1000 Serpentinen Angst - Olivia Wenzel - E-Book
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1000 Serpentinen Angst E-Book

Olivia Wenzel

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Beschreibung

Longlist - nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020 »Ich habe mehr Privilegien, als es je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Großmutter es sich vorstellen kann. Am Tag der Bundestagswahl versuche ich ihr mit dieser Behauptung 20 Minuten lang auszureden, eine rechte Partei zu wählen.« Eine junge Frau besucht ein Theaterstück über die Wende und ist die einzige schwarze Zuschauerin im Publikum. Mit ihrem Freund sitzt sie an einem Badesee in Brandenburg und sieht vier Neonazis kommen. In New York erlebt sie den Wahlsieg Trumps in einem fremden Hotelzimmer. Wütend und leidenschaftlich schaut sie auf unsere sich rasant verändernde Zeit und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Familie: von ihrer Mutter, die Punkerin in der DDR war und nie die Freiheit hatte, von der sie geträumt hat. Von ihrer Großmutter, deren linientreues Leben ihr Wohlstand und Sicherheit brachte. Und von ihrem Zwillingsbruder, der mit siebzehn ums Leben kam. Herzergreifend, vielstimmig und mit Humor schreibt Olivia Wenzel über Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit und über die Rollen, die von der Gesellschaft einem zugewiesen werden.

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Seitenzahl: 296

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Olivia Wenzel

1000 Serpentinen Angst

Roman

Roman

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I(points of view)

Quiet! Hush your mouth, silence when I spit it out

In your face, open your mouth, give you a taste.

Missy Elliott

Mein Herz ist ein Automat aus Blech. Dieser Automat steht an irgendeinem Bahnsteig, in irgendeiner Stadt. Ein vereinzelter, industrieller Klotz, trotzdem unscheinbar. Eine Maschine, ein rostfreier, glänzender, quadratischer Koloss. Warum steht er allein, wer hat ihn erfunden?

 

Der Automat hat eine Glasscheibe an der Front, da kann ich hindurchschauen und alle seine Snacks sehen. Ich zoome näher ran: Die Snacks sind akribisch sortiert, lachen mich aus ihren Zellophankleidchen heraus an. Bei ihrer Anordnung haben vielleicht marktpsychologische Gründe eine Rolle gespielt, aber das ist jetzt egal. Diese leckeren, kleinen Snacks – von der morbiden Schweinerindswurst im Teigmantel bis zum Kokosschokoriegel – sie stehen hier alle nur für mich und ich hab’ die Wahl. Ich kann sie in jeder beliebigen Konstellation anschauen, kaufen, einspeicheln und runterschlingen. Mein lieber Scholli, denke ich plötzlich, noch 15 Minuten, mein Magen gluckst, der Zug kommt bald.

 

Mein Magen gluckst noch einmal. Er will bloß Aufmerksamkeit, echter Hunger ist das nicht. Trotzdem fange ich an, in meiner Tasche nach Kleingeld zu suchen. Und während ich noch überlege, ob Kokos oder Schwein – mein Zeigefinger reckt sich schon zu den Tasten –, geht es los. Der Automat aus Blech kommt mir plötzlich größer vor, er setzt sich in Bewegung. Auch das Gleis, neben dem ich stehe, fängt an, sich zu bewegen, der Boden um mich, der gesamte Automat, alles beginnt plötzlich zu schwingen, sogar ich selbst.

Für einen Moment verliere ich die Orientierung. Als ich nach oben schaue, sehe ich, dass der Himmel sich verdunkelt hat, überall Ruß. Mein Zeigefinger steht immer noch ausgestreckt. Kokos, schießt es mir durch den Kopf, dann falle ich auf die Knie, dann in Ohnmacht.

Es wäre vielleicht das Beste gewesen, ich hätte in dem Automaten Unterschlupf gesucht, gleich als ich den Bahnsteig betrat. Es wäre vielleicht das Beste gewesen, ich wäre sofort in diesen Automaten aus Blech eingezogen und hätte darin für ein paar Tage gewohnt. Hätte mich mit einer knisternden Folie aus Zellophan bedeckt und gegessen, was mir in den Schoß gefallen wäre, hätte mir schließlich eine raschelnde Toilette gebastelt. Ich hätte Ruhe und Zeit gehabt, ich meine, ich liebe Ruhe und Zeit, und ich wäre in Sicherheit gewesen. Ich hätte durch die Scheibe nach draußen schauen und die Menschen auf dem Bahnsteig beobachten können. Ich hätte Grimassen schneiden und pathetische Lieder singen, hätte die Gespräche der Leute live synchronisieren können. Den Menschen, die zu mir gekommen wären, um sich einen Snack zu holen, hätte ich eindringliche Fragen stellen können. Oder Antworten geben. Ich hätte mich verlieben können. Ich hätte meine bisherigen Berufe, mein bisheriges Leben einfach so vergessen können. Um Spaß zu haben, auf eine ganz verschrobene Art und Weise!

Ich hätte ein neues Leben beginnen können.

 

Aber ich will ja unbedingt hinaus in die so genannte weite Welt.

WO BIST DU JETZT?

Ich befinde mich in Durham, North Carolina, dem zweitnördlichsten der US-amerikanischen Südstaaten.

WAS IST DEIN LIEBLINGSESSEN?

Gestern habe ich mich in eine lokale Spezialität verliebt: Dicke, warme Waffeln mit Nüssen, Ahornsirup und Schokoladencreme werden serviert mit einem Topping aus frittierten Chickenteilen, also wahlweise mit vier Hähnchenflügeln oder -beinen.

PERVERS.

Ja.

WO WOHNST DU?

In einem soliden Hotel. Es gibt eine Klimaanlage, die Fenster kann man nicht öffnen. Wenn die Reinigungskräfte fertig sind, schalten sie alle fünf Lampen an, auch wenn ich nicht da bin. Im Innenhof leuchtet rund um die Uhr der Pool, obwohl es viel zu kalt ist.

UND WIE GEHT ES DIR? WAS IST MIT DEINEN AUGEN?

WAS MACHST DU MORGEN?

