1177 v. Chr. - Eric H. Cline - E-Book

1177 v. Chr. E-Book

Eric H. Cline

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Beschreibung

Wie alles zusammenhängt: Aufstieg und Untergang antiker Hochkulturen Im Jahr 1177 v. Chr. stehen die ersten großen Zivilisationen unserer Menschheit vor dem Ende. Marodierende Seevölker bedrohen Ägypten unter König Ramses III. Wie Dominosteine fallen Mykene, Troja und Milet nach Jahrhunderten des Aufstiegs. Doch was hat wirklich den Kollaps von Kulturen herbeigeführt, die über 2000 Jahre lang ihre Macht und Robustheit bewiesen hatten? Worin lagen die Stärken und die Schwächen eines für damalige Verhältnisse hochgradig vernetzten Wirtschaftsraums? - Faszinierender Einblick in die Geschichte des 15. bis 12. Jahrhunderts v. Chr. - Ein komplexes System: Aufstieg und Fall einer kosmopolitischen Welt - Das Ende der Bronzezeit im Mittelmeer-Raum - Jetzt als Taschenbuch in der Reihe "wbg Paperback" Damals, vor mehr als 3000 Jahren: Krisen in einer globalisierten Welt In seinem internationalen Bestseller erzählt der renommierte Archäologe und Kulturanthropologe Eric H. Cline die Hintergründe eines wichtigen Wendepunkts der Geschichte. Kriege und Flüchtlinge, Klimawandel und Naturkatastrophen, Wirtschaftskollaps und Hungersnöte - die Zusammenhänge zwischen den historischen Ereignissen, die er aufzeigt, erinnern durchaus an die aktuelle Nachrichtenlage. Doch erst die katastrophale Summe all dieser Krisen stürzte die ersten großen Zivilisationen für Jahrhunderte in die Dunkelheit. Folgen Sie Eric H. Cline in eines der spannendsten Kapitel der Menschheitsgeschichte!

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Seitenzahl: 486

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Eric H. Cline

1177 V. CHR.

Der erste Untergangder Zivilisation

Aus dem Englischenvon Cornelius Hartz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Copyright © 2014 by Eric H. ClinePublished by Princeton University Press, 41 William Street, Princeton, New Jersey 08540In the United Kingdom: Princeton University Press, 6 Oxford Street, Woodstock,Oxfordshire OX20 1TW

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.

Sonderausgabe 2018© der deutschen Ausgabe 2015 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Übersetzung: Dr. Cornelius HartzLektorat: Lektorat Hellmayr & BoyxenKarten: Peter Palm, BerlinEinbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am MainSatz: SatzWeise GmbH, Trier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-27330-0

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-74659-0eBook (epub): 978-3-534-74660-6

 

 

 

 

Für James D. Muhly,der sich seit fast einem halben Jahrhundertmit diesen Themen beschäftigtund nicht müde wird,sie seinen Studierenden näherzubringen.

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Inhalt

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Impressum

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

Danksagung

PrologZusammenbruch der Zivilisationen:1177 v. Chr.

Kapitel eins:Akt IArma virumque:das 15. Jahrhundert v. Chr.

Zurück zu den Hyksos

Rückblende: Mesopotamien und die Minoer

Entdeckung der Minoer und Überblick

Zurück nach Ägypten

Hatschepsut und Thutmosis III.

Ägypten und Kanaan in der Schlacht von Megiddo (1479 v. Chr.)

Ägypten und Mitanni

Der Aufstand von Aššuwa in Anatolien

Exkurs: Entdeckung der Hethiter und Überblick

Der Aufstand von Aššuwa und die Achijawa-Frage

Exkurs: Entdeckung der Mykener und Überblick

Ein Trojanischer Krieg vor dem Trojanischen Krieg?

Abschließende Bemerkungen

Kapitel zweiAkt IIÄgypter und Ägäer:das 14. Jahrhundert v. Chr.

Die Ägäische Liste Amenophis’ III.

Die Amarna-Archive

Geschenke und Familienbande

Gold, Katzengold und hochrangige Handelsbeziehungen

Alašija und Assyrien treten auf den Plan

Nofretete und Tutanchamun

Šuppiluliuma I. und die Zannanza-Affäre

Hethiter und Mykener

Kapitel dreiAkt IIIFür Götter und Heimatland:das 13. Jahrhundert v. Chr.

Das Schiff von Uluburun

Sinaranu aus Ugarit

Die Schlacht bei Qadeš und die Folgen

Der Trojanische Krieg

Auslandskontakte und das griechische Festland im 13. Jahrhundert v. Chr.

Der Auszug der Israeliten und die Eroberung Israels

Hethiter, Assyrer, Amurru und Achijawa

Die Hethiter überfallen Zypern

Die Schiffswracks von Kap Iria und Kap Gelidonya

Kapitel vierAkt IVDas Ende einer Ära:das 12. Jahrhundert v. Chr.

Die Entdeckung von Ugarit und Minet el-Beida

Die Handelsbeziehungen von Ugarit und seinen Kaufleuten

Zerstörungen in Nordsyrien

Zerstörungen in Südsyrien und Kanaan

Zerstörungen in Mesopotamien

Zerstörungen in Anatolien

Zerstörungen auf dem griechischen Festland

Zerstörungen auf Zypern

Kämpfe in Ägypten und die Haremsverschwörung

Fazit

Kapitel fünfEine ganze Serie von Katastrophen?

Erdbeben

Klimawandel, Dürre und Hungersnot

Aufstände

Invasoren und der Zusammenbruch des internationalen Handels

Dezentralisierung und der Aufstieg der privaten Kaufleute

Waren es die Seevölker – und wo sind sie eigentlich hin?

Argumente für einen Zusammenbruch des Systems

Überblick über die Möglichkeiten und die Komplexitätstheorie

Epilog

Und was kam danach?

Was wäre, wenn …?

Dramatis Personae

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Illustrationen

Abbildungen

Tabellen

Register

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Wendepunkte haben in der Geschichtsschreibung eine besondere Anziehungskraft. Das Jahr 1945 wird für immer mit dem Ende der dunkelsten Epoche deutscher Geschichte verbunden sein. 1914 sehen wir nicht nur als Jahr des Weltenbrands, sondern auch als Aufbruch in die Moderne. Mit der Entdeckung Amerikas 1492 wird die Welt global. Und im Jahre 476 nach Christus gingen die letzten Reste des fast tausendjährigen Römischen Reichs unter.

Aber das Jahr »1177 vor Christus«? Welches Ereignis, welcher Wendepunkt mag sich mit diesem Jahr verbinden, das einerseits doch so weit zurückliegt und sich trotzdem so exakt datieren lässt und sich damit in eine Reihe mit 476, 1492, 1914 oder 1945 zu stellen scheint?

Die Antwort auf diese Frage ist spannend, aber auch komplex. Wir verdanken sie dem renommierten Archäologen und Kulturanthropologen Eric H. Cline, der uns auf eine faszinierende Reise in die Vergangenheit mitnimmt.

Natürlich weiß der Direktor des Archäologischen Instituts an der George Washington Universität, dass es sich bei der 1177 vor Christus stattgefundenen Schlacht zwischen dem ägyptischen Pharao Ramses III. und den Seevölkern nur um eines von mehreren Ereignissen gehandelt hat, die zu jener Zeit den östlichen Mittelmeerraum und die Zivilisationen der Mykener, Hethiter und Ägypter erschütterten. Die Umwälzungen führten im gesamten anatolisch-ägäischen Raum und darüber hinaus zum Untergang bronzezeitlicher Kulturen, die sich über Jahrhunderte herausgebildet und ein beachtliches Entwicklungsstadium erreicht hatten. Auch der Fall Trojas – uns allen lebendig in den Gesängen Homers – gehört in diesen Kontext.

Was wir nicht wissen und was Generationen von Experten bewegt hat: Wie kam es zum Kollaps von Kulturen, die ihre Robustheit über 2000 Jahre lang ein ums andere Mal unter Beweis gestellt hatten? Worin lagen die Stärken und die Schwächen eines für damalige Verhältnisse hochgradig vernetzten Wirtschaftsraums? Welche minoisch-mykenischen Güter waren von solcher Anziehungskraft, dass sie aus dem heutigen Griechenland in das ägyptische Reich verschifft wurden?

Es wäre vermessen, von Eric Cline auf alle diese Fragen eindeutige Antworten zu erwarten. Sein größter Verdienst ist es jedoch, die verschiedenen modernen Erklärungsansätze zusammenzuführen. Sein Blick beginnt dabei nicht erst mit dem Verfall der betreffenden Kulturen, sondern bereits mit ihrer Blütezeit. So gesehen ist »1177 v. Chr.« von Eric Cline ein Werk, das einen faszinierenden Einblick in die Geschichte des 15. bis 12. Jahrhunderts vor Christus gibt und dabei unsere Neugier auf die kulturellen Errungenschaft einer Zeit lenkt, die uns gestern noch so unendlich fern war.

Hermann Parzinger

Vorwort

Die griechische Wirtschaft ist am Ende. In Libyen, Syrien und Ägypten ist es zu revolutionsartigen Aufständen gekommen, fremde Mächte und ausländische Soldaten gießen Öl ins Feuer. Die Türkei befürchtet, in die Konflikte mit hineingezogen zu werden. Jordanien ist überfüllt mit Flüchtlingen. Der Iran wetzt die Messer und übt sich in Drohgebärden, während es auch im Irak drunter und drüber geht. Sie glauben, dies seien ein paar Schlagzeilen aus den aktuellen Nachrichten? Das stimmt zwar. Aber genauso war die Situation bereits vor mehr als 3000 Jahren, im Jahr 1177 v. Chr., als die Zivilisationen der Bronzezeit rund um das Mittelmeer nacheinander zusammenbrachen und den Lauf der Geschichte für immer veränderten. Es war ein Wendepunkt in der Geschichte – und ein Wendepunkt für die antike Welt.

