Nach 1177 v. Chr. - Eric H. Cline - E-Book
SONDERANGEBOT

Nach 1177 v. Chr. E-Book

Eric H. Cline

0,0
24,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 21,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Eric H. Cline knüpft mit seinem neuen Buch an seinen internationalen Bestseller »1177 v. Chr.« an. Nach dem Untergang der bronzezeitlichen Reiche im östlichen Mittelmeer geht es um die neue Welt, die nach dem Ende der Bronzezeit entsteht. War es wirklich ein Dunkles Zeitalter? Cline zeigt, wie die Karten der Macht neu gemischt werden. Wie sich aus der Asche der alten Welt eine Epoche mit bahnbrechenden Erfindungen erhebt. Das erste Alphabet entsteht. Bei den Werkstoffen setzt sich das Eisen durch, das dem neuen Zeitalter seinen Namen gibt: Eisenzeit.  Clines Geschichte spannt den Bogen vom ausgehenden 12. Jh. v. Chr. bis zum Wiederaufstieg Griechenlands und den ersten Olympischen Spielen 776 v. Chr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titelseite

ERIC H. CLINE

Nach 1177 v. Chr.

Wie Zivilisationen überleben

Aus dem Englischen von Jörg Fündling

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel After 1177 B.C. The Survival of Civilizations bei Princeton University Press, 41 William Street, Princeton, New Jersey 08540; in Großbritannien: 99 Banbury Road, Oxford OX2 6JX© 2024 by Princeton University Press

wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH.

Für die deutschsprachige Ausgabe:© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Lektorat: Wanda Löwe, BerlinUmschlaggestaltung: Herder Verlag nach dem Designder Originalausgabe von Karl SpurzemUmschlagmotiv: Joseph Mallord William Turner (1775‒1851),The Decline of the Carthaginian Empire, 1851. © akg-imagesAlle Karten im Buch: Michele Angel

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print: 978-3-534-61002-0ISBN E-Book (EPUB): 978-3-534-61022-8ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61021-1

FürDiane Harris ClineAltertumswissenschaftlerin und Cellistin

Inhalt

VORWORT»It’s the End of the World as We Know It« (… and I Don’t Feel Fine)
PROLOGWillkommen in der Eisenzeit
War es wirklich ein Dunkles Zeitalter?
KAPITEL 1Das Jahr der Hyänen, als die Menschen verhungerten Ägypten, Israel und die südliche Levante
Sturm im Mumiental Ägypten während der 21. Dynastie
Israeliten und Philister
König David
Edom und die Edomiter
Khirbet Qeiyafa und Tel Gezer
Pharao Siamun und die Cachette von Deir el-Bahari
Salomo in Megiddo und Jerusalem
Scheschonq/Schischak
Bienenfleißig
Scheschonqs Nachfolger
Resümee
KAPITEL 2Eroberer aller Länder, Rächer Assyriens Assyrien und Babylonien
Tiglatpileser I.
Hier lebt niemand mehr
Assyrien und Babylonien im 10. Jahrhundert v. Chr.
Hormudz Rassam und die Tore von Balawat
Wiederaufstieg der Assyrer
Salmanassar III.
Die Schlacht von Qarqar
Hasaël und Jehu
Klare Verhältnisse schaffen
Resümee
KAPITEL 3Das Mittelmeer wird zum phönizischen Binnenmeer Phönizien und Zypern
Zypern und die Umstellung auf die Eisenverarbeitung
»Kriegerbestattungen« und der Obelos des Opheltas
Unternehmungslustige Phönizier im 11. Jahrhundert
Phönizisches Gebiet und Kontakte zu anderen Küsten
Phönizier, Zyprer und Griechen
Könige von Byblos und Tyros
Anhaltende Kontakte im 9. und 8. Jahrhundert v. Chr.
Resümee
KAPITEL 4König des Landes Karkemiš Anatolien und Nordsyrien
Hethiter und Neuhethiter
Neuhethiter in Tayinat und Karkemiš
Das Land Urartu
Salmanassar III. und die nördliche Levante
Salmanassar III. und die Landesherren von Karkemiš
Resümee
KAPITEL 5Im Schatten der Palastruinen Ägäis
Inzwischen auf Kreta
Die Ankunft des Alphabets
Noch einmal »Kriegerbestattungen«
Der Heros von Lefkandi
Die reiche Athener Dame und andere Bestattungen
Späte Resilienz und Anpassung
Resümee
KAPITEL 6Vom Kollaps zur Resilienz
Ein Sinn für Enden und Anfänge
Der adaptive Zyklus und die Berichte des Weltklimarats (IPCC)
Kategorien und Ranglisten
Andere Kategorien?
Verwundbarkeit, Fragilität und Resilienztheorie
Kollaps und Transformation
Mykener oder Phönizier?
EPILOGEnde eines Dunklen Zeitalters
Nachwort und Dank
Über den Autor
Im Text erwähnte Könige und Herrschaftszeiten
Die Personen der Handlung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Anmerkungen

Jemand hat mal gesagt, seine Lieblingsepochen in derGeschichte seien die, in denen alles zusammenbrach,weil dann etwas Neues geboren wurde.