Ausschlafen.

ERZÄHL MIR NOCH MEHR VOM ESSEN.

Ein gut besuchtes Restaurant, es läuft unauffällige Musik. Die schwarze Kellnerin fragt mich: You want them wings or them drumsticks?

Drumsticks please, sage ich. Dann sagt sie, dass meine Frisur ihr gefalle. Ich sage: This was more of an accident, but now I like it. Wir lächeln uns an, als wären wir Freundinnen. Ich fühle mich plötzlich wohl … Zugehörig.

NETT.

Das Essen schmeckt mir, die Kombination aus Waffel und Hühnchen ist falsch, irritierend, perfekt. Es gibt keine weißen Angestellten im Laden, bloß ein paar weiße Gäste. Am Nachbartisch sitzt eine Mutter mit ihrem Sohn, beide schwarz, beide für die Dauer des Restaurantbesuchs in die Tiefen ihrer Handys abgetaucht. Der Junge sieht verträumt aus, spielt Autorennen, sein Körper ein bisschen zu groß für ihn selbst.

DAS HAST DU SCHÖN GESAGT.

Seit ich in den USA bin, sehe ich zuallererst die Hautfarbe der Menschen.

COOL.

Nein.

JETZT MACHST DU WIEDER DAS GESICHT.

LASS DAS BITTE, DAS IST DEIN WEISSES PRIVILEG-GESICHT.

Sorry, das war unbewusst.

IN ANGOLA HABEN SIE KOKOSNUSS ZU DIR GESAGT, ODER? AUSSEN BRAUN, INNEN WEISS. WENN DU DIESES GESICHT MACHST, VERSTEHE ICH, WIE SIE DARAUF KOMMEN.

Alle wollen ständig mit mir über Rassismus sprechen. Das ist doch nicht meine Lebensaufgabe.

DU HAST DOCH DAVON ANGEFANGEN.

WO BIST DU JETZT?

Immer noch in Durham, North Carolina.

WO BIST DU ZUHAUSE?

WAS SAGST DU?

WAS SAGST DU?

Ich sage, dass viele Schwarze sich hier kein Auto leisten können, aber dass die Stadt ausschließlich fürs Autofahren gebaut ist. Ich sage, dass ein schwarzes Pärchen letztes Jahr von einem stadtbekannten Rassisten auf dem Campus erschossen wurde. Ich sage, dass die Weißen auf dem Land viele Waffen haben und ich da besser nicht hingehe. Ich sage, dass auf dem Campus eine große Statue auf einem Sockel steht, die Silent Sam heißt, zu Ehren all jener, die im Bürgerkrieg gekämpft haben – für den Süden, gegen Lincoln. Ich sage, dass die Weißen ihre Gelder vom Campus abziehen, falls jemand die Statue anrührt, und dass nach Protesten der schwarzen Community ein Denkmal neben Silent Sam gesetzt wurde für alle afroamerikanischen Sklaven, die die Uni erbaut haben. Ich sage, dass das neue Denkmal aussieht wie ein Campingtisch: Eine große, runde Platte wird von gartenzwergähnlichen Figuren über Kopf gestemmt. Ich sage, dass diese Sklavinnen in die Erde eingelassen dastehen, als würden sie im Treibsand versinken, und dass manche Leute das neue, kleine Denkmal als Sitzfläche genutzt haben. Ich sage, dass man daraufhin Sitzhocker ringsherum gebaut hat, und das Denkmal dadurch wirklich ein Tisch geworden ist. Ein Tisch, den die schwarze, versklavte Bevölkerung hochhält, aus dem Morast heraus, eine selbstverständliche Ablagefläche, von der weiße, wohlhabende Studentinnen in der Pause ihr Lunch essen. Ich sage, dass ich mir nichts von alldem ausgedacht habe.

DASS DIE SCHWARZEN GLAUBEN, SCHWARZ ZU SEIN, UND DIE WEISSEN WEISS.

Was?

DASS DIE SCHWARZEN GLAUBEN, SCHWARZ ZU SEIN, UND DIE WEISSEN WEISS.

Ja.

WAS IST MIT DEINEN AUGEN?

Verheult.

UNTYPISCH.

Na ja.

SEIT WANN IST ES EIGENTLICH PEINLICH, ÖFFENTLICH ZU WEINEN?

Manchmal komme ich abends ins Hotel, schaue stundenlang HBO auf dem riesigen Flatscreen, um mich vor meinen Gefühlen zu verstecken. Bis der Schlaf kommt. In der Nacht träume ich von jungen schwarzen Männern, die aus Flugzeugen in den Tod springen und dabei wütend die Namen weißer US-Amerikanerinnen rufen.

Ashley, Pamela, Hillary, Amber!

Viele Wolken, viele Namen, ein tiefes Fallen, am Ende kein Aufprall, bloß mein Erwachen.

WIE DU LOSGESCHLUCHZT HAST, ALS DIE STEWARDESS GEFRAGT HAT:

Do you want a cookie?

Ich habe geweint wie ein Kind, eine Stunde lang, rotzbesoffen über den Wolken.

DEIN WEICHES, OBSESSIVES HERZ. WENN DU’S AUFESSEN KÖNNTEST, WÜRDEST DU’S TUN?

Es kommt darauf an, wer es mir anbietet. Wie der Service ist. Womit es serviert wird.

FÜHLST DU DICH WOHL AN ORTEN, AN DENEN LEUTE FÜR DICH ARBEITEN?

Ja, sehr. Service-Inseln beruhigen mich.

VIELLEICHT, WEIL MAN HIER WÄHREND DER ARBEIT NICHT ÜBER POLITIK SPRICHT. DAS MACHT DIE ATMOSPHÄRE WEICH UND HARMLOS.

Andersherum geht es schon; die Politik spricht ständig über die Arbeit.

Watch now: the 10 most popular topics of politics of all times! Number seven: the future of labour!

Wir sind so gewöhnt an das Heilsversprechen von mehr Arbeitsplätzen, dass wir uns gar nicht mehr wundern, wenn einer vorbeikommt und flüstert:

Hello little slave of work – shake your booty, make it twerk!