Die Bronzezeit in der Ägäis, in Ägypten und im Nahen Osten dauerte fast 2000 Jahre, von etwa 3000 v. Chr. bis kurz nach 1200 v. Chr. Als sie nach vielen Jahrhunderten kultureller und technologischer Evolution zu Ende ging, kam es im Großteil der zivilisierten Welt rund um das Mittelmeer zu einem dramatischen Stillstand – in einem Gebiet, das sich von Griechenland und Italien im Westen bis nach Ägypten, Kanaan und Mesopotamien im Osten erstreckte. Große und kleine Reiche, die Jahrhunderte gebraucht hatten, um sich zu entwickeln, zerfielen binnen kurzer Zeit. Es folgte eine Übergangsepoche, die die Forscher früher als erstes »Dunkles Zeitalter« der Weltgeschichte bezeichneten. Erst mehrere Jahrhunderte später kam es in Griechenland und anderen betroffenen Regionen zu einer kulturellen Renaissance, die die Entwicklung unserer heutigen westlichen Gesellschaft in die Wege leitete.

Auch wenn sich dieses Buch in erster Linie dem Zusammenbruch der Zivilisationen der Bronzezeit widmet und den Faktoren, die vor mehr als 3000 Jahren zu diesem Zusammenbruch geführt haben, vermittelt es hoffentlich auch Erfahrungswerte, die für die von Globalisierung und Transnationalisierung geprägten Gesellschaften von heute bedeutend sind. Sicher mag man einwenden, die Welt der späten Bronzezeit ließe sich nur schwerlich mit unserer hochtechnisierten Kultur vergleichen. Dennoch finden wir viele Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Epochen: diplomatische Bemühungen und Wirtschaftsembargos, Entführungen und Lösegelder, ermordete Herrscher, prunkvolle Hochzeiten und unangenehme Scheidungen, internationale Intrigen und vorsätzliche militärische Desinformation, Klimawandel und Dürren und sogar das ein oder andere Schiffswrack. Hier gewisse Ähnlichkeiten zwischen unserer Zeit und den Ereignissen, Menschen und Orten vor mehr als drei Jahrtausenden zu suchen, ist mehr als nur eine akademische Übung.1 Betrachtet man die Welt von heute, ihre globale Wirtschaft, Katastrophen wie den Tsunami in Japan, demokratische Revolutionen wie den »Arabischen Frühling« in Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien und Jemen, wird man feststellen, dass die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den USA und Europa untrennbar mit einem internationalen System vernetzt ist, zu dem auch Ostasien und die erdölproduzierenden Länder des Nahen Ostens gehören. Wenn wir den Scherbenhaufen untersuchen, der beim Zusammenbruch ähnlich miteinander verflochtener Zivilisationen vor mehr als 3000 Jahren übrigblieb, können wir dadurch durchaus wertvolle Erkenntnisse gewinnen.

Solche Zusammenbrüche zu erforschen sowie den Aufstieg und Fall verschiedener Imperien zu vergleichen, ist natürlich an sich nichts Neues. Schon im 18. Jahrhundert hat Edward Gibbon in seinem Standardwerk The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire dasselbe getan; ein Beispiel aus der jüngeren Zeit ist Jared Diamonds Werk Collapse: How Societies Choose to Fail or Suceed.2 Allerdings untersuchten jene Autoren immer nur, wie ein einziges Reich bzw. eine einzige Zivilisation unterging – die Römer, die Maya, die Mongolen usw. Wir wollen hier eine globalisierte Welt betrachten; ein System mit mehreren Zivilisationen, die alle miteinander interagierten und (zumindest teilweise) voneinander abhängig waren. Es gibt nur wenige Fälle in der Weltgeschichte, in denen ein solches globalisiertes System existierte; zu den besten Beispielen dafür gehören tatsächlich die Welt der späten Bronzezeit und die von heute. Die Parallelen zwischen diesen Epochen – besser gesagt, die Vergleichsmomente – sind mitunter wirklich faszinierend.

Ein Beispiel: Die britische Akademikerin Carol Bell stellte erst kürzlich fest, dass »Zinn in der späten Bronzezeit … ähnlich strategisch bedeutend war wie heute das Rohöl«.3 Damals kam Zinn in größeren Mengen lediglich in bestimmten Minen in Badachschan in Afghanistan vor. Das Zinn wurde über Land bis nach Mesopotamien (im heutigen Irak) und in den Norden Syriens transportiert; von dort aus brachte man es weiter nach Norden, Süden und Westen, auch über das Meer bis in die Ägäis. Dazu Bell: »Die Verfügbarkeit von genügend Zinn, um … waffenfähige Bronze herzustellen, muss für den Großkönig in Hattuša und den Pharao in Theben einen ähnlichen Stellenwert gehabt haben, wie heute für den US-Präsidenten die Verfügbarkeit von genügend Benzin für die amerikanischen SUVFahrer.«4

Die Archäologin Susan Sherratt, die früher im Ashmolean Museum in Oxford tätig war und heute an der Universität von Sheffield lehrt, sprach sich vor zehn Jahren erstmalig für einen solchen Vergleich aus. Wie sie feststellte, gibt es einige »wahrlich nützliche Analogien« zwischen der Welt von 1200 v. Chr. und der von heute – dies erstreckt sich u.a. auf eine wachsende politische, soziale und wirtschaftliche Fragmentierung und auf den direkten Austausch »auf einem bislang beispiellosen sozialen Level und über nie gekannte Distanzen hinweg«. Von besonderer Relevanz ist dabei ihre Beobachtung, dass die Situation am Ende der Spätbronzezeit eine Analogie zu unserer eigenen »immer homogeneren und dennoch immer weniger kontrollierbaren globalen Wirtschaft und Kultur« darstellt, in der »politische Unsicherheiten auf der einen Seite der Welt Volkswirtschaften beeinflussen, die sich mehrere tausende Meilen entfernt befinden«.5 Der Historiker Fernand Braudel sagte einst: »Die Geschichte der Bronzezeit bietet Stoff für ein Drama: Sie ist voll von Invasionen, Kriegen, Plünderungen, politischen Katastrophen, Beispielen eines langwierigen wirtschaftlichen Kollapses und den ersten Zusammenstößen zwischen verschiedenen Völkern.« Er wies aber auch darauf hin, dass sich die Geschichte der Bronzezeit »nicht nur als Saga der Dramatik und der Gewalt, sondern auch als Geschichte positiver Kontakte« schreiben ließe, in puncto »Handel, Diplomatie (auch schon zu dieser Zeit) und vor allem Kultur«.6

Braudels Vorschläge habe ich mir zu Herzen genommen, und so möchte ich Ihnen hiermit die Geschichte (oder besser gesagt: Geschichten) der späten Bronzezeit als Schauspiel in vier Akten präsentieren, mit vielen erzählerischen Elementen und diversen Rückblenden, die als Kontext dazu dienen werden, einige der wichtigsten Akteure jener Zeit einzuführen, und zwar jeweils an dem Punkt, wo sie die Bühne der Weltgeschichte betreten: vom Hethiterkönig Tudhalija über Tušratta, den König von Mitanni, und Pharao Amenophis III. von Ägypten bis hin zu Aššur-uballiṭ von Assyrien (ein »Dramatis Personae« betiteltes Glossar hinten im Buch soll dazu dienen, Namen und Daten schnell nachschlagen zu können).

Mitunter bedient sich die Erzählung sogar ein wenig der Stilmittel der Detektivgeschichte – mit unerwarteten Wendungen, falschen Fährten und signifikanten Indizien. Um Hercule Poirot zu zitieren, jenen legendären belgischen Detektiv aus der Feder Agatha Christies (die übrigens selbst mit einem Archäologen verheiratet war7), werden wir unsere »kleinen grauen Zellen« brauchen, um am Ende unserer Chronik die verschiedenen Stränge der Beweisaufnahme miteinander zu verweben, wenn wir versuchen werden, die Frage zu beantworten, warum ein stabiles internationales System plötzlich zusammenbrach, nachdem es mehrere Jahrhunderte lang geblüht hatte.

Um wirklich zu verstehen, was im Jahr 1177 v. Chr. geschah und warum jenes Jahr für die Geschichte des Altertums von so entscheidender Bedeutung war, müssen wir ein wenig früher ansetzen – genau wie man sich für ein echtes Verständnis der globalisierten Welt von heute mit dem 18. Jahrhundert beschäftigen muss, mit dem Höhepunkt des Zeitalters der Aufklärung, mit der Industriellen Revolution und der Gründung der Vereinigten Staaten. Zwar bin ich in erster Linie daran interessiert, die möglichen Ursachen für den Zusammenbruch der Zivilisation der Bronzezeit zu untersuchen, doch zugleich geht es auch stets um die Frage, was die Welt damals verlor, als die großen Reiche des 2. Jahrtausends v. Chr. kollabierten, und in welchem Maße es dadurch in jenem Teil der Welt zu tiefgreifenden zivilisatorischen Veränderungen, ja Rückschritten kam, die teilweise mehrere Jahrhunderte andauerten. Das Ausmaß jener Katastrophe war enorm; es war ein Verlust, wie ihn die Welt nicht mehr erleben sollte, bis das Römische Reich zusammenbrach – über eineinhalb Jahrtausende später.

