es sich um Forderungen vor allem der Freien Gewerkschaften, die diese bereits vor Jahrzehnten formuliert hatten, andererseits lag es am politischen Umfeld. Nach der kommunistischen Revolution in Russland war es auch in Bayern und Ungarn zur Gründung von Räterepubliken gekommen, sodass die bürgerlichen Parteien zu erheblichen Zugeständnissen bereit waren, damit Österreich nicht ebenfalls dem Bolschewismus anheimfalle. Stärkste Partei im Parlament waren mit 40 % die Sozialdemokraten, aber die bürgerlichen Parteien verfügten zusammen über die Mehrheit. Ihre Überlegung: Lieber große Zugeständnisse als Bürgerkrieg und kommunistische Räterepublik.

In zwei Räumen in der im Krieg umfunktionierten Hofburg in Innsbruck wurde 1921 mit der Arbeit begonnen.

Die Diskussion zum Arbeiterkammergesetz

Franz Domes greift in seiner Rede im Nationalrat Karl Renners Gedanken auf, „dass der Arbeiterklasse auf das neue Werden in der Volkswirtschaft ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht zukommen muss“. Die Arbeiterkammern sollen „ihrem Wesen nach zunächst ein Gegengewicht gegen die einseitige Beeinflussung unserer volkswirtschaftlichen Verhältnisse durch die Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie sein“.

Karl Kittinger, Postmeister in Karlstein an der Thaya und gleichzeitig stellvertretender Landeshauptmann von Niederösterreich, verweist als „national fühlender Deutscher“ auf Deutschland, wo sich alle Gewerkschaften ein Gesetz zu den Arbeiterkammern wünschen, „in welcher die Vertreter der Arbeiterschaft und die Vertreter der Unternehmerschaft paritätisch an einem Arbeitstisch zusammensitzen und ihr gemeinsames Schicksal auch gemeinsam beraten“. Der Vertreter der Christ lichen Arbeiterschaft Franz Spalowsky, Zeitungs beamter aus Wien, begrüßt das Gesetz und bringt gleichzeitig zwei Themen ein, die „Schaffung selbständiger Angestelltenkammern“ und die Sorge um faire Wahlordnungen, weil man die Erfahrung gemacht habe, „dass sich der Mangel eines ordentlichen Wahlmodus … für jede Minderheit außerordentlich nachteilig fühlbar gemacht hat“. Seine Resolution für eine Wahlordnung, die jedem Wähler „die vollständige, ungehinderte und unbeeinflusste Ausübung des Wahlrechts garantiert“, wird einstimmig angenommen. Der Buchdrucker und freie Gewerkschafter Anton Franz Hölzl aus Wien stellt fest, dass dieses Gesetz „nicht Gnade, sondern Recht“ ist. Er bezeichnet es als „notwendige Ergänzung des Gesetzes über die Betriebsräte und des Gesetzes über die Einigungsämter und die Regelung der kollektiven Arbeitsverträge“ und als fachliche Unter stützung „für die Gewerkschaften, … die in Deutschösterreich die respektable Summe von 700.000 Mitgliedern aufweisen, darunter über 100.000 aus dem Kreise der Angestellten.“ Der Handelsangestellte Karl Pick (Sozialdemokrat) geht auf eine Petition für eine Angestelltenkammer ein und stellt fest: „Die Erkenntnis, dass die Angestellten und Arbeiter zusammengehören, ist schon älteren Datums!“

Das Arbeiterkammergesetz wird beschlossen, zwei der Abgeordneten aus Tirol sind Wilhelm Scheibein und Hans Steinegger. Scheibein ist „freier“7 Gewerkschafter und bei der Eisenbahn, Steinegger ist christlicher Gewerkschafter und bei der Post.

Das Arbeiterkammergesetz wird am 9. März 1920 veröffentlicht und tritt am 9. Juni 1920 in Kraft.

Schon am 30. Mai 1920 schreibt die „Schlossverwaltung zu Innsbruck und Ambras“ an die Direktion der Sachdemobilisierungsstelle in Innsbruck: „Nach mündlicher Mitteilung des Herrn Nationalrat Scheibein beabsichtigt die Arbeiterkammer, die genannten Räume am 15. Juni d.J. unbedingt in Benutzung zu nehmen“. Die Räume, um die es hier geht, sind am Rennweg in Innsbruck, in der Hofburg.

