100 kleine Schauergeschichten - S. Corinna Bille - E-Book

100 kleine Schauergeschichten E-Book

S. Corinna Bille

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Beschreibung

Romane und Erzählungen begründen den Ruf von S. Corinna Bille als bedeutendste Westschweizer Autorin des 20. Jahrhunderts. Aber Bille ist auch eine Meisterin der skurrilen Miniaturen. Selbst in ihren kürzesten Texten verschmelzen Gelebtes und Geträumtes, Argloses und Abgründiges, pechschwarzer Humor und bizarre Fantasien. In den 100 kleinen Schauergeschichten spiegelt sich das ganze literarische Universum der Autorin – und auch ihr realer Alltag als dreifache Mutter, dem sie jede Gelegenheit zum Schreiben abjagen muss.

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Seitenzahl: 68

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Romane und Erzählungen, in denen sich die Natur mit der sinnlichen Körperlichkeit der Liebe verbindet, begründen den Ruf von S. Corinna Bille als bedeutendste Westschweizer Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Aber Bille ist auch eine Meisterin der skurrilen Miniaturen. Selbst in ihren kürzesten Texten verschmelzen Gelebtes und Geträumtes, Argloses und Abgründiges, pechschwarzer Humor und bizarre Fantasien. So spiegelt sich in den 100 kleinen Schauergeschichten das ganze literarische Universum der Autorin.

»Corinna Bille war auch deshalb die Tochter dieses Landes, weil sie nicht nur stolz, stark, sehnsüchtig, träumerisch, innig und leidensfähig war, sondern eine Unbezähmbare.«

Peter Hamm, Die Zeit

S. Corinna Bille

100 kleine Schauergeschichten

Mit Zeichnungen von Anna Luchs

Aus dem Französischen von Lis Künzli

Edition Blau im Rotpunktverlag

Verlag, Übersetzerin und Illustratorin bedanken sich für die Unterstützung bei:

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 1973 unter dem Titel Cent petites histoires cruelles bei Bertil Galland, Lausanne erschienen.

© Fondation de L’Abbaye, Le Châble

© 2023 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Anna Luchs

Lektorat: Anina Barandun

Korrektorat: Lydia Zeller

eISBN 978-3-85869-991-6

1. Auflage 2023

Das gedruckte Buch enthält 14 Illustrationen von Anna Luchs.

Für Sylvie und Bertil Galland

Inhalt

1Adam und Eva

2Die Vogelfrau

3Der Riese

4Der Bär

5Das Pferd

6Die Glastrauben

7Die Heilige

8Nacht

9Der Spiegel

10Meine Hand

11Das Kanapee

12Die Katze und die Maus

13Die Mutter

14Leben

15Die wilden Rosen

16Der gehängte Geliebte

17Der Globetrotter

18Die lebendigen Blumen

19Unbekannter Volksstamm

20Kämpfe

21Olive

22Nussschädel

23Die Wiedergänger

24Mammute

25Die roten Spinnen

26Die Nachtinsekten

27Die Allee

28Obstpflücken

29Dieser sanfte Ort

30Die großen Libellen

31Brief nach dem Suizid

32Der Adler

33Die Stute

34Salon

35Der Jugendliche und die Puppe

36Drei Katzen

37Der Besucher

38Das kleine Haus

39Der Verliebte

40Auf einer Rhone-Insel

41Strand

42Der Gorilla

43Kindheit

44Der Hermaphrodit

45Agonie

46Der Rutsch

47Der reißende Bach

48Die Diamantenspangen

49Das Sulfatauge

50Die Mauleselin

51Vorzimmer zum Himmel

52Das einsame Land über der Welt

53Untergang im Paradou

54Kinderworte

55Worte von Verrückten

56Liebe

57Das Liebesbett

58Der Teufel

59Der Ehemann

60Die Fledermäuse

61Die beiden Mythen

62Wappentier

63Don Juan im Himmel

64Frühling

65Pfingsten

66Die Familie Jacoppo

67In China

68Liebesschmerz

69Das Hotel

70Die drei roten Hemden

71Die Welt

72Das mystische Erlebnis der Mademoiselle X.

73Trauer

74Kleiner Baum

75Helianthus

76Feuer

77Das Dorf der Clowns

78Tschäggättä

79Die Bergpredigt

80Die rote Frau

81Dieses Gesicht

82Die Augen

83Rückkehr

84Das Tal

85Die Flötenspielerin

86Traueranzeige

87Zuflucht

88Der kaputte Engel

89Kloster

90Weinlese

91Schneeluft

92Das Geschirr

93Das Lichterschloss

94Der Abschied

95Der Holzherd

96Der Paravent

97Beerdigung

98Die kleinen Faune

99Sanft und schrecklich wie eine Weide ist die Nacht

100Parabel

Anmerkungen der Übersetzerin

Autorin

Übersetzerin

Illustratorin

Bücher von S. Corinna Bille im Rotpunktverlag

1

Adam und Eva

Sie nahmen ein Bad. Sie waren nackt.