WAS SOLLEN MENSCHEN SEHEN, WENN SIE IN DEIN GESICHT SCHAUEN?

Mich?

MIT WEM TRÄGST DU DEINE KONFLIKTE AUS?

Mir?

HAST DU JEMALS IN EINER TERRORISTISCHEN ORGANISATION MITGEWIRKT?

Nein.

WARST DU JEMALS TEIL EINER KRIMINELLEN ORGANISATION?

Nein.

IST DEIN HERKUNFTSLAND SICHER?

Nach welchen Kriterien?

WO BIST DU GEMELDET?

Zuhause.

WAS BEDEUTET DAS?

WO BIST DU JETZT?

Vor ein paar Tagen war ich in New York. In der Wahlnacht saß ich in einer Bar in Manhattan, nur wenige Blocks von Trump und Clinton entfernt.

WEITER, WEITER.

Ich unterhalte mich mit britischen Managern von Shell, wir sind besoffen und guter Dinge.

Cheers!

Ich habe mir Toleranz vorgenommen, will sie nicht verurteilen. Überraschend angenehme, eloquente Männer; wir kommen gut miteinander aus. Einer sagt, er sei Feminist, Angela Merkels Politik zerstöre Syrien, weil niemand zurückkehre, um das Land aufzubauen, Hillary Clinton habe so gut wie gewonnen. Der andere, Kee-nic, ist euphorisiert. This is amazing, wiederholt er immer wieder in British English, seine tiefe Stimme und die wohlklingende Sprache des ehemaligen Kolonialreichs ziehen mich an.

WELCHES DETAIL UNTERSCHLÄGST DU?

WELCHES DETAIL UNTERSCHLÄGST DU?

Und seine ›Ethnie‹.

WAS?

Seine ›Ethnie‹ zieht mich an. Aber es ist mir unangenehm, das so zu sagen. Oder zu denken.

WARUM?

This is amazing, sagt Kee-nic und meint die Stimmung dieser New Yorker Nacht, die Wahl, die Vorahnungen, vielleicht unser aller Gefühl, einem historischen Moment beizuwohnen. Gegen Mitternacht gehe ich mit ihm ins Hotel; wir sind überzeugt, dass am Morgen die erste weibliche Präsidentin der USA feststeht. Gegen halb drei haben wir uns betrunken in den Schlaf gevögelt. Mein Handy vibriert, Nachrichten meiner deutschen Freunde.

Nine eleven – eleven nine!

Pass auf dich auf!

What the fuck?

Ich schalte den Fernseher an, Trump beginnt gerade seine Rede. Kee-nic wacht auf, schmiegt sich an mich (so glatte Haut der Mann und riecht so gut, ist das Kokosöl?), wir schlafen noch mal miteinander. Während er mit seinem akkurat trainierten Managerkörper vor sich hinstößt, bekomme ich die Augen nicht vom Fernseher. Kee-nic stöhnt etwas, ich verstehe es nicht, er wiederholt es darum zweimal: This is amazing. This is amazing.

Donald Trumps Familie sieht tatsächlich geschockt aus, denke ich, während ich mich im 16. Stock eines Manhattaner Luxushotels von einem Mann ficken lasse, dessen Firma programmatisch die Umwelt zerstört.

UND VIER STUNDEN SPÄTER IM FLUGZEUG NACH DURHAM DIE NETTE STEWARDESS MIT DEN COOKIES.

WO BIST DU JETZT?

Immer noch in Durham.

Hier steht auf eine Wand gesprüht: Black lives don’t matter and neither does your votes.

HAST DU JEMALS EIGENTUM DEINER REGIERUNG BESCHÄDIGT?

Black lives don’t matter and neither does your votes. Ich glaube, das ist kein korrektes Englisch. Ich glaube, das wird noch lange dort stehen. Ich weiß nicht, ob diese Dinge jemals aufhören werden oder sich verschlimmern. In den USA bin ich schwärzer als in Deutschland.

This is amazing.

Wie bitte?

This is amazing.

DER SKLAVENHANDEL IST DAS ERFOLGREICHSTE GESCHÄFTSMODELL IN DER GESCHICHTE DER MENSCHHEIT. ZWANGSARBEIT IST UND BLEIBT EIN ATEMBERAUBENDES KONZEPT! HANDELN MIT UNTERJOCHTEN KÖRPERN: AUSPEITSCHEN, VERGEWALTIGEN, AN BÄUMEN AUFHÄNGEN!

I love that idea!

Im anglophonen Raum neigt man zu sprachlichen Übertreibungen.

I would kill for the cookies they sell over there!

In Deutschland neigt man zu gewalttätigen Übertreibungen.

I would kill them if I could.

Leute zünden Wohnheime an, rufen Refugees so lang Spring doch zu, bis die sich aus dem Fenster der Unterkunft stürzen, verfolgen als 80-köpfiger Lynchmob irgendwelche Kids, um sie abzustechen. Ich muss glauben, dass diese Leute randständig sind. Ich muss glauben, dass die gesellschaftliche Mitte diese Angriffe verurteilt. Sonst unterschiede sich das Land, in dem ich lebe, wenig von den USA. Sonst könnte das Land, in dem ich lebe, schon bald genauso wählen. Sonst wäre das Land, in dem ich lebe, nicht länger mein Zuhause.

WAS PASSIERT DIR BEIM EINSCHLAFEN?

Ich falle.

WAS PASSIERT DIR BEIM AUFWACHEN?

Manchmal eine Melodie, ein Kichern, oft eine kurze, kalte Angst.

WO BIST DU ZUHAUSE?

Im Schlaf.

WAS IST DER GRUND DEINES AUFENTHALTS?

Wo, auf der Welt?

WOVON TRÄUMST DU?

WOVON TRÄUMST DU?