Julian Barnes, The Sense of an Ending(Vom Ende einer Geschichte, 2011)

VORWORT »It’s the End of the World as We Know It« (… and I Don’t Feel Fine)

Dieses Buch begann ich eines frühen Morgens im Februar 2019 auf dem Balkon einer Mietwohnung im kretischen Rethymnon zu schreiben. Dort waren wir, weil das Fulbright-Stipendium meiner Frau Diane für ihre Lehrtätigkeit an der Universität Kreta begann. Ich hatte mir an unserer Heimatuniversität ein Freisemester gesichert, damit ich sie begleiten konnte; nun genossen wir die schwache Wintersonne und besuchten vertraute archäologische Fundorte, ehe Dianes Seminare begannen. Außerdem staunten wir, wie allgegenwärtig die Antike im Marketing der Gegenwart ist ‒ auf Bildern hielt Ariadne ein Wollknäuel und sprangen Menschen der minoischen Zeit über Stiere. Das wäre noch keine große Überraschung gewesen, nur schmückten diese Szenen die Seitenwände eines verstaubten Kühlschranks voller Cola, der vor einem Laden in einer Gasse tief im Herzen der Altstadt stand.

An diesem besonderen Morgen war es still und friedlich. Vor mir ging die Sonne über Homers geliebtem Mittelmeer auf, links von mir erhoben sich in der Ferne die schneebedeckten Gipfel der Weißen Berge. Die Welt schien in Ordnung zu sein, während ich an meinem Kaffee nippte und durchs Internet surfte, online Zeitung und Zeitschriften las und mit halbem Ohr die gestreamten Nachrichten hörte.

Abb. 1: Coca-Cola-Automat in Rethymnon, Kreta (Foto: E. H. Cline).

Dann begann ich genauer zuzuhören, was die BBC berichtete. Gewarnt wurde dort vor dem möglichen Zusammenbruch unserer heutigen Zivilisation mit freundlicher Hilfe einer Vielzahl wechselwirkender Faktoren vom Klima bis zur Wirtschaft. Einer Studie zufolge, die gerade erschienen war und die die Journalisten jetzt hastig zusammenfassten, könnten sie bald zu »ökonomischer Instabilität, erzwungenen Migrationsbewegungen großen Ausmaßes, Konflikten, Hungersnöten und potenziell zum Kollaps sozialer und ökonomischer Systeme führen«.1

Es war fast auf den Tag genau fünf Jahre her, dass ich 1177 v. Chr. Der erste Untergang der Zivilisation herausgebracht hatte, ein Buch, das die Ursachen jenes Zusammenbruchs untersuchte, der vor über 3000 Jahren in der Ägäis und im Ostmittelmeerraum am Ende der Bronzezeit stattfand.2 Darin beschrieb ich, wie das Leben in diesen Regionen ‒ modern gesprochen, vom heutigen Griechenland bis zum Iran und Irak und von der Türkei bis nach Ägypten ‒ im 15.‒12. Jahrhundert v. Chr. aussah. Ich beschrieb die damaligen G8 ‒ Mykener, Minoer, Hethiter, Zyprer, Kanaaniter, Ägypter, Assyrer und Babylonier ‒ und untersuchte anschließend die möglichen Ursachen jenes Zusammenbruchs, der ihrer internationalisierten Welt ein Ende gemacht hatte, obwohl es weitgehend immer noch ein Rätsel ist, wie genau es dazu kam und warum es so rasch und umfassend geschah.

