1001 Macht - Mathias Brüggmann - E-Book

1001 Macht E-Book

Mathias Brüggmann

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Beschreibung

Die Fußballweltmeisterschaft und Flüssiggas rücken Katar derzeit weltweit in den Fokus. Doch was wissen wir über dieses Emirat am Persischen Golf und seine wichtigsten Akteure? Mathias Brüggmann berichtet seit Jahrzehnten aus dem Mittleren Osten. Er zeigt den Aufstieg des Landes von einer vergessenen Halbinsel zum weltgrößten Flüssiggasexporteur und einem der reichsten Länder der Welt. Von einem Piratennest im Schatten Saudi-Arabiens, einem Spielball zwischen Osmanischem Reich und British Empire zu einer internationalen Drehscheibe in Sportbusiness und Diplomatie. Die Fußball-WM im November und Dezember 2022 hebt den kleinen Wüstenstaat Katar endgültig auf die internationale Bühne. Hinzu kommen Milliardeninvestments im Westen und Vorwürfe der Terrorfinanzierung. Brüggmann setzt sich damit ebenso differenziert auseinander wie mit den Themen Korruption und FIFA sowie der Ausbeutung von Gastarbeiter*innen. Er schildert den Wandel und lässt dabei auch Entscheidungsträger aus der katarischen Politik, Vertreter*innen von in- und ausländischen Unternehmen und internationalen Organisationen zu Wort kommen. Ein streitbares und überaus faktenreiches Werk jenseits von Klischees und Vorurteilen.

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Seitenzahl: 320

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MATHIAS BRÜGGMANN

Fußball, Flüssiggas, Finanzimperium

Der märchenhafte Aufstieg des Emirats Katar vom Wüstenstaat zum Global Player

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0639-0 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8012-7044-5 (E-Book)

Copyright © 2022 by

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Ute Lübbeke, Köln

Umschlagillustrationen: iStock/Leontura (Doha);

iStock/Sergii Tverdokhlibov (LNG); iStock/Andreas Lang (Fußball)

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2022

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

DIETZ& DAS

Der Podcast zu Politik, Gesellschaft und Geschichte aus dem Dietz-Verlag

Abrufbar auf allen Podcast-Plattformen

Für meine Eltern, die ein besseres Leben für ihre Kinder wollten und uns vieles ermöglicht haben, das sie nicht bekamen, aber erträumt hatten.

Inhalt

Impressum

Prolog

Energiepartnerschaft und WM als Chance

KAPITEL 1 Die Wüste bebt

Der wundersame Aufstieg eines Mini-Wüstenstaates

Perlenfischer, Piraten und die Ankunft der Al-Thanis

Zwischen Osmanischem Reich und British Empire

Das Ringen ums Öl

Streit im Herrscher-Clan

Nach der Unabhängigkeit tobt der Streit ums Geld

Von der Enttäuschung zum Stolz: Katars Weg zum weltgrößten Flüssiggasexporteur

Wie der Vater, so der Sohn – überraschende Machtübergabe

KAPITEL 2 Kleines Land, große Politik

Tamim – der junge Emir (mit alten Problemen)

Das Majlis-Prinzip

So werden Reichtum und Macht wirklich verteilt

Großer Ärger mit dem großen Bruder Saudi-Arabien: die Blockade

Die Metternichs des Mittleren Ostens ODER: Spielball der Großmächte

»Scheckbuchdiplomatie«: Katar will außenpolitischer Mittler sein und eckt an

Brisante Details: Religion und Terrorfinanzierung

Das Leben der Frauen: Es geht nur schwarz verhüllt, nur Ausländerinnen leben freier

Zwischen Gas und Erneuerbaren: Umweltsünden sollen abgestellt werden

KAPITEL 3 Der große Neid – der Kampf um den Sport

Aufstieg in die internationale Super-Liga: Katar bekommt die Fußball-WM 2022

Rivalen der Rennbahn: Wie arabische Staaten um Großereignisse rangeln

Aspire Academy – Beleg der großen Aspiration

Zum Erzielen von Erfolgen wird oft nachgeholfen

Fußballgroßmächte: »Katar« gegen »Abu Dhabi« – das Ringen um Europas beste Klubs

Von wegen Fair Play – Big Business

Schlacht um den Bildschirm: Im Skandal um denSender beIN Sports gerät die Bundesliga zwischen die Fronten

Mächtiger als der Präsident: die Rolle des Fußballs in arabischen Ländern

Terror im Stadion

KAPITEL 4 Gastgeber, Gastarbeiter, Sklaventreiber

»Ich habe keine Sklaven gesehen«: Tod auf den Baustellen und wie Katar reagiert

Das Leid der anderen: Gastarbeiter in den Golfstaaten

Das Geld der anderen: Die Heimüberweisungen der Migrantinnen und Gastarbeiter halten ganze Staaten über Wasser

Die Tränen der anderen: Die Qualen der Hausmädchen

Eine ganz besondere Familie: Deutsche Helfer in Katars Sport

KAPITEL 5 Großeinkäufe: Wie Katar mit seinen Milliardendeals in die internationale Unternehmenswelt einsteigt

SolarWorld & Co: Die größten Pleiten bei katarischen Engagements

KAPITEL 6 Die MacherInnen am Golf

Qatar Foundation: die Treiberinnen des Wandels

Qatar Energy: die Quelle des Reichtums

Power International Holding: Katars fliegende Kühe

Nasser Al-Khelaifi: Und Geld schießt doch Tore

Satelliten und VW: die Multi-Aufsichtsrätin Hessa Sultan Al Jaber

Qatar Airways: der »Preuße der Lüfte«

Al-Faisal-Holding: der Grandseigneur der Familienunternehmer

Al Jazeera: zwischen Freiheit und Angst

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Über den Autor

Prolog

»Kenntnisse bedeuten nichts ohne Macht«

Geschichte von den drei Äpfeln, Tausendundeine Nacht

Der »Diener« von Doha erregte Deutschland medial: Als der deutsche Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck im März 2022 der katarischen Führung seine Aufwartung machte, verbeugte er sich tief, als ihn der Staatsminister für Energie und CEO von Qatar Energy, Saad bin Sherida Al-Kaabi, begrüßte. Diese Geste des Deutschen rief in den Twitter-Blasen Befremden oder Empörung hervor. Die Fotos fängen »die Situation nicht richtig ein«, man habe sehr selbstbewusst verhandelt, erklärte sich der Grünen-Politiker anschließend.

