1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag - David Misch - E-Book

1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag E-Book

David Misch

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

1.000 Kilometer in 24 Stunden – wird die magische Grenze fallen? Der Österreicher Christoph Strasser, Rekordsieger des legendären Race Across America und mehrfacher Weltrekordhalter im Ultracycling, steht vor seiner größten Herausforderung: Im 24-Stunden-Einzelzeitfahren will er die magische Grenze von 1.000 Kilometern durchbrechen – eine bisher unerreichte Schallmauer, durchaus vergleichbar mit dem »Unter zwei Stunden«-Traum im Marathonlauf. Gelänge ihm dies, begänne eine neue Zeitrechnung in seinem Sport. In »1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag« begleitet ihn der Autor David Misch durch das Jahr seines Lebens: die perfekte Vorbereitung, das perfekte Material, der perfekte Ort – alles muss sich nahtlos fügen, um das Unmögliche möglich zu machen. Wie geht Strasser mit der eigenen Erwartungshaltung um und gelingt es ihm, äußere Einflüsse auszublenden? Macht ihm die weltweite Corona-Pandemie am Ende einen Strich durch die Rechnung? Ausgang: unsicher. Spannung: bis zuletzt.   • Ein spannender Insiderbericht zum Thema Ultracycling: Hautnah dran am erfolgreichsten Athleten der Szene und der größten Herausforderung seiner Karriere. • Christoph Strasser ist Rekordsieger des legendären »Race Across America« und hält mehrere Ultracycling-Weltrekorde. • 1.000 Kilometer in 24 Stunden allein mit dem Rad – wird der perfekte Tag gelingen? • Eine Schallmauer wie der Marathon unter 2 Stunden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 430

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1000/24

CHRISTOPH STRASSERUND DIE JAGD NACHDEM PERFEKTEN TAG

Ein Buch von

David Misch

David Misch & Christoph Strasser:

1000/24 – Christoph Strasser und

die Jagd nach dem perfekten Tag

© David Misch / Covadonga Verlag 2021

ISBN (Print) 978-3-95726-061-1

ISBN (E-Book) 978-3-95726-064-2

Covadonga Verlag, Spindelstr. 58, D-33604 Bielefeld

Umschlagfotos: Manuel Hausdorfer (Cover + Backcover unten);

Lex Karelly / lexkarelly.com (Backcover oben)

Druck und Bindung: Lensing Druck GmbH & Co. KG, Dortmund

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise,nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

1. Auflage, 2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Covadonga ist der Verlag für Radsportliteratur.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

Für Jana, Simon und Nina

INHALT

DER AUTOR / DER ATHLET

DIE VORGESCHICHTE ZUM BUCH

WAS BISHER GESCHAH…

Stunde 1:ZURÜCK ZUM START

Stunde 2:VERTRAUEN

Stunde 3:GELASSENHEIT

Stunde 4:LOSLASSEN

Stunde 5:PLANUNG

Stunde 6:URSACHE UND WIRKUNG

Stunde 7:ENTWICKLUNG

Stunde 8:STEIN AUF STEIN

Stunde 9:FOKUS

Stunde 10:STRESS

Stunde 11:SOZIALARBEIT

Stunde 12:BEZIEHUNGEN

Stunde 13:WEITERENTWICKLUNG

Stunde 14:AUF BANNISTERS SPUREN

Stunde 15:ZUFALL ODER BESTIMMUNG?

Stunde 16:ALLES IST BALANCE

Stunde 17:ANNÄHERUNG

Stunde 18:POTENZIALE

Stunde 19:DAS KLEINE (?) FINALE – TEIL 1

Stunde 20:DAS KLEINE (?) FINALE – TEIL 2

Stunde 21:DAS KLEINE (?) FINALE – TEIL 3

Stunde 22:DAS KLEINE (?) FINALE – TEIL 4

Stunde 23:DAS KLEINE (?) FINALE – TEIL 5

Stunde 24:AFTERMATH

INTERVIEW MIT CHRISTOPH STRASSER

DER REKORD IN ZAHLEN

BILDNACHWEIS

DER AUTOR

David Misch ist Universitätsdozent für Geologie und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen. Inspiriert durch seine eigenen Erfahrungen beim härtesten Radrennen der Welt, dem Race Across America, das er 2013 als »Rookie of the Year« beenden konnte, veröffentlichte er zwei Bücher über Extremsport (»Randonnée«, 2016; »Intensität«, 2018). Sein Debütroman »Schatten über den Brettern« thematisiert die Gefahr von autoritären Eingriffen in die Kulturlandschaft und stand auf der Shortlist von »Das Debüt 2020«. Außerdem hat Misch Erzählungen in renommierten Literaturzeitschriften wie Lichtungen und Manuskripte veröffentlicht. Sein erster Erzählungsband »Außen Innen« erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2022.

www.davidmisch.at

DER ATHLET

Christoph Strasser ist der erfolgreichste Ultraradsportler der Welt. Seine sechs Siege beim Race Across America – davon 2017–2019 erstmals drei in Folge – sind ebenso unübertroffen wie zahlreiche Bestmarken bei den größten und wichtigsten Langstreckenrennen. Er ist der erste gekrönte österreichische Meister im Ultracycling und hat mehrere 24h-Zeitfahrrekorde inne. Als erster und bisher einziger Fahrer konnte er bei der 24-Stunden-Einzelzeitfahr-Weltmeisterschaft in Borrego Springs eine Distanz von mehr als 900 Kilometern erreichen. Weiterhin ist er der amtierende Rekordhalter im 24-Stunden-Einzelzeitfahren auf der Bahn: Die 941 abgespulten Kilometer entsprechen einem Stundenmittel von 39,2 km/h. Dieses Buch dokumentiert seine Jagd nach dem Weltrekord in der Kategorie »24h Road« der World Ultracycling Association (WUCA).

www.christophstrasser.at

DIE VORGESCHICHTE ZUM BUCH

Christoph Strasser und David Misch lernten sich im Jahr 2010 beim Glocknerman, der selbsternannten Ultraradmarathon-Weltmeisterschaft, kennen. Auf der Strecke kamen sie sich damals nicht in die Quere: Christoph als bereits etablierter Siegfahrer gewann, David beendete sein erstes Langstreckenrennen auf dem neunten und vorletzten Platz. Dennoch: Aus der Bekanntschaft entwickelte sich eine Trainingsgemeinschaft und schließlich eine Freundschaft, die sportlich in der gleichzeitigen Teilnahme am Race Across America 2013 gipfelte.

Nach dieser legendären Ausgabe des Langstreckenklassikers, den Christoph zum ersten Mal in der Geschichte in unter acht Tagen siegreich beendete, während David als zweitbester der sieben in der Solokategorie angetretenen Österreicher den Titel »Rookie of the Year« holte, gingen die Lebenswege auseinander. Christoph führte seine erfolgreiche Profikarriere mit voller Energie weiter, David wandte sich der Familiengründung und anderen beruflichen Zielen zu. Die gemeinsame Leidenschaft für das lange Radfahren verband beide jedoch weiterhin – 2016 steuerte Christoph das Vorwort zu Davids Ultracycling-Tagebuch »Randonnée« bei, 2018 wurde er als Protagonist in Davids zweitem Extremsportbuch »Intensität« porträtiert.

Die Idee zu einem neuen gemeinsamen Buch entstand während einer Spätsommerausfahrt im Corona-Jahr 2020, kurz nach Christophs Entscheidung gegen einen 24h-Weltrekordversuch in Colorado noch im Herbst 2020. Ein Jahr auf der Jagd nach dem perfekten Tag im Herbst 2021, auf dem holprigen Weg durch eine globale Pandemie, sollte literarisch festgehalten werden. Die folgenden Seiten sind das Ergebnis dieses gemeinsamen Vorhabens und gewähren einen Blick hinter die Kulissen einer bemerkenswerten Leistung abseits des sportlichen Mainstreams.