Zu den möglichen Faktoren und Ursachen, die ich behandelte (einschließlich der ausführlicheren Version in der überarbeiteten und erweiterten Ausgabe von 2021), zählten Klimawandel, Dürre, Hungersnöte, Erdbeben, Invasionen und Seuchen. Ich kam zu dem Schluss, dass keiner dieser Faktoren für sich allein katastrophal genug gewesen wäre, auch nur eine bronzezeitliche Zivilisation in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer zu zerstören, geschweige denn alle. Eine Kombination aus allen, vielen oder der Mehrzahl dieser Effekte jedoch hätte einen regelrechten Sturm aus Schicksalsschlägen mit Multiplikator- und Dominoeffekten erzeugt, der zum schnellen Zerfall einer Gesellschaft nach der anderen geführt haben könnte ‒ teilweise deshalb, weil das globalisierte Netzwerk im Mittelmeerraum zerbrach und damit auch die Wechselbeziehungen, von denen jede Zivilisation abhängig war. Damals zog ich das Fazit: »Kurz gesagt konnten die blühenden Kulturen und Völker der Bronzezeit […] den Ansturm so vieler Stressfaktoren auf einmal schlicht nicht überleben.«3

***

Kreta ist einer der Orte, an denen die Zivilisation praktisch zusammenbrach und jene fortgeschrittene Gesellschaft, die wir als minoisch bezeichnen, am Ende der Bronzezeit so gut wie verschwand und durch eine neue Form ersetzt wurde. Auch die Mykener auf dem nahe gelegenen griechischen Festland, das als Heimat von Achilleus, Odysseus, Aias und der in Ilias und Odyssee beschriebenen griechischen Staaten bekannt ist, überlebten nicht ‒ oder zumindest nicht ihre Gesellschaft und Kultur. Niemand behauptet heute, minoisch oder mykenisch zu sein. Darum war ich von den Nachrichten an jenem Tag ziemlich bestürzt ‒ sie trafen mich, könnte man sagen, mit einer besonderen Note von »zukünftigem Déjà-vu«, schließlich machen nun wir uns Sorgen, dass uns und unserer globalisierten Welt vielleicht ein katastrophaler Zusammenbruch bevorsteht. Das Ende der Welt, wie wir sie kennen ‒ wie R.E.M. einst sangen ‒, könnte das zwar durchaus sein, aber mir war echt nicht gut dabei zumute. Wenn uns wirklich ein weiterer Zusammenbruch bevorsteht, dachte ich mir, ist es dann zu früh, sich Gedanken über den Wiederaufbau zu machen? Wird der überhaupt möglich sein?

Daneben fragte ich mich, wie es wohl damals für die Menschen war, als ihre bronzezeitliche Welt zusammenbrach. Was machte hinterher jedes dieser Gebiete und die Menschen darin ‒ oder was machten sie je nachdem auch nicht ‒ aus der oder den Situationen, in denen sie sich wiederfanden? Wusste damals irgendjemand, dass man mitten in einem Kollaps steckte?4 Wie formierten sie sich neu und erholten sich, sofern sie das denn taten? Waren sie resilient? Wandelten sie sich? Oder gingen sie einfach unter und wurden durch neue Staaten, neue Gesellschaften ersetzt?

An solchen Themen bin nicht nur ich interessiert. In den letzten Jahren haben sich andere Archäologen und Althistorikerinnen darangemacht, der Frage gründlicher nachzugehen, was nach einem Zusammenbruch geschieht ‒ nicht nur im Fall des Zusammenbruchs der spätbronzezeitlichen Kulturen, sondern mit Blick auf jede Menge anderer Gesellschaften und Zivilisationen der letzten Jahrtausende, die einem jähen Verfall unterlagen, ob vollständig oder teilweise. Diese Fälle reichen von der Harappa-Kultur im Industal vor 4000 Jahren über die Römer in Italien am Ende der Antike bis zu den Maya im Mittelamerika des 9. Jahrhunderts n. Chr. und noch vielen anderen. Manche überlebten nicht, anderen dagegen gelang irgendwie der Übergang und sie konnten sich erfolgreich wieder festigen oder neu erfinden.5

Zu den Begriffen, die heute in die Debatte geworfen werden, wenn man das Überleben von Krisen in der Gegenwart beschreibt, zählen »Coping«, »Anpassung«, »Transition« und »Wandel«. Besonders beliebt geworden ist das Wort »Resilienz«, denn inzwischen ist klar, dass, wie ein Forscherpaar gesagt hat, »Kollaps und Resilienz zwei Seiten derselben Medaille sind; ein Kollaps tritt ein, wenn die Resilienz verloren geht, und resiliente Systeme brechen mit geringerer Wahrscheinlichkeit zusammen«. Der Princetoner Historiker John Haldon und seine Kolleginnen haben darauf hingewiesen, dass es von drei Umständen abhängt, wie Gesellschaften der Vergangenheit auf Stress reagiert haben: von ihrer Komplexität, ihrer Flexibilität und ihrer systemischen Redundanz; »alles zusammen bestimmt die Resilienz des Systems«.6

***

Das alles prägte sich mir rund acht Monate nach unserer Rückkehr aus Kreta noch tiefer ein, im Winter und Frühjahr 2020, als die Covid-19-Pandemie die Vereinigten Staaten traf und sich nach dem Tod von George Floyd Jr. die Black-Lives-Matter-Proteste auf das ganze Land ausweiteten. Den ganzen Sommer und Herbst hielten die Demonstrationen an und verliefen teils friedlich, schlugen teils aber auch durch Protestgegner und das Vorgehen der Bundespolizei in Gewalt um.