Zeitenwende: Seit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist Deutschlands Rolle in der Welt erheblich ins Wanken geraten. Bisher vermeintlich sicher und billig versorgt mit russischem Gas, wird die Energieabhängigkeit von Moskau mehr und mehr zum Problem. Die Suche nach Alternativen rückt plötzlich potenzielle Partner in den Mittelpunkt, von denen selbst ein dortiger Herrscher zugibt, dass die allermeisten Menschen es zuvor wohl nicht einmal auf der Landkarte gefunden hätten: Länder wie Katar.

Von der Halbinsel – mit 11.571 Quadratkilometern Fläche gerade einmal gut zwei Drittel so groß wie Habecks Heimat Schleswig-Holstein – war zumindest bis zur Vergabe der Fußball-WM 2022 durch den skandalumwitterten Weltfußballverband FIFA im Jahre 2010 kaum etwas bekannt. Seither hagelt es Vorwürfe: Sklaventreiber, Terrorfinanziers, Ausbeuter, Umweltsünder, Frauenunterdrücker. Die Liste der Vorwürfe gegen Katar ist größer, als ein so kleiner Staat auf der Arabischen Halbinsel vermuten lassen würde. Die Vorhaltungen sind so heftig, dass Habeck in der ihm eigenen Sprache von »Partnern, die ihre Eigenheiten haben«, redet.

Bei einem solchen Land soll Deutschland zum Bittsteller werden? Was die Energieversorgung angeht, ganz sicher. Denn Katar verfügt nach Russland und dem kaum besser beleumundeten Iran – gegen beide sind Sanktionen in Kraft – über die drittgrößten Erdgasvorkommen der Welt. Dohas Staatskonzern Qatar Energy ist der weltgrößte Flüssiggasexporteur. Dieses Gas hat den strategischen Vorteil, dass es nicht durch Pipelines gepumpt werden muss, sondern per Schiff fast überallhin transportiert werden kann. Für das Land ist seine global führende Rolle bei verflüssigtem Erdgas (LNG) so bedeutend, dass ein LNG-Tanker und eine Verflüssigungsanlage sogar den 500-Rial-Schein zieren, die größte Banknote der katarischen Landeswährung.

Für 45 Milliarden Dollar baut Katar seine Gasförderung und -verflüssigung bis 2027 deutlich aus. Zudem ist Qatar Energy an US-Firmen beteiligt, die verflüssigtes Erdgas (LNG) in alle Welt verschiffen, sowie an LNG-Terminals in Europa, wo das durch extreme Kühlung auf ein Sechshundertstel seiner ursprünglichen Größe verflüssigte Gas angelandet und verteilt wird. Wer nach Alternativen zu russischem Erdgas sucht, kommt an Katar kaum vorbei. Das lockte auch Habeck in die Welt von 1001 Nacht. Deutschlands Nachbar Polen hat dies deutlich eher erkannt und im unmittelbar angrenzenden Ostseeort Świnoujście (Swinemünde) mit katarischer Unterstützung ein fast eine Milliarde Euro teures LNG-Importterminal gebaut – und dies schon 2011, also lange vor dem großen Krieg Russlands gegen die Ukraine und der 2014 erfolgten russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim.

2015, in dem Jahr, in dem deutsche und europäische Energieversorgungsunternehmen mit dem vom Kreml kontrollierten Konzern Gazprom und mit dem Segen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Bau der zweiten Ostseegaspipeline Nord Stream 2 vereinbarten, dockte der erste aus Katar kommende Tanker mit Flüssiggas in Świnoujście an. Polen hat sich katarisches LNG bis 2034 gesichert. Deutsche Versorger hatten immer wieder mal mit der katarischen Führung über den Bau eines Terminals an der Elbe verhandelt. Entnervt, so berichten zahlreiche Gesprächspartner in der katarischen Hauptstadt Doha, habe Qatar Energy dann aber aufgegeben und sich andernorts in Europa an LNG-Anlandestellen beteiligt.

Zwar könne Deutschland in Fragen von Energie und Rohstoffen auch künftig nicht nur mit Demokratien zusammenarbeiten, hatte der deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister erkannt. Aber es gebe, wie Habeck am Rande seines Katar-Besuchs formulierte, »zwischen einem nicht demokratischen Staat, bei dem die Situation der Menschenrechte problematisch ist, und einem autoritären Staat, der einen aggressiven, völkerrechtswidrigen Krieg vor unserer Tür führt, noch mal einen Unterschied«.

Damit wird richtigerweise auf die Frage gezielt, ob Länder, die russische Lieferungen ersetzen sollen – wie Katar beim Erdgas oder Saudi-Arabien beim Erdöl –, einen besonderen Reputationstest durchlaufen müssen. Es ist richtig, bei der Auswahl wirtschaftlicher und politischer Partnerinnen und Lieferanten der deutschen Industrie sehr genau hinzuschauen. Menschenrechte, das Verbot von Sklaven- und Kinderarbeit, soziale und ökologische Mindeststandards müssen in Wirtschafts- und Handelsfragen noch viel stärker in den Mittelpunkt rücken. Deshalb ist die Kritik an den oft menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in Katar absolut berechtigt. Aber die Verve, mit der Katars Mängel beäugt werden, seit das kleine Land im Winter 2022 zum großen Nabel der Fußballwelt wurde, legt nahe, dass es in diesem Fall um weit mehr und ganz andere Themen geht als um den Schutz der mehr als zwei Millionen ausländischen Arbeitskräfte auf der Halbinsel.

Denn weder in anderen, deutlich größeren Ländern der Region mit einem Vielfachen an Arbeitsmigranten und inzwischen deutlich schlechteren Bedingungen werden ähnliche Fragen gestellt, bevor deutsche Firmen dort Rohöl oder andere Rohstoffe beziehen und Autos, Aufzüge oder Anlagen verkaufen. Noch wird über das Schicksal der Hunderttausenden von Gastarbeitern aus Zentralasien und dem Kaukasus, die sich auf russischen Baustellen für die Fußball-WM in Russland 2018 und die Olympischen Winterspiele in Sotschi vier Jahre verdingten und um ihre Löhne geprellt und ausgebeutet wurden, auch nur ansatzweise so intensiv berichtet wie über Katar. Obwohl sie in Russland sehr oft beschimpft, rechtlich diskriminiert, von korrupten Polizisten oder Inspekteuren abkassiert und immer wieder zum Spielball der Politik werden: Wenn einer der Nachfolgestaaten der Sowjetunion sich von Moskau abwendet, Kritik am Kreml übt oder zu sehr nach Eigenständigkeit begehrt, werden wie durch einen Zufall die Arbeitsvisa für in Russland schaffende Migranten annulliert. Tausenden dieser Menschen wurden auf den Baustellen der Stadien und Sportanlagen für WM und Olympische Spiele ihre Löhne vorenthalten und vor Anpfiff der Spiele wurden sie kurzerhand außer Landes geschafft. Auch Tote gab es auf den WM- und Olympiabaustellen, nur wurden sie nicht öffentlich gezählt wie im Falle Katars.