Danksagung

Ich wollte schon lange ein Buch wie dieses schreiben, daher geht mein Dank in erster Linie an Rob Tempio, der das Projekt auf den Weg gebracht und maßgeblich dazu beigetragen hat, meinem Manuskript über die üblichen Kinderkrankheiten hinwegzuhelfen und es schlussendlich in den Druck geben zu können. Er bewies zudem eine enorme Geduld, als es darum ging, auf das endgültige Manuskript zu warten, denn die ursprünglich vorgesehene Deadline ließ sich nicht ganz einhalten. Ich bin hocherfreut, dass Princeton University Press dieses Werk als ersten Band seiner neuen Reihe Wendepunkte in der Geschichte des Altertums (herausgegeben von Barry Strauss und Rob Tempio) veröffentlicht.

Weiterhin gilt mein Dank dem University Facilitating Fund der George Washington University für ihr Sommerstipendium – sowie zahlreichen Freunden und Kollegen, u.a. Assaf Yasur-Landau, Israel Finkelstein, David Ussishkin, Mario Liverani, Kevin McGeough, Reinhard Jung, Cemal Pulak, Shirly Ben-Dor Evian, Sarah Parcak, Ellen Morris und Jeffrey Blomster, mit denen ich ergiebige Gespräche über viele relevante Themen führen durfte. Besonders möchte ich mich bei Carol Bell, Reinhard Jung, Kevin McGeough, Jana Mynářová, Gareth Roberts, Kim Shelton, Neil Silberman und Assaf Yasur-Landau bedanken, die mir auf Anfrage bestimmtes Material oder detaillierte Antworten auf spezifische Fragen zugesandt haben, sowie bei Randy Helm, Louise Hitchcock, Amanda Podany, Barry Strauss, Jim West und zwei anonymen Gutachtern, die das gesamte Manuskript gelesen und mit Anmerkungen versehen haben. Ich danke der National Geographic Society, dem Oriental Institute der University of Chicago, dem Metropolitan Museum of Art und der Egypt Exploration Society für die Erlaubnis, einige der Bilder, die in diesem Buch auftauchen, abzubilden.

Ein Großteil des Materials in diesem Buch besteht aus meinen eigenen Forschungsergebnissen und Veröffentlichungen zu den internationalen Beziehungen in der späten Bronzezeit, die im Laufe der letzten 20 Jahre oder etwas länger her erschienen sind und die ich hiermit auf den neuesten Stand gebracht und zugunsten einer besseren Lesbarkeit überarbeitet habe; darüber hinaus stelle ich aber selbstverständlich auch die Arbeiten und Schlussfolgerungen vieler anderer Wissenschaftler dar. Mein herzlicher Dank geht daher auch an die Herausgeber und Verleger verschiedener Fachzeitschriften und Sammelbände, in denen einige meiner früheren einschlägigen Artikel und Publikationen erschienen sind, für ihre Erlaubnis, das Material in diesem Buch zu reproduzieren, wenn auch zumeist in veränderter und aktualisierter Form. Dazu gehören u.a. David Davison von Tempus Reparatum/Archaeopress, Jack Meinhardt und die Zeitschrift Archaeology Odyssey, James R. Mathieu und die Zeitschrift Expedition, Virginia Webb und das Annual of the British School at Athens, Mark Cohen und CDL Press, Tom Palaima und Minos, Robert Laffineur und die Aegaeum-Reihe, Ed White und Recorded Books/Modern Scholar, Garrett Brown und die National Geographic Society sowie Angelos Chaniotis und Mark Chavalas. Ich habe versucht, in den Endnoten und der Bibliographie ganz eindeutig die Publikationen zu dokumentieren, in denen meine früheren Beiträge über die hierin bearbeiteten Themen zu finden sind. Sollte ich irgendeine Formulierung oder eine andere Entlehnung aus einer meiner eigenen früheren Veröffentlichungen oder einem Beitrag von jemand anderem zu belegen versäumt haben, so geschah dies gänzlich ohne Absicht und kann gerne in einer späteren Ausgabe korrigiert werden, falls erforderlich. Last, but not least, danke ich meiner Frau Diane für viele anregende Gespräche über einzelne Aspekte dieses Materials.

Sie war es, die mich u.a. in die Analyse sozialer Netzwerke und in die Komplexitätstheorie einführte, und sie entwarf einige der hier verwendeten Abbildungen. Ihr und unseren Kindern möchte ich zudem für die Geduld danken, die sie aufbrachten, während ich an diesem Buch arbeitete. Wie immer hat mein Text enorm von der fachkundigen Redaktion und dem kritischen Feedback meines Vaters, Martin J. Cline, profitiert.

Prolog

Zusammenbruch der Zivilisationen:1177 v. Chr.

Als die Krieger die Bühne der Weltgeschichte betraten, kamen sie schnell voran und brachten Tod und Verwüstung über das Land. Die moderne Wissenschaft nennt sie kollektiv »Seevölker«, aber die Ägypter benutzten diesen Begriff nicht, sondern nannten in ihren Aufzeichnungen stets die einzelnen Gruppen, die zusammen auftraten: Peleset, Tjeker, Šekeleš, Šardana, Danunäer und Wašaš – fremd klingende Namen für fremd aussehende Menschen.1

Abgesehen von diesen Namen verraten uns die ägyptischen Aufzeichnungen nur wenig über sie. Wir wissen nicht genau, woher die Seevölker ursprünglich kamen – nach einem möglichen Szenario vielleicht von Sizilien, Sardinien und aus Italien, vielleicht aber auch aus der Ägäis oder Westanatolien, vielleicht von Zypern oder aus dem östlichen Mittelmeer.2 Es ist noch niemandem gelungen, eine antike Stätte als den Ort ihrer Herkunft oder den Ausgangspunkt ihrer Reisen zu identifizieren. Die Seevölker fuhren unaufhaltsam von Ort zu Ort und überrannten dabei ganze Länder und Königreiche. Glaubt man den ägyptischen Texten, so schlugen sie in Syrien ihr Lager auf, bevor sie die Küste von Kanaan (einen Teil der heutigen Staaten Syrien, Libanon und Israel) überfielen und schließlich ins ägyptische Nildelta vordrangen.

Das geschah 1177 v. Chr., im achten Regierungsjahr von Pharao Ramses III.3 Nach den Aufzeichnungen der Alten Ägypter und neueren archäologischen Befunden fielen einige der Seevölker auf dem Landweg ein, andere über See.4 Sie hatten keine Uniformen, keine aufwändigen Kleider. Alte Bilder zeigen eine Gruppe mit Federschmuck auf dem Kopf, eine andere mit Schädelkappen, wieder andere mit gehörnten Helmen oder ganz ohne Kopfbedeckung. Einige trugen kurze Spitzbärte und kurze Röcke, der Oberkörper nackt oder mit einer Tunika bedeckt, andere hatten keine Bärte und trugen längere, ebenfalls rockähnliche Kleidungsstücke. Diese Beobachtungen legen nahe, dass die Seevölker aus unterschiedlichen Gruppen aus verschiedenen Regionen und verschiedenen Kulturen bestanden. Sie waren mit scharfen Bronzeschwertern, Holzstangen mit glänzenden Metallspitzen sowie mit Pfeil und Bogen bewaffnet und kamen auf Schiffen, Kutschen, Ochsenkarren und Streitwagen. Auch wenn ich hier 1177 v. Chr. als Jahreszahl in den Mittelpunkt rücke, wissen wir, dass die Eindringlinge in Wellen kamen, und das über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg. Manchmal kamen die Krieger allein, manchmal wurden sie von ihren Familien begleitet.

Wie uns die Inschriften des Ramses berichten, gab es kein Land, das in der Lage gewesen wäre, der Masse der Eindringlinge etwas entgegenzusetzen. Jeder Widerstand war zwecklos. Die damaligen Großmächte – die Hethiter, die Mykener, die Kanaaniter, die Zyprer und andere mehr – fielen ihnen eine nach der anderen zum Opfer. Manchen gelang es, nur zu überleben, indem sie vor dem Massaker flohen, andere hausten bald in den Ruinen ihrer einst so stolzen Städte; es gab aber auch Menschen, die sich den Invasoren anschlossen, ihre Anzahl weiter anschwellen ließen und zu der offensichtlichen Vielschichtigkeit des eindringenden Mobs beitrugen. Jede einzelne Gruppe der Seevölker befand sich in Bewegung, die Motivation dafür war aber offenbar recht unterschiedlich. Vielleicht war es der Wunsch nach Beute oder Sklaven, der einige antrieb; andere könnte der demographische Druck dazu gezwungen haben, den Westen zu verlassen und im Osten ihr Glück zu suchen.