Ein Jahr später war die Lage, obwohl es nun einen neuen US-Präsidenten gab, nicht besser. Im August 2021 publizierten die Vereinten Nationen einen extrem pessimistischen Bericht zum Klimawandel und der Nationale Rat der US-Nachrichtendienste legte einen Bericht zur Pandemie vor, der feststellte, sie habe »die ökonomische Ungleichheit vertieft, die Ressourcen der Regierung stark belastet und nationalistische Stimmungen angeheizt«. Etwa zur gleichen Zeit kam es in Kalifornien und Griechenland zu Großbränden, und in der globalen Lieferkette entwickelten sich Probleme, die Verbrauchern Schwierigkeiten bereiteten, wenn sie alles Mögliche vom Laptop bis zum Auto kaufen wollten.7

In diesem Moment erschienen mir meine Gedanken während unseres Kreta-Aufenthalts nicht länger als müßige akademische Denkübung. Zur bisherigen Liste der Stressfaktoren hatten sich nun auf einmal eine weltweite Pandemie, ungewöhnlich starke Wald- und Buschbrände, schwere Stürme und weitere Anzeichen eines Klimawandels, Lieferprobleme auf globaler Ebene und schwere soziale Verwerfungen entlang politischer Trennlinien in den Vereinigten Staaten gesellt.

Und im neuen Jahr besserte sich die Lage nicht. Im Frühjahr, Sommer und Frühherbst 2022 erlebten wir, wie Russland in der Ukraine einfiel, neue Covid-19-Stämme sich rasch auf der ganzen Welt verbreiteten und mehr darüber ans Licht kam, was am 6. Januar 2021 im Kapitol in Washington geschehen war. Besorgt war ich schon vorher gewesen, jetzt aber fragte ich mich ernsthaft, ob ein neuer »perfekter Sturm« aus Katastrophen angekommen sei und ein weiterer Zusammenbruch vor der Tür stehe, wie ich ihn damals für das Jahr 1177 v. Chr. beschrieben hatte. Alles ist atemberaubend schnell passiert ‒ viel schneller als damals im 12. Jahrhundert v. Chr., meinem persönlichen Maßstab für Kulturkatastrophen.

Die Fragen, die ich mir auf Kreta stellte und die sich andere Forschende schon seit einiger Zeit gestellt haben, stellen nun die US-Regierung und viele Medienvertreter.8 Was passiert nach dem Zusammenbruch einer Gesellschaft? Ist sie endgültig weg, oder kommt sie wieder auf die Füße? Kann man einfach die Scherben aufsammeln und weitermachen? Rekrutiert die Mannschaft Nachwuchs aus der zweiten Liga, und zwar neue Menschen und eine neue Gesellschaft? Oder können die Überlebenden Resilienz zeigen und sich den neuen Umständen anpassen, indem sie einen Übergang vollziehen und sich in eine »neue Normalität« begeben? Schon 1988 sagte der Archäologe George Cowgill: »[D]er ›Kollaps einer Zivilisation‹ […] ist eine viel kompliziertere Vorstellung, als wir uns zu denken angewöhnt haben.«9 Dasselbe gilt für die Wiedergeburt oder den Wandel einer Zivilisation. Und dies wollen wir auf den folgenden Seiten gemeinsam erkunden, indem wir uns anschauen, was in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Spätbronzezeit in der Ägäis und im östlichen Mittelmeerraum tatsächlich geschah.

***

Bevor wir anfangen, noch eine kurze Warnung. Wie wir sehen werden, war die Lage nach dem Kollaps am Ende der Bronzezeit vielschichtiger, als man denken könnte. Als das internationale Netzwerk zerbrach, das die gesamte Ägäis und den östlichen Mittelmeerraum zusammengehalten hatte (und zerfallen ist es zweifellos), mussten die einzelnen Gesellschaften ihre Entscheidungen in Überlebensfragen allein treffen. Ihre Optionen waren einfach. Wenn sie überleben wollten, mussten sie die Probleme bewältigen oder sich anpassen oder aber zur neuen Normalität wechseln. Wenn nicht, standen sie vor dem Untergang. Das wird deutlich, wenn man die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch betrachtet und die Lage der betroffenen antiken Gesellschaften untereinander vergleicht, und genau das will ich in den nächsten Kapiteln tun. Mich interessiert nicht nur, wer überlebte und wie oder warum, sondern auch, wer nicht und warum nicht.