Es war auch nichts zu hören über die Bedingungen für die Zehntausenden zumeist asiatischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die die »Expo2020 Dubai« erst aufbauten und dann in brüllender Hitze als Personal auf der Anlage schuften mussten. Die wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschobene Weltausstellung in Dubai zog mit 24 Millionen Besuchern mehr Menschen an, als die FIFA mit 1,5 Millionen Fans für ihre Weltmeisterschaft in Katar erwartet.

Auch über der mit Abstand größten Volkswirtschaft am Golf, Saudi-Arabien, wo sich deutlich mehr Bauarbeiter, Krankenschwestern, Busfahrer und Köchinnen zumeist aus ärmeren arabischen oder asiatischen Ländern verdingen, liegt ein Schleier des Schweigens.

Dieser ist in Katar richtigerweise zerrissen worden. Die menschenunwürdige Behandlung von Bauarbeitern, Hausangestellten, Taxifahrern, Kassiererinnen und Wachleuten in Katar wird offen kritisiert. Ebenso, dass ein Großteil von ihnen quasi kaserniert in der Industrial City am Ausläufer der Hauptstadt Doha untergebracht war (und teilweise noch ist) und dass erst spät akzeptable Wohnanlagen für diejenigen erbaut wurden, die die glitzernden Shoppingmalls, Nobelhotels und künstlichen Inseln errichtet haben. Und dies auch noch oftmals unter der Bedingung, dass sie ihren Arbeitgeber nicht wechseln dürfen und bei Kritik das Land verlassen müssen. Diese Missstände haben zu Recht die Vergabe einer Fußball-WM an Katar hinterfragen lassen oder Proteste auf der Mitgliederversammlung des FC Bayern München gegen den Sponsor Qatar Airways ausgelöst.

Zu einer fairen Bewertung gehört aber, die Fakten zu kennen, die dieses Buch aufzuzeigen sucht. Was wir nicht vergessen sollten: Auch in westlichen Ländern geschah Wandel oft nicht über Nacht. Beispiel Frauenrechte: So durften bei uns Frauen bis 1958 nur mit Zustimmung ihres Ehemanns arbeiten, er durfte ohne ihre Zustimmung ein Arbeitsverhältnis beenden. Und bis 1977 lautete der § 1356 BGB Absatz 1: »[1] Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. [2] Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.« Das Frauenwahlrecht in der Schweiz gibt es erst seit 1971 – dem Jahr, in dem sich Katar aus dem britischen Protektorat in die Unabhängigkeit verabschiedete.

Energiepartnerschaft und WM als Chance

Eine deutsch-katarische Energiepartnerschaft und die Winter-WM sind Chancen, mit einem reformwilligen Land wie Katar im breiten Sinn des Worts ins Geschäft zu kommen. »Wandel durch Handel«, wie die Willy Brandt’sche Ostpolitik in den Nullerjahren fast schon verballhornt wurde, ist für alle erkennbar mit Russland spätestens 2022 krachend gescheitert. Doch warum sollten Länder, die keine großen Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland oder der Europäischen Union unterhalten und von ihnen nicht abhängig sind, sich auf eine Wertediskussion mit Berlin oder Brüssel einlassen? Vertiefte Handelsbeziehungen sind eine Grundlage dafür.

Katar ist ein Musterbeispiel dafür, dass das Brandt’sche Konzept des Wandels durch Annäherung wirkt: Spätestens seit der Vergabe der Fußball-WM an das Land, geriet Katar so sichtbar auf die Bühne, dass lautstarke Kritik aufbrandete und die Frage beantwortet werden musste: Wandel oder Aussitzen? Einflussreiche Menschen in der Führung von Staat und Unternehmen dort haben erkannt, dass Arbeitskräfte mehr sind als ein Kostenfaktor. Dass die Ziele der »Vision 2030« – eine wissensbasierten Wirtschaft für die Zeit nach Öl und Gas aufzubauen – nur erreichbar sind, wenn es dafür qualifizierte und in der Wahl ihrer Arbeitgeber freie Menschen gibt. Dazu taugen weder Arbeitssklaven noch unfreie Menschen. Deshalb hat Katar das Arbeitsrecht reformiert und als erstes Land der Region einen Mindestlohn eingeführt. Dass heute mehr junge katarische Frauen an den (westlichen) Universitäten des Landes studieren und ihre männlichen Verwandten in Sachen Bildung längst überholt haben, ist ein logischer Teil der Reformen.

Wenn Katar mit der Austragung der Fußball-WM den Wunsch einer Vorbildrolle für die 22 arabischen Länder mit ihren mehr als 420 Millionen Bürgerinnen und Einwohnern formuliert, dürfen die begonnenen Reformen nur ein Anfang sein. Denn das Ziel seiner »Vision 2030« hat das vom jungen Emir Tamim bin Hamad Al-Thani als eine Art Fürst absolutistisch beherrschte Katar sicher noch nicht erreicht.

Katar ist ein Land der Widersprüche.

Der neu eingeführte Mindestlohn für ausländische Gastarbeiter liegt bei umgerechnet 275 Dollar, für Kataris beträgt er fast 20-mal so viel.

Nachhaltigkeit ist das wohl am meisten verwendete Wort in Präsentationen von Firmen, Regierungsvertretern und des Staatsfonds Qatar Investment Authority (QIA), der große Anteile an Volkswagen, Siemens, der Deutschen Bank und anderen Unternehmen bei uns besitzt und damit nicht unerheblichen Einfluss hat. Aber das vom einst bettelarmen Land von Perlenfischern zum Land mit dem weltweit höchsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aufgestiegene Katar hat zugleich den mit Abstand größten ökologischen Fußabdruck. Kein anderes Land emittierte pro Kopf so große Mengen an Treibhausgasen. Beim Einsatz erneuerbarer Energien hinkt Katar weit hinter den eigenen Ankündigungen und Versprechen hinterher. Hier ergibt sich eine große Chance für eine beide Seiten begünstigende Energiepartnerschaft zwischen Berlin und Doha. Und während die Qatar Investment Authority auf Einkaufstour geht und Beteiligungen an Firmen mit wohlklingenden Namen à la Porsche, Tiffany’s, Harrods oder Louis Vuitton Moët Hennessy wie Perlen zur Kette aufreiht, dürfen Ausländer bis heute keinen Grund und Boden auf der Halbinsel erwerben – von dem bisschen Land auf der neugeschaffenen Luxus-Insel »The Pearl« und Appartements in der neu gebauten Stadt Lusail einmal abgesehen.