An den Mauern seines Totentempels in Medinet Habu, nahe dem Tal der Könige, stehen Ramses’ prägnante Worte:

Die Fremdländischen verschworen sich auf ihren Inseln. Im Kampfgewühl wurden die Länder auf einen Schlag vernichtet. Kein Land hielt ihren Armeen stand, Ḫatti, Qadi, Qarqemiš, Arzawa, Alašija waren [auf einen Schlag] entwurzelt. Sie schlugen an einem Ort im Inneren von Amurru ihr Lager auf. Sie vernichteten die Bewohner und das Land, als habe es nie existiert. Während die Flamme vor ihnen bereitet wurde, kamen sie vorwärts gegen Ägypten. Die Länder Peleset, Tjeker, Šekeleš, Danunäer und Wašaš verbündeten sich. Sie legten Hand an alle Länder bis ans Ende der Welt; ihre Herzen waren zuversichtlich und voller Vertrauen.5

Wir kennen die Orte, die von den Invasoren angeblich überrannt wurden, sie waren im Altertum allesamt berühmte Stätten. Ḫatti war das Land der Hethiter, sein Kernland befand sich auf der Hochebene im Landesinneren von Anatolien in der Nähe des heutigen Ankara; das Reich erstreckte sich von der Küste der Ägäis im Westen bis nach Nordsyrien im Osten. Qadi lag wahrscheinlich im heutigen Südosten der Türkei (möglicherweise handelt es sich um die antike Region Kizzuwatna). Karkemiš ist eine bekannte archäologische Stätte, die von einem Archäologenteam ausgegraben wurde, dem neben Sir Leonard Woolley (den man eher durch die Ausgrabung von Abrahams »Ur in Chaldäa« im Irak kennt) auch Thomas E. Lawrence angehörte (der vor seinen Heldentaten im Ersten Weltkrieg, die ihn am Ende zum Hollywoodhelden »Lawrence von Arabien« machten, in Oxford klassische Archäologie studiert hatte). Das Land Arzawa kannten die Hethiter gut, es lag innerhalb ihres Einflussbereichs in Westanatolien. Alašija könnte die Insel gewesen sein, die wir heute als Zypern kennen – eine Insel mit großen Metallvorkommen, die vor allem für ihr Kupfererz berühmt war. Amurru lag an der Küste Nordsyriens. In den Kapiteln und in den Geschichten, die folgen, werden wir all diesen Orten noch einmal begegnen.

Die sechs Einzelgruppen, aus denen die Seevölker bei dieser Invasionswelle bestanden – die fünf oben von Ramses in der Inschrift in Medinet Habu aufgezählten sowie eine sechste Gruppe, die man Šardana nannte und die in einer weiteren Inschrift erwähnt wird – sind um einiges rätselhafter als die Länder, die sie angeblich überrannten. Sie hinterließen keine eigenen Inschriften, so dass wir sie fast ausschließlich aus ägyptischen Inschriften kennen.6

Abb. 1 Seevölker als Gefangene in Medinet Habu (nach Medinet Habu, Bd. 1, Taf. 44. Mit freundlicher Genehmigung des Oriental Institute der University of Chicago).

Die meisten dieser Gruppen sind auch in archäologischer Hinsicht nur schwer zu fassen, obwohl Archäologen und Philologen genau dies seit fast 100 Jahren immer wieder ganz tapfer versuchen – erst mittels linguistischer Versuche, in jüngerer Zeit dann anhand von Keramik und anderen archäologischen Funden. So hat man zum Beispiel die Danunäer mit Homers Danaern aus der bronzezeitlichen Ägäis identifiziert. Von den Šekeleš nimmt man immer wieder an, dass sie aus dem heutigen Sizilien stammen, die Šardana aus Sardinien – die Basis dieser Annahme ist einerseits die Ähnlichkeit der Konsonanten, andererseits Ramses’ Bemerkung über die »Fremdländischen« von den »Inseln«; bei den Šardana heißt es in Ramses’ Inschriften zudem explizit, sie wohnten »auf See«.7

Diesen Vorschlägen schließen sich allerdings längst nicht alle Wissenschaftler an. Eine ganze Forschungsrichtung ist der Ansicht, die Šekeleš und die Šardana seien gar nicht aus dem westlichen Mittelmeerraum gekommen, sondern aus Gebieten im östlichen Mittelmeer – später, nach dem Sieg der Ägypter, seien sie dann nach Sizilien und Sardinien geflüchtet; so seien diese Regionen überhaupt erst zu ihren Namen gekommen. Dafür spricht die Tatsache, dass die Šardana schon lange vor dem Aufkommen der Seevölker für und auch gegen die Ägypter kämpften. Dagegen spricht, dass Ramses III. erwähnt, die überlebenden Angreifer hätten sich in Ägypten niedergelassen.8

Von allen ausländischen Gruppen, die hier zu jener Zeit aktiv waren, ist es bislang nur bei einer gelungen, sie zu identifizieren. Es gilt als sicher, dass das Seevolk der Peleset mit den Philistern identisch ist, die laut der Bibel von Kreta stammten.9 Die linguistische Identifizierung war so offensichtlich, dass Jean-François Champollion, der die ägyptischen Hieroglyphen entschlüsselte, dies bereits vor 1836 vorgeschlagen hatte; 1899 identifizierten biblische Archäologen in Tell es-Safi, dem biblischen Gath, erstmals bestimmte Keramik- und Architekturstile sowie weiteres Material als »philistisch«.10

Auch wenn wir über Herkunft und Motivation der Angreifer nichts Genaues wissen, können wir doch immerhin feststellen, wie sie aussahen – wir kennen ihre Namen und ihre Gesichter von den Reliefs an den Mauern des Totentempels Ramses’ III. in Medinet Habu. Diese antike Stätte ist reich an Bildern und hieroglyphischen Texten. Rüstungen, Waffen, Kleidung, Schiffe und mit Habseligkeiten beladene Ochsenkarren der Invasoren sind in den Darstellungen deutlich sichtbar, und zwar in einer solchen Detailfülle, dass diverse Wissenschaftler Individuen und sogar Schiffe, die dort abgebildet sind, analysiert haben.11 Es gibt auch weitaus martialischere Bilder: Eines zeigt Invasoren und Ägypter mitten in einer chaotischen Seeschlacht; einige sind eindeutig tot – sie treiben mit dem Kopf nach unten im Wasser –, andere kämpfen weiterhin heftig aus ihren Schiffen heraus.

Seit den 1920er Jahren haben Ägyptologen vom Oriental Institute der University of Chicago die Inschriften und Bilder in Medinet Habu untersucht und sorgfältig kopiert. Dieses Institut war und ist noch heute eine der weltweit führenden Institutionen, wenn es um das Studium der antiken Zivilisationen Ägyptens und des Nahen Ostens geht. Gegründet wurde es von James Henry Breasted nach dessen Rückkehr von einer abenteuerlichen Reise durch den Nahen Osten in den Jahren 1919 und 1920; das Startkapital von 50.000 Dollar stellte John D. Rockefeller Jr. bereit. Archäologen vom OI (wie man es meistens nennt) waren an Ausgrabungen im gesamten Nahen Osten beteiligt, u.a. im Iran und in Ägypten.

Über Breasted und die OI-Projekte, die unter seiner Leitung angestoßen wurden, hat man viel geschrieben, beispielsweise über die Ausgrabungen in Megiddo (dem biblischen Armageddon) in Israel, die von 1925 bis 1939 dauerten.12 Zu den Highlights gehörten mehrere Epigraphik-Surveys in Ägypten, im Rahmen derer hieroglyphische Texte und Szenen, die die Pharaonen in ihren Tempeln und Palästen in ganz Ägypten hinterließen, von Ägyptologen akribisch kopiert wurden – eine unglaublich mühsame Arbeit. Stunden um Stunden standen die Mitarbeiter des Instituts in der prallen Sonne auf Leitern oder hockten auf Gerüsten und versuchten, die längst verblassenden Symbole an Toren, Tempeln und Säulen abzuzeichnen. Dennoch sind die Ergebnisse dieser Bemühungen von geradezu unschätzbarem Wert, vor allem da viele Inschriften seither stark unter der Erosion und dem Ansturm von Touristen gelitten haben. Hätte man diese Inschriften nicht rechtzeitig übertragen, wären sie irgendwann verschwunden und für künftige Generationen verloren. Die Abschriften von Medinet Habu wurden in mehreren Bänden veröffentlicht; der erste erschien 1930, weitere Bände in den 1940er und 50er Jahren.

Zwar diskutiert die Wissenschaft auch weiterhin über die Land- und Seeschlachten an den Mauern von Medinet Habu, aber die meisten Experten sind sich inzwischen einig, dass die dort dargestellten Szenen wahrscheinlich nahezu zeitgleich stattfanden, und zwar entweder im Nildelta oder in der Nähe von Medinet Habu. Es kann gut sein, dass sie eine einzige große Schlacht zeigen, die zugleich an Land und auf See ausgetragen wurde, und einige Forscher haben darauf hingewiesen, hier könne dargestellt sein, wie die Ägypter beide Streitmächte der Seevölker in einen Hinterhalt lockten.13 Das endgültige Ergebnis bezweifelt indes niemand – in Medinet Habu hält der ägyptische Pharao ganz eindeutig fest:

Abb. 2 Seeschlacht mit Seevölkern in Medinet Habu (nach Medinet Habu, Bd. 1, Taf. 37. Mit freundlicher Genehmigung des Oriental Institute der University of Chicago).