Ich sollte erwähnen, dass der erste Entwurf zu diesem Buch ähnlich wie 1177 v. Chr. einer chronologischen Ordnung folgte und einzeln darauf einging, was in welchem Jahrhundert nach dem Kollaps geschah. Später entschied ich mich jedoch, dass ein geografischer Ansatz einen besseren Eindruck vermittelt, wie welche Gesellschaft im Lauf der Zeit auf den Zusammenbruch reagierte, indem sich die Einwohner jeder Region aus den Nachwehen der Katastrophe herauszuarbeiten suchten, die sie alle betroffen hatte. Auch so gibt es zwischen den verschiedenen Kapiteln aber in mehrfacher Hinsicht Querverbindungen. Im Wesentlichen haben wir acht Beispiele vor uns, was man nach einem Zusammenbruch tun sollte und was nicht.

Als Wegweiser für unsere Reise und die Art, wie ich die Geschichte erzähle, dienen konkrete Objekte ‒ meist Inschriften und Texte auf Stein, Ton, Papyrus und anderen Materialien, aber auch andere Gegenstände aus der Antike. Indem ich diese Quellen präsentiere, die allem zugrunde liegen, strebe ich gleichzeitig nach gedanklicher Transparenz ‒ ich will nicht nur vorführen, was wir wissen, sondern auch, woher wir es wissen. Wie sich jedoch zeigen wird ‒ besonders bei den Assyrern, Babyloniern und Ägyptern, die umfangreiches Schriftmaterial hinterlassen haben ‒, gibt es in vielen Fällen genug Details (manchmal vielleicht zu viele), um einige hochrangige Personen und deren Leistungen in den Blick nehmen zu können, aber nicht immer genug für die Mitglieder der unteren sozialen Schichten. Noch dazu sind bei einigen Gesellschaften, etwa den Mykenern, Minoern und Zyprern, Einzelheiten zu den meisten Personen dieser Zeit heute verloren, egal ob reich oder arm, hochrangig oder unbedeutend. Daher wird sich meine Schilderung von Kapitel zu Kapitel stark unterscheiden. Wenn möglich, gehe ich näher auf Einzelheiten und Geschichten ein, je nach verfügbarer Menge und Art der Informationen, aber wo es geht, versuche ich einen gemeinsamen Nenner an historischem Kernwissen zu vermitteln.10

Wer lebt, wer stirbt, ich schreib’ ihre Geschichte (um den Musical-Hit Hamilton abzuwandeln). Und wer Probleme hat, die Figuren, die auftreten, ohne »Besetzungsliste« auseinanderzuhalten, findet am Ende des Buches ein Verzeichnis mit den wichtigsten Personen und deren Hintergrund.

Vor Augen halten müssen wir uns auch, dass diese Geschichte viel unaufgeräumter sein wird als die der Bronzezeit. Tatsächlich reden wir besser von »Geschichten« im Plural, nicht von einer einzigen, denn wenn wir uns die Reaktionen der verschiedenen Gesellschaften dieser Jahrhunderte ansehen, haben wir es mit einer Mittelmeersphäre zu tun, die durch den Zusammenbruch der verflochtenen Welt, wie man sie gekannt hatte, zersplittert ist. Ein wenig wird das an den Blick in ein Kaleidoskop erinnern: Manche Elemente sind verbunden und verknüpft, aber häufig sind die Einzelteile voneinander getrennt oder hängen nur locker zusammen. Erst das Ende dieser Erzählung wird sie wieder zusammenbringen. Doch bietet sich uns hier die einmalige Möglichkeit zu erforschen, was nach dem Zusammenbruch eines Systems passiert, indem wir die Geschichte nicht nur einer Gesellschaft wie der Maya oder der Römer im Detail untersuchen, sondern die von acht verschiedenen. Und genau das werden wir in den ersten fünf Kapiteln dieses Buches tun. Anschließend werden wir sammeln und analysieren, was wir dabei gelernt haben, und werden eine Art Rangfolge der Gesellschaften nach ihrer Resilienz und ihrem Erfolg oder Misserfolg beim Sich-Anpassen oder beim Wandel aufstellen. Als Kriterien und Definitionen dafür nutzen wir die des Weltklimarats. So können wir entscheiden, was davon für unsere heutige Welt wichtig ist ‒ in der Hoffnung, dass es uns einiges in der Frage lehrt, wie wir unsere eigenen Gesellschaften gegen die potenziellen Katastrophen, mit denen wir es derzeit zu tun haben, resilienter machen können.