Zu den Widersprüchen zählt auch, dass Katar von seinen Nachbarstaaten heftige Vorwürfe gemacht wurden, islamistische Terrorgruppen zu finanzieren. US-Präsident Joe Biden hingegen empfing im Januar 2022 den katarischen Emir als ersten Regenten aus den Golfstaaten im Weißen Haus. Er adelte Katar als bisher einziges Land mit dem Status des »Major Non-NATO Ally«. Nicht zuletzt, weil es dank des diplomatischen Geschicks der Kataris möglich wurde, im Sommer und Herbst 2021 über 60.000 amerikanische und europäische Militärs und zivile Helfer sowie einige afghanische Ortskräfte aus Afghanistan auszufliegen.

Bidens Anerkennung verstärkte noch die Kabale und Liebe am Golf: Wie in den Märchen aus 1001 Nacht tobt heute am Golf eine Geschichte aus enttäuschter Liebe, neuen Abenteuern und dunklen Intrigen. Denn Katar habe sich von »einem Vasallen Saudi-Arabiens noch vor wenigen Jahrzehnten in einen der reichsten, angesehensten und einflussreichsten Staaten entwickelt«, urteilt der Politikwissenschaftler Mehran Kamrava von der Filiale der Georgetown University in Doha1

Das ruft Neid hervor, führt zu Spannungen und rückt die Golfregion auch sicherheitspolitisch immer wieder in den Fokus. Geopolitisch stehen die arabischen Golfstaaten dort wegen ihrer Energievorkommen und der Rivalität mit dem Iran ohnehin unter Beobachtung. Doch während die sunnitische Vormacht Saudi-Arabien dem schiitisch dominierten Persien spinnefeind ist, versucht sich Katar im Ausgleich und eckt damit bei seinen arabischen Nachbarn immer wieder an.

Katar hat es seit 1995 geschafft, sein Bruttoinlandsprodukt zu vervierundzwanzigfachen. Dieser wirtschaftliche Aufschwung erfolgte während der Herrschaft von Scheich Hamad bin Khalifa Al-Thani bis 2013, als er die Macht friedlich an seinen Sohn, den aktuell herrschenden Emir Tamim bin Hamad Al-Thani, übergab: Der junge Emir führte das Land durch eine dreieinhalbjährige Blockade der arabischen Nachbarstaaten. Was andere Staaten vielleicht aufgerieben hätte, führte im Falle Katars dazu, dass eine noch stärker diversifizierte Wirtschaft entstand und lange angedachte Reformen endlich umgesetzt wurden.

Katar ist heute – bei allen noch vorhandenen Defiziten und einer Gesellschaft, die sich auch selbst noch sucht und finden muss – ein Land, mit dem man weltweit zu rechnen hat: In den Bereichen Energie, Sport, Kultur, Medien, Finanzen und Firmenbeteiligungen, Wirtschaftskooperationen, auf dem Kunstmarkt und in der internationalen Diplomatie.

Wegen seiner »1001 Macht« ist Katar den Rivalen am Golf ein Dorn im Auge. Seinen Einfluss übt es auch über den in der ganzen arabischen Welt empfangbaren Satellitensender Al Jazeera aus, mit diplomatischen Kraftakten wie der Beendigung des Bürgerkriegs im Libanon oder dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan. Vor allem aber über seine gewaltige Marktmacht beim Erdgas. Es nutzt seine Macht auch dazu, die Sportwelt aufzumischen – Beispiele sind die Fußball-WM oder der Kauf des Spitzenklubs Paris Saint-Germain.

Doch die Rivalen aus Riad und Abu Dhabi lassen dieses zur Schau gestellte Selbstbewusstsein nicht unbeantwortet und liefern sich einen Wettlauf um europäische Fußballklubs, Formel-1-Rennen, Sportveranstaltungen oder Serien wie eine eigene Profi-Golftour. Das Milliardengeschäft Sport dient als Lockmittel für Touristen und sorgt für Bekanntheit und Prestige. Auf Neudeutsch »Nation Branding« genannt, die Schaffung eines positiven und bedeutsamen Images für einen Staat. In Katar hat das Engagement im Sport-Business mit der dazugehörigen weltweiten Aufmerksamkeit dazu geführt, dass Druck aufgebaut werden konnte, der beispielsweise grundlegende (Arbeitsrechts-)Reformen erwirkte. Käme es doch noch zu einem Boykott der WM, würde dies nur den Hardlinern am Golf nützen. Denn längst nicht alle in der katarischen Gesellschaft, in der die Einheimischen gerade einmal ein gutes Zehntel der Bevölkerung stellen, haben verstanden, wie wichtig der Wandel ist. So wurde das Kafala genannte System, das ausländische Beschäftigte abhängig machte von einem einzigen Arbeitgeber, abgeschafft. Solche Reformen bringen nach Ansicht konservativer Kreise am Golf nur Kostennachteile im Wettbewerb mit anderen Ländern in der Region und sind deshalb in Katar auch nicht unumstritten.

Dieser Wettbewerb um Standortbedingungen könnte noch zunehmen. Denn wenn die Energiepreise in Europa weiter so rasant steigen wie aktuell und die Politik nichts unternimmt, werden Unternehmen aus energieintensiven Branchen ihre Produktion immer mehr dahin verlagern, wo die Kosten niedrig sind. Und die Golfstaaten haben billige Energie sowohl durch den Reichtum an Öl und Gas als auch durch exzellente Bedingungen für Solarstrom und damit auch für den Export von »grünem Wasserstoff«. Sie haben bisher auch niedrige Lohnkosten dank der vielen arbeitswilligen Menschen vor allem aus Asien und Afrika, die am Golf den Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen. Dabei überweisen sie zumeist mehr Geld in ihre Heimatländer als Entwicklungshilfe aus dem Westen dorthin fließt. Dieser Mix macht es verständlich, dass im Rahmen der Diversifizierung bereits eigene Stahl-, Aluminium- und Chemieunternehmen in den Golfstaaten aufgebaut wurden, die nun auch einen Standort wie Deutschland unter Druck setzen.

Die Golfregion wird in Kürze anders betrachtet werden müssen. Nicht mehr nur als »Tankstelle der Welt«, sondern mehr und mehr als eine Region mit hervorragenden Standortbedingungen und mit dem Willen, eine Wissensgesellschaft zu etablieren sowie in Zukunftstechnologien vorne mitzuspielen.