Der Same derer, die meine Grenze erreichten, ist ausgelöscht, mit ihren Herzen und ihren Seelen hat es auf ewig ein Ende. Diejenigen, die zusammen über das Meer gekommen waren, erwartete an den Flussmündungen die volle Flamme, während ein Meer aus Lanzen sie am Ufer umgab. Man lockte sie ins Landesinnere, schloss sie ein und tötete sie an der Küste niedergestreckt, schichtete ihre Leichname zu Haufen. Ich habe die Länder dazu gebracht, den Namen Ägyptens nicht auszusprechen; wenn sie in ihrem Land meinen Namen dennoch aussprechen, dann werden sie verbrannt.14

In einem berühmten Dokument, das man als »Großer Papyrus Harris« bezeichnet, führt Ramses dies weiter aus und nennt noch einmal die Namen seiner besiegten Feinde:

Ich stürzte die, die sie von ihrem Land aus überfielen. Ich schlug die Danunäer, die auf ihren Inseln [sind], die Tjeker und die Peleset wurden zu Asche. Die Šardana und Wašaš des Meeres – sie wurden behandelt, als hätten sie nie existiert; einmal nahm man sie fest und brachte sie als Gefangene nach Ägypten, [zahlreich] wie der Sand am Ufer. Ich setzte sie in meinem Namen in Burgen fest. Hunderttausende zählten ihre Klassen. Ich besteuerte sie alle jedes Jahr, in Kleidung und Getreide aus den Lagerhäusern und den Getreidespeichern.15

Dies war nicht das erste Mal, dass die Ägypter gegen die gesammelte Streitmacht der »Seevölker« kämpften: Bereits 30 Jahre zuvor, im Jahr 1207 v. Chr., dem fünften Jahr der Herrschaft des Pharaos Merenptah, hatte eine ähnliche Ansammlung nicht genau identifizierbarer Krieger Ägypten angegriffen. Merenptah ist Kennern des alten Orients vor allem deshalb vertraut, weil er als erster ägyptischer Pharao den Begriff »Israel« verwendete, übrigens in einer Inschrift aus exakt demselben Jahr (1207 v. Chr.). Diese Inschrift markiert zugleich die früheste Verwendung des Namens Israel außerhalb der Bibel. In der pharaonischen Inschrift ist der Name mit einer speziellen Markierung gekennzeichnet, die anzeigt, dass es sich dabei um ein Volk und nicht um einen Ort handelt. Erwähnt wird der Name im Zusammenhang mit einer knappen Beschreibung eines Feldzugs in die Region Kanaan, wo das Volk, das er »Israel« nennt, angesiedelt war.16 Die betreffenden Sätze stehen innerhalb einer viel längeren Inschrift, in der es vornehmlich um Merenptahs langwierige kriegerische Auseinandersetzungen mit den Libyern geht, Ägyptens Nachbarn im Westen. Die Libyer und die Seevölker beanspruchten die Aufmerksamkeit des Pharaos in jenem Jahr weitaus mehr als die Israeliten.

Ein Text aus Heliopolis zum Beispiel, datiert auf »Jahr fünf, Monat zwei der dritten Jahreszeit (zehnter Monat)«, teilt uns mit: »Der elende Anführer Libyens ist [mit] Šekeleš und jedem fremden Land, das ihm beisteht, eingefallen und hat die Grenzen Ägyptens verletzt«.17Den gleichen Wortlaut finden wir in einer anderen Inschrift, die man als »Säule von Kairo« kennt.18 In einer längeren Inschrift in Karnak (dem heutigen Luxor) erfahren wir noch ein paar weitere Einzelheiten zu dieser frühen Angriffswelle der Seevölker. Die einzelnen Gruppen sind darin genau bezeichnet:

[Zu Beginn des Siegs, den seine Majestät im Land Libyen errang, kamen] Ekweš, Tereš, Lukka, Šardana, Šekeleš, alle von Ländern des Nordens, … in der dritten Jahreszeit und sagten: Der elende, gefallene Anführer Libyens … ist mit seinen Bogenschützen – Šardana, Šekeleš, Ekweš, Lukka, Tereš – ins Land der Tehenu eingefallen, wobei er die besten Krieger und jeden einzelnen Kämpfer seines Landes mitnahm

Die Liste der Gefangenen, die aus dem Lande Libyen und von den Ländern, die es mitbrachte, fortgeschafft wurden

Šerden, Šekeleš, Ekweš, die keine Vorhaut hatten, von den Ländern des Meeres:

Šekeleš: 222 Männer,

das ergibt 250 Hände.

Tereš: 742 Männer,

das ergibt 790 Hände.

Šardana: –

[das ergibt] –

[Ek]weš, die keine Vorhaut hatten, wurden erschlagen, ihre Hände wurden weggeführt, (denn) sie hatten keine [Vorhaut] –

Šekeleš und Tereš, die als Feinde Libyens kamen –

218 Männer der Qeheq und Libyer wurden lebend als Gefangene abgeführt.19

Zwei Dinge gehen aus dieser Inschrift eindeutig hervor. Erstens waren an diesem früheren Angriff der Seevölker nicht sechs, sondern fünf Gruppen beteiligt: Šardana (oder Šerden), Šekeleš, Ekweš, Lukka und Tereš; die Šardana und Šekeleš tauchen später zur Zeit Ramses’ III. wieder auf, die anderen drei Gruppen nicht. Zweitens werden die Šardana, Šekeleš und Ekweš ausdrücklich als »von den Ländern des Meeres« identifiziert, und von den fünf Gruppen heißt es kollektiv, sie seien »alle von Ländern des Nordens« gekommen. Letzteres ist nicht allzu überraschend, denn die meisten Länder, mit denen das Land zur Zeit des Neuen Reiches in Kontakt stand, lagen nördlich von Ägypten (außer Nubien und Libyen). Die Identifizierung der Šardana und Šekeleš als »von den Ländern des Meeres« verstärkt die Vermutung, dass sie in irgendeiner Weise mit Sardinien und Sizilien zu tun haben.

Dass auch die Ekweš als »von Ländern des Nordens« kommend genannt werden, hat einige Wissenschaftler zur Annahme verleitet, damit könnten die Achaier Homers gemeint sein, also die Mykener des griechischen Festlandes der Bronzezeit – eben jenes Volk, das Ramses III. in seinen Seevölker-Inschriften zwei Jahrzehnte später vielleicht mit »Danunäer« meinte. Was die letzten beiden Namen betrifft, so akzeptiert die Wissenschaft in der Regel Lukka als Verweis auf ein Volk aus dem Südwesten der Türkei, derjenigen Region, die in der klassischen Zeit »Lykien« hieß. Der Ursprung des Tereš ist ungewiss, vielleicht waren es die italischen Etrusker.20 Viel mehr geben die Inschriften nicht her, und auch über den Schauplatz der Schlacht(en) können wir nur vage Vermutungen anstellen. Merenptah sagt lediglich, der Sieg sei »im Lande Libyen« errungen worden, das er weiter als »Land der Tehenu« definiert. Indes wird ganz klar, dass Merenptah den Sieg für sich beansprucht, denn er listet getötete und gefangengenommene feindliche Krieger sowie ihre »Hände« auf. Damals war es Brauch, den getöteten Feinden eine Hand abzuschneiden und mit nach Hause zu bringen, um die übliche Belohnung für die Tötung eines feindlichen Kämpfers einzustreichen. Erst kürzlich entdeckte man einen grausigen Beweis für diese Praxis aus der Hyksoszeit, etwa 400 Jahre vor Merenptah, in der Form von 16 rechten Händen, die man beim Hyksos-Palast in Avaris im Nildelta in vier Gruben verscharrt hatte.21 Ob alle Angehörigen der Seevölker getötet wurden oder ob einige überlebten, wissen wir nicht – anzunehmen ist jedoch Letzteres, bedenkt man, dass mehrere dieser Gruppen 30 Jahre später zu einer zweiten Invasion zurückkehrten.

Im Jahr 1177 v. Chr., wie bereits 1207 v. Chr., besiegten die Ägypter die Seevölker. Sie kehrten kein drittes Mal nach Ägypten zurück. Ramses war stolz darauf, dass er den Feind »zum Kentern brachte und an Ort und Stelle überwand«: »Ihre Herzen«, schrieb er, »werden ihnen fortgenommen, ihre Seelen fliegen davon. Ihre Waffen sind auf See verstreut.«22 Dennoch war es ein Pyrrhussieg: Obwohl das Ägypten Ramses’ III. die einzige Großmacht war, die dem Ansturm der Seevölker jemals erfolgreich widerstanden hatte, war das ägyptische Neue Reich danach doch nicht mehr dasselbe. Das lag indes an anderen Problemen, denen sich zu jener Zeit wahrscheinlich der gesamte Mittelmeerraum ausgesetzt sah, wie wir im Folgenden sehen werden. Die Pharaonen, die auf Ramses III. folgten und die übrige Zeit des 2. Jahrtausends v. Chr. Ägypten beherrschten, waren damit zufrieden, ein Land zu verwalten, dessen Einfluss und Macht rapide schwanden. Am Ende war Ägypten nicht mehr als ein zweitklassiges Imperium und nur noch ein müder Abklatsch dessen, was es einst gewesen war. Erst unter dem libyschstämmigen Pharao Scheschonq I., der ca. 945 v. Chr. die 22. Dynastie gründete (und der wahrscheinlich mit dem biblischen Pharao Šišak identisch ist23) fand Ägypten wieder ein Stück weit zu seiner alten Form und Geltung zurück.

Außer Ägypten verloren fast alle Länder und Mächte in der Ägäis und im Nahen Osten – die in der späten Bronzezeit den Ton angegeben hatten – im 2. Jahrtausend v. Chr. an Bedeutung und verschwanden von der Bildfläche, entweder unmittelbar oder doch binnen weniger als einem Jahrhundert. Es war, als würde sich die Zivilisation in weiten Teilen dieser Region selbst auslöschen. In riesigen Gebieten, von Griechenland bis nach Mesopotamien, gingen viele, wenn nicht sogar alle zivilisatorischen Fortschritte der vergangenen Jahrhunderte verloren. Eine neue Epoche des Übergangs begann, die mindestens 100, in manchen Regionen vielleicht sogar 300 Jahre dauerte.