Karte 1: Übersicht über das östliche Mittelmeer in der Eisenzeit mit neohethitischen, aramäischen und mesopotamischen Fundorten und den Königtümern der südlichen Levante (nicht alle Fundorte verzeichnet).

Karte 2: Ägypten während der Eisenzeit mit den im Text erwähnten Orten und Gebieten.

Karte 3: Die Levante während der Eisenzeit mit den im Text erwähnten Orten und Gebieten.

Karte 4: Zypern während der Eisenzeit mit den im Text erwähnten Orten und Gebieten.

Karte 5: Das westliche Mittelmeer während der Eisenzeit mit den im Text erwähnten Orten und Gebieten.

Karte 6: Die Ägäis während der Eisenzeit mit den im Text erwähnten Orten und Gebieten.

PROLOG Willkommen in der Eisenzeit

Sie brausten aus dem Norden heran und schwangen schimmernde Waffen aus scharfem Eisen. Kurz nach 1200 v. Chr. bereiteten die harten dorischen Krieger der mykenischen Zivilisation ein rasches Ende. Griechenland stürzte in das erste dunkle Zeitalter der Welt. Laut dem griechischen Historiker Thukydides war der Trojanische Krieg da erst achtzig Jahre her.1

Die frühen Archäologen und Historiker, die zum heutigen Griechenland arbeiteten, übernahmen das Konzept einer gewaltsamen »Dorischen Wanderung«. Laut ihren Szenarien brachten die Angreifer neue Formen von Fibeln, andere Bestattungsweisen, Keramik und ‒ was das Wichtigste war ‒ eiserne Schwerter mit.2 Diese Geschichte wurde Teil der kanonischen Erzählung in Handbüchern zum antiken Griechenland und steht immer noch an prominenter Stelle in manchen Sammelwerken, darunter der jüngsten Ausgabe der Columbia Electronic Encyclopedia, in der es heißt: »Das mykenische Handelsreich und der daraus erwachsende kulturelle Einfluss bestanden von 1400 bis 1200 v. Chr., als die Invasion der Dorer eine Phase des Niedergangs für Griechenland einleitete.«3

Nur hat es die Invasion der Dorer wahrscheinlich nie gegeben.

***

Infrage gestellt wurde die Existenz einer Dorischen Wanderung bereits 1966 von Forschern wie Rhys Carpenter und wird es noch heute. Man hat sie als »verwirrenden Fall einer Invasion ohne Invasoren« bezeichnet, als »gelehrte Fata Morgana« und als »außergewöhnliche, paradoxe Situation, in der es kein Anzeichen für die Anwesenheit eines feindseligen Eindringlings gibt«. Höflich drückte sich Joseph Tanner aus, der führende Experte für Zusammenbrüche: »Ganz einfach gesagt, haben […] die Dorer sonderbar wenige archäologische Spuren hinterlassen«, während Gregory Nagy es so sagte: »Es gibt keinen Grund, eine ›Dorische Invasion‹ anzunehmen […], wenn die Dorer tatsächlich schon auf der Peloponnes als Bevölkerungssubstrat ›da‹ waren.«4

Tatsächlich braucht man zur Erklärung keines der oben genannten »Belege« die Ankunft eines neuen Volkes, und mittlerweile wissen wir, dass einige der sogenannten Innovationen bereits in der Bronzezeit entstanden, darunter Schwerter vom Typ Naue II und Violinbogenfibeln. Andere Innovationen, etwa die Technik der Eisenerzeugung, entwickelten sich erst nach der Zerstörung der Paläste und nicht davor oder gleichzeitig, wie wir noch sehen werden. Noch dazu hielt sich die mykenische Keramik weitere anderthalb Jahrhunderte, nachdem alles zusammenzubrechen begonnen hatte ‒ bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts v. Chr.5

Außerdem gibt es aus dieser Phase starke Hinweise auf Kontinuität trotz des jähen, totalen Aussetzens der politischen und sozialen Systeme, die auf dem griechischen Festland während der Bronzezeit bestanden hatten. Beispielsweise wird in der Linguistik die These vertreten, dass sich einige Charakteristika des dorischen Dialekts bereits in der Sprache der Linear-B-Texte ausmachen lassen, die die Mykener verwendeten, einer Frühform des Griechischen. Damit sind die verschiedenen Dialekte vielleicht einfach von verschiedenen griechischsprachigen Gruppen verwendet worden, die den großen Kollaps überlebten, und nicht von Invasoren aus ferneren Gegenden.6