Katar ist dabei das Land mit dem größten Interesse, mit westlichen Firmen zusammenzuarbeiten und auf Augenhöhe Partnerschaften einzugehen. Dieses Buch soll dazu beitragen, Katar besser kennenzulernen. Es lohnt der Blick hinein in die katarische Gesellschaft, denn nur so verstehen wir die Beweggründe und Ziele dieses im rasanten Wandel befindlichen Landes. Ohne dabei dem Fehler der Verharmloser des Regimes von Wladimir Putin zu verfallen und zu »Katarverstehern« zu werden, die beißende Missstände schlicht ignorieren.

Noch ist Katar uns weitgehend unbekannt. Durch die Fußball-WM 2022 bietet sich die Chance, intensiv in diese geopolitisch und ökonomisch wichtige Weltregion zu schauen. Katar öffnet sich, und wir sollten die Gelegenheit nutzen, genau hinzuschauen. Denn diese Öffnung hat auch Auswirkungen auf uns – die Versorgung mit Energie ist dabei nur 1 von 1001 Aspekten.

Wie rasant sich Katar entwickelt, lässt sich nicht nur an der Einwohnerzahl Dohas ablesen: Als es 1971 mit der Unabhängigkeit des Landes zur Hauptstadt wurde, lebten hier etwa 83.000 Menschen. Besiedelt war nur der südliche Teil der Bucht, wo sich die Stadt mittlerweile an der Uferstraße Corniche entlang zieht und auf 652.000 Einwohnerinnen und Einwohner im Jahr 2022 gewachsen ist. Die Stadt wuchs um den alten Basar, den Souq Waqif, herum, der mir bei meinem ersten Besuch in Doha, Ende der Nullerjahre, als der eindrücklichste der arabischen Golfstaaten erschien. Klein und alt und mit dem Falkner-Klub, vor dem ältere Männer in ihren weißen Dishdashas auf mit weinroten Teppichen bespannten Holzbänken hockten, Zeitung lasen oder über ihre Jagdvögel sprachen. Die Falken sind längst umgezogen in einen anderen Teil des Basars. Denn der Souq wurde immer weiter vergrößert. Im alten arabischen Stil, was die Kataris als Erhalt ihrer Kultur begreifen, andere aber vielleicht als eine Art Disney World bezeichnen würden.

Was geblieben ist trotz all der auf alt gemachten neuen Restaurants und Souvenirläden und Galerien, in denen auf dem Boden hockende Männer Kupferkessel mit kleinen Meißeln verzieren oder mit Goldborten versehene schwarze Umhänge für die weißen Dishdashas nähen, sind die Schubkarren. Sie lehnen in der Mittagshitze an den weißgestrichenen Lehmwänden. Aber nach Sonnenuntergang, wenn arabische Familien im vielleicht einen Quadratkilometer großen Quartier mit engen Gassen einkaufen gehen in den mit bunten Aushängen lockenden Textilgeschäften, nach Curry und Kardamom riechenden Gewürzläden oder über den Vogelmarkt laufen mit seiner breiten Auswahl an Sittichen und Papageien, schieben alte, mit roten Westen bekleidete Männer die Karren für die Einkäufe hinterher. Sie bahnen sich den Weg an großen Pfeffersäcken, Beuteln mit getrockneten Hibiskusblüten und Bergen von Datteln vorbei.

Auf der anderen Seite der Bucht standen oft mehr Baukräne als Hochhäuser, von denen dann aber immer mehr in den Himmel wuchsen. Eine völlig neue Skyline Dohas entstand, von dem weißen Monument einer geöffneten Muschel mit Perle aus gesehen – einem steinernen Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Stadt, die einst ein Hafen für Perlenfischerboote war. Und wie Doha wuchs, so wuchs auch die Bedeutung Katars, das damals kaum jemand kannte und das jetzt mit der Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft und als immer wichtiger werdender Energielieferant selbstbewusst die Weltbühne betritt.

Der Souq Waqif vor dem Zweiten Weltkrieg.

Schubkarren: Alte Überbleibsel auf dem ansonsten völlig modernisierten Souq Waqif.

KAPITEL 1 Die Wüste bebt

»Wisse, dass es kein Leid gibt, dem nicht Freude folgte, kein Unglück, das nicht irgendein Glück nach sich zöge.«

520. Nacht, Tausendundeine Nacht

Der wundersame Aufstieg eines Mini-Wüstenstaates

Die Geschichte eines Übermorgen-Landes am Persischen Golf begann mit einer Enttäuschung. Oder einem Missverständnis. »Als wir vor gut 50 Jahren das North-Dome-Feld vor unserer Küste entdeckten, waren wir traurig. Es war zwar das größte Gasfeld der Welt, aber eben ein Erdgasvorkommen«, erinnert sich Abdullah bin Hamad Al-Attiyah. »Erdgas wollte damals kaum jemand haben, es waren die Jahre der Ölkrise und der rasant steigenden Rohölpreise.« Das war 1971, Katar hatte sich mit seinen damals 115.000 Einwohnern gerade vom Protektorat der Briten gelöst, eine Mitgliedschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten abgelehnt und war unter den skeptischen Augen sowohl der Emiratis wie auch des großen Bruders Saudi-Arabien unabhängig geworden. Und zugleich wurde zusammen mit dem Ölmulti Shell der große Fund unter dem Meeresboden gemacht.

Damals war die gigantische Gasblase, die sich vom Nordzipfel der Halbinsel, die den Staat Katar bildet, durch den Persischen Golf bis hinüber zum Iran zieht, eine große Enttäuschung. Doch nicht nur die Frustration des späteren langjährigen Energieministers, Industrieministers, Vizepremiers und Chefs des »Amiri Diwans«, also quasi eines Kanzleramts für den Emir, hat sich längst gelegt: »Katar ist binnen zweier Jahrzehnte zum weltgrößten Flüssiggasproduzenten auf dem Globus geworden«, strahlt Al-Attiyah, der ein Jahr nach dem Gasfund in den Staatsdienst eintrat – in das Ministerium, das damals noch »Finanzen und Öl« hieß. Er hat dann in seiner politischen Karriere aus dem Fluch einen Segen gemacht.

Schaut der 1952 Geborene aus den Fenstern des Büros seiner nach ihm benannten Stiftung für Energie und nachhaltige Entwicklung im neuen Barzan Tower, so sieht er um sich einen Wald aus Wolkenkratzern im »West Bay« genannten Business- und Regierungsviertel Dohas. Viele sind doppelt so hoch wie sein blau glänzendes 22-stöckiges Hochhaus. Noch 1996, als der damalige Emir ihn zum Chef der Qatar General Petroleum Corporation (heute: Qatar Energy) machte, stand nur am Ende dieses Teils der Bucht von Doha ein einziges hohes Gebäude: das 1979 am Nordende erbaute pyramidenförmige Sheraton Hotel. Damals war kaum ein Gebäude in der Stadt höher als drei Stockwerke. Ende 1996 lieferte Katar das erste Schiff mit verflüssigtem Erdgas (LNG) nach Japan: Damit begann der fast unermessliche Reichtum des kleinen Landes.