Dank dem sanften, warmen Wasser, das sie umgab, verstand Eva endlich die Form ihres Körpers: das Runde und das Spitze der Brüste und dieses schwarze Grasbüschel zwischen den Beinen. Aber ihre Füße versanken im Sand. »Eine verstümmelte Frau! Wo sind meine Füße?«

Auch Adam wundert sich. Seine braune Brust schiebt das grüne Wasser vor sich her, und durch die Liebkosung vergrößert sich sein Geschlecht. »Werde ich etwa zum Fisch?«

Das sanfte Wasser wurde tiefer. Kleine Wellen drangen ihnen in Mund und Ohren. Die roten Haare unser aller Urmutter begannen auf und ab zu treiben, Adam hielt einen Schrei zurück.

Doch mit ihrem Kinn in der Hand des Engels lernten sie zu schwimmen.

2

Die Vogelfrau

Die Vogelfrau, die schön war, beherrschte einen weiten Talkessel aus Felsen und Tannen über der großen Ebene.

Sie schwang sich in die Luft und zog fröhlich ihre Kreise. Ihr vom Wind gebräunter Körper war der einer Erdenfrau, aber vollkommen. Ihre beiden Flügel, durch eine feine Membran mit den Armen verbunden, waren von langen, schwarzglänzenden und grünschimmernden Federn bedeckt. Langsam schwenkte sie die Arme, ihre Flügel öffneten und schlossen sich.

Der warme Luftstrom, der nach Harz, Feldthymian und Bärentraube duftete, schmiegte sich an ihre weichen Brüste, den Bauch und die Beine, an denen unnütz die Füße hingen.

»Welche Wonne«, dachte sie, doch andere Gelüste lockten sie Richtung Boden.

Sie setzte sich auf ein kleines Bohnenfeld, auf dem eine Bäuerin hackte.

»Weißt du, ob es hier in der Gegend Männer gibt?«, fragte sie.

»Ja, drüben im Wald, vier Holzfäller.«

Und die Bergtochter schürzte gar seltsam die Lippen um ihre scharfen Zähne, die in Roggenbrot bissen.

»Du auch, du magst Männer auch …« Die Vogelfrau zögerte. Sollte sie sie zum Festschmaus laden? Doch sie zog allein weiter. Und auf ihren Füßen ging sie auf die Holzfäller zu.

»Ich würde euch gerne probieren«, sagte sie. Und sie stellte sich in ihre Mitte, wirbelte herum und schlug mit den Flügeln.

Ob sie Angst bekamen, ist nicht bekannt, aber alle vier haben mit ihr geschlafen.

3

Der Riese

Der Riese sagte:

»Zwischen meinen Beinen fließt die Rhone. Mein rechter Fuß steht auf dem linken Ufer, der linke Fuß auf dem rechten Ufer. Ich brauche sie gar nicht stark zu spreizen. Die Rhone ist nicht breit hier in den Bergen. Im Winter ist sie sogar ganz klein.«

Der Riese beugte sich vor:

»Ich sehe Forellen und Alabasterkiesel, grüne, die aus Schlangenstein sind, und zwei, drei Goldpailletten. In meine Nase steigt ein köstlicher Duft von Absinth und Wacholder. An meinem linken Fuß in den Reben spüre ich ein Kribbeln und an meinem rechten ein Kitzeln. Und ich fühle mich so wohl, so wohl, dass ich Lust bekomme, eine Kaskade loszulassen.«

4

Der Bär

Er streifte sich ein großes Bärenfell über und trat ins Zimmer.

Das Mädchen sah ihn und fing an, ein bisschen Theater zu spielen. Sie ließ sich bäuchlings auf den Boden fallen, stellte sich tot. Der Bär, der ein Mann war und sie liebte, beugte sich über sie. Er blies ihr durch seine Maske hindurch seinen warmen Atem in den Nacken. Zweimal. Dieser Atem kam ihr so sanft vor, dass sie beinahe daran gestorben wäre. Beim dritten Mal drehte sie ihr Gesicht zur Schnauze des Bären. Sie lachte.

Doch als sie die Augen öffnete, lag das Zimmer leer im Morgengrauen da.

5

Das Pferd

Das Mädchen lief über die Weide, auf der es keine Stiere gab, nur Pferde. Sie waren seit Tagesanbruch gerannt und ruhten sich nun aus.

Die junge Frau ging von Tanne zu Tanne, die Arme ausgestreckt wie deren Äste. »Ich suche meinen Liebsten«, sagte sie, »aber ich bin allein auf der Welt.«

Sie blieb stehen. »Ich bin allein auf der Welt und mein Liebster ist tot.« Ein Pferd näherte sich. Es legte seine Zähne auf ihr Haar. »Oh«, rief sie, »das ist kein Gras!« Sie streichelte seine Stirn. »Pferd, Pferd!« Es starrte sie aus seinen großen ölschwarzen Augen an. Sie sah ihr Gesicht darin, ein verschrecktes Gesicht.

Sie tat einen Schritt, das Pferd folgte ihr. Sie wollte weglaufen, es folgte ihr weiter. Es schlang seinen Hals um ihre Taille. »Wo sind denn deine Arme, Liebster?«

Es ließ sie erst wieder los, als es Nacht wurde.

6

Die Glastrauben

Ich betrat eines Tages eine Kapelle in diesem so düsteren, so abweisenden Oberwallis, dass ich mein Herz in beide Hände nehmen musste.

Die Gewölbe waren niedrig, und blutleer lagen die Heiligen in ihren gläsernen Gruften. Ich war so kraftlos, dass ich mich hinsetzen musste und einschlief.