Für einen Moment sehe ich etwas aufflackern, ein Bild aus dem Geschichtsunterricht, aber aktualisiert, irgendwie neuer, mit Drohnen. Statt Köpfen in Stahlhelmen die Gesichter meiner Freunde. Meine lieben Freundinnen, wie sie rennen, sich ducken, stürzen, wie sie getroffen werden von Schüssen und Tritten, von Peitschenhieben, Fäusten und Bomben – irgendwo in Berlin, irgendwo in New York, irgendwo in Thüringen. Meine Freunde mit abgetrennten Gliedmaßen, blutüberströmt, mit verzerrten Gesichtern am Boden liegend, meine Freundinnen zwischen eingestürzten Gebäuden. Meine Freunde mit weit aufgerissenen Glasaugen, über die kleine Fliegen huschen.

UND DANN?

Und dann:

Meine Freundinnen als Kapitel in einem Geschichtsbuch, das zugeschlagen wird, emotionslos, sachlich, weil das alles schon so lange her ist. Meine toten Freunde als etwas, das heute niemanden mehr betrifft. Meine toten Freundinnen als eine Erinnerung, als Denkmal auf Papier, über das man sagen wird:

Sei doch nicht so empfindlich, das war der Zeitgeist damals.

Ich starre in den Snackautomaten, der Snackautomat starrt in mich.

 

Von irgendwo dringt Musik; eine Rapperin beschreibt temporeich, wie sie und ihre Bitches husseln. Noch 15 Minuten, dann kommt der Zug, mein Magen gluckst.

 

Mein Gesicht spiegelt sich in der Scheibe; ich lächle mir zu, denke: Schön, allein zu reisen, drehe zwischen Daumen und Zeigefinger eine meiner Locken. Dabei bemerke ich die Spiegelung einer Gruppe blonder Schülerinnen. Ohne mich umzudrehen, beobachte ich, wie sie zusammenstehen und auf ihre Smartphones tippen. Der Track kommt aus einem ihrer Handys, sie sprechen nicht miteinander. Ich habe plötzlich Lust, auf dem Glas über ihre Gesichter zu lecken – ganz langsam, ganz gründlich.

WO BIST DU JETZT?

Am Flughafen in Berlin. Nach dem Eincheckprozedere sitze ich in der Wartehalle und schaue durch eine bodentiefe Fensterscheibe nach draußen auf die Maschinen. Ich mag Leute in grellen Westen mit Lärmschutzkopfhörern.

DU SCHWITZT.

Ich war spät dran, musste rennen.

WARUM LÄCHELST DU NICHT?

Was?

FREUST DU DICH NICHT?

BIST DU NERVÖS?

Nein.

BIST DU NERVÖS?

Übermüdet, ein bisschen aufgeregt vielleicht. So eine weite Reise habe ich lange nicht gemacht, dazu noch allein.

WARUM?

Warum ich allein reise, oder warum ich lange keine weite Reise gemacht habe?

WARUM BIST DU NERVÖS?

… es gab so einen Vorfall.

WEITER, WEITER.

Ich sitze in der Wartehalle. Weil ich nicht sicher bin, ob es im Flugzeug Essen gibt, kaufe ich in einer anderen, kleineren Halle Cola und Snickers. Dort ist niemand außer mir und einem Mann. Er hat einen Bart und eine Kopfbedeckung, die ich nicht einordnen kann.

HAT ER DICH ANGEFASST?

Nein. So eine Geschichte ist das nicht. Er sieht mich überhaupt nicht.

OKAY. WEITER.

Während ich die kleine Wartehalle wieder verlasse, schnallt er sich eine Art Plastikgürtel mit einer merkwürdigen Ausbuchtung um die Hüfte. Dann wirft er ein weites Gewand über seine Schultern, das ihn komplett bedeckt. Ich bleibe stehen. Das Gewand sieht festlich aus und er irgendwie aufgebracht.

ER IST NERVÖS.

Sprengstoff! Selbstmordattentat!

Die Worte rasen mir durch den Kopf, da kann ich gar nichts machen. Der Mann setzt sich hin und beginnt mit weiten, hektischen Bewegungen des Oberkörpers nach vorn und hinten zu wippen. Dabei murmelt er Dinge vor sich hin; ich glaube, Angst in seinem Gesicht zu sehen.

SEIN LETZTES GEBET?

HAST DU EINE WAFFE DABEI?

Nein.

PFEFFERSPRAY?

Nein.

ANDERE ENTZÜNDLICHE GEGENSTÄNDE?

Um seinen Arm sind Bänder gewickelt, ich denke: Das sind die Kabel oder Drähte. Ich traue mich nicht, ihn anzusprechen.

Excuse me, Sir, do you wanna murder me or is this just a regular prayer?

Also beschließe ich, etwas anderes zu tun. Ich gehe zurück in den Vorraum, in dem die Ausweiskontrolle stattfindet und wo stichprobenartig Leute rausgewunken werden.

WURDEST DU RAUSGEWUNKEN?

Ich werde immer rausgewunken.

UND DANN?

Ich bitte einen Polizisten um Hilfe. Er zwinkert mir zu und erklärt irritierenderweise in breitem Thüringisch, dass er und seine Kollegen ihren Job bestimmt ordentlich gemacht hätten, dass er aber trotzdem mal wen rüberschicke.

Keen Grund zur Sorge, gäh.

Ich gehe zurück und setze mich in die große Wartehalle, esse das Snickers. Während meiner Abwesenheit hat der Mann sein Gebet beendet und sich umgezogen. Sein Gewand ist verschwunden, er läuft gelassen auf drei spielende Kinder und eine Frau mit buntem Kopftuch zu. Als er sich zu ihnen setzt, betritt ein Polizist den Raum. Er schlendert umher, mustert alle Wartenden, dann sieht er mich. Ich will den Blick senken, doch stattdessen schaue ich wieder zu dem Mann und seiner Familie. Der Blick des Polizisten folgt meinem, eins der Kinder klettert dem Mann gerade auf den Schoß.

WO BIST DU JETZT?

Ich steige ins Flugzeug.

Keen Grund zur Sorge, gäh.

Welcome on board! How are you today?

Voller Selbstekel, danke.

Be a hero! Better safe than sorry!