Und der Reichtum dürfte noch weiter steigen: Die Gaspreise sind seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 in immer neue Höhen gestiegen. Seither liefern sich vor allem europäische Staaten ein Wettrennen, wem der kleine Golfstaat noch aus seinen Riesenreservoirs Gas liefern kann.

Dabei ist Reichtum dem Land nicht in die Wiege gelegt worden.

Geht es nach der offiziellen Website »visitqatar.qa«, beginnt die Geschichte des künftigen Emirats 1776: Damals sollen sich alle Beduinen-Stämme auf der Halbinsel hinter der neuen Herrscherfamilie der Al-Thanis versammelt haben. Sie stellt bis heute den Emir, also den Herrscher. Doch der Weg in der Geröll- und Kalksteinwüste war steinig.

So datieren erste Zeugnisse menschlicher Besiedlung dort 55.000 Jahre zurück. Und in der Steinzeit war die Gegend von Jägern und Sammlern bewohnt, die damals noch reichlich Wasser fanden. Die erste nachgewiesene menschliche Dauersiedlung auf dem Gebiet des heutigen Katars reicht bis ins 6. Jahrtausend vor Christus zurück: Archäologen gruben Hinterlassenschaften kleiner Gehöfte, Überreste von Steinwerkzeugen und verzierte Keramik-Scherben aus. Sie werden der »Obed-Zeit« im damals südlichen Mesopotamien (dem heutigen Irak) zugeordnet und zeigen die traditionellen Verbindungen zwischen dem Süden des Persischen Golfs und den nördlichen (heute: Iran) und nordwestlichen (Irak, Kuwait) Gegenden. Doch zunehmende Austrocknung zwang die Bewohner seit dem 5. Jahrtausend vor Christus dazu, die Region zu verlassen. Es gibt heute keine Flüsse und kaum Grundwasservorkommen. Die karge und staubtrockene Halbinsel wurde in den folgenden Jahrtausenden der Bronze- und Eisenzeit nur sporadisch besiedelt.

Es sind auch nur wenige Anzeichen für das Christentum im vorislamischen Katar gefunden worden, obwohl es sogar einen Bischof von Katara gab. In Al Wakrah südlich der heutigen Hauptstadt Doha fanden Forscher Mauerrreste eines großen Gebäudes, das als Fundament einer nestorianische Kirche identifiziert wurde. Und auch ein großes Fragment eines Kreuzes wurde zutage gefördert. Der christliche Name jener Zeit für Katar war »Beth Qatraye«.2 628 nach Christus, vier Jahre vor dem Tod des Propheten Mohammed, konvertierte Munzir bin Sawa Al Tamimi, der christliche Herrscher der Region Al Hasa, zu der auch die Halbinsel Katar gehörte, zum Islam.

Perlenfischer, Piraten und die Ankunft der Al-Thanis

Zu dieser Zeit wurde die Halbinsel zu einem Zentrum des Perlenhandels. Dort ertauchte perlmutterne Preziosen wurden auf Handelsschiffen gen Indien und China oder über Euphrat und Tigris hoch nach Europa gebracht. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Hälfte der katarischen Bevölkerung ins Perlengeschäft eingebunden. Von Mai bis September – mit einer kurzen Unterbrechung – fuhren »Jalbut« genannte Boote mit wenig Tiefgang und jeweils 18 Mann Besatzung aufs Meer. In bis zu 50 Tauchgängen täglich ohne Ausrüstung bis auf ein Sammelnetz holten die Fischer Perlen tragende Austern aus der Tiefe. Die al-tawwash genannten Perlenhändler verkauften dann aus Kaffeehäusern, wo sie aus Dallah genannten Kannen mit langem, spitzem Auslauf ihren »Qahwa« (Kaffee) tranken, die wertvollen Perlmutt-Kugeln. Der spätere Emir Katars, Scheich Mohammed bin Thani, sagte 1862: »Wir haben nur einen Herrn – die Perle.«

In Jahrhunderten zuvor hatten die Bewohner vor allem »Königliches Purpur« verkauft, einen aus Stachelschnecken gewonnenen Farbstoff. Für die Herstellung eines Gramms davon mussten etwa 12.000 Schnecken im Wasser gesammelt werden. Große Mengen an Überresten der Tiere wurden von Archäologen gefunden. Die historische Farbgewinnung soll auch dazu geführt haben, dass Katars Staatsflagge purpurn aussieht, auch wenn sie offiziell im Englischen als »maroon« (kastanienbraun) geführt wird.

Doha in den 1940er-Jahren.

Katar aus der Luft: Baustellen in der Wüste, künstliche Inseln und im Hintergrund Lusail und Doha.

Nach 18 Jahren Bauzeit wurde 2019 gegenüber dem Hafen von Doha das imposante Nationalmuseum eröffnet. Wie aus riesigen, ineinander verkeilten, steinernen Diskusscheiben gebildet, türmt sich das Gebäude auf. Es soll eine gigantische Sandrose darstellen, dieses auch bei europäischen Sammlern beliebte Wüsten-Mineral. Die ineinander geschobenen Scheiben machen aus den elf Galerien des Museums ein Labyrinth, wo einige Decken luftige Höhen erreichen und andere enge Nischen bilden. Die Idee des Architekten Jean Nouvel mit den 539 Rundscheiben konnte nur dank einer im Büro des Stararchitekten Frank Gehry entwickelten Software sowie eines Budgets von mehr als 400 Millionen Dollar umgesetzt werden.3

Das Gebäude knüpft bewusst an lokale Formensprache an. Die Ausstellung hinter dem felsartigen Eingang, die bis in die Amtszeit des herrschenden Emirs, Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani führt, bringt ebenfalls die lokale Sicht zum Ausdruck: Die Entstehung Katars, das auf einer dort ausgestellten Karte eines Astronomen und Geografen aus dem 2. Jahrhundert erstmals als »Catara« verzeichnet ist, wird dargestellt als ein Ringen zwischen seinerzeitigen Großmächten wie Portugal, dem Osmanischen Reich und dem British Empire. Vor allem aber als Kampf gegen die von den Nachbarn Bahrain und Saudi-Arabien angestrebte Dominanz oder gar Eroberung der Halbinsel.