Stunde 1

ZURÜCK ZUM START

Eigentlich sollte er nicht hier sein. Eigentlich sollte er eine dieser Trainingseinheiten absolvieren, die ihm schon am Morgen beim Einschalten der teuren Espressomaschine, die er sich ausnahmsweise gegönnt hat, die Nackenhaare zu Berge stehen lassen. Vor denen selbst er, der vermeintliche Star, zu dem sie alle aufblicken und dem sie alle, irgendwie, ähnlich oder nahe sein wollen, sich fürchtet. Die er aufschiebt und aufschiebt und aufschiebt, bis es beinahe zu spät ist zum Losfahren, weil am Abend ein Sponsorengespräch oder ein Vortragstermin wartet. Die selbst ihm, dem scheinbar Unverwundbaren, tagelang, vielleicht sogar noch Wochen später in den Knochen stecken. Die es aber dennoch braucht, um ihn zu dem zu machen, der er ist: der absolut Beste in einer Sportart, die schon respekteinflößend genug ist, auch wenn man nicht er ist, und die einen erschaudern lässt, wenn man sich vorstellt, man müsste er sein.

Ultracycling. Einsame Radrennen über extreme Distanzen, nicht im Schutze eines Pelotons, oft mehrere Tage am Stück, gegen eine unerbittlich weitertickende Uhr. In diesem Metier kennt Christoph Strasser alles: die ersten Stunden, von denen sie alle nicht glauben wollen, wie hart sie sich anfühlen; die erste Nacht, in der sich das System umstellt und gegen seinen Willen stemmt, bis ihm die Augen zufallen und er sich auf die falschen Fragen die richtigen Antworten zu geben hat, einmal, zehnmal, hundertmal wenn nötig, denn das ist sein Beruf. Mit der Zeit, mit den Jahren und der Erfahrung, ist es leichter geworden: Er hat gelernt sich von dem Schmerz, der Kälte, der Monotonie zu distanzieren, bis sie ihm nichts mehr anhaben können – jedenfalls redet er sich und ihnen das erfolgreich ein. Seine Hochs dauern länger und seine Tiefs kürzer, seine Gegner können sich kaum mehr vorstellen, wie es ist, ihn zu schlagen. Er weiß das und schöpft daraus Kraft, bricht sie oft, so wie auch dieses Mal, schon am ersten Tag, ganz gleich ob das Rennen zwei, vier oder acht Tage dauert.

Christoph Strasser ist der unbestrittene König des Ultracycling. Und er sollte nicht hier sein, mit vor Müdigkeit verschwollenem Gesicht und vom endlosen Treten aufgequollenen Beinen, taumelnd und wankend, aber schlussendlich, wie immer oder fast immer, doch nicht fallend, an der Spitze des Race Around Austria 2020. Der dritte Tag beim RAA ist brutal: Während es anderswo reicht, ein Rennen auszusitzen, kommen hier Berge auf ihn zu, gefährliche Abfahrten, noch mehr Berge. Kein Rhythmus will sich einstellen, dazu die schwankenden Temperaturen, der Regen. Er kennt das alles und es macht ihm nichts aus. Er freut sich, denn seinem einzigen Gegner, dem Strasser von 2015, ist er Stunden voraus. Dennoch, er sollte nicht hier sein, und dieser Gedanke ist es, der sich immer wieder einschleicht und droht, seinen Fokus zu brechen. Das lässt er letztlich nicht zu – natürlich nicht, denn er ist er –, doch er kann sich nichts vormachen: Das hier ist nicht dasselbe und er wäre lieber auf dieser Trainingseinheit, der einen von vielen entscheidenden, die ihn noch am Abend schwitzen und schlecht einschlafen lassen, in Gedanken bereits auf dem Weg nach Colorado.

Menschliches Neuland

Alles begann mit der Suche nach etwas Unbekanntem. Es ist schwer sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, geleistet zu haben, was Christoph Strasser vorweisen kann: fast jedes Langstreckenrennen gewonnen, die meisten Rekorde gebrochen, Australien in Rekordzeit durchquert und in 24 Stunden aberwitzige und magenzertrümmernde 3.767 Runden auf einer 250 Meter langen, spiegelglatten Holzbahn zurückgelegt. Auch wenn Christoph selbst bescheiden die noch fehlenden Trophäen den bereits abgesahnten gegenüberstellt: Er ist zweifellos einer der historisch erfolgreichsten Athleten seiner Disziplin, wenn nicht der erfolgreichste von allen und jedenfalls der bestimmende seiner Zeit. Vom Siegerpodest bis zur Intensivstation kennt er alle Schattierungen des extremen Sports, den er seit knapp 20 Jahren betreibt – und doch gibt es noch Neues zu erfahren. Eine Bestmarke fehlt ihm noch, und seit er für sich beschlossen hat, sie sei – wenigstens in der Theorie – machbar, geht sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. One day, one thousand k – das wäre nicht bloß ein Sieg mehr im ohnehin schon endlosen Palmarès.

Am Ende des Tages, das hat Christoph Strasser längst begriffen, ist die neue Herausforderung und nicht die bestandene Prüfung die größte Belohnung. Dieses Rennen, das er da gerade bestreitet, die zwölfte Ausgabe des RAA im August 2020, die er mit neuem Streckenrekord von knapp unter dreieinhalb Tagen gewinnt, wird bald nur mehr eine weitere Anekdote sein, eine schöne Erinnerung zwar, aber doch nur eine von vielen, beinahe unzähligen aneinandergereihten, deren Ausläufer schon verblassen. Was die Vermarktung angeht, strahlt die letzte Heldentat immer am hellsten, und eigentlich ist sie die einzige, die zählt. Christoph ist lange genug im Geschäft, um das nicht persönlich zu nehmen, und speist seine Selbstwahrnehmung wohlweislich nicht aus dem Strohfeuer der medialen Aufmerksamkeit. Mit Wertschätzung für das Erreichte blickt er zurück, verspürt eine tiefe Zufriedenheit, und doch: Der Blick nach vorne ist auch ihm wichtiger als der nach hinten.

1000/24. Eintausend Kilometer Einzelzeitfahren und das in 24 Stunden, besser noch ein paar Minuten weniger, keinesfalls mehr. Das wäre keine stetige Verbesserung, wie man sie von ihm kennt und erwartet. Nein, das ist geradezu eine Mauer, unbarmherzig, unüberwindlich, jedenfalls würde man das denken, wäre man nicht er. Selbst ein Laie, selbst jemand, der noch nie auf einem Rennrad gesessen ist, versteht die Tragweite von 1.000 Kilometern aus eigener Kraft innerhalb eines Tages. Von Wien an die Ostsee könnte man kommen, oder von Paris nach Barcelona. Oder man fährt im Kreis, auf einer Autorennstrecke in Colorado, im Herbst, damit einen die Tornadosaison nicht streift, auf knapp 1.700 Metern Seehöhe, wegen des geringen Luftwiderstands. Gedanken, die dem Ahnungslosen Respekt einflößen, den Wissenden milde lächeln lassen. Menschliches Neuland.

Er wäre der Erste und vermutlich für lange Zeit der Einzige. 1000/24 – das ist der Sub-Zwei-Stunden-Marathon seiner Disziplin und es wäre nur logisch, würde er, Christoph Strasser, der die Grenzen im Ultracycling ein ums andere Mal neu definiert hat, auch hier allen anderen vorangehen. Bis vor zwei Monaten beherrschte nichts anderes sein Denken als dieses Vorhaben, und doch ist er jetzt hier beim Race Around Austria und nicht zu Hause, wo das Training – eines der letzten vor seiner Abreise in die Staaten – mittlerweile beendet wäre, und seine Chance ist dahin für dieses Jahr. Corona und seinen mannigfaltigen Folgen sei Dank.

Eine neue Zeitrechnung

Im Ziel des RAA beginnt eine neue Zeitrechnung. Er hält sich nicht lange damit auf, sich selbst zu gratulieren – das erledigen andere für ihn. Christoph Strasser wäre nicht der Champion, der er ist, würde für ihn hier eine verkorkste Saison vorzeitig ablaufen und nicht eine neue, wichtigere, verfrüht beginnen. Ein paar Tage Pause nur, darauf hat sich sein faules Fenster über die Jahre verkürzt, dann sitzt er wieder auf dem Rad und an den Plänen, die längst seinen engsten Kreis verlassen haben; und eigentlich wollten sie ihn, alle, bereits in diesem Herbst dort sehen, in Colorado, wie er sich am Unmöglichen versucht.