Man kann sich gut vorstellen, wie in diesen Ländern damals Angst und Schrecken herrschten. Ein ganz konkretes Beispiel dafür findet sich auf einer Tontafel, in die ein Brief des Königs von Ugarit in Nordsyrien an den (in der Hierarchie über ihm stehenden) König von Zypern eingeritzt ist:

Mein Vater, jetzt sind die Schiffe des Feindes eingetroffen. Sie stecken seither meine Städte in Brand und verwüsten das Land. Weiß mein Vater nicht, dass alle meine Fußtruppen und [Streitwagen] in Ḫatti stationiert sind und dass alle meine Schiffe im Lande der Lukka stationiert sind? Sie sind noch nicht zurückgekommen, daher liegt das Land darnieder. Möge mein Vater Kenntnis von dieser Angelegenheit haben. Jetzt haben uns die sieben Schiffe des Feindes, die gekommen sind, bereits Schaden zugefügt. Falls weitere Schiffe des Feindes auftauchen, sende mir irgendwie einen Bericht, damit ich es weiß.24

Die Forschung ist sich nicht ganz einig, ob die Tafel ihren Adressaten auf Zypern erreicht hat. Die Ausgräber, die die Tafel entdeckten, glaubten, der Brief sei wahrscheinlich gar nicht abgeschickt worden. Es hieß ursprünglich, man habe ihn zusammen mit mehr als 70 anderen Tafeln im Inneren eines Brennofens gefunden – sicherlich wollte man die Tafel brennen, damit sie die Reise nach Zypern besser überstünde.25 Die Ausgräber und andere Gelehrte vermuteten zunächst, dass die feindlichen Schiffe zurückgekehrt waren und die Stadt überfallen hatten, bevor das Hilfeersuchen auf den Weg gebracht werden konnte. So lautet die Geschichte, die die Geschichtsbücher erzählen und die einer ganzen Studentengeneration aufgetischt wurde. Dabei hat man inzwischen herausgefunden, dass die Tafel nicht in einem Brennofen lag und dass es sich (wie wir später sehen werden) nur um eine Kopie des Briefes handelt; einiges spricht dafür, dass das Original tatsächlich nach Zypern geschickt wurde.

Früher gab es in der Forschung die Tendenz, alle solche zerstörerischen Überfälle in jener Epoche den Seevölkern zuzuschreiben.26 Doch ihnen die komplette Schuld für das Ende der Bronzezeit in der Ägäis und im östlichen Mittelmeerraum zugeben, wäre sicherlich vermessen; so viel Macht werden sie kaum gehabt haben. Wir haben aber ohnehin keine eindeutigen Beweise für ihr Wirken, abgesehen von den ägyptischen Texten und Inschriften, die jedoch einen widersprüchlichen Eindruck hinterlassen. Fielen die Seevölker als organisierte Armee ins östliche Mittelmeer ein, im Sinne eines der besser organisierten Kreuzzüge im Mittelalter, die zum Ziel hatten, das Heilige Land zu erobern? Handelte es sich um eine eher locker bzw. schlecht organisierte Bande von Plünderern wie die späteren Wikinger? Oder waren sie Flüchtlinge, die vor einer Naturkatastrophe flohen und neue Orte zum Besiedeln suchten? Soviel wir wissen, könnte die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen – vielleicht war es eine Kombination aller drei oben genannten Aspekte, vielleicht traf aber auch keiner davon zu.

Immerhin: In den letzten Jahrzehnten ist eine Fülle neuer Daten aufgetaucht, die man hier mit berücksichtigen muss.27 So sind wir uns heute durchaus nicht mehr so sicher, dass alle Orte, an denen sich Spuren der Zerstörung fanden, von den Seevölkern heimgesucht wurden. Archäologische Befunde verraten uns zuverlässig, dass eine Stätte zerstört wurde, aber nicht immer wovon oder von wem. Darüber hinaus wurden nicht alle diese Stätten zur selben Zeit zerstört, viele nicht einmal im selben Jahrzehnt. Wie wir sehen werden, erstreckte sich der kumulative Untergang über mehrere Jahrzehnte, vielleicht sogar über ein ganzes Jahrhundert.

Während wir also noch immer nicht genau die Ursache (oder alle Ursachen) dafür kennen, weshalb die Welt der Bronzezeit in Griechenland, Ägypten und dem Nahen Osten zusammenbrach, weist die aktuelle Forschungslage doch eher darauf hin, dass die Schuld nicht allein bei den Seevölkern zu suchen ist. Als wahrscheinlicher gilt, dass sie beim Zusammenbruch der Zivilisationen nicht nur Aggressoren waren, sondern zugleich auch selbst zu den Opfern gehörten.28 Eine Hypothese besagt, dass sie durch eine Verkettung unglücklicher Umstände und Ereignisse gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und nach Osten auszuwandern, während sich die dortigen Königreiche und Imperien bereits im Niedergang befanden. Es ist durchaus möglich, dass sie allein deshalb in der Lage waren, diese Monarchien erfolgreich anzugreifen, eben weil sie bereits im Untergang begriffen und entsprechend geschwächt waren. Insofern könnte man den Seevölkern höchstens vorwerfen, dass sie besonders opportunistisch waren (wie es ein Forscher ausgedrückt hat). Ebenso könnte ihre Besiedlung des östlichen Mittelmeerraums weitaus gesitteter und mit weniger Blutvergießen einhergegangen sein, als man früher angenommen hat. Wir werden diese Möglichkeiten im Folgenden noch näher betrachten.

Jahrzehntelang waren die Seevölker für die Wissenschaft ein willkommener Sündenbock für eine Situation, die weit komplexer war, als man annahm, und für die sie letztlich gar nicht so viel konnten. Jetzt scheint sich das Blatt zu wenden: Mehrere Wissenschaftler haben kürzlich darauf hingewiesen, dass die »Geschichte« der katastrophalen Welle von mutwilliger Zerstörung und/oder Migration, die die Seevölker angeblich über das östliche Mittelmeer brachten, von Gelehrten wie Gaston Maspero, dem berühmten französischen Ägyptologen, in den 1860er und 70er Jahren in die Welt gesetzt wurde und sich bis 1901 in den Köpfen festgesetzt hatte. Dennoch war es niemals mehr als eine bloße Theorie auf Basis epigraphischer Zeugnisse, und sie entstand lange, bevor die zerstörten Stätten tatsächlich ausgegraben wurden. Dabei waren sich selbst die Forscher, die Masperos Annahmen folgten, uneins darüber, welche Richtung die Seevölker einschlugen, nachdem sie von den Ägyptern besiegt worden waren – einige waren der Ansicht, sie seien erst anschließend ins westliche Mittelmeer gefahren und seien gar nicht von dort gekommen.29

Heute herrscht allgemein die Überzeugung, dass die Seevölker (wie wir weiter unten sehen werden) wohl durchaus für einen Teil der Zerstörungen gegen Ende der späten Bronzezeit verantwortlich gewesen sein können. Aber es ist viel wahrscheinlicher, dass eine Verknüpfung natürlicher und menschengemachter Ereignisse – u.a. Klimawandel und Dürre, Erdbebenserien, Revolten und »Systemzusammenbrüche« – eine Kettenreaktion in Gang setzte, die zum Ende jener Epoche führte. Um wirklich zu verstehen, von welcher umwälzenden Bedeutung die Ereignisse um das Jahr 1177 v. Chr. waren, müssen wir zunächst rund 300 Jahre früher ansetzen.

Tab. 1 Im Text erwähnte spätbronzezeitliche Könige Ägyptens und des alten Orients, chronologisch nach Land/Reich.

Tab. 2 Moderne Regionen und ihre (wahrscheinlichen) Namen in der späten Bronzezeit.

Kapitel eins

Akt IArma virumque: das 15. Jahrhundert v. Chr.

Um das Jahr 1477 v. Chr. ordnete der ägyptische Pharao Thutmosis III. den Bau eines großen Palastes mit kunstvollen Fresken an, unweit des Mittelmeeres in der unterägyptischen Stadt Peru-nefer am Nildelta. Um diese Fresken zu malen, beauftragte man minoische Künstler aus dem fernen Kreta, die weit nach Westen über das »Große Grün« (so nannten die Ägypter das Mittelmeer) segeln mussten. Sie schufen Bilder, wie man sie noch nie zuvor in Ägypten gesehen hatte – seltsame Szenen mit Männern, die über Stiere springen, wurden mit Farbe auf den noch feuchten Putz gemalt, eine Technik, bei der die Farben zu einem integralen Bestandteil der Wand werden. Diese neuen, einzigartigen Fresken aus der Ägäis kamen so in Mode, dass man sie bald nicht nur in Ägypten, sondern auch in vielen anderen Palästen entlang der Küste fand – vom Nildelta bis zur Küste von Nordkanaan in Stätten wie Kabri in Israel, Alalach in der Türkei, Qatna in Syrien und Dab’a in Ägypten.1

Peru-nefer, die Stadt im Delta, hat man als das heutige Tellel-Dab’a identifiziert. Ausgegraben wurde die Stätte ab 1966 vom österreichischen Archäologen Manfred Bietak und seinem Team. Die Stadt kannte man zuvor auch als Avaris, die Hauptstadt der Hyksos, der verhassten Invasoren, die ca. 1720 bis 1550 v. Chr. große Teile Ägyptens regierten. Aus Avaris wurde Peru-nefer, eine wichtige ägyptische Metropole, nachdem einer von Thutmosis’ Vorfahren, der Pharao Kamose, die Stadt um 1550 v. Chr. eingenommen hatte. Im Laufe von vier Jahrzehnten brachte Bietak eine einstmals wohlhabende Stadt ans Licht – unter mehreren Metern Sand und Schutt lagen großartige Fresken begraben, zu Beginn der 18. Dynastie (etwa 1450 v. Chr.) geschaffen von Minoern oder lokalen Handwerkern, die von diesen ausgebildet worden waren.2 Diese sind ein gutes Beispiel für die Internationalisierung der Welt des östlichen Mittelmeeres und der Ägäis, die nach der Vertreibung der Hyksos aus Ägypten zusammenzuwachsen begann.