Die Portugiesen errichteten zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach Vasco da Gamas Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung und dem Aufstoßen des Seewegs nach Indien am Persischen Golf Forts. Sie erhoben hohe Abgaben auf den Perlenhandel und herrschten faktisch ab 1521 über die Gebiete des heutigen Bahrain und Katar. Parallel weitete aber auch das Osmanische Reich seinen Einfluss auf den arabischen Raum aus. Dreieinhalb Jahrzehnte später schlossen sich die dort lebenden Menschen den Osmanen als Teil ihrer Al-Hasa-Provinz an. Dies geschah zunächst in engem Schulterschluss mit dem Stamm der heutigen Herrscher von Saudi-Arabien, den Al-Sauds.4 1670 mussten sich die Türken erstmals aus diesem Teil der Welt wieder zurückziehen, als arabische Stämme um die Bani Khalid die Region vom Oman bis Kuwait und Basra unter ihre Kontrolle brachten.

In den 1720er-Jahren wanderte auch der Stamm der Al-Thani aus den Oasen um Najd, 150 Kilometer nordwestlich der heutigen saudiarabischen Hauptstadt Riad, auf die Halbinsel Katar. Sie ließen sich zunächst in Sikak ganz im Süden nieder. Um dann nach Zubarah an der Nordspitze, dem Zentrum des Perlenhandels, überzusiedeln. Als in den 1760er- bis 1770er-Jahren die Perser Basra eroberten und später Bahrain besetzten, kamen weitere Stämme, vor allem die Al-Khalifas, nach Zubarah. Die Al-Khalifas wurden bis heute die Herrscherfamilie auf dem benachbarten Inselstaat Bahrain, reklamierten aber nach schweren Kämpfen um Zubarah seit 1782 lange Katar für sich.

Immer wieder kam es zu blutigen Gefechten zwischen den Anhängern der Al-Khalifas und katarischen Stämmen. Vor allem Piraten, die die dortigen verklüfteten Küsten als Unterschlupf nutzen, wollten sich den Al-Khalifas nicht unterordnen. Einer der berüchtigtsten Freibeuter war Rahma bin Jabir al-Jalahimah. Der Erzfeind der Al-Kalifas setzte bei seinen Attacken der Flotte der späteren bahrainische Herrscherfamilie enorm zu, sodass Fischer ständig Leichenteile in ihren Netzen fanden, so viele, dass für Wochen der Verzehr von Fisch eingestellt worden sein soll. Rahmas Körper soll laut James Silk Buckingham, einem englischen Reisenden jener Tage, am Ende ein Zeugnis seiner Kämpfe gewesen sein: Er habe nur noch ein Auge und einen Arm gehabt und trotzdem immer noch mit seinem Dolch heftig zugeschlagen.

Zwischen Osmanischem Reich und British Empire

Nach einem kurzen Intermezzo holländischer und französischer Vorherrschaft am Golf setzte sich vor allem das British Empire mit seiner East India Company am Golf fest. Die Krone in London hatte Indien fest im Griff und Sorge um die Handelswege wegen der Piratenküste am Golf. Die Briten fanden arabische Stammeskriege zu Land noch akzeptabel. Und die gab es seinerzeit immer wieder: Der erste saudische Staat, das Emirat von Diriya, hatte 1787 Katar und Bahrain erobert.

Allerdings gingen die Briten rigoros gegen Piraten vor, die englische Schiffe bedrohten. 1820, zwei Jahre nachdem die Saudis die Macht im Osten der Arabischen Halbinsel zu Lande wieder an die Osmanen verloren hatten, schlossen die Briten deshalb ein erstes Abkommen mit den Scheichs an der Golfküste: Es untersagte Überfälle auf die Handelsmarine und Kidnapping von Sklaven in Afrika. Als sich nicht darangehalten wurde, beschossen die Briten Doha (damals noch: Bidaa) 1821 von ihren Kriegsschiffen aus und zerstörten die Stadt. Eine erneute Verwüstung erlebte Doha 1867, als die bahrainische Flotte angriff. Die dortigen Herrscher, die Al-Khalifas, wollten weiter Abgaben von Katar kassieren.

Es folgten Gegenangriffe der Al-Thanis auf Bahrain ein Jahr später. So sah sich die Kolonialmacht Großbritannien zum Eingreifen im Kampf der zerstrittenen Familien-Stämme gezwungen: 1868 erkannte der »Political Agent« der Briten, Oberst Lewis Pelly, in einem mit Scheich Mohammed bin Thani geschlossenen Abkommen die Eigenständigkeit Katars an. Er zwang dabei die daraufhin nur noch über Bahrain herrschenden Al-Khalifas zu Reparationszahlungen für die Zerstörungen in Doha und bestätigte so die Vorherrschaft der Al-Thanis auf der Halbinsel. Dieser Familienstamm war aber anfangs keineswegs »gesetzt« als Herrscherhaus für Katar: Die Al-Sudans siedelten viel länger dort, die Naim-Stämme waren viel härtere Kämpfer.5 Dennoch konnten die Al-Thanis mit Hilfe der Briten bis Ende des 19. Jahrhunderts die Macht über Katar erringen und verlagerten ihr Machtzentrum von Zubarah nach Doha, das damals 12.000 Einwohner hatte. Die Ausstellung im Nationalmuseum legt indes nahe, dass Mohammed bin Thani die katarischen Stämme hinter sich sammeln konnte. So sieht es die nationale Geschichtsschreibung.

In Doha, wohin Mohammed bin Thani 1848 gezogen war, kassierten die Al-Thanis von den Perlenfischern Abgaben. In anderen Siedlungen nahmen zunächst andere Scheichs den Tauchern und Händlern eine Art Steuer für ihren Schutz ab. London wisse, dass die Al-Thanis nicht über die volle Kontrolle verfügten, schrieb der britische Diplomat und spätere Resident der Briten, J. G. Lorimer, in seiner zunächst geheimen Enzyklopädie »Gazetteer of the Persian Gulf, Oman and Central Arabia«. Doch treu zur britischen Krone standen die Al-Thanis zunächst nicht: 1871 konnte das Osmanische Reich die Vormachtstellung am Golf weitgehend zurückerobern – vor allem an Land, wo die Kataris erbittert und mit Hilfe der Türken gegen eine Vereinnahmung durch die Saudis kämpften, während die Briten weiter die Seewege kontrollierten. Doch die Türken nutzten einen Zwist innerhalb der Al-Thani Stammesfamilie und zogen Mohammeds Sohn Jassim zunächst auf ihre Seite.