Christoph hat sich schon so an die Erwartungshaltung gewöhnt, dass sie ihn kaltlässt. Beinahe. Denn seine Existenz hängt nicht nur vom Erfolg, sondern vor allen Dingen vom Geschichtenerzählen ab und das ist, seit Ausbruch der Pandemie, nicht einfacher geworden. Vorträge verlangen konzipiert zu werden, Jahr für Jahr ausgeschmückt mit neuen, anderen Erfahrungen, die auch er nicht aus dem Ärmel schüttelt. Natürlich, er kann nicht klagen, aber ein kleiner Zweifel bleibt, ob denn alles wieder so werden wird wie vorher.

Sein Vorteil: Er kennt diese nagenden, bohrenden Quälgeister und weiß mit ihnen umzugehen. Denn auch wenn selbst seine treuesten Fans sich daran heute nicht mehr erinnern können, selbst wenn diese Phase seiner Karriere heute begraben ist unter Superlativen: Es gab eine Zeit, da flogen sie ihm um die Ohren, bis er sich gar nicht mehr sicher sein konnte, ob es sich um Zweifel oder den gesunden Menschenverstand handelte, der ihm empfahl, oder eher befahl, doch bitte, endlich, die Reißleine zu ziehen, noch rechtzeitig vor dem freien Fall ins Bodenlose.

Die offenen Krankenhausrechnungen – selbst um die Einreisegenehmigung in die USA musste er bangen deswegen – stotterte er brav ab. Er lebte auf Sparflamme, trotz seines Status als einer der Besten, den er längst innehatte. Immer im vollen Vertrauen darauf, dass das, was er am leidenschaftlichsten tat, schließlich auch Früchte tragen würde. Sollte er zurück an die Universität, oder gleich als Vertreter Fahrräder verkaufen, um hartes Geld zu verdienen? Keine ernsthaften Fragen für ihn.

Damals sagte man ihm nach, er könne nicht zu Ende fahren, er sei und bleibe das ewige Talent. Er habe einfach nicht die Härte, nicht den Kopf. »99 Prozent Kopf, 1 Prozent Körper« – einer dieser Heldenmythen seines Sports. Er hält das für ausgemachten Schwachsinn, hatte immer Vertrauen in sein Team, die Vorbereitung, und auch in seine Fähigkeit, aus Krisen mental stärker hervorzugehen.

Auch wenn ihm die Pandemie und ihre Begleiterscheinungen Kopfzerbrechen bereiten wie lange nicht, kann er gerade in solchen Zeiten auf den Schatz aus schwierigen Erfahrungen bauen. Wie damals nach 2009, als er sich das Race Across America, seinen Lebenstraum, längst nicht mehr leisten konnte und wenig Aussicht darauf bestand, es sich jemals wieder leisten zu können. Monatelang standen die Räder in der Ecke, ehe er, zwei Jahre nachdem man ihn in Pratt, Kansas, mit einem Lungenödem aus dem Rennen nehmen musste, das legendäre RAAM dann doch völlig unerwartet gewann – im zweiten Anlauf und mit Riesenvorsprung.

Im Nachhinein bewertet Christoph den großen Rückschlag 2009 als Segen:

»Wenn ich heute zurückblicke, tut das erste RAAM zwar immer noch etwas weh, aber mittlerweile glaube ich, dass es für mich wirklich gut und gewinnbringend war. Scheiterst du bei deinem ersten Anlauf, wirst du auf eine echte Probe gestellt. Will ich das wirklich? Habe ich die Entschlossenheit, mir das nochmals anzutun? Wie wichtig ist mir das eigentlich? Wäre das erste RAAM bereits ein Erfolg gewesen, ich wäre vielleicht abgehoben, mein Ego wäre befriedigt, der Hunger gestillt gewesen. Aber nach einem derartigen Rückschlag musst du dir ehrlich deine Schwächen eingestehen. Das Gute daran ist, dass dir klar aufgezeigt wird, woran du arbeiten musst, wo du dich verbessern musst. Mir selbst Fehler einzugestehen, anstatt einen Misserfolg auf andere zu schieben, das ist wohl eine meiner Stärken. Heute glaube ich, dass mich das erste RAAM geformt und geprägt hat, gerade weil ich es nicht zu Ende gefahren bin. Ich entschied mich dafür, mich der Herausforderung nochmals zu stellen und alles dafür zu tun, um es in Zukunft doch noch zu schaffen, anstatt es als misslungenen Versuch abzutun und mich abzuwenden.«

Sein Kapital

Es gab in seiner Laufbahn immer wieder Situationen, in denen die quälende Fragen überhand zu nehmen drohten. Konnte er sich im Jahr 2015, nach dem dritten Lungenödem (diesmal wieder in den Rocky Mountains, während das zweite ihn 2010 beim Race Around Austria erwischte), sicher sein, stärker zurückzukommen? Oder nach dem ersten großen Sturz seiner Karriere, als er sich nicht länger als zwanzig, dann dreißig, dann vierzig Minuten belasten sollte in der Reha, den Ergometer auf Leerlauf, weil kein Schweiß in die Wunden kommen durfte? Wie war es nach dem zweiten Sturz, als es zuerst harmlos aussah, der MRT-Befund jedoch niederschmetternd ausfiel? Christoph hat darauf stets auf seine Weise reagiert. Auch jetzt nach dem RAA und der kurzen Pause – es ist wieder so eine Kopfsituation – hält er sich daran und macht das, was er am besten kann: Er arbeitet an sich, seinem Kapital, seinem Körper. Dem Einzigen, das zählt, wenn er trotz aller Unwägbarkeiten schaffen will, was seine Karriere krönen soll.

1000/24. In diesem Fall, da ist er sich sicher, heißt es: »99 Prozent Körper und 1 Prozent Kopf«. Ein großes Prozent zwar, doch davor fürchtet er sich nicht. Natürlich weiß er darum, dass er dem Kopf in seiner aus jahrelanger Erfahrung gefärbten Betrachtung zu wenig Platz einräumt; dass die mentale Basis für eine derartige Ausnahmeleistung nicht vom Himmel fällt und stets neu erkämpft werden will. Wieso sonst die neu begonnene Ausbildung zum Mentaltrainer, die ihm helfen soll, die Kausalität zwischen unterbewusster Programmierung und bewusster Handlung noch klarer zu sehen? Und dennoch: Wovor er sich an diesem Punkt wirklich fürchtet – und das trotz aller Freude, die ihm gerade der steinigste Weg schon immer bereitet hat –, ist die drohende Erkenntnis, dass es, trotz all dieser Übelkeit verursachenden Trainingseinheiten, trotz der exzellenten Planung seines Trainers, trotz der vielen Erfahrung, trotz Windkanaltests und Aerodynamikspezialisten, trotz Spezialreifen, Zeitfahranzug und in teure Formen gepresstes Carbon, am Ende nicht reichen könnte. Vielleicht um Haaresbreite, vielleicht sogar mit Abstand. Er fürchtet sich nicht vor dem Schmerz, sondern vor der Unzulänglichkeit seines Körpers, dem nüchternen Gradmesser im Spitzensport. Deswegen fällt es ihm leicht, an diesem Herbstmorgen den zweiten Espresso auf später nach der Ausfahrt zu verschieben – obwohl er noch immer keine Ahnung hat, wann er wieder in die USA einreisen darf.

Es ist noch ein knappes Jahr hin bis zum geplanten großen Tag, doch die Zwischenziele sind niedergeschrieben und, wie immer bei ihm, unumstößlich. Das liebt er und nichts ist ihm so verhasst wie das Vermeidbare. Erst recht jetzt, in dieser Phase seiner Karriere, da er alles gewonnen hat und nur mehr verlieren kann, wenn er nicht weiter gewinnt. Während er daheim die erste Stunde der Trainingsausfahrt zerstreut vergehen lässt, um sich für den schwierigen Teil der Übung warmzufahren, wäscht viele Tausend Kilometer weiter westlich ein nächtlicher Gewitterschauer den Staub vieler Wochen ohne ohrenbetäubende Spritfresser vom Pikes Peak International Raceway am Rande von Fountain, Colorado. Denver, die nächste größere Stadt, ist zu weit entfernt, als dass ihr Schein das Oval, das einmal die schnellste Meile der Welt, ganz sicher die schnellste der USA gewesen sein soll, in nächtliches Licht tauchen könnte.