In New York wäre ich mit meiner Paranoia zur Heldin geworden. Plakate in der U-Bahn fordern auf, mit gutem Gewissen jeden Verdacht zu melden – für die Sicherheit der Stadt, für die Community. Aber in New York bin ich jetzt noch nicht.

GLAUBST DU, ES GIBT ECHTE HELDINNEN?

… Dieser Moment der Todesangst, dieser Moment, in dem ich überzeugt bin, gleich werde ich gesprengt. Und dann die Scham, jemandem so eine Ungeheuerlichkeit zugetraut und dafür denunziert zu haben.

BIST DU JETZT NERVÖS?

Ich kann nicht fliegen, ohne dass mich mindestens drei spektakuläre Fantasien über meinen Absturz ereilen. Und irgendwie glaube ich immer, ich wäre die Einzige, die überleben würde. Stürzt ein Flugzeug ab, sobald sich ein Vogel im Triebwerk verfängt?

Please fasten your seatbelts now.

TOTE HÜHNER – DAMIT WERDEN DIE TRIEBWERKE GETESTET.

Okay.

JE MEHR HÜHNER REIBUNGSLOS IN DER DÜSE ZERSCHREDDERT WERDEN, DESTO BESSER.

Oxygen will flow.

Eine Stewardess hat sich den Lippenstift über die Grenzen ihrer Oberlippe hinaus aufgetragen. Als sie versucht, mir mit dem Warenwagen Parfüm zu verkaufen, sehe ich einen Clown mit Leierkasten.

In case of emergency follow the following instructions!

Ich mag die Ansage, dass man zuerst sich selbst und erst dann den Kindern helfen soll, falls was ist.

Oxygen will flow!

BITTE KONZENTRIER’ DICH.

ANGST VOR DEM ABSTÜRZEN, ANGST VOR TERROR.

WAS NOCH?

Ich will keine Person sein, die Angst vor ›Terror‹ hat. Ich meine, ich gucke ja auch nicht ständig an Häuserwänden hoch, ob mich gleich ein lockerer Dachziegel erschlagen könnte.

UND TROTZDEM STEIGST DU ALS ERSTE AUS, WENN ES IN DER U-BAHN NACH GAS RIECHT.

Fünf Leute sind mit mir ausgestiegen. Die waren auch verunsichert und haben auf die nächste Bahn gewartet. Wie wir uns angeschaut haben. Das vergesse ich nicht.

Do you want a cookie?

In der Armlehne gibt es vier verschiedene Kanäle mit Musik; auf den Monitoren läuft derselbe Film für alle Fluggäste. Eine turbulente New Yorker Liebeskomödie mit weißer Protagonistin. Der Film spielt oft in den Straßen New Yorks. Ich war noch nie in New York, trotzdem denke ich: Alle Menschen im Film sind weiß, das muss viel Aufwand gewesen sein.

KONZENTRIER’ DICH.

DU BIST NERVÖS, DU FÜHLST DICH NICHT SICHER. WAS NOCH?

Ich ärgere mich über den Film.

Und über Leute, die ihn angucken, ohne zu merken, dass was fehlt.

WAS NOCH?

Ich hab keine Lust, ständig solche Dinge zu besprechen.

WAS NOCH?

Ich schweife ab, schaue aus dem Fenster, denke über Wolken und verschiedene Formen von Terror nach, wie die Spülung der Toilette wohl funktioniert. Warum ich diese gemachte Angst in mich reinlasse. Warum ich das nicht besser abwehren kann. Wie die ganzen Exkremente wohl entsorgt werden. Ich denke plötzlich an einen Tag am See.

WELCHER TAG?

Als ich baden gehen wollte, und dann war da nur rechter Terror.

DAS KLINGT ABGEDROSCHEN.

National befreite Zonen, so was halt.

WIE VIELE SCHWIMMABZEICHEN HAST DU?

… rechter Terror ist, am See zu sitzen und vier Nazis kommen, zwei Frauen und zwei Männer. Sie sehen uns nicht, wir sitzen weit hinten im Schatten und haben trotzdem Angst.

WAS BEDEUTET WIR?

Mein Freund und ich, wir sind ein Paar, aber kein glückliches; wir haben uns vor einer halben Stunde gestritten. Rechter Terror ist: Als die Nazis kommen, gehören wir wieder zusammen. Sie ziehen sich aus, so wie ich mir das bei Soldaten vorstelle, stramm und zackig. Sie falten ihre Kleidung, stehen aufrecht und steif da, an einem heißen Sommertag, nackt und selbstbewusst, schauen auf den Strausberger Badesee, als gehörte er ihnen. Rechter Terror ist: nicht über diese Steifheit lachen zu können aus Furcht, entdeckt zu werden. Der größte und feisteste von ihnen hat ein Hakenkreuz auf die Brust tätowiert. Als sie zu viert so dastehen, beginnen zwei Familien synchron ihre Sachen einzupacken. Rechter Terror ist: Die Stimmung kippt von jetzt auf gleich, die zwei Familien verziehen sich, es sind nur noch wenige Leute am Badesee. Mein Freund und ich bleiben unbeholfen im Schatten, am Ufer sitzt ein weißer Mann, vielleicht Mitte 30, seine kleinen Söhne spielen im flachen Wasser. Die Nazis sehen auch ihn nicht sofort und gehen schwimmen. Als sie wieder rauskommen und sich abtrocknen, wieder so stramm dastehen, wieder so hölzern, niemand hatte hier eben Spaß, bemerken sie, dass nur eins der Kleinkinder weiß ist. Bäh, da war ja ein Neger im Wasser, sagt einer laut und das Wort sticht mir zwischen die Rippen. Ich sage leise: Wir müssen uns da jetzt daneben setzen, zu dem Vater. Mein Freund sagt: Auf keinen Fall. Das sehen die als Provokation, dann geht erst richtig was los. Ich sage: Aber wir können doch die Kids und ihren Vater nicht mit denen allein lassen. Mein Freund sagt: Den Kindern werden die nichts tun. Uns schon. Wir fahren jetzt. Flüsternd streiten wir weiter, schließlich setzt mein Freund sich durch. Rechter Terror ist: Ich kann nicht riskieren, dass er verprügelt wird, ich weiß selbst nicht, was jetzt das Richtige wäre, rechter Terror ist: Auch wir verdrücken uns leise. Im Auto rufe ich sofort die Polizei an und höre, verfassungswidriges Symbol in der Öffentlichkeit zeigen ist verboten: Gut, dass Sie anrufen, wir sind hier wirklich sehr bemüht, solche Leute zu schnappen, wo genau liegt noch mal dieser See? Rechter Terror ist: Die Polizei findet ihn auch nach zwei Stunden nicht, ich komme mit dem Gefühl zuhause an, etwas Schlimmes getan zu haben. Oder etwas unterlassen. Rechter Terror ist: Ich denke bis heute an diesen Tag, an die Unmöglichkeit, mich korrekt zu verhalten. Rechter Terror ist: Ich schäme mich für meine Feigheit. Rechter Terror ist: Ich war auch mal dieses Kind am See.