Zurück zu den Hyksos

Die Hyksos waren zum ersten Mal um das Jahr 1720 v. Chr. in Ägypten eingefallen, ein Vierteljahrtausend vor der Zeit Thutmosis’ III. Sie blieben fast 200 Jahre lang dort, bis 1550 v. Chr. Als die Hyksos das Land überrannten, war Ägypten längst eine der etablierten Großmächte des alten Orients. Die Pyramiden von Gizeh waren zu diesem Zeitpunkt bereits fast 1000 Jahre alt; erbaut wurden sie während der 4. Dynastie, im Alten Reich. Der ägyptische Priester Manetho lebte in der viel späteren hellenistischen Epoche, im 3. Jahrhundert v. Chr. Er nannte die Hyksos »Hirtenkönige« – eine Fehlübersetzung des ägyptischen Begriffs hekau khasut, der eigentlich »Häuptlinge aus fremden Ländern« bedeutet. Aus »fremden Ländern« kamen die Hyksos tatsächlich, sie waren Semiten, die aus der Region Kanaan, also aus dem heutigen Israel, Libanon, Syrien und Jordanien, nach Ägypten migrierten. Bereits im 19. Jahrhundert v. Chr. gab es in Ägypten Darstellungen von Semiten, wie auf einer Wandmalerei in einem ägyptischen Grab in Beni Hasan, das »asiatische« Kaufleute und Händler zeigt, die Waren ins Land bringen.3

Mit der Invasion der Hyksos in Ägypten endete die Epoche des Mittleren Reiches (ca. 2134–1720 v. Chr.). Ihren Erfolg verdankten sie wahrscheinlich ihrem Vorsprung in der Waffentechnologie und ihrer Fähigkeit zum Erstschlag, denn sie besaßen Kompositbögen, mit denen sie viel weiter schießen konnten als es mit den traditionellen Bögen der damaligen Zeit möglich war. Zudem besaßen sie Pferdestreitwagen, wie man sie in Ägypten noch nie gesehen hatte.

Von ihrer Hauptstadt Avaris im Nildelta aus herrschten die Hyksos nach der Eroberung fast 200 Jahre lang über Ägypten, von 1720 bis 1550 v. Chr., während der sogenannten Zweiten Zwischenzeit (15.–17. Dynastie).4 Es ist eines der wenigen Male zwischen 3000 und 1200 v. Chr., dass Ägypten von Ausländern regiert wurde.

Geschichten und Inschriften ungefähr vom Ende dieser Zeit, um 1550 v. Chr., nennen einige Schlachten zwischen den Ägyptern und den Hyksos. Eine berichtet über die Auseinandersetzung zwischen zwei Herrschern, den Streit zwischen Apophis und Seqenen-Re. In dieser – höchstwahrscheinlich apokryphen – Geschichte beschwert sich der König der Hyksos, Apophis, er könne nachts nicht schlafen, weil die Flusspferde, die sich der ägyptische König Seqenen-Re in einem Teich halte (der gleichzeitig in einem anderen Teil Ägyptens regierte), so großen Lärm machten. Die Beschwerde ist schon deshalb absurd, weil Seqenen-Res Palast mehrere hundert Kilometer von dem des Apophis entfernt lag – der eine in Oberägypten, der andere in Unterägypten. Der Hyksos-König hätte die Flusspferde also unmöglich hören können, egal wie laut sie waren.5 Doch wir besitzen die Mumie von Seqenen-Re und wissen aufgrund bestimmter Schädelverletzungen, die von einer Streitaxt stammen, dass er im Kampf gefallen sein muss. War es eine Schlacht mit den Hyksos? Das können wir nicht zweifelsfrei sagen; dass Apophis und Seqenen-Re einander bekämpften, ist jedoch durchaus möglich (ob es dabei nun um Flusspferde ging oder nicht).

Wir verfügen auch über eine Inschrift von Pharao Kamose, dem letzten König der 17. Dynastie, der damals von seinem Palast in Theben in Oberägypten aus regierte. Er liefert uns um 1550 v. Chr. ein paar Informationen über die letzte siegreiche Schlacht gegen die Hyksos, die er »Asiaten« nennt:

Abb. 3 »Asiaten« in Beni Hasan (nach Newberry 1893, Taf. xxx/xxxi. Mit freundlicher Genehmigung von der Egypt Exploration Society).

Ich segelte nach Norden, um die Asiaten mit meiner Macht zu besiegen, (…) meine tapfere Armee vor mir wie ein Feuer, (…) die Bogenschützen an der Spitze, um ihre Orte zu zerstören (…) Ich verbrachte die Nacht in meinem Schiff, mein Herz war glücklich; und als der Tag anbrach, stellte ich ihm nach wie einem Falken. Bis zur Frühstückszeit hatte ich ihn gestürzt, seine Mauern zerstört und sein Volk abgeschlachtet und hatte seine Frau hinunter zum Flussufer geschickt. Meine Armee verhielt sich wie Löwen mit ihrer Beute (…) Habseligkeiten, Rinder, Fett, Honig – (…) sie teilten die Gegenstände untereinander auf, mit fröhlichem Herzen.

Von Kamose erfahren wir auch etwas über das Schicksal von Avaris:

Was Avaris an den Zwei Flüssen betrifft, so machte ich es ohne seine Bewohner dem Erdboden gleich; ich zerstörte ihre Städte und verbrannte ihre Häuser für immer zu rötlichen Ruinenhaufen, aufgrund der Zerstörungen, die sie mitten in Ägypten angerichtet hatten: Sie hatten es sich erlaubt, dem Ruf der Asiaten zu folgen; (sie) hatten Ägypten, ihre Herrin, im Stich gelassen!6

Und damit vertrieben die Ägypter die Hyksos aus ihrem Land. Sie flohen zurück nach Retjenu (einer der altägyptischen Namen für das heutige Israel und Syrien; dieselbe Region nannten die Ägypter auch Pa-ka-na-na, Kanaan). Damit wurde gleichzeitig die 18. Dynastie eingeleitet, die Kamoses Bruder Ahmose begründete und mit der die Epoche des – wie wir heute sagen – Neuen Reiches in Ägypten begann.

Avaris und das übrige Ägypten wurden zu jener Zeit wieder aufgebaut, Avaris wurde umbenannt. Zur Zeit von Hatschepsut und Thutmosis III., etwa 60 Jahre später, also um 1500 v. Chr., war es endlich wieder eine blühende Stadt. Jetzt hieß sie Peru-nefer, besaß Paläste mit Fresken im minoischen Stil, die den Stiersprung zeigten und andere Szenen, die deutlich besser in die Ägäis passten als nach Ägypten. Ein Archäologe spekulierte einmal, es habe sogar eine königliche Hochzeit zwischen einem ägyptischen Herrscher und einer minoischen Prinzessin stattgefunden.7 Es gab durchaus eine Reihe ägyptischer Pharaonen der späten 18. und der 19. Dynastie, die Prinzessinnen aus dem Ausland heirateten, in erster Linie, um diplomatische Bande zu knüpfen oder Verträge mit fremden Mächten zu zementieren, wie wir später sehen werden; die minoischen Wandmalereien in Ägypten lassen sich aber auch erklären, ohne politisch motivierte Ehen ins Spiel zu bringen, denn es gibt viele davon unabhängige Hinweise auf Kontakte zwischen dem östlichen Mittelmeer, Ägypten und, in diesem Fall, der Ägäis.

Rückblende: Mesopotamien und die Minoer

Wir wissen dank einer Vielzahl von Daten, u.a. archäologischen Artefakten, Texten und bildlichen Darstellungen, dass die Minoer von der Insel Kreta bereits lange vor ihren Beziehungen zu den ägyptischen Pharaonen des Neuen Reiches mit verschiedenen Regionen des alten Orients in Kontakt standen. Zum Beispiel kennen wir minoische Objekte, die im 18. Jahrhundert v. Chr. über die Ägäis und das östliche Mittelmeer bis ins Zweistromland, das Land zwischen den Flüssen Tigris und Euphrat, gelangten – vor fast 4000 Jahren also.

In der antiken Stätte Mari, westlich vom Euphrat im heutigen Syrien gelegen, fanden französische Archäologen in den 1930er Jahren mehr als 20.000 beschriftete Tontafeln, die solche Artefakte und ihren Handel dokumentieren. Einheimische hatten den Archäologen mitgeteilt, sie hätten einen Mann ohne Kopf gefunden – dieser stellte sich als steinerne Statue heraus, und sie war nur eine von vielen. Darunter befand sich, wie eine Inschrift bewies, das Standbild des Königs einer antiken Stadt.8 Die Tafeln waren mit Texten in Altakkadisch beschrieben und stammten aus einem Archiv mit der königlichen Korrespondenz und anderen, eher banalen Aufzeichnungen zu den Königen von Mari. Einer dieser Könige hieß Zimri-Lim und regierte ca. 1750 v. Chr. Die Tontafeln enthielten alle möglichen Informationen, die für die Verwaltung des Palastes und der Organisation des Reiches notwendig waren, und sie verraten einiges über das Alltagsleben jener Zeit.