In Colorado infizieren sich zu dieser Zeit täglich in etwa so viele Menschen mit Corona wie in Österreich; damit steht der Bundesstaat ähnlich da wie seine Nachbarn, aber wesentlich besser als die dichtbesiedelten Küstengebiete. Die Pandemie hat das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – das Land, vielleicht das einzige, in dem man ein Oval wie den Pikes Peak International Raceway findet, auf einer Hochebene und ausgelegt auf nichts als Höchstgeschwindigkeit – fest im Griff. Und das noch auf unbestimmte Zeit.

Aber die Windkanaltests sprechen eine eindeutige Sprache: Ohne den Pikes Peak International Raceway oder einen sehr, sehr ähnlichen Kurs kann es den Rekord, den er sich wünscht, nicht geben. Als wäre es nicht genug, die irrwitzige Menge an Training abzuspulen, natürlich ohne die kleinste Verletzung, den kleinsten Infekt, muss Christoph Strasser sich dieser Tatsache stellen: Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit sitzt ihm die Unplanbarkeit im Nacken. Außerdem ist da die Frage, ob ein solcher Rekord in Zeiten von Corona überhaupt von Belang wäre, zumindest für jemanden wie ihn, der den Zivildienst im Altersheim als eine seiner prägendsten Erfahrungen schildert.

Christoph Strasser ist nicht die Rampensau, Typ Porschefahrer, der seinen Erfolg wie selbstverständlich nach außen trägt. Die Frage nach dem Porsche stellt sich nicht – Ultracycling ist für Enthusiasten, verhält sich zu Fußball wie Jazz zu Stadionrock –, doch das spielt keine Rolle. Einer wie er, der monatelang ohne Lenkerband fährt, weil er das vom Sponsor gestellte voreilig verkauft hat, um die Kasse zu füllen, verlernt die Demut nicht in ein paar Jahren. Noch heute fällt ihm das Geldausgeben schwer, isst er am liebsten zu Hause, macht sich nichts aus VIP-Empfängen und kleinen Portionen bei großem Gerede. Nur wenn es um seinen Beruf geht, ist er scheinbar maßlos, nahezu gierig, als gälte es, alle denkbaren Ziele mit Haut und Haaren zu fressen. Schonungs- und rücksichtslos, vor allem den eigenen Ressourcen gegenüber, könnte man denken, doch hinter allem steckt, was ihn betrifft, nicht nur wohlüberlegtes Kalkül, sondern ein gänzlich anderes Selbstbild, eine grundlegend andere Motivation.

»Gierig sehe ich mich nicht, auch nicht unersättlich oder geil auf neue Erfolge und Rekorde. Es ist viel simpler, viel emotionaler: Auf Erreichtes zurückzublicken, macht dich nicht glücklich, das macht dich vielleicht stolz – was mir nichts gibt. Ich bin dankbar und froh, wie gut die Dinge bisher gelaufen sind, aber trotzdem setze ich mir gerne neue Ziele. Der Grund: Auf dem Weg zu neuen Zielen zu sein, die kleinen Schritte vorwärts zu machen, sich etwas zu erarbeiten, aus dem Nichts aufzubauen, macht dich glücklich und erfüllt dich als Mensch. Der Moment, wo du es vielleicht tatsächlich schaffst, ist schön, aber die viel längere Phase, in der du dich auf dem Weg befindest und ebenso schöne Momente sammelst, ist viel nachhaltiger.«

Auch das Weitermachen im Angesicht einer Welt in Unsicherheit ist letztlich nichts anderes. Er tut es, weil es ihn erfüllt. Christoph Strassers Versprechen an sich selbst, seine Fans und Sponsoren, ist simpel: bereit zu sein, falls – wenn! – die kleinste Chance sich bietet.

Selten war Ultracycling ein Geduldsspiel wie in diesem Jahr, denkt er, senkt den Kopf gegen den Wind und zählt im Stillen die selbst in der kühlen Herbstluft schweißtreibenden Intervalle. Nummer vier jetzt, noch sechs sollen folgen. Das Surren der Kette über die ölverschmierten Ritzel bringt ihn in den Tunnel. Als er zu Hause dem dicken, braunen Elixir beim Eintropfen in die vorgewärmte Tasse zusieht, zufrieden, dass er es für heute hinter sich hat, geht in Colorado langsam die Sonne auf. Die felsigen Gipfel der Rocky Mountains glimmen golden, die dicht bewachsenen Hänge sind rostig verfärbt vom Indian Summer. Ein neuer Tag; einer mehr, oder einer weniger, je nachdem, wen man fragt. Er grübelt über die – vermeintlichen – 99 Prozent Körper nach, die er heute ein kleines bisschen vorangebracht hat. Beim Blick auf die verlockende Tasse Kaffee, voller Vorfreude auf die kleine Belohnung, spielt die Prozentklauberei für den Moment keine Rolle. Er wird dazu bereit sein, tiefer in die eigenen Beweggründe einzutauchen. So tief wie nötig, auf der einjährigen Reise zum perfekten Tag.

Stunde 2

VERTRAUEN

Das Race Around Austria im August 2020 war nicht nur das erste Rennen einer schon wieder auf ihr Ende zusteuernden Saison, einer Saison, in der Christoph Strasser mehr Zeit zu Hause verbrachte, als ihm lieb war, keine Vorträge in ausverkauften Hallen und bei Sponsoren anstanden und nur wenige Möglichkeiten bestanden, sich mit medienwirksamen Siegen und persönlichen Bestleistungen – gar dem geplanten Fabelrekord – für zukünftige Veranstaltungen zu empfehlen. Es war auch vielleicht das erste Mal seit 2015, dass er den Atem eines anderen im Nacken spürte, und völlig unerwartet war es erneut der eines Rookies.

2012 fügte ihm Reto Schoch beim RAAM eine Niederlage zu, von der er sich lange nicht erholte. 2015 sein Freund Severin Zotter, ebenfalls beim RAAM, in einem schwarzen Jahr voller kleiner, ungünstiger Verkettungen und, ja, auch Fehler, die sich einzugestehen wehtat, aber auch den Weg zu drei weiteren Siegen ebnete. Insgeheim hatte Christoph sich Konkurrenz gewünscht, wann immer er am Start stand, doch 2015 hatte er sich, daheim in Graz, die denkbar stärkste Konkurrenz selbst gezüchtet und die bitteren Früchte dann in den Rocky Mountains ernten müssen. Der verbleibende Weg an die Ostküste, statt auf dem Rad tatenlos im Camper-Van, mit aufgeschwollenem Gesicht wie ein geschlagener Boxer, den Freund auf dem Weg zu seinem Rookie-Sieg wissend, führte ihm die Unwägbarkeiten seines Sports nach zwei Rekordjahren umso deutlicher vor Augen. Nun, beim RAA 2020 hätte es, er selbst weiß das als Einziger, gut wieder so kommen können. Die Parallele: Sowohl damals als auch diesmal sprang ihm im Vorfeld der Teamchef ab.

Sein Team bezeichnet Christoph gerne als das wichtigste Drittel im Gesamtpaket Strasser, seinen Teamchef als das wichtigste Glied in der Kette neben ihm selbst. »Auf die Frage, ob Körper oder Psyche wichtiger für meinen Erfolg auf der Langstrecke sind, lautet meine Antwort, für viele überraschend: das Team. Meine persönliche Aufteilung des Ganzen auf Körper versus Psyche versus Team lautet 33 zu 33 zu 34 Prozent.« Wenn er das auf Vorträgen mit Fotos und Videos der schwierigsten Momente des vergangenen Rennens untermalt, klatschen seine Zuhörer und sie nicken bestätigend, wenn er ihnen Einsichten mit auf den Weg gibt, die sich auch in anderen Lebensbereichen gewinnbringend umsetzen lassen. Aber nehmen sie es ihm auch wirklich ab, so richtig, dass nicht doch alles einzig und alleine an ihm hängt? Wohl nicht immer, oder jedenfalls nicht alle, denn auf den Bildern sehen viele nur den übermenschlichen Athleten, und wer kann es ihnen verdenken? Er aber weiß es besser, auch wenn ihn diesmal – wieder hat nach dem ungewollten Wechsel im Team längst nicht alles perfekt funktioniert – seine Form und nicht das wichtigste Drittel gerettet hat.

Devise Angriff

Im Ziel des RAA 2020 ist Christoph Strassers Vorsprung auf den Rookie Robert Müller letztlich groß genug, um seiner Souveränität keinen Abbruch zu tun. Den Nimbus des Unschlagbaren nimmt er einmal mehr mit nach Hause – nur er weiß, wie knapp es wirklich war.