Man darf sich die Hofburg 1920 aber nicht so vorstellen, wie sie heute ist. Die Hofburg war einst Schatzkammer und Turnierplatz für Maximilian I., dann standesgemäße Unterkunft des Kaisers und seiner Familie, wenn sie in Innsbruck weilten. Auch Andreas Hofer war als „Regent von Tirol“ 1809 einige Zeit vom „Sandhof“ in St. Leonhard im Passeier in die Hofburg übersiedelt.

1918 war aller Glanz aus diesen Gemäuern gewichen, das Gebäude in einem schlechten Zustand, jetzt im Eigentum der jungen, mittellosen Republik. Man versuchte dort unterzubringen, was ein Dach über dem Kopf benötigte, von der Heimkehrerkontrollkommission und der amerikanischen Kinderhilfe bis zur Gemeinschaftsküche samt Speiselokalitäten für die öffentlichen Angestellten.

Bei den Räumen in der Hofburg ging nichts weiter. Wilhelm Scheibein musste also schärfere Geschütze auffahren. Sein Tiroler Abgeordnetenkollege Simon Abram schrieb am 18. Februar 1921 einen Brief an den mächtigen Sektionschef Dr. Beck-Managatta in Wien und zeigt sich verwundert, dass die Arbeiterkammer noch nicht in der Hofburg eingezogen ist, zumal dieses „Begehren vom Bundesminister a.D. für Soziale Verwaltung Hanusch seinerzeit warm befürwortet“ worden war.

Zwei Tage zuvor hat der Tiroler Landeshauptmann Josef Schraffl seinem roten Stellvertreter Dr. Franz Gruener eine offizielle „Ermächtigung“ erteilt, „zum Zwecke der Unterbringung einer Arbeiterkammer“ eine Besichtigung in der Hofburg vorzunehmen, eine erste Geste der Zusammenarbeit der Sozialpartner durch Schraffl, den Gründer des Tiroler Bauernbundes. Dann geht es schnell und schon am 12. März meldet die Schlossverwaltung, dass im ersten Stock ein Saal und zwei Zimmer für die Arbeiterkammer zur Verfügung stünden. Dort beginnt das Büro der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol im Mai 1921 seine Tätigkeit.

Die erste Arbeiterkammerwahl fand am Samstag, 16., und Sonntag, 17. April 1921,9 statt. 33 Mandate entfielen auf die Freien Gewerkschaften mit ihrem Listenführer Wilhelm Scheibein, 17 auf die christlich-nationale Arbeits gemeinschaft, ein Bündnis aus christlichen Gewerkschaftern, den „nationalen und christlichen Eisenbahnern“ und den „nichtsozialdemokratischen Angestellten“. In den Sektionen der Arbeiter, der Verkehrsarbeiter und der Verkehrsangestellten hatten die sozialdemokratischen Gewerkschafter eine solide Mehrheit, in der Sektion der Angestellten die christlich-nationale Arbeitsgemeinschaft.

Am 18. April 1921 rückte selbst in der sozialdemokratischen Volkszeitung dieser Erfolg in den Hintergrund, standen doch die Anschlussabstimmung an Deutschland und die Gemeinderatswahl in Innsbruck unmittelbar bevor.

Innsbruck 1920 und 1921

Die Spanische Grippe ist abgeklungen. Sie hat in den vergangenen zwei Jahren in Tirol ungefähr 1.500 Tote gefordert,8 weltweit schätzt man um die 50 Millionen.

Im Winter sterben tausende Menschen an Kälte und Hunger. Die einen trauern um das verlorene Habsburgerreich, für die anderen ist es eine Befreiung. Letztere wollten kein relativ friedliches Zusammenleben im Vielvölkerstaat, sondern endlich ihre völkischen Phantasien verwirklichen. Die lange unterdrückte Arbeiterschaft hat jetzt das Wahlrecht und politische Beteiligung. Die ersten Lektionen in Sachen Demokratie sollten noch folgen.

Einladung zur Konstituierenden Sitzung

Zur ersten Vollversammlung fand man sich am 16. Juni 1921 im Tiroler Landhaus ein. Die Volkszeitung vom 16. Juni 1921 und der Allgemeine Tiroler Anzeiger vom 17. Juni berichteten ausführlich darüber. Wilhelm Scheibein wurde einstimmig zum Präsidenten gewählt. Der Vorstand setzte sich zusammen aus dem Präsidenten und den vier Sektionsobleuten (Vizepräsident Ernst Müller, Arbeiter, Freie Gew., Josef Fauster, Angestellte, Christl. Nat., Josef Berlinger, Verkehrsarbeiter, Freie Gew. und Rudolf Pfeffer, Verkehrsangestellte, Freie Gew.). Vier der zehn Ausschussobleute wurden den christlich-nationalen Kammerräten zugestanden.