Außerdem gibt es keinen großen Zustrom neuer Bevölkerungsgruppen. Vielmehr deuten archäologische Surveys genau auf das Gegenteil hin, denn unmittelbar nach dem Zusammenbruch kam es auf dem griechischen Festland zu einem dramatischen Bevölkerungsrückgang. Die früheren Schätzungen, wonach die Bevölkerung vom 13. bis zum 11. Jahrhundert v. Chr. zwischen 75 und 90 % abnahm, gelten heute als etwas zu hoch, aber aktuelle Einschätzungen bewegen sich immer noch zwischen 40 und 60 % ‒ damit wäre eine geschätzte Bevölkerung von rund 600 000 Menschen auf dem griechischen Festland gegen Ende der Bronzezeit auf rund 330 000 in der Frühen Eisenzeit gesunken.7

Allerdings sind sie nicht alle gestorben. Manche Überlebende zogen einfach in andere Gebiete Griechenlands um, die vorher unbesiedelt gewesen waren, jetzt aber vielleicht sicherer erschienen als die alten Wohnorte. Wieder andere könnten noch weiter weggezogen sein, nach Osten in Gegenden wie Zypern oder Kanaan oder westwärts nach Italien, Sardinien oder Sizilien.8

Einfach ausgedrückt, ist bisher trotz über einem Jahrhundert Grabungstätigkeit noch kein eindeutiger Beweis für die Dorische Wanderung zum Vorschein gekommen. Sie ist ein Mythos oder eine literarische Tradition, die antike griechische Autoren schufen, um teilweise zu erklären, wie es kam, dass im 1. Jahrtausend v. Chr. verschiedene Dialekte des Griechischen gesprochen und geschrieben wurden, aber sie wird von keinerlei materiellen Zeugnissen gestützt.

***

Wenn die Vorstellung von einer Invasion der Dorer in der Forschung inzwischen seit mehreren Jahrzehnten abgehakt und zu den Akten gelegt ist, warum ‒ so kann man mit Recht fragen ‒ wird sie dann immer noch diskutiert? Tatsache ist, dass der Glaube an sie außerhalb der kleinen akademischen Gemeinde weiter besteht, trotz der skeptischen Sicht der Wissenschaft auf die invasive »Dorische Wanderung«. Sarah Morris spricht vom »hartnäckigen Phantom der Dorer« und erklärt: »So sehr die Dorer heute von beruflich Sachkundigen für Geschichte, Sprachen und Archäologie verworfen werden, ihren festen Platz haben sie weiterhin […] in Schulbüchern und Klassenzimmern. Mit anderen Worten: Die Didaktik ‒ vom Lehrplan über das Schulbuch bis zur Kursbeschreibung ‒ hat mit der Forschung nicht Schritt gehalten.«9

Statt des Konzepts einer »Dorischen Wanderung« spielen Spezialisten für die Eisenzeit heute lieber mit dem Gedanken, dass es innerhalb Griechenlands selbst zu Migrationsbewegungen gekommen sein könnte, als Überlebende des Zusammenbruchs in andere Gebiete zogen und die Hochburgen der Bronzezeit verließen.10 Das könnte einem ganz buchstäblich nur als Frage der Wortwahl vorkommen, aber zwischen den beiden Bewegungstypen Migration und Invasion gibt es einen himmelweiten Unterschied. Während der eine oft friedlich verläuft und sich manchmal über erhebliche Zeiträume hinzieht, deutet der andere Begriff ein gewaltsames, viel plötzlicheres Ereignis an, bei dem Menschen von außen ins betreffende Gebiet kommen. Tatsächlich ist eine derartige Migration überlebender Populationen nach einem Systemkollaps wie dem am Ende der Bronzezeit ganz üblich. Ein weiteres gutes Beispiel dafür trat etwa um 1300 n. Chr. im Südwesten der heutigen USA auf, als die Bevölkerung nach einer dramatischen Klimaverschlechterung geschlossen aus dem Grenzgebiet von Arizona, Colorado, New Mexico und Utah (den »Four Corners«) nach Süden ins Tal des Rio Grande auswanderte.11

War es wirklich ein Dunkles Zeitalter?

Wenn sich heute zeigen lässt, dass die frühere Forschungsmeinung zur dorischen Invasion Griechenlands nicht korrekt war, was könnte dann sonst noch falsch an der Beschreibung der Jahrhunderte gleich nach dem Zusammenbruch der Bronzezeit sein, die die Forschung lange als »das erste Dunkle Zeitalter« bezeichnet hat? Tatsächlich müssen wir uns fragen, ob es wirklich ein Dunkles Zeitalter war. Ist das eine zutreffende Beschreibung des Lebens in der gesamten Region nach dem Kollaps, besonders wenn die Dorische Wanderung niemals stattgefunden hat?