Im Training begleitet ihn die ambivalente Hoffnung, dass sich solche Duelle wiederholen mögen. Was nicht heißt, dass er vorhat, auch nur einen Millimeter nachzugeben. Das hat er in sich, und das war die Bedingung, damals, als der Langstreckenguru Rainer Hochgatterer, der RAAM-Doktor von Wolfgang Fasching, sich 2011 bereiterklärte, sein Team zu leiten: Wie ein Champion solle Christoph fahren, das sei das Einzige, was zähle, und das Mindeste, was er sich selbst schuldig sei. Nach zwei katastrophalen Nullnummern beim RAAM 2009 und beim RAA 2010, das Selbstvertrauen am Boden, das Konto leergeräumt, lautete Rainers Devise dennoch Angriff: Die Wattvorgabe für die ersten Stunden, in denen er den Gegnern zeigen sollte, dass der Sieg nur über ihn gehen konnte, schien für Außenstehende selbstzerstörerisch, doch der wohlüberlegte Plan ging auf. Vertrauen wuchs und wurde bestätigt, kontinuierlich und das jahrelang, trotz kleiner und großer Rückschläge, die in fulminanten Comebacks mündeten. Der Teamchef Rainer wurde zum Freund und zur ersten Bezugsperson in jedem Rennen, immerhin bündelte er medizinisches und renntaktisches Wissen mit dem Selbstvertrauen zahlreicher erfolgreicher Betreuungen von Spitzenfahrern. Wie kaum ein anderer Betreuer in der Langstreckenszene verstand er, seinem Fahrer das Gefühl der Unbezwingbarkeit mitzugeben. Und zu jedem Aspekt oder Mythos des Sports hatte er eine trockene und treffende Meinung, der man sich nur schwer entziehen konnte.

»Wenn die Diskussion aufkam, was wichtiger ist, Körper oder Geist, brachte es Rainer folgendermaßen auf den Punkt: Dein Kopf sagt dir, warum du fährst und ob du weiterfährst. Du musst wissen, wieso du dir das antust. Aber deine Beine entscheiden, wie schnell du bist. Geht es um ein Finish in der Karenzzeit, was für viele Teilnehmer auf der Langstrecke das allergrößte Ziel ist, kann der Geist tatsächlich die größere Rolle spielen. Wenn es körperlich sehr hart wird, wird der Kopf immer wichtiger, und zwölf Tage unterwegs zu sein, ist psychisch definitiv härter als acht intensivere Tage, ermöglicht durch eine ganzjährig professionelle Vorbereitung. Ich leide in der Vorbereitung also sicher mehr als andere, dafür läuft es im Rennen schneller und geschmeidiger. Trotzdem: Ob es dir nun körperlich oder mental schlecht geht oder sowohl als auch – in jeder Krise kann dir dein Team helfen. Die Moral, der Spaß, die gute Stimmung, die zwischenmenschliche Verbundenheit innerhalb meiner Truppe – all das hilft mir enorm. Wenn ich selbst verzweifelt bin, aber in die Augen meiner Betreuer schaue und merke, dass alle das Beste für mich wollen, finde ich wieder neue Kraft. Und das Vertrauen zum Team und allen voran zum Teamchef, der mir im Hintergrund alle Entscheidungen abnimmt, der der sichere Dirigent des RAAM-Orchesters ist, vorausschauend und je nach Situation mitfühlend oder mit gut gemeinter Strenge agiert, ist dann der letzte, wichtigste Faktor, wenn es hart auf hart kommt. Dieser Spirit in unserer Crew ist mein größtes Kapital und etwas, das sich neben der besten körperlichen Vorbereitung während der Zeit mit Rainer etabliert hat.«

Im Fall von Christoph Strasser fiel die Betreuung durch Rainer Hochgatterer, den vielleicht erfahrensten unter den nicht-selbst-fahrenden Pionieren der Ultradistanz in Österreich, auf den denkbar fruchtbarsten Boden. Gerade er, der ruhige und bescheidene Harmoniemensch, konnte sich dem Alphatier und seinem Gefolge uneingeschränkt anvertrauen und aus einer vermeintlichen Schwäche – vielen schien er neben der Urgewalt Jure Robič zu brav – seine größte Stärke entwickeln. Christoph kann seit jeher vertrauen und daher war Abhängigkeit nie ein Problem. Erst 2015 wurde sie ihm einmal unverhofft zum Verhängnis: Als Rainer ihm seine Entscheidung, die RAAM-Pause, vielleicht gar den endgültigen Abschied, eröffnete, wurde er jäh gezwungen, darüber nachzudenken. Ein RAAM ohne den Strippenzieher? Ohne die Gewissheit, auf jedes Wehwehchen die richtige Antwort parat und in jeder Krise das richtige Wort im Ohr zu haben? Insgeheim wusste Christoph, was ihm bevorstehen konnte, falls es nicht optimal laufen würde, doch sein Selbstbewusstsein machte ihn unvorsichtig und er wischte den Gedanken beiseite, anstatt ihn tiefer zu erforschen. Auf dem Cuchara-Pass, als alles zusammenbrach, dämmerte ihm sein Fehler. Nicht, dass sein Team schlecht gewesen wäre, doch die vielen kleinen Abstimmungsprobleme zusammen mit seinem dysfunktionalen Körper, der Wasser einlagerte wie ein Schwamm, ließen letztlich einen Schneeball zur Lawine anwachsen, die ihn vom Leaderboard fegte.

In seinen Vorträgen beginnt Christoph Strasser den Rückblick auf diese schwere Zeit gerne mit einem sinngemäßen Zitat von Bill Gates. »Erfolg ist ein schlechter Lehrer, denn irgendwann vergisst man, dass man auch verlieren kann.« Er spielt damit auf die sich aus zwei aufeinanderfolgenden RAAM-Rekorden unter acht Tagen, einem damaligen 24-Stunden-Zeitfahrrekord sowie seinem ersten Sieg beim RAA speisende, menschlich nur allzu verständliche Überzeugung an, ein weiteres RAAM wohl gesund und ohne große Probleme überstehen zu können.

»Für das RAAM 2015 dachten wir fieberhaft über Verbesserungen und eine schnelle Endzeit nach und stellten uns auf das Duell mit Severin Zotter ein. Aber wir vernachlässigten das Worst-Case-Szenario eines massiven körperlichen Problems. Die Vorgabe muss immer sein, gesund ins Ziel zu kommen, was wir – vermutlich unterbewusst – als zu selbstverständlich ansahen. Natürlich hatten wir einen Plan B wie üblich, aber der war nicht zu einhundert Prozent in uns und unserem Tun verankert.«

Demütige Analyse

Ein RAAM ist kein Zuckerschlecken und diese Dinge passieren – doch das Thema Vertrauen sollte Christoph Strasser noch länger begleiten. Als er im Jahr darauf aufgrund eines verhängnisvollen Trainingsunfalls samt schleppender Genesung erneut nicht starten konnte, musste er sowohl an seinen Körper als auch an ein Team glauben, das trotz der langen Pause wieder für ihn da sein würde. Und daran, dass die vermeintliche Pleite auch ihr Gutes haben würde.

»Nach dem Ausscheiden von 2015 wurden wir zur demütigen Analyse unserer Gesamtleistung und aller Fehler gezwungen, und das war für den jungen Teamchef Kougi, genauso wie für mich, eine immens wichtige Lernerfahrung. In der Fehlersuche erkannten wir viele Mechanismen, auch in meiner Physis. Mein begleitender Arzt Arnold erkannte beispielsweise gemeinsam mit Rainer, dass durch die Hitze und die zu hoch dosierte Flüssigkeitszufuhr die Ödembildung zuerst in den Beinen, danach im restlichen Körper, zuletzt in der Lunge, massiv begünstigt wurde. Diese Erkenntnisse von damals helfen mir bis heute enorm und kamen erst durch diese bittere Erfahrung zustande.«

Erneut kam seine große Stärke zum Tragen, denn an keinem Punkt zweifelte er an einer der beiden Tatsachen. Mit seinem Cousin Michael Kogler – im RAAM-Modus nur »Kougi« genannt – wuchs trotz des holprigen Starts allmählich ein neuer Anführer, in dessen Hände er das Gelingen großer Herausforderungen legen konnte. Das Rezept bewährte sich und brachte schließlich zahlreiche Rekorde und drei weitere RAAM-Siege in Folge; bis eben, in diesem merkwürdigen, von Ausgangsbeschränkungen und Rennabsagen geprägten Jahr 2020, in dem ohnehin alles anders sein sollte, auch diese Serie endete.