Excuse me, Sir, do you wanna murder me or do you just wanna hate me while you’re swimming?

Was?

DIESE KOMBINATION AUS ANGST UND DER UNFÄHIGKEIT, ETWAS ZU SAGEN, OHNMACHT, HANDLUNGSUNFÄHIGKEIT, VERSTEHE.

WAS TUST DU DAGEGEN?

… es mir bewusst machen?

WO BIST DU JETZT?

Immer noch im Flugzeug.

Excuse me, dürfte ich mal bitte Ihren Boardingpass sehen?

Ich habe mich umgesetzt, also ich sitze eigentlich da hinten, aber es war so eng.

Das ist leider nicht erlaubt.

Aber die ganze Reihe ist doch frei. Oder, ach so, weil hier der Notausstieg ist?

Der Sitzplatz XL kostet 83 Dollar extra, sorry.

Weil hier mehr Platz ist? Aber die anderen Sitze sind viel zu klein für mich, ich kann da mit den Beinen nicht mal gerade sitzen.

Tut mir leid, Sie müssen jetzt bitte zurück an Ihren Platz gehen.

Ja, okay.

WO IST DEIN PLATZ?

WO IST DEIN PLATZ?

HAST DU EINEN KOMPASS DABEI?

Wozu?

HAST DU DAS GEFÜHL, DEIN LEBEN HAT EIN ZENTRUM?

Vielleicht.

HAST DU DAS GEFÜHL, DEIN LEBEN NÄHERT SICH EINEM ZIEL?

Nein.

WER SIND DEINE NACHBARN?

Meine Nachbarn?

WO BIST DU GEMELDET?

In Berlin.

WO KOMMST DU HER?

Ich komme –

WO KOMMST DU HER?

Ich komme –

WO KOMMST DU HER?

Ich komme –

WARUM LÖSCHST DU IMMER DEINEN BROWSER-VERLAUF?

Was?

BIST DU VERLIEBT IN DEINE BEWEGUNGSFREIHEIT?

WARUM KAUST DU AN DEN NÄGELN?

Manchmal habe ich Schwierigkeiten, zu merken –

WÜRDEST DU GERN EINE BUNTE GRAPHIK DEINES BEWEGUNGSPROFILS AUS DEN VERGANGENEN DREI JAHREN SEHEN? IN FORM EINER ÜBERRASCHUNGSTORTE, AUS DER –

was gerade am wichtigsten ist.

WO BIST DU JETZT?

… Zuhause.

OKAY.

Zwei Tage vor der Abreise habe ich einen idiotischen Fehler gemacht, musste noch mal meinen Flug bei der amerikanischen Fluggesellschaft stornieren. Bei der deutschen Hotline hebt niemand ab. Ich wähle also die Nummer der englischsprachigen Hotline; kurz darauf buchstabiert mir eine Frau in gebrochenem Englisch minutenlang Worte, die ich kaum verstehe und in eine Suchmaske eingeben soll. Irgendwann, als das Stornoding endlich online läuft und buffert, frage ich, ob sie eigentlich in den USA sitze. No no, on Fiji Island. Wir reden übers Wetter, hier in Berlin und da, auf der Insel, so und so, aha, jaja, wir sind herzlich miteinander. Schließlich fragt sie, schüchtern auf einmal:

In winter, where you live … does it snow?

Yes, sage ich. Darauf sie: I have never touched the snow in my life.

Es klingt wie ein Geheimnis und ein bisschen ehrfürchtig. Also versuche ich ihr zu beschreiben, wie das ist, Schnee, wie es sich anfühlt, so eine schmelzende Schneeflocke auf der Hand. It’s like a very light raindrop, you know. Als wir auflegen, habe ich das Gefühl, ich wäre gerade wirklich jemandem begegnet.

SWEET. WO BIST DU JETZT?

Ich schaue mir wieder die Wolken an. Der Gedanke, dass – egal, wie viel Regen oder Schnee da unten ist – viel weiter oben immer die Sonne scheint, beruhigt mich.

BIST DU IMMER NOCH NERVÖS?

Ich bin entspannt, der Film ist zu Ende, mein Ärger verflogen. Ich denke oft, ich hab Glück, in das Leben hineingeboren zu sein, das ich führe. Aber vielleicht ist das auch Quatsch. Wenn ich die Augen schließe, vergesse ich, wie verletzlich ich bin.

WÜRDEST DU GERN VERGESSEN, WER DU BIST?

Wieso?

WÜRDEST DU GERN VERGESSEN, WER DU BIST?

Nein.

WÜRDEST DU MICH GERN VERGESSEN?

… Nein.

FREUST DU DICH?

Worauf?

AUF ALLES, WAS KOMMT.

… ja. Merkwürdigerweise ja.

It’s like a very light raindrop, you know.

It’s like a very light raindrop.

It’s like rain.

Ich werde bald landen und neue Dinge sehen, neue Menschen treffen, eine andere Sprache sprechen, anderes Geld ausgeben. Ich werde die Wahl miterleben und bestimmt einen wichtigen historischen Moment – ich habe ein gutes Gefühl.