Die Finanzierung der Arbeiterkammer

Zur Deckung der mit 3,3 Mio. Kronen veranschlagten Verwaltungskosten wurde für jeden versicherungspflichtigen Arbeiter und Angestellten ein wöchentlicher Beitrag von 2 Kronen festgelegt. In den oben zitierten Innsbrucker Nachrichten findet sich in derselben Ausgabe eine Annonce der Handlung Therese Mölk, wonach eine Dose portugiesischer Sardinen damals 45 Kronen und 1 kg ausgelassenes Natur-Schweinefett 200 Kronen kosteten. Ab Dezember 1921 wurde der Beitrag auf 4 Kronen und ab Mai 1922 infolge der großen Geldentwertung auf 24 Kronen je Woche angehoben.

Die Höhe der Kammerumlage musste vom Sozialministerium genehmigt werden. Da die Republik den Arbeiterkammern zum Start und zur Durchführung der ersten Wahl ein Darlehen gegeben hatte und an dessen Rückzahlung dringend interessiert war, wurden die Anträge auf Erhöhung anstandslos genehmigt. Schon in den nächsten Vollversammlungen wurde heftig diskutiert, die christ lichen Gewerkschafter bemängelten die Personaleinstellungen und die Arbeit des Kammerbüros.

Wilhelm Scheibein, Präsident der Tiroler Arbeiterkammer 1921 bis 1934

Geboren am 17. Mai 1869 im südmährischen Bonitz, Kind armer Kleinhäusler, arbeitete schon mit zwölf Jahren in der Landwirtschaft, lernte Tischler und zog 1886 zum Besuch der Staatsgewerbeschule nach Wien.

Aus finanziellen Gründen musste er die Schule aufgeben, rückte im Herbst 1887 zum Eisenbahnregiment ein, arbeitete bei der Militärbahn, wechselte 1890 zur Südbahn und trat der Gewerkschaft bei.

Als er in Liesing eine gewerkschaftliche Ortsgruppe gründete, wurde er nach Lienz strafversetzt und von dort wiederum wegen des Organisierens einer Gewerkschaftsversammlung nach Innsbruck, wo er bald zum Obmann der Eisenbahnergewerkschaft gewählt wurde und sie zu einer der bestorganisierten Gewerkschaften ausbaute.

1907 kandidierte er für die sozialdemokratische Partei erstmals für den Reichsrat, der Einzug gelang ihm aber erst bei der Wahl 1919.

Nach der Ausschaltung des Parlaments und der Absetzung als Präsident durch den Sozialminister des autoritären Ständestaates zog er sich zurück, weil die Rache der neuen „Mächtigen“ und noch mehr die Boshaftigkeit einzelner ihrer Anhänger ihm schwer zu schaffen machte. Am 18. April 1936 verstarb er in Innsbruck.

1922 bis 1923

Neben dem Aufbau einer Organisation und der Erfassung der Kammermitglieder waren die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Maßnahmen gegen die Teuerung Aufgaben der neuen Kammer. Der Bedarf an Lebensmit teln durch den beginnenden Tourismus verursachte einen Mangel und höhere Preise. Der Fremdenverkehr war andererseits der wichtigste Devisenbringer und nur mit Devisen konnte man damals dringend benötigte Rohstoffe wie Baumwolle für die Textilproduktion einkaufen. In Innsbruck und anderen Orten gab es „Hungerdemonstrationen“, die Kammerführung verhandelte mit der Landesregierung buchstäblich um jeden Sack Kartoffeln und in der Arbeiterkammer wurde im Juni 1923 ein Ausschuss für Volksernährung und Konsumenteninteressen eingerichtet.

Bei der Vollversammlung am 4. Juni 1923 führt Vizepräsident Müller den Vorsitz und „begrüßt das neue, erste weibliche Kammermitglied“. Es ist Laura Palme von den Freien Gewerkschaften, Buchhalterin aus Innsbruck.

Lebensmittel für die Einheimischen statt für die Touristen? Aber ohne Devisen gab es keine Rohstoffe für die Industrie. Im Bild Personal des GH Neuwirth hinter der Bar

Die von Vizepräsident Ernst Müller akribisch erstellte „Berufsstatistik“ erschien im September 1923 im Eigenverlag der Arbeiterkammer. Sie enthielt nach dem Stand vom 1.10.1922 alle im Handel, Gewerbe und in der Indus trie beschäftigten Arbeitnehmer nach Sparten, Bezirken und Betrieben. Dazu die Aufstellung nach Arbeitern und Angestellten, genaue Arbeitslosenzahlen und Informationen darüber, wie sich die Branchen voraussichtlich entwickeln würden.

