Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Romane und Erzählungen begründen den Ruf von S. Corinna Bille als bedeutendste Westschweizer Autorin des 20. Jahrhunderts. Aber Bille ist auch eine Meisterin der skurrilen Miniaturen. Selbst in ihren kürzesten Texten verschmelzen Gelebtes und Geträumtes, Argloses und Abgründiges, pechschwarzer Humor und bizarre Fantasien. In den 100 kleinen Schauergeschichten spiegelt sich das ganze literarische Universum der Autorin – und auch ihr realer Alltag als dreifache Mutter, dem sie jede Gelegenheit zum Schreiben abjagen muss.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 68
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Romane und Erzählungen, in denen sich die Natur mit der sinnlichen Körperlichkeit der Liebe verbindet, begründen den Ruf von S. Corinna Bille als bedeutendste Westschweizer Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Aber Bille ist auch eine Meisterin der skurrilen Miniaturen. Selbst in ihren kürzesten Texten verschmelzen Gelebtes und Geträumtes, Argloses und Abgründiges, pechschwarzer Humor und bizarre Fantasien. So spiegelt sich in den 100 kleinen Schauergeschichten das ganze literarische Universum der Autorin.
»Corinna Bille war auch deshalb die Tochter dieses Landes, weil sie nicht nur stolz, stark, sehnsüchtig, träumerisch, innig und leidensfähig war, sondern eine Unbezähmbare.«
Peter Hamm, Die Zeit
S. Corinna Bille
Mit Zeichnungen von Anna Luchs
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Edition Blau im Rotpunktverlag
Verlag, Übersetzerin und Illustratorin bedanken sich für die Unterstützung bei:
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 1973 unter dem Titel Cent petites histoires cruelles bei Bertil Galland, Lausanne erschienen.
© Fondation de L’Abbaye, Le Châble
© 2023 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)
www.rotpunktverlag.ch
Umschlagbild: Anna Luchs
Lektorat: Anina Barandun
Korrektorat: Lydia Zeller
eISBN 978-3-85869-991-6
1. Auflage 2023
Das gedruckte Buch enthält 14 Illustrationen von Anna Luchs.
Für Sylvie und Bertil Galland
1Adam und Eva
2Die Vogelfrau
3Der Riese
4Der Bär
5Das Pferd
6Die Glastrauben
7Die Heilige
8Nacht
9Der Spiegel
10Meine Hand
11Das Kanapee
12Die Katze und die Maus
13Die Mutter
14Leben
15Die wilden Rosen
16Der gehängte Geliebte
17Der Globetrotter
18Die lebendigen Blumen
19Unbekannter Volksstamm
20Kämpfe
21Olive
22Nussschädel
23Die Wiedergänger
24Mammute
25Die roten Spinnen
26Die Nachtinsekten
27Die Allee
28Obstpflücken
29Dieser sanfte Ort
30Die großen Libellen
31Brief nach dem Suizid
32Der Adler
33Die Stute
34Salon
35Der Jugendliche und die Puppe
36Drei Katzen
37Der Besucher
38Das kleine Haus
39Der Verliebte
40Auf einer Rhone-Insel
41Strand
42Der Gorilla
43Kindheit
44Der Hermaphrodit
45Agonie
46Der Rutsch
47Der reißende Bach
48Die Diamantenspangen
49Das Sulfatauge
50Die Mauleselin
51Vorzimmer zum Himmel
52Das einsame Land über der Welt
53Untergang im Paradou
54Kinderworte
55Worte von Verrückten
56Liebe
57Das Liebesbett
58Der Teufel
59Der Ehemann
60Die Fledermäuse
61Die beiden Mythen
62Wappentier
63Don Juan im Himmel
64Frühling
65Pfingsten
66Die Familie Jacoppo
67In China
68Liebesschmerz
69Das Hotel
70Die drei roten Hemden
71Die Welt
72Das mystische Erlebnis der Mademoiselle X.
73Trauer
74Kleiner Baum
75Helianthus
76Feuer
77Das Dorf der Clowns
78Tschäggättä
79Die Bergpredigt
80Die rote Frau
81Dieses Gesicht
82Die Augen
83Rückkehr
84Das Tal
85Die Flötenspielerin
86Traueranzeige
87Zuflucht
88Der kaputte Engel
89Kloster
90Weinlese
91Schneeluft
92Das Geschirr
93Das Lichterschloss
94Der Abschied
95Der Holzherd
96Der Paravent
97Beerdigung
98Die kleinen Faune
99Sanft und schrecklich wie eine Weide ist die Nacht
100Parabel
Anmerkungen der Übersetzerin
Autorin
Übersetzerin
Illustratorin
Bücher von S. Corinna Bille im Rotpunktverlag
Sie nahmen ein Bad. Sie waren nackt.