Ich stehe mit etlichen Leuten am Bahnsteig und warte auf den Zug. Noch vier Minuten, mein Magen gluckst.

 

Für einen Moment habe ich zu viele Gedanken, sie fallen mir runter. Doch ich bücke mich nicht danach, betrachte lieber mein Gesicht in der spiegelglatten Scheibe des Snackautomaten. Natürlich nur kurz; niemand soll denken, mit mir sei was nicht in Ordnung.

 

Plötzlich kommt aus dem Automaten eine lang vergessene Melodie.

 

Leise beginne ich zu summen.

So leise, dass niemand auf dem Bahnsteig es hört, nicht einmal die kleinen Mäuse zwischen den Schienen.

WO BIST DU JETZT?

Ich bin eben gelandet, niemand hat geklatscht … draußen sieht es kalt aus.

HAST DU LEBENSMITTEL DABEI?

Nein.

HAST DU MEHR ALS10000DOLLAR DABEI?

Nein.

UNTER WELCHER ADRESSE BIST DU ERREICHBAR?

Das will ich spontan entscheiden.

OHNE ADRESSE GEHT ES NICHT.

Okay.

WER SOLL KONTAKTIERT WERDEN, FALLS DIR ETWAS ZUSTÖSST?

Was soll mir denn zustoßen?

WER IST DEIN KONTAKT IN CASE OF EMERGENCY?

Würde mich morgen irgendein Pickup Truck anfahren und meine Großmutter bekäme einen dramatischen Anruf aus den USA – sie bekäme einen Herzinfarkt gleich mit dazu. Das ist also keine Option.

Intense heart attacks! Brought to you by:

Your grandchild!

Stattdessen gebe ich den Namen und die Nummer von Kim an. Damit wäre meine Großmutter sicher nicht einverstanden und Kim schon gar nicht; sie hasst die Tatsache, dass ihre Daten nicht ihr gehören.

SMARTPHONES, FACEBOOK, GOOGLEMAPS – DAS WAREN IRGENDWANN MAL FEUCHTE, GRÖSSENWAHNSINNIGE TRÄUME EIFRIGER STASI-MITARBEITER.

A sexy, sexy dream come true!

Und vielleicht, denke ich plötzlich, hasst Kim auch mich.

Sorry Miss, we have sad news. We’ve got your friend here in the hospital. You were mentioned as her emergency contact. She’s in a very critical condition. Could you please help us find – hello? Miss, are you still there?

Aber vielleicht würde Kim den Hörer nicht einfach auflegen, falls mir etwas zustoßen würde. Vielleicht würde sie innehalten, an mich denken, sich Sorgen machen. Oder sie würde Hals über Kopf ihren Rucksack packen, die Wohnung verlassen und mir nachreisen. Vielleicht säße sie schon 28 Stunden nach dem dramatischen Anruf aus den USA an meinem Krankenbett in den USA. Ich läge noch im Koma, völlig zerbeult vom rücksichtslosen Pickup Truck, sie hielte meine Hand. Dann würde sie irgendwann beginnen, leise zu schluchzen, einzelne Tränen würden meinen Infusionsschlauch benetzen, vor der Tür würden sich viele einfühlsame Krankenschwestern und -brüder versammeln, und für mich, für uns, beten, Halleluja. Wenn Kim sich schließlich beruhigt hätte und ihre Tränen getrocknet wären, würde sie meine blutverkrustete Wange streicheln und sich flüsternd entschuldigen, ganz leise, fast tonlos, ihr warmer Atem in meinem Ohr. Sie würde bereuen, wie wir einander verletzt haben. Und dann, endlich, würde ich aus dem Koma erwachen und mein einziges, verbleibendes Auge auf sie richten.

STÖRT ES DICH, DASS MÄNNER IN SO WENIGEN FILMEN WEINEN?

Was?

BIST DU RELIGIÖS?

WELCHEM GLAUBEN GEHÖRST DU AN?

Ich gehöre niemandem an.

WORAN GLAUBST DU?

An soziale Beziehungen.

BIST DU LEDIG?

Das klingt mittelalterlich.

LEBST DU ALS ALLEINSTEHENDE PERSON?

Ja.

WO LEBEN DEINE NÄCHSTEN VERWANDTEN?

Das weiß ich nicht genau.

BESUCHST DU FAMILIENMITGLIEDER WÄHREND DEINES AUFENTHALTS?

Nein.

WO LEBEN DIE MITGLIEDER DEINER FAMILIE?

Ich habe keine richtige Familie, also im biologischen Sinne.

The lone wolf, far away from its pack!

So meine ich das nicht.

Out in the open – the adventure begins!

Ich komme aus einer Familie, in der die Idee, sich so weit wie möglich von sich selbst zu entfernen, übertrieben romantisiert wurde.

WAS SOLL DAS HEISSEN?

… Ich komme aus einer Familie, in der das Reisen immer eine unerfüllte Sehnsucht war. Aber nicht so lone-wolf-mäßig, eher so …

WEITER, WEITER.

Picture this:

Meine Mutter: eine junge Frau mit blauen Haaren und Nietengürtel, eine Punkerin, gefesselt an die DDR. Eine junge Frau, die sich mit einem angolanischen Mann einlässt, in einer ostdeutschen Kleinstadt, in der alle einander kennen. Eine junge Frau, die sich fortwünscht, die exzessiv die Bewilligung der Ausreisegenehmigung herbeisehnt, kurz nachdem ›der Afrikaner‹ in sein Land zurückmuss. Eine junge Frau, die sich ein gemeinsames Leben in Angola ausmalt, ein Leben unter einer anderen Sonne, mit anderen Mentalitäten, ein Leben in Freiheit. Aber dann, mit 19, wenige Monate nachdem sie Zwillinge geboren hat: Verhaftung, Annulierung der Ausreisegenehmigung, Zerbröselung der Psyche im Stasiknast.

IST DAS DER PITCH FÜR DEN NÄCHSTEN, KLISCHEEHAFTEN DDR-FILM BEI DEN ÖFFENTLICH RECHTLICHEN?

Das Problem mit Klischees ist nicht, dass sie nicht stimmen.