Eine Tafel zum Beispiel beschäftigt sich mit dem Eis für Zimri-Lims Erfrischungsgetränke, zu denen Wein, Bier und Drinks aus fermentierter Gerste gehörten, die Granatapfelsaft oder Anis enthielten. Wir wissen, dass er den Bau eines Kühlhauses am Ufer des Euphrat befahl, das dazu dienen sollte, Eis, das im Winter von den schneebedeckten Bergen herangekarrt werden sollte, aufzubewahren, bis man es in den heißen Sommermonaten benötigte. Er behauptete, kein König vor ihm habe jemals ein solches Kühlhaus errichtet, und das mag durchaus der Fall gewesen sein; Getränke mit Eis zu kühlen, war jedoch alles andere als neu in der Region, auch wenn ein König einmal seinen Sohn ermahnen musste, die Diener das Eis doch bitte säubern zu lassen, bevor es im Getränk landete: »Lass sie Eis sammeln! Lass sie es waschen und von Zweigen, Dung und Schmutz befreien!«9

Die Archive enthalten Aufzeichnungen über Handel und Kontakt mit anderen Regionen des Mittelmeeres und des Nahen Ostens, und sie erwähnen ausdrücklich ungewöhnliche Gegenstände, die man erhalten hatte. Wir wissen von diesen Tontafeln auch, dass zwischen den Herrschern von Mari und denen anderer Städte und Königreiche oft Geschenke ausgetauscht wurden und dass die einen Könige mitunter die Dienste der Ärzte, Handwerker, Weber, Musiker und Sänger eines anderen Königs in Anspruch nahmen.10 Zu den Highlights der auf den Tafeln von Mari verzeichneten exotischen Importgegenstände gehören ein Dolch und andere Waffen aus Gold, verziert mit kostbarem Lapislazuli, sowie Kleidung und Textilien, hergestellt »auf kaphtorische Art und Weise«.11Kaphtor (oder Kaptaru) war der mesopotamisch-kanaanitische Name für Kreta, das die Ägypter später Keftiu nannten. Die Objekte mussten von Kreta aus einen weiten Weg zurücklegen; sie waren aufgrund ihrer aufwendigen Verarbeitung und des hochwertigen Materials ohnehin schon Luxusgegenstände, und die lange Reise machte sie noch wertvoller.

Eine Tafel beschreibt eine ziemlich ungewöhnliche Situation: Zimri-Lim, schickte ein Paar im minoischen Kreta gefertigte Schuhe als Geschenk an König Hammurabi von Babylon. Der entsprechende Text lautet schlicht: »Ein Paar Lederschuhe im kaphtorischen Stil, das Bahdi-Lim (ein Beamter) in den Palast von Hammurabi, dem König von Babylon, brachte, die aber zurückgeschickt wurden.«12 Warum Hammurabi die Schuhe verschmähte, wissen wir nicht. Vielleicht passten sie ihm einfach nicht. Hammurabis Gesetzeskodex, in dem sich zum ersten Mal in der Literatur die Phrase »Auge um Auge, Zahn um Zahn« findet, die später durch die Bibel Berühmtheit erlangte, nennt keine Strafe dafür, wenn man Gegenstände wie Schuhe zurückgab.

Eigentlich ist es ein wenig überraschend, dass Hammurabi die Lederschuhe nicht haben wollte, ganz gleich, ob sie ihm nun passten oder nicht. In seiner Region dürften solche ledernen Schuhe nämlich eine ziemliche Seltenheit gewesen sein, bedenkt man, wie weit Kreta von Mesopotamien – mithin das heutige Griechenland von Syrien bzw. dem Irak – entfernt liegt. Eine solche Reise hätte niemand leichtfertig unternommen, und wahrscheinlich wurde sie in mehreren Etappen absolviert, über verschiedene Händler oder Kaufleute, die die Objekte jeweils transportierten. Andererseits waren solche Geschenke zwischen einander ebenbürtigen Königen im alten Orient des 2. Jahrtausends v. Chr. durchaus eine übliche Praxis.13 In solchen Fällen wurden die betreffenden Gegenstände direkt durch einen Abgesandten des Königs überbracht – heute würden wir diesen Vorgang als diplomatische Mission bezeichnen.

Entdeckung der Minoer und Überblick

Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, standen die kretischen Minoer in der Mittel- und Spätbronzezeit, ab mindestens 1800 v. Chr., mit mehreren Regionen im alten Orient in Kontakt. Sogar die Briefe von Mari erwähnen die Minoer und weisen möglicherweise darauf hin, dass es Anfang des 18. Jahrhunderts v. Chr. einen minoischen Dolmetscher (oder auch einen Dolmetscher für die Minoer) im nordsyrischen Ugarit gab; Ugarit ließ sich aus dem östlich gelegenen Mari Zinn schicken.14 Zwischen Ägypten und den Minoern scheint es ab dem 15. Jahrhundert v. Chr., der Zeit von Hatschepsut und Thutmosis III., jedoch eine ganz besondere Beziehung gegeben zu haben – deshalb soll unsere Geschichte nun an diesem Punkt einsetzen.

Die minoische Kultur erhielt ihren Namen interessanterweise erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem britischen Archäologen Sir Arthur Evans. Wie sie sich selbst nannten, ist nicht bekannt, auch wenn wir die Namen kennen, die die Ägypter, Kanaaniter und Mesopotamier ihnen jeweils gaben. Ebenso wenig wissen wir, woher sie kamen – Anatolien in der Türkei gilt heute als wahrscheinlichste Hypothese.

Sicher ist, dass sie im 3. Jahrtausend v. Chr. auf Kreta eine Zivilisation begründeten, die bis ca. 1200 v. Chr. bestand. Mitten in dieser Zeit, etwa um 1700 v. Chr., gab es auf der Insel ein verheerendes Erdbeben, nach dem mehrere Paläste auf der Insel, u.a. der in Knossos, wieder aufgebaut werden mussten. Doch die Minoer erholten sich bald, und ihre Kultur blühte, bis im Laufe des 2. Jahrtausends v. Chr. die Mykener vom griechischen Festland kamen und die Insel eroberten. Danach blieb Kreta unter mykenischer Herrschaft, bis ca. 1200 v. Chr. die Zivilisation auf der Insel zusammenbrach.

Evans begann, auf Kreta zu graben, nachdem er herausgefunden hatte, woher die sogenannten Milchsteine stammten, die man ihm auf dem Markt in Athen verkauft hatte. Griechinnen, die gerade entbunden hatten oder kurz vor der Entbindung standen, trugen damals solche Steine um den Hals. Darin waren Symbole eingraviert, die Evans noch nie gesehen hatte, die er aber als Schrift identifizierte. Es gelang ihm, ihre Herkunft bis in die Nähe der modernen Großstadt Heraklion auf Kreta zurückzuverfolgen, wo am Hügel Kephala die Stätte von Knossos verborgen lag. Schon früher hatte Heinrich Schliemann, der Ausgräber von Troja, versucht, das Grundstück zu kaufen und dort zu graben, allerdings vergebens. Evans hatte mehr Erfolg: Er kaufte das Land und begann im März 1900 mit den Ausgrabungen. Diese dauerten mehrere Jahrzehnte, und er investierte dabei den Großteil seines Privatvermögens. Am Ende veröffentlichte er seine Funde und Erkenntnisse in einem umfangreichen mehrbändigen Werk mit dem Titel The Palace of Minos at Knossos.15

Unterstützt von seinem vertrauten schottischen Assistenten Duncan Mackenzie16 entdeckte Evans einen Palast, der nur einem König gehört haben konnte. Prompt taufte er die neu entdeckte Zivilisation »minoisch«, nach dem mythischen König Minos, der, wie es hieß, Kreta in der Antike regiert hatte und in den labyrinthischen unterirdischen Gängen seines Palastes den Minotaurus (halb Mensch, halb Stier) eingesperrt hatte. Evans fand zahlreiche Tontafeln und andere Objekte mit Schrift darauf, in Linear A (noch nicht entziffert) und in Linear B (einer Frühform des Griechischen, die wahrscheinlich die Mykener mit nach Kreta brachten). Er fand jedoch nie heraus, wie sich diese Menschen selbst nannten. Bis heute wissen wir das nicht – trotz über 100 Jahre andauernder Ausgrabungen sowohl in Knossos als auch an vielen anderen Orten auf Kreta.17

Evans entdeckte in Knossos zahlreiche aus Ägypten und dem Nahen Osten importierte Gegenstände, nicht zuletzt einen Gefäßdeckel aus Alabaster mit Hieroglyphen darauf, die besagten: »der gute Gott, Seweserenre, Sohn des Re, Chajan«.18 Chajan war einer der bekanntesten Hyksos-Könige und regierte zu Beginn des 16. Jahrhunderts v. Chr. Objekte von ihm fand man im gesamten alten Orient, aber wie dieser Deckel nach Kreta kam, ist noch immer ein Rätsel.

Von Interesse ist hier eine ägyptische Alabastervase, die ein anderer Archäologe viele Jahre später in einem Grab in Katsamba ausgrub, einer Hafenstadt an der Nordküste Kretas mit Verbindungen zu Knossos. Sie trägt den Königsnamen des Thutmosis III.: »der gute Gott Men-cheper-re, Sohn des Re, Thutmosis, vollkommen in der Verwandlung«. Es ist eines der ganz wenigen in der Ägäis gefundenen Objekte, die seinen Namen tragen.19 Der griechische Historiker des 5. Jahrhunderts v. Chr. Thukydides behauptete, die Minoer hätten eine eigene Flotte besessen und zu jener Zeit das Meer beherrscht: »Minos war der Erste, von dem wir hören, dass er eine Flotte besaß, die das heute ›hellenisch‹ genannte Meer weithin beherrschte« (Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, 1. 3–8).

Evans’ Nachfolger in Knossos war John Devitt Stringfellow Pendlebury. Er interessierte sich sehr für die möglichen Beziehungen zwischen Ägypten und Kreta; neben Knossos grub er auch regelmäßig im ägyptischen Amarna (der Hauptstadt Echnatons, die wir im Folgenden noch kennenlernen werden). Pendlebury veröffentlichte auch eine Monographie über das Thema, mit dem Titel Aegyptiaca. Darin versammelte und katalogisierte er alle ägyptischen Importe, die man in Knossos und anderswo auf der Insel gefunden hat. Wenig später, im Jahr 1941, wurde er von Fallschirmjägern erschossen, als die Deutschen Kreta überfielen.21