Dank dem sanften, warmen Wasser, das sie umgab, verstand Eva endlich die Form ihres Körpers: das Runde und das Spitze der Brüste und dieses schwarze Grasbüschel zwischen den Beinen. Aber ihre Füße versanken im Sand. »Eine verstümmelte Frau! Wo sind meine Füße?«
Auch Adam wundert sich. Seine braune Brust schiebt das grüne Wasser vor sich her, und durch die Liebkosung vergrößert sich sein Geschlecht. »Werde ich etwa zum Fisch?«
Das sanfte Wasser wurde tiefer. Kleine Wellen drangen ihnen in Mund und Ohren. Die roten Haare unser aller Urmutter begannen auf und ab zu treiben, Adam hielt einen Schrei zurück.
Doch mit ihrem Kinn in der Hand des Engels lernten sie zu schwimmen.
Die Vogelfrau, die schön war, beherrschte einen weiten Talkessel aus Felsen und Tannen über der großen Ebene.
Sie schwang sich in die Luft und zog fröhlich ihre Kreise. Ihr vom Wind gebräunter Körper war der einer Erdenfrau, aber vollkommen. Ihre beiden Flügel, durch eine feine Membran mit den Armen verbunden, waren von langen, schwarzglänzenden und grünschimmernden Federn bedeckt. Langsam schwenkte sie die Arme, ihre Flügel öffneten und schlossen sich.
Der warme Luftstrom, der nach Harz, Feldthymian und Bärentraube duftete, schmiegte sich an ihre weichen Brüste, den Bauch und die Beine, an denen unnütz die Füße hingen.
»Welche Wonne«, dachte sie, doch andere Gelüste lockten sie Richtung Boden.
Sie setzte sich auf ein kleines Bohnenfeld, auf dem eine Bäuerin hackte.
»Weißt du, ob es hier in der Gegend Männer gibt?«, fragte sie.
»Ja, drüben im Wald, vier Holzfäller.«
Und die Bergtochter schürzte gar seltsam die Lippen um ihre scharfen Zähne, die in Roggenbrot bissen.
»Du auch, du magst Männer auch …« Die Vogelfrau zögerte. Sollte sie sie zum Festschmaus laden? Doch sie zog allein weiter. Und auf ihren Füßen ging sie auf die Holzfäller zu.
»Ich würde euch gerne probieren«, sagte sie. Und sie stellte sich in ihre Mitte, wirbelte herum und schlug mit den Flügeln.
Ob sie Angst bekamen, ist nicht bekannt, aber alle vier haben mit ihr geschlafen.
Der Riese sagte:
»Zwischen meinen Beinen fließt die Rhone. Mein rechter Fuß steht auf dem linken Ufer, der linke Fuß auf dem rechten Ufer. Ich brauche sie gar nicht stark zu spreizen. Die Rhone ist nicht breit hier in den Bergen. Im Winter ist sie sogar ganz klein.«
Der Riese beugte sich vor:
»Ich sehe Forellen und Alabasterkiesel, grüne, die aus Schlangenstein sind, und zwei, drei Goldpailletten. In meine Nase steigt ein köstlicher Duft von Absinth und Wacholder. An meinem linken Fuß in den Reben spüre ich ein Kribbeln und an meinem rechten ein Kitzeln. Und ich fühle mich so wohl, so wohl, dass ich Lust bekomme, eine Kaskade loszulassen.«
Er streifte sich ein großes Bärenfell über und trat ins Zimmer.
Das Mädchen sah ihn und fing an, ein bisschen Theater zu spielen. Sie ließ sich bäuchlings auf den Boden fallen, stellte sich tot. Der Bär, der ein Mann war und sie liebte, beugte sich über sie. Er blies ihr durch seine Maske hindurch seinen warmen Atem in den Nacken. Zweimal. Dieser Atem kam ihr so sanft vor, dass sie beinahe daran gestorben wäre. Beim dritten Mal drehte sie ihr Gesicht zur Schnauze des Bären. Sie lachte.
Doch als sie die Augen öffnete, lag das Zimmer leer im Morgengrauen da.
Das Mädchen lief über die Weide, auf der es keine Stiere gab, nur Pferde. Sie waren seit Tagesanbruch gerannt und ruhten sich nun aus.
Die junge Frau ging von Tanne zu Tanne, die Arme ausgestreckt wie deren Äste. »Ich suche meinen Liebsten«, sagte sie, »aber ich bin allein auf der Welt.«
Sie blieb stehen. »Ich bin allein auf der Welt und mein Liebster ist tot.« Ein Pferd näherte sich. Es legte seine Zähne auf ihr Haar. »Oh«, rief sie, »das ist kein Gras!« Sie streichelte seine Stirn. »Pferd, Pferd!« Es starrte sie aus seinen großen ölschwarzen Augen an. Sie sah ihr Gesicht darin, ein verschrecktes Gesicht.
Sie tat einen Schritt, das Pferd folgte ihr. Sie wollte weglaufen, es folgte ihr weiter. Es schlang seinen Hals um ihre Taille. »Wo sind denn deine Arme, Liebster?«
Es ließ sie erst wieder los, als es Nacht wurde.
Ich betrat eines Tages eine Kapelle in diesem so düsteren, so abweisenden Oberwallis, dass ich mein Herz in beide Hände nehmen musste.
Die Gewölbe waren niedrig, und blutleer lagen die Heiligen in ihren gläsernen Gruften. Ich war so kraftlos, dass ich mich hinsetzen musste und einschlief.