SONDERN?

Sie stimmen ziemlich oft. Das Problem ist, dass sie immer wieder nur dieselbe, eine Perspektive beschreiben.

UND?

Picture this:

Meine Mutter: Eine Frau, die mich und meinen Zwillingsbruder aufzieht, so gut sie kann und so, als wären wir schuld an ihrem Leben, schuld daran, dass sie nie wegkommt aus dem verfluchten Scheißstaat, womit sie mal die DDR und mal die BRD meint. Vor der Wende, nach der Wende – immer muss sie bleiben. Der Mann ist fort, hat schon eine neue Familie in Angola, weil die alte damals nicht nachkam, außerdem ständig zu wenig Geld, ständig allein.

ABER SIE HATTE DOCH EUCH KINDER.

Meine Mutter heute: eine 53-jährige Frau, die ihre multiplen Gefangenschaften nie verwindet und den gewaltsamen Tod ihres Sohnes auch nicht. Eine Frau, die sich selbst einweist und auch mich für tot erklärt. Ein verwundetes Tier, das ein Leben lang in die Ecke gedrängt steht und die Zähne fletscht.

TOLLWUT?

Was?

DARAN KANNST DU SCHON15TAGE NACH ANSTECKUNG STERBEN.

BIST DU GEIMPFT?

Wogegen?

GEGEN ALLES, WAS DIR GEFÄHRLICH WERDEN KÖNNTE.

Diese Narbe, diese kleine, reliefartige Aushebung auf dem Oberarm meiner Mutter und so vieler anderer in der DDR Geborener. Die hat mich als Kind fasziniert. Ich hielt sie für die Miniatur-Map eines geheimen, wunderbaren Landes.

PERVERS.

HEISST DAS, IHR HABT KEINEN KONTAKT?

Sie verweigert alles. Ich hab sie das letzte Mal bei der Beerdigung gesehen.

IN WELCHER EINRICHTUNG IST SIE JETZT?

Das weiß ich nicht.

UND DEIN BRUDER?

Was soll mit ihm sein?

WIE IST ER UMS LEBEN GEKOMMEN?

Ums Leben gekommen. Ums Leben drumherum gekommen?

ANDERE FAMILIENMITGLIEDER?

Mein Vater schreibt zweimal im Jahr eine E-Mail aus Angola. Eine davon kommt immer einen Tag vor unserem Geburtstag an, also mittlerweile nur noch vor meinem Geburtstag. Er kann sich das richtige Datum nicht merken.

UND DEINE GROSSELTERN?

Mein Großvater lebt nicht mehr, Krebs, meine Großmutter gibt es noch.

WO IST SIE JETZT?

Wahrscheinlich zuhause, vorm Fernseher. Oder beim Arzt.

WARUM SO ABSCHÄTZIG?

Picture this:

Meine Großmutter: treue SED-Anhängerin und stolze Mutter zweier Töchter, stolz ganz generell und oft, wegen der guten Verbindungen (Nylonstrumpfhosen und Jeans, Westschokolade und immer ein Bungalowplatz an der Ostsee), stolz wegen der hübschen, hochtoupierten, blonden Haare, stolz auf ihre auffallende Schönheit, auf ihre überdurchschnittliche Intelligenz, stolz auf die Schönheit und Intelligenz ihrer Töchter. Meine Großmutter: ein eitler Teenager, der sich nichts sehnlicher wünscht, als Stewardess zu werden. Um das Angenehme mit dem Beruflichen zu verbinden. Um aller Herren Länder zu bereisen, um fortgehen zu können, ohne wirklich fort zu sein. Weil klar, die DDR ist spitze, die ist meine Heimat, ich will ja nicht richtig weg. Stewardess werden, um dem prügelnden Vater zu entkommen. Stewardess werden, um mehr zu sehen und mehr zu sein als die bekloppten Leute im Ort, Stewardess werden, um zu erfahren, wie sich Fliegen anfühlt. Doch dann leider nie Stewardess werden, sondern schwanger und später Sekretärin. Mit Mitte 40 Bandscheibenvorfall, seitdem arbeitsunfähig.

SO VIEL SCHEITERN AUF DER MÜTTERLICHEN LINIE.

Excuse me, is your family A) cursed, B) just very unlucky, C) mentally ill or D) pretty solid regarding the circumstances?

Meine Großmutter heute: eine niedliche, runde Frau knapp über 70, die Flugangst hat und keinen Fahrstuhl betreten kann. Eine Frau, die die Wärme ihres Heizkissens liebt. Eine Frau, die immer wieder träumt, dass sie fliegen kann, und die mit mir, ihrer leicht reizbaren Enkelin, nicht offen sprechen kann, schon gar nicht über den anderen Enkel, den Jungen, der sich das Leben nahm.

WIESO KANN SIE MIT DIR NICHT DARÜBER SPRECHEN?

WAS VERHEIMLICHST DU?

Nichts.

HAST DU SCHON MAL ÜBER DAS WORT ›HEIM‹ IM WORT ›VERHEIMLICHEN‹ NACHGEDACHT? ODER ÜBER DAS WORT ›UNHEIMLICH‹?

Nein.

ODER ÜBER DAS WORT ›GEHEIMNIS‹?

Alle Männer in der Familie sind tot oder weit weg, die hinterbliebenen Frauen beschädigt, jede auf ihre Art, und ich kann reisen, so oft und so weit ich will, obwohl es mir nie wichtig war. Obwohl ich nichts dafür tun musste, außer zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren zu werden. Ich kann sogar übers Reisen als Urlaubsunternehmung nachdenken, ich kann, während ich reise, über die selbstbestimmte, angenehme Erfahrung nachdenken, die ich gerade mache, während Tausende Menschen Zwangsreisen antreten, für die Worte wie Krise und Welle und Zustrom benutzt werden.

STOPP, STOPP, STOPP, DAS IST EIN ANDERES THEMA.

KONZENTRIER DICH. REISEN ALS GRUNDTHEMA, EINSAMKEIT ALS NEBENWIRKUNG. WAS NOCH?

Wieso Einsamkeit?