Die Flagge des Osmanischen Reichs wehte so in Doha, während andernorts die Vorherrschaft der Engländer fortbestand. Nach dem Tod des Vaters übernahm Jassim 1878 die Macht und benutzte die Osmanen, um Rückeroberungsversuche Bahrains – auch mit Hilfe rivalisierender katarischer Stämme – zurückzuschlagen. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Schlachten. 1893, als die Osmanen Jassim festnehmen wollten, weil er immer wieder auch mit den Briten paktierte und keine Abgaben an die Türken leisten wollte, kam es zur Schlacht bei Waibah. Hier besiegten die Kataris die Osmanen und vertrieben sie.

Scheich Jassim gilt seither als Gründer Katars. Er musste sich neben dem anhaltenden Streit mit Bahrain und saudischen Vereinnahmungsversuchen auch mit einem Angriff des benachbarten Abu Dhabi auseinandersetzen und dabei immer wieder zwischen einer Allianz mit den Briten und Hilfen der Osmanen schwanken.

Erst 1916, nachdem drei Jahre zuvor sein Sohn Abdullah bin Jassim Al-Thani gegen einen konkurrierenden Neffen an die Macht gekommenen war und das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg unterging, verloren die Türken die Kontrolle über Katar. Scheich Abdullah verhandelte mit dem Vereinigten Königreich ein grundlegendes Abkommen. Das Land wurde so zum britischen Protektorat. Katar habe, darauf wird in der Ausstellung in dem wie eine gigantische Sandrose aussehenden Nationalmuseum in Doha besonders hingewiesen, in Verhandlungen erwirkt, dass im Gegensatz zum deutlich früher abgeschlossenen Schutzabkommen mit Bahrain kein britischer Resident als Oberverwalter im Protektoratsgebiet selbst angesiedelt werde.

Mit dem 1916 von Katars Herrscher, der mit »I, Sheikh Abdullahbin-Jasim-bin-Thani« begann,6 persönlich abgeschlossenen Vertrag erkennen die Briten Abdullah als Emir an. Ihm wurde nach der erst 1918 von der britischen Regierung erfolgten Ratifizierung des Abkommens von London der Titel »Companion of the Most Eminent Order of the British Empire« verliehen. Und er bekam die Zusage, dass bei Empfängen für ihn sieben Salut-Schüsse abgefeuert wurden – so viele wie für die Herrscher Kuwaits und Bahrains, aber mehr als für die Herrscher Abu Dhabis (5) und Dubais (3).

Die Briten wussten aber, dass er in der Al-Thani-Sippe umstritten war, und rangen dem Herrscher Kompromisse ab: So durften die Kataris nicht einmal Korrespondenz mit ausländischen Mächten führen ohne das Wissen der Engländer. Sie übernahmen die volle Kontrolle über Katars Außenpolitik im Tausch gegen den militärischen Schutz des Landes. Zugleich durfte das Königreich im Emirat Zölle erheben, aber der Emir behielt die Kontrolle über die Zollstation. Auch verboten die Briten offiziell den Sklavenhandel, allerdings drückten sie mit Rücksicht auf die machtpolitisch fragile Lage von Scheich Abdullah bin Jassim beide Augen zu.7

Bei der Erneuerung des Vertrages und dem Abschluss von Ölkonzessionen 1935 musste der Emir die 1916 ausgeklammerten, aber im Vertrag notierten Artikel 7, 8 und 9 akzeptieren: Sie erlaubten britische Händler in Katar, die Ansiedlung eines britischen Regierungs-Agenten in Doha und die Öffnung eines britischen Post- und Telegrafenamtes (mit in Indien gedruckten britischen Briefmarken). Es wäre doch »schade«, wenn Katar als unabhängiges Land verschwände. So soll der britische Unterhändler Londons Forderungen Nachdruck verliehen haben.8 Im Gegenzug sagten die Briten nach dem 1916 gewährten Schutz von See aus nun auch den landseitigen zu, um mögliche Angriffe zurückzuschlagen.

Das Ringen ums Öl

Katars Herrschern ging es um Schutz vor Eroberung durch andere Mächte. Auch die Briten wollten verhindern, dass der Eroberer von Riad, Abdulaziz Al-Saud, beim Aufbau eines neuen Königreichs Saudi-Arabien Katar einfach eingemeindet. Die Al-Sauds sahen die Halbinsel lange als Teil der Al-Hasa-Provinz an, die mal mit und mal gegen die Osmanen entstanden war. »Sie sind in diesem Jahr von der Pest schwer gezeichnet worden, und dazu kommt noch der finanzielle Ruin, der durch den verheerenden Krieg, der derzeit in Europa tobt, verursacht wird«, fasste der damalige Political Resident am Golf, eine Art Oberaufseher der Briten, 1914 die Lage in Katar in einem Brief zusammen. Darin warnte er vor einer Vereinnahmung durch das sich ausbreitende Reich der Al-Sauds.9

Vor allem ging es sehr schnell um das neue Gold am Golf: 1908 wurde in Persien, dem heutigen Iran, Erdöl gefunden. Seither erhofften sich alle Anrainerstaaten des von den Arabern »Arabischer Golf« und von Iran »Persischer Golf« genannten Meeres einen Schub durch den neuen Schmierstoff der Weltwirtschaft. Dabei führte das Ringen ums Öl zu einer Verschärfung der territorialen Streitigkeiten in der Region und machte die Festlegung territorialer Grenzen notwendig.

Der erste Schritt erfolgte 1922 auf einer Grenzkonferenz im saudischen Uqair, an der auch der Herrscher Abdul-Aziz bin Saud teilnahm. Der britisch-neuseeländische Glücksritter Major Frank Holmes war für den Londoner Konzern Eastern and General Syndicate Ltd. auf der arabischen Halbinsel unterwegs und unter dem Spitznamen »Abu Naft« (Vater des Öls) berüchtigt. Er drängte Saud zum Unterzeichnen einer Ölkonzession, die ohne Grenzziehung auch das Gebiet Katars umfasst hätte. Doch der britische Unterhändler Sir Percy Cox durchschaute den Trick. Er zeichnete eine Linie auf die Karte am Verhandlungstisch, die die Halbinsel Katar vom saudischen Festland trennte.

Die erhoffte »Bonanza« lockte nach Portugiesen, Osmanen und Briten auch die neue Großmacht USA an den Golf. Nach langen Rivalitäten zwischen amerikanischen und britischen Ölfirmen bekam die Anglo-Persian Oil Company (APOC, später: British Petroleum/BP) 1926 einen ersten Erkundungsauftrag in Katar. 1932, als im benachbarten Bahrain von der amerikanischen Standard Oil Company Öl entdeckt wurde, schickte APOC ein neues Explorationsteam. Drei Jahre später bekam die britische Firma einen auf 75 Jahre laufenden Konzessionsvertrag. Im Gegenzug zahlte APOC an Katars Herrscher,