Die Erstellung von statistischen Unterlagen war eine der wichtigsten Aufgaben der Kammer, und von Beginn bis heute haben vor allem die volkswirtschaftlichen Referate oder Abteilungen solche Studien geliefert. In den folgenden Kapiteln wird immer wieder auch darauf hingewiesen, wie diese Arbeiten in Verbindung mit konkreten Forderungen zu Erfolgen geführt haben.

Die Innsbrucker Nachrichten widmeten der Berufsstatistik 1923 in ihrer Ausgabe vom 26. September einen ausführlichen Bericht.

Die Vollversammlung am 3. Dezember 1923 beherrscht ein Thema: die ausländischen Arbeitnehmer. Im Hotelund Baugewerbe bevorzugten manche Unternehmer deutsche Arbeitskräfte, die bei keiner Gewerkschaft waren, während einheimische Arbeiter und Angestellte arbeitslos waren. Die Unternehmer argumentierten mit „fehlender Qualifikation des einheimischen Arbeitermaterials“. Bei

Ausschnitte aus dem Bericht in den Innsbrucker Nachrichten vom 26.9.1923

Camera di Lavoro – Die „Arbeiterkammern“ in Südtirol und Italien

Bei den Recherchen zum Thema „Arbeiterkammer“ stößt man in den Medien der 1920er Jahre immer wieder auf Berichte aus Italien, etwa über Überfälle und Brandlegungen faschistischer paramilitärischer Einheiten auf eine „Arbeiterkammer“.

Das österreichische Arbeiterkammergesetz war auch in Südtirol unter den Gewerkschaften bekannt. Im Rahmen der Autonomieverhandlungen zwischen den politischen Vertretern Südtirols und Roms war die Schaffung von Arbeiterkammern nach österr. Vorbild sogar ein Punkt auf der Forderungsliste.10

Die italienischen „Arbeiterkammern“ waren aber etwas anderes. Es handelt sich hier um eine – wie der Südtiroler Historiker Günter Rauch schreibt – „missglückte Übersetzung“ der italienischen Bezeichnung „Camera Del Lavoro“. Das waren Arbeiterheime zumeist der sozialistischen Gewerkschaften, in denen neben den Gewerkschaftsbüros auch Veranstaltungs- und Schulungsräume untergebracht waren.

Anstellung ohne Zustimmung der industriellen Bezirkskommission hätte es eine Strafe geben müssen; die Bezirkshauptmannschaften blieben aber untätig. Die Protestresolution samt Verhandlungen mit der Landesregierung brachten eine temporäre Verbesserung.

Schulschließungen waren – neben dem Voranschlag für 1926 – Hauptthema der außerordentlichen Vollversammlung am 26. Oktober 1925. Darin zeigten sich die Auswirkungen leerer öffentlicher Kassen aufgrund einer schlechten Konjunktur und hoher Arbeitslosigkeit.

Am 17. Oktober hatte das Land Tirol die Schließung sämtlicher fachgewerblicher Fortbildungsschulen verfügt. Arbeiterkammer und Handelskammer sollten durch Landesgesetz verpflichtet werden, jeweils 15 % der Kosten zu übernehmen, was diese als Eingriff in die Selbstverwaltung abgelehnt hatten.

Eine Resolution gegen diese Vorgangsweise wurde von der Vollversammlung einstimmig gebilligt und festgestellt, dass die Arbeiterkammer sich immer wieder mit erheblichen Mitteln an neuen Bildungseinrichtungen beteiligt und auch für die Berufsberatung Gelder budgetiert hatte, dass dies aber ausschließlich freiwillig erfolgen könne.

1925

Mit Jahresende 1925 schied der Erste Sekretär Dr. Koller aus dem Kammerdienst aus, sein Nachfolger wurde der bisherige Vizepräsident Ernst Müller.

Seine Nachfolge als Vizepräsident trat Franz Hüttenberger an, der allerdings nur von den sozialdemokratischen Gewerkschaftern gewählt wurde, da die christlichnationalen Kammerräte die Funktion des Vizepräsidenten beanspruchten. Streit gab es auch um die Unterstützung arbeitsloser Familien durch Brotspenden der Arbeiterkammer, die von den Christlich-Nationalen als Unter stützungs aktion für die Tiroler Arbeiterbäckerei hingestellt wurde.

Im Anschluss an die Vollversammlung hatte die Arbeiterkammer alle Gewerkschaften und alle Fraktionen zu einer Besprechung über das Bildungsprogramm eingeladen, wobei laut Zeitungsbericht ein „vollkommenes Einvernehmen“ erzielt werden konnte.