Das RAA mit seinen 2.200 Kilometern zu bestreiten, liegt in Christoph Strassers Komfortzone, doch ungewollte Änderungen im Team machen es nicht einfacher. Er hätte tatsächlich verlieren können, und vielleicht wäre das auch gar nicht schlimm gewesen, jedenfalls nicht gegen diesen Gegner. Mehr noch als jedes klar gewonnene Rennen gibt ihm dieses knappe Ergebnis, das Kratzen an seinem Thron, Vertrauen in die eigene Stärke und daran, dass alles wieder so werden wird wie vor der Zwangspause. Zum Glück konnten die kleinen Steinchen im Getriebe des diesmal von Florian Kraschitzer geführten Teams seiner Form nicht gefährlich werden, und darum – so einfach ist die Logik des Spitzensports – gibt es wenig zu beanstanden nach dem Saisonhöhepunkt. Wieder einmal kehrt er mit einem neuen Rekord auf der Habenseite heim.

Was aber nun als Nächstes ansteht, kommt dem perfekten Tag, den er anstrebt, auf den er sich aber noch nicht hinzufiebern gestattet, deutlich näher als das mehrtägige Rundherum einmal ums komplette Heimatland: Die 600 Kilometer des Race Around Niederösterreich (RAN) kann Christoph, wenn alles gutgeht, ohne ernsthaften Leistungseinbruch abspulen. Wieder geht es um Vertrauen. In diesem Fall um Vertrauen in die Zahlen, die er sich im Training erarbeitet hat und die er sich, unbedingt, zutraut, ganz nüchtern und ohne Großtuerei. Diese Zahlen – seine Tretleistung in Watt – lassen sich in Durchschnittsgeschwindigkeiten umrechnen, diese wiederum in Zwischenzeiten, bis sich alles zu einem Marschplan fügt, der ihn wieder von allen anderen abheben dürfte, wenn es denn so kommen soll. Christoph hält sich nicht mit alternativen Szenarien auf und nimmt sich vor, anzunehmen, was immer ihm die Strecke – voraussichtlich sein größter Gegner beim RAN – auch servieren möge. Eine lange Herbstnacht und die dementsprechenden Temperaturen. Den Wildwechsel im dünn besiedelten, nördlichen Niederösterreich. Die unberechenbaren Autofahrer überall, wo mehr los ist. Und: auch den neu aufgegangenen Stern, der ihm erst vor ein paar Wochen beim RAA über fast vier Tage auf den Fersen zu bleiben vermochte – vielleicht ist ja doch Robert Müller sein größter Gegner? Das alles sind Fakten und Gedanken, die bei ihm nicht den kleinsten Zweifel an den eigenen Fähigkeiten auslösen. Wenn schon, machen sie ihn ruhiger und besonnener, sein Training härter und zielgerichteter. Wie denkt der andere über ihn? Wie wird er sich vorbereiten? Christoph Strasser freut sich, das auf die harte Tour herauszufinden, auch wenn er als Profi vom umkämpften Erfolg nicht mehr hat als vom gegen schwächere Konkurrenz eingefahrenen.

Keine Nervosität, nur Zuversicht

Als das nächste Aufeinandertreffen mit Robert Müller endlich näher rückt, das zweite, gleichzeitig das letzte, zumindest in diesem Jahr, verspürt Christoph keine Nervosität, nur Zuversicht und Vorfreude. Diese Geisteshaltung zieht sich durch das letzte Jahrzehnt seiner Karriere wie ein unmerklicher roter Faden, an dem er sich entlanghantelt und dabei alles Geschehene aussehen lässt, als sei es ihm vorbestimmt. Natürlich war sein Erfolg alles andere als das, und niemand weiß besser als er, welche negativen Wendungen möglich gewesen wären und wann. Er denkt nie an das lose Ende, sondern vertraut auf die nächste Verknüpfung, an der es – meistens besser – weitergeht. Als sein erster Mentor Rainer Hochgatterer ihm seinen Ausstieg eröffnete, dauerte es nicht lange, da folgte auf die Ernennung eines jungen Teamchefs mit dem neuen Trainer Markus »Max« Kinzlbauer gleich ein zweiter Glücksgriff. Das Resultat: drei Siege in Folge beim RAAM, Weltbestleistungen im 24-Stunden-Einzelzeitfahren, mehr und mehr Erfahrung, eine sich verfestigende Vertrauensbeziehung zwischen Trainer und Athlet, und – noch immer – langsam, aber stetig steigende Wattzahlen.

Was aussah, als sei es nicht zu überbieten, die Zusammenarbeit mit dem Langstreckenguru Rainer Hochgatterer, behielt in der Erinnerung einen Ehrenplatz, wurde aber dennoch, schneller als man erwarten konnte, ersetzt durch etwas Neues, in so mancher Hinsicht vielleicht sogar Besseres. Absurde Trainingsziele machten, als sich die Adaption einstellte, plötzlich Sinn und führten den Beweis, dass sich ein Weltklasseathlet Stagnation, selbst auf höchstem Niveau, nicht leisten kann. Kleine, neue Reize im Training schienen selbst vor ihm, dem Arrivierten, Wände aufzutürmen. Doch gerade diese zu durchbrechen, im Glauben, es würde sich letztendlich bezahlt machen, krönte ihn auf seiner Paradestrecke und – noch wichtiger – ließ ihn vielseitiger werden.

So pflanzte die erzwungene Veränderung neue Rituale neben die altgedienten und verbreiterte Christoph Strassers Leistungsspektrum. Plötzlich durfte er sich selbst das irrwitzigste aller denkbaren Unterfangen im Ultracycling zutrauen. Die große, ewige Schallmauer: 1.000 Kilometer in 24 Stunden. Seine Aufgabe: schneller als je zuvor anfangen und weniger als je zuvor abbauen. Sich sicher sein, dass der Plan aufgeht. Es würde einer erneuten Umstellung im Training bedürfen, ein Jahr des Experimentierens mit dem Vertrauten.

Dieses Jahr ist jetzt, und Christoph hat kein Problem damit, sich das Endergebnis vorzustellen. Das anstehende RAN ist dem, was er im nächsten September vollbringen möchte, viel ähnlicher als die Rennen über mehrere Tage. Die 600 Kilometer entsprechen in seiner Welt einem Sprint vom Start bis ins Ziel. Beim Gedanken daran, wie sich die ersten Stunden anfühlen werden, beschleunigt sich sein Puls kaum merklich. Er hat das, was ihm bevorsteht, abgespeichert als angestrengtes Wohlfühlen. Er kann sich keine größere Freiheit vorstellen als die auf einer ebenen Strecke, wenn er seine Stärke ausspielen kann, zwei Gänge größer gekettet als allen anderen – jedenfalls die meisten –, im Fahrtwind bei 40 km/h und mehr.

Nervös wird er bestenfalls in der unmittelbaren Vorbereitung, wenn es gilt, keinen wichtigen Gegenstand im Trainingskeller zurückzulassen. Am Start aber gibt es nur ihn, sein Rad und die Gewissheit des Seriensiegers. Er ist nicht überheblich, nur frei von Angst und Zweifel. Die kleinen Aussetzer, die es früher gab, hat er ausgemerzt; inzwischen gilt Christoph Strasser als die personifizierte Planbarkeit. Was andere bis zur Handlungsunfähigkeit blockieren würde, nimmt er kaum wahr, denn es geht nur um den Zweikampf mit dem jungen Herausforderer und um den Kampf gegen den kleinen, elektronischen Fingerzeig in Form einer dreistelligen Zahl auf dem Display, die es hochzuhalten gilt, solange es eben dauert. Der Tank soll leer sein, wenn er ankommt; das schreibt sich Christoph, seit er den Durchbruch endgültig geschafft hat, als wichtigste, vielleicht einzige Vorgabe in sein Fahrtenbuch. Bislang hat er sich nicht enttäuscht und die Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben.

Der Unwille, stehen zu bleiben

Das RAN 2020 wird ein Kälterennen; auf der Fahrt zum Start in einer der kältesten Ecken des Landes denkt Christoph Strasser zurück an andere, noch kältere Rennen. Es hat seinen Reiz, die Extreme seines Sports zu erfahren. Manche machen es nur deswegen, und auch wenn für ihn der eingefahrene Sieg die Maßgabe sein muss, kann er dem alten, puristischen Geist viel abgewinnen. Er ist ein Verehrer der Legenden, er kennt die Statistiken wie kaum einer anderer, auch und gerade, weil er sie längst anführt. Er hat aufgehört, den leise geäußerten Bedürfnissen der Komfortstimme in seinem Kopf Beachtung zu schenken, dafür kennt er die Stimme seines Körpers genauer als noch vor Jahren und erreicht sein Limit einfacher und mit der Sicherheit, nicht blind darüber hinauszuschießen.

Es braucht viel, um Christoph im Rennen dazu zu bewegen, sich etwas Trockenes überzuziehen. Wo andere Stunden oder Tage verlieren, macht er nicht mit seinen Beinen, sondern vielmehr mit seiner Unkompliziertheit und dem schier unbeugsamen Unwillen, stehen zu bleiben, den Unterschied. Es gab Rennen, da konnte er im Regen seine vor Kälte steifen Knie kaum beugen, nur um Tage später bei Sonnenschein mit geschmeidigem Tritt ins Ziel zu treten. All das ist unterbewusst gespeichert und verschafft ihm jetzt einen mentalen Vorsprung vor weniger erfahrenen Konkurrenten. Die Zuschauer wissen, dass unter anderem deshalb die Chancen der anderen bestenfalls minimal sind. Er selbst kann sich auf den alten Lorbeeren aber nicht ausruhen, denn wer weiß, ob nicht eine Unwägbarkeit, sei es ein Defekt oder eine Magenverstimmung, seinen Herausforderern in die Hände spielt.

Und dazu kommt noch eine ganz andere Überlegung:

»Ich selbst versuche mir die Gegner manchmal sogar absichtlich stärker zu reden, um die Siegerwartung ja nicht zu groß werden zu lassen. Umso stärker die Gegner sind, umso fokussierter bin auch ich – ich kann zwar auch eine Woche alleine quer durch Australien Gasgeben, aber das letzte Prozent geht meist nur dann, wenn es starke Gegner und Druck von hinten gibt. Daher hüte ich mich, die Chancen der Gegner schlecht einzuschätzen.«

Kein Spaß

Am Vorabend des Rennens ist Christoph Strasser unwiderstehlich ruhig. Selbst vor den größten Herausforderungen stellt er nichts in Frage, wieso sollte es dieses Mal also anders sein? Beim RAAM – seinem Höhepunkt in den meisten Jahren – gibt es nur eine Phase, die in ihm Stress erzeugt. Das Zusammenpacken vor dem Abflug droht ihn ein ums andere Mal aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wenn dann alles bereit ist, ist auch er es, und sein analytischer Verstand käme nicht darauf, unnötige Fragen zu stellen.

Die Aufgabe, die bevorsteht, scheint ein kleiner Wurf zu sein für seine Verhältnisse; und gerade hier liegt die Täuschung, denn je kürzer die Strecke desto höher der geforderte Grad an Präzision. Dennoch denkt Christoph an nichts anderes als das Gelingen, schläft wie ein Baby und erwacht am Rennmorgen wie an jedem anderen. Bei einem Wettkampf wie dem RAN spielt Schlafentzug keine Rolle, doch selbst wenn, wäre er nicht derjenige, der aus hysterischer Angst vor den Konsequenzen einer zu kurzen Nacht als Erstes im Bett läge. Er ist rational genug, um zu wissen, dass es nichts zu konservieren gibt in diesem Sport, dass der Verfall kommt und gerade dann, wenn man ihn fürchtet, besonders wehtut. Er hat unerschütterliches Urvertrauen. Er ist darauf vorbereitet, aus sich herauszugehen, wenn er muss, und auch dann zu Ende zu fahren, wenn es keinen Spaß mehr macht.

An diesem Abend macht es nicht einmal besonderen Spaß, loszufahren. Der späte Start passt nicht zur Jahreszeit, und die Muskulatur spricht sich gegen die Belastung aus. Christoph kennt weit Schlimmeres, also hämmert er, ohne viel zu hadern, mit knapp vierzig Kilometern pro Stunde durch das nördliche Niederösterreich, wie auf der Flucht vor den Temperaturen, die ihm unweigerlich noch bevorstehen in dieser Septembernacht. Der Windchill senkt die gefühlte Temperatur schnell unter den Nullpunkt.

Früher hat Christoph im Winter oft bei weit kälteren Temperaturen den ganzen Tag draußen trainiert, bis er beim Heimkommen seine Finger nicht dazu bewegen konnte, den Reißverschluss seiner Thermojacke aufzuziehen. Manchmal musste er sich dann in voller Montur unter die Dusche stellen, bis die Wärme in seinen Körper zurückkehrte. So wie die Bergsteiger im Himalaya hätte er einmal beinahe Erfrierungen an den Zehen davongetragen – als einsamer Radfahrer in der Südsteiermark nicht gerade heldenhaft. Mittlerweile sitzt er nach einigen Stürzen und ebenso vielen virtuellen Erdumrundungen in der kalten Jahreszeit lieber im Keller auf seinem Heimtrainer, unter kontrollierten Bedingungen, die die Härte seines Trainings von den äußeren Bedingungen entkoppeln. Das ist eine von zahllosen kleinen Verbesserungen, die sein Leistungsniveau weniger absinken und den Aufbau schneller voranschreiten lassen, so dass seine Saison heute viele Spitzen verträgt. Auch wenn er sich im Training die Kälte aus pragmatischen Gründen nicht mehr antut, erträgt er sie jetzt im Rennen wie eh und je. Nicht nur, weil das sein Beruf ist, sondern weil er nicht nach Gründen sucht, wieso es anders sein sollte.

»Training soll ja auch Spaß machen. Ich bin so oft bei Kälte und schlechtem Wetter draußen gefahren, ich möchte einfach nicht mehr alleine bei Sauwetter trainieren, nur um mir meine Härte oder sonst was zu beweisen. Und nein, es ist für mich im Vergleich zum Training auf der Rolle auch nicht spannender, die immer gleichen Trainingsrunden im Freien abzustrampeln, besonders wenn Wetter und Aussicht nichts hergeben. Drinnen kann ich nebenbei fernsehen, Musik hören, meine Idole aus dem Tennis bei den Australian Open bewundern, meine Mails bearbeiten oder mich per Telefon oder Laptop um organisatorische Dinge kümmern, damit der Abend frei bleibt. Dazu gibt es Essen und Trinken zu jeder Zeit. Und das Beste: Ich bin deshalb kein schlechterer Radfahrer bei schlechtem Wetter. Wenn es sein muss, kann ich bei Regen und Kälte fahren, aber ich mache mir das Training so angenehm und nicht unnötigerweise so hart wie möglich.«

Beinahe ein Sprint

Die ersten Stunden, in denen sich der Organismus auf die nicht enden wollende Belastung einstellt, sind vergangen und der Systemcheck sagt ihm, dass alles in Ordnung ist. Er konzentriert sich auf Treten, Trinken und den Leistungswert auf seinem Display – Letzteres nur aus Gewohnheit, denn sein Muskelgedächtnis lässt ihn die Zahl spüren, auch ohne sie vor sich zu sehen. Erst in einem anderen Stadium, wenn sein Geist beginnt, ihm Streiche zu spielen, entkoppelt sich die wahrgenommene von der tatsächlichen Wahrheit. In diesen Zustand wird er hier nicht kommen, dafür reichen 600 Kilometer nicht aus. Hier macht das Tempo die Musik, ein Rennen dieser Kategorie ist in seiner Wahrnehmung beinahe ein Sprint. Fehler zu vermeiden, ist entscheidend, es herrscht pure Rennstimmung und meist härtere Konkurrenz. Richtig hart wird es erst nach frühestens zwölf bis fünfzehn Stunden, aber dann ist die verbleibende Distanz längst zu kurz, um ihn mental ernsthaft zu fordern. Es wird Teilnehmer geben, die einen halben Tag länger brauchen werden, und für die wird es sich anders anfühlen. Für Christoph ist ein Rennen wie dieses rein körperlich eine Herausforderung und eine nüchterne Zahlenspielerei, wenn es läuft wie immer.