Das Beispiel einer Meldung für viele: Faschisten zünden Arbeiterkammer an, Tiroler Anzeiger vom 4. März 1921, S. 3

Ernst Müller, Vorsitzender der Druckergewerkschaft, erster Vizepräsident und ab 1926 Direktor („Erster Sekretär“) der Tiroler Arbeiterkammer

Ernst Müller, über drei Jahrzehnte seines Lebens Obmann der Buch druckergewerkschaft, Kammerrat der ersten Stunde, Organisationstalent und selbst unermüdlich bei der Arbeit, blieb bis 1934 „Erster Sekretär“ und wurde 1945 von Landesregierung und Sozialministerium mit dem Wiederaufbau der Arbeiterkammer in Tirol betraut.

Ernst Müller wurde am 24. Jänner 1880 in Heilbronn am Neckar geboren, lernte Schriftsetzer und nahm seine erste feste Stellung in Brixen an, wo er 1902 zum Obmann der lokalen Buchdruckergewerkschaft gewählt wurde. Nach seiner Übersiedlung 1904 nach Innsbruck wurde er wegen seines Organisations- und Rednertalents bald Obmann der Druckergewerkschaft für Tirol und Vorarlberg. Kriegsdienst 1914–1918, Rückkehr und Teilnahme am Aufbau der Arbeiterkammer. Vorsitzender der Druckergewerkschaft bis 1934 und von 1945 bis 1951, sozialdemokratischer Gemeinderat in Innsbruck von 1919 bis 1929. Er starb am 9. Jänner 1961 im Krankenhaus Hall. In seinem Nachruf steht: „Konziliant im Umgang, ausgleichend im Wesen, gediegen im Wissen, überzeugend in Wort und Schrift.“

Auswanderer und Zuwanderer

Neben der Zuwanderung vor allem aus Südtirol gab es auch Auswanderer. Die große Sorge der Vollversammlung galt der Arbeitslosigkeit und damit zusammenhängend der Not und dem Schicksal der Auswanderer. In den meisten Bundesländern waren bereits Beratungsstellen für Auswanderer eingerichtet. Nach AK-Berechnungen waren zwischen 1919 und 1926 über 40.000 Arbeitskräfte nach Übersee ausgewandert,11 um dort Arbeit zu finden. Der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ war damals noch unbekannt. Im Gegensatz zu heute scheint es damals auch Menschen gegeben zu haben, die nach Russland auswandern wollten und durften, hatte doch Russland für Österreicher sogar Siedlungsgebiet bereitgestellt. Scheibein warnte in seinem Referat allerdings davor. Zum einen müssten man für die Einwanderung erhebliche Geldmittel mitbringen, die bei einer Rückkehr verloren wären, und zum anderen könnten einige Auswanderer auch als „kommunistische Agitatoren“ nach Österreich zurückkehren.

Die Tabelle zeigt die Zielländer der Auswanderer zwischen 1921 und 1925.

Die AK-Wahl 1926

Die Arbeiterkammerwahl am Samstag 24. und Sonntag 25. Juli 1926 brachte einen Zuwachs von drei Mandaten für die sozialdemokratische Fraktion von Präsident Scheibein, während christlichsoziale und nationale Gewerkschafter diesmal getrennt antraten und zusammengerechnet diese drei Mandate verloren. Mit 36:10:4 waren die Mehrheitsverhältnisse klar, die Freien Gewerkschafter hatten jetzt auch in allen Sektionen die Mehrheit.

Nach Abweisung eines Einspruches durch das Sozialministerium fand die Konstituierende Vollversammlung am 15. November 1926 statt. Wilhelm Scheibein wurde in geheimer Wahl wieder zum Präsidenten gewählt.

Die Schatten des Jahres 1927

Im Vorfeld der Nationalratswahl Ende April 1927 fiel es sogar dem wieder für die SP kandidierenden Arbeiterkammerpräsidenten schwer, am Land ein Versammlungslokal zu finden. Das Wahlergebnis selbst war für ihn sehr erfreulich: Weitaus stärkste Partei blieb trotz einiger Verluste zwar die Tiroler Volkspartei, die Sozialdemokraten gewannen aber in nahezu allen Tiroler Gemeinden Stimmen hinzu, auch in den Landgemeinden, was den Leitartikler des Allgemeinen Tiroler Anzeigers am 25. April 1927 zur Aussage anspornte, dass „der rote Wurm bereits am Marke unseres Bauernvolkes in den Dörfern nagt“.