Im Mittelteil läuft es diesmal sogar besser, wenn das noch möglich ist. Dass das genau dem entspricht, was von ihm erwartet wird, ist die Tragik des ewigen Siegers. Wer am nächsten Morgen in den Niederösterreichischen Nachrichten, der Kleinen Zeitung oder sonst wo von seinem Rekordsieg liest, wird sich nicht am Kaffee die Zunge verbrennen, so vorhersehbar ist, was kommt. Die einzigen Fragen, die aufhorchen lassen: Wie viel schneller als der nächste Verfolger war er diesmal, und wurde ein Rekord gebrochen?

Christoph Strasser düpiert seine Konkurrenten, viele davon sind immerhin gute Bekannte oder Freunde, nicht gerne, und wenn das Rennen ausgefahren ist, findet man ihn unter den Ruhigeren. Aber wenn dann nicht eine anständige Packung zu Buche steht, rauscht nichts oder zumindest kaum etwas im Blätterwald. Er selbst gewinnt lieber knapp nach einem harten Duell als einsam an der Spitze. Auf dieser Strecke, den knapp 600 Kilometern rund um Niederösterreich, wird es nur eine Stunde Vorsprung sein; quer durch Amerika von Ost nach West, wo seine Stärken kumulieren, waren es schon eineinhalb Tage. Das lässt die hinter ihm blass aussehen, dabei ist es nicht ihre Schuld und auch nicht ihr Unvermögen, sondern seine Eigenschaft, alles, was dieser Sport von einem Athleten verlangt, in einer Person zu bündeln. Er aber verneint weiterhin hartnäckig ein ganz besonderes, herausstechendes Talent für die Langstrecke.

»Mir fällt auf, dass die äußere Wahrnehmung meiner Ergebnisse und Leistungen sich sehr oft auf den aktuellsten Zeitraum, die vergangenen paar Jahre, beschränkt. Das mag zugegebenermaßen für den Neuling oder Quereinsteiger einschüchternd wirken. Aber viele sehen nicht, wie lange ich den Sport schon mit vollem Ernst und Hingabe betreibe. Seit mittlerweile gut 15 Jahren trainiere ich diese hohen Umfänge, da gab es kein Jahr mit weniger als tausend Stunden Trainingszeit. Und die stärkste Phase meiner Karriere hat erst nach etwa acht Jahren begonnen. Kontinuität und Geduld sind also enorm wichtig, um sein bestmögliches Level erreichen zu können. Viele wollen nach kurzer Zeit schon an der Spitze mitfahren und sind dann enttäuscht, wenn das nicht klappt. Ich wehre mich dagegen, als Übermensch gesehen zu werden. Ich bin sicherlich übermäßig geduldig und fleißig in der Vorbereitung, habe gute körperliche Voraussetzungen, aber trotzdem ist alles ein Ergebnis von viel investierter Arbeit und Zeit. Und von großer Leidenschaft, denn ich liebe den Radsport wirklich, habe immer noch viel Freude in mir. Sonst würde ich das nötige Training nicht durchziehen können. Es gibt auch Fahrer, die vorübergehend schneller fahren oder weniger pausieren – aber immer auf Kosten des jeweils anderen Faktors.«

Wie auch immer er es macht: Keiner im Ultracycling hält dieses Tempo länger durch, bei ähnlich kurzer Stehzeit. Es stimmt nicht, dass seine Art des Radfahrens langsam ist – deshalb auch die Faszination der perfekten 24 Stunden. Ein Tag, das ist vermittelbar. Nicht zufällig gibt es immer mehr Rundenrennen über 24 Stunden, aber auch Distanzrennen wie dieses, die man – auch als Hobbyfahrer im Mittelfeld – ohne Schlaf bewältigen kann, während die Zahl an ganz großen Brocken nach RAAM-Vorbild eher stagniert. Bei einem Wettkampf wie dem RAN nimmt, normalerweise, die mentale Komponente noch nicht überhand, jedenfalls auf seinem Niveau. Er kann aufs Prozent genau vorhersagen, wie viel er zu leisten imstande ist, und sie können es nachvollziehen und staunen, wie nahe das an ihre eigene Maximalleistung herankommt – oder diese womöglich deutlich übersteigt.

Natürlich ließe sich das auch gut verkaufen; er tut es aber, wie alle Champions, nicht deshalb. Es geht nicht darum, es der versammelten Ultracycling-Szene zu beweisen. Entscheidender ist, es sich, seinem Trainer und den engsten Vertrauten zu zeigen. Er kennt sich gut, aber wozu er an einem perfekten Tag in der Lage ist, nach einem Jahr akribisch abgestimmter Vorbereitung und ohne Stolpersteine, das könnte selbst ihn noch überraschen, und dieser Luxus ist jemandem in seinem Karrierestadium selten vergönnt.

Hier, nach knapp der Hälfte des RAN, kaum mehr als eine Stunde entfernt vom Fuße des Semmering, eines mit knapp tausend Höhenmetern ernstzunehmenden Anstiegs, sind alle Gedanken an das nächste Jahr eingefroren. Er ist im Hier und Jetzt, checkt weiter die Systeme und befindet, alles sei im grünen Bereich. Als Christoph auf seinen Tacho blickt, sticht neben der dreistelligen Wattzahl, die auf konstant hohem Niveau leicht auf und ab pendelt, eine weitere Zahl hervor. Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist seit dem letzten Kontrollblick unter 40 km/h gefallen. Er senkt den Kopf und tritt zufrieden weiter. Nicht schlecht für die ersten 300 Kilometer – in Anbetracht der Bedingungen.

Stunde 3

GELASSENHEIT

Das Rennen im Rennen hat Christoph Strasser noch vor dem Anstieg für sich entschieden. Natürlich war es nur zum Spaß, denn Florian Kraschitzer, sein Teamchef vom RAA und treuer Betreuer seit Jahren, fährt eine Liga unter ihm. Trotzdem hat er sich respektabel geschlagen. Am Start ist er nur etwas mehr als zwei Stunden vor Christoph ins Rennen gegangen und er konnte seinen »Vorsprung« immerhin bis hierher verteidigen – schon über die Hälfte der Strecke ist geschafft. Was Florian zum Glück noch nicht weiß: Bis ins Ziel wird sich sein Zeitverlust verfünffachen. Auf knapp 250 Kilometern fällt er acht Stunden zurück, was in etwa Christophs Fahrzeit auf der verbleibenden Strecke entspricht.

Wie ist das möglich? Natürlich, Florians Fitness ist nicht vergleichbar, dennoch steht der Leistungsabfall in keinem Verhältnis zum Ausgangstempo. Die Antwort liegt in der Krise. Christophs vermeintlich größter Vorteil: Er baut langsamer ab, und wenn er einbricht, fällt die Leistungskurve flacher ab und wendet sich schneller wieder ins Positive. Oder sie stagniert auf einem Niveau, das ihn weiterfahren lässt, fast so als wäre er eben erst gestartet und nicht schon Stunden, Tage, manchmal Wochen auf dem Rad. Das wahre Erfolgsrezept: Christoph Strasser bleibt in Ultracycling-Wettkämpfen nur stehen, wenn die Crew es ihm erlaubt. Das klingt zugegebenermaßen krass. Aber nur so lassen sich die Stehzeiten so brutal reduzieren. Was in Rennberichten extrem hart und unbarmherzig wirken mag, wird schon vor dem Rennen genau abgesprochen und ist ganz in seinem Sinne. Oft betont er, wie unbedingt er diese Rollenverteilung braucht, um richtig schnell sein zu können.

»Wenn ich selbst entscheiden würde, wann und wie lange ich pausiere, wäre ich für mein letztes RAAM wahrscheinlich heute noch unterwegs. Darum müssen meine Betreuer in ihrer Rolle manchmal streng zu mir sein und dafür bin ich dann im Nachhinein dankbar – auch wenn ich während des Rennens jammere, klage oder um Pausen bitte. Ich gebe Entscheidungsbefugnis und Kontrolle im Rennen total ab, trete nur links und rechts hinunter, ansonsten höre ich auf mein Team. Die einzige Entscheidung, die ich selbst treffe, ist die, ob ich als nächstes Ensure mit Schokolade- oder Vanille-Geschmack trinke.«