Vor drei Jahrzehnten nannte Nicholas Coldstream diese Phase für Griechenland »ein Zeitalter des totalen Analphabetismus und ‒ in den meisten Regionen der Ägäis ‒ ein Zeitalter der Armut, schlechter Kommunikationswege und der Isolation von der Außenwelt«. Doch genau zur selben Zeit schrieb der Archäologe Willie Coulson, dass diese Periode zwar nach allgemeiner Wahrnehmung »ein Tiefpunkt der Kunst- und Lebensqualität […], eine primitive, mit Armut geschlagene Zeit« gewesen sei, merkte aber an, dass wir keine brauchbare allgemeine Definition hätten, auf die sich alle Forscher einigen könnten.12

Das Wörterbuch Merriam-Webster definiert ein Dunkles Zeitalter als »eine Zeit, in der eine Zivilisation einen Niedergang durchläuft«. Dafür führt es zwei Beispiele an: 1. »die Phase der europäischen Geschichte von etwa 476 bis etwa 1000 n. Chr.« (die uns hier nicht betrifft) und 2. »die drei bis vier Jahrhunderte lange Phase der griechischen Geschichte ab etwa 1100 v. Chr.« (die unser Thema ist). Es liefert zusätzlich eine allgemeine Definition als »Zustand der Stagnation oder des Abstiegs«.13

Tatsächlich lassen sich die Kriterien, die der Archäologe Colin Renfrew schon 1979 für einen Systemzusammenbruch aufstellte, auch als Kriterien für ein Dunkles Zeitalter verwenden (das laut Renfrew stets auf einen Systemzusammenbruch folgt), wenn man den Blick exklusiv auf die Gesellschaft richtet. Dazu zählen 1. der Zusammenbruch der Zentralverwaltung, 2. das Verschwinden der traditionellen Elite, 3. ein Zusammenbruch der zentralisierten Wirtschaft, 4. Siedlungsverlagerungen und 5. ein Bevölkerungsrückgang. Ihnen möchte ich als spezifische Symptome eines Dunklen Zeitalters noch 6. einen Verlust der Schriftlichkeit und 7. eine Pause im Errichten von Monumentalbauten hinzufügen.14

Tabelle 1: Gesellschaftliche Veränderungen, die auf einen Systemkollaps und ein anschließendes Dunkles Zeitalter hindeuten

Aspekt

während und nach dem Kollaps

Zentralisierte Wirtschaft

Zusammenbruch

Zentralregierung/-verwaltung

Zusammenbruch

Traditionelle Eliten

Verschwinden

Siedlungen

Verschiebung/Verlagerung

Bevölkerung

Rückgang

Schriftlichkeit

Verlust

Eindrucksvolle Bauten

Verschwinden

Joseph Tainter merkt an, dass der Systemzusammenbruch einer Kultur oder Gesellschaeft normalerweise auch als Ende »der künstlerischen und literarischen Merkmale der Kultur und des Schutzschirms aus Dienstleistungen und Verteidigung gilt, den eine Regierung gewährt«. Die Folgen beschreibt er so: »Der Informationsfluss sinkt, die Menschen treiben weniger Handel und interagieren weniger, und insgesamt gibt es eine geringere Koordination zwischen Einzelnen und Gruppen. Die Wirtschaftsaktivität sinkt […], während Künste und Literatur einem so starken quantitativen Rückgang unterliegen, dass häufig ein Dunkles Zeitalter folgt. Tendenziell sinkt die Bevölkerungsgröße und für die, die übrig bleiben, schrumpft die bekannte Welt.« Jedoch ist ein soziopolitischer Zusammenbruch laut Tainter völlig normal, ja sogar im Lebenslauf der meisten komplexen Gesellschaften zu erwarten.15

Daher überrascht es vielleicht nicht, dass gegen Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. der griechische Dichter Hesiod darüber klagte, dass er in genau so einer Zeit lebe. »Wäre ich doch nicht unter den Menschen der fünften Generation«, schrieb er, »sondern entweder vorher gestorben oder später geboren! Denn jetzt lebt ja wirklich ein Geschlecht aus Eisen; nie ruhen sie am Tag von Mühe und Leid aus und nachts hören sie nicht auf, zugrunde zu gehen ‒ die Götter werden ihnen drückende Sorgen geben.«16 Hesiod und dem wachsenden Gebrauch des neuen Metalls verdanken wir den Spitznamen »Eisenzeit« für diese Periode als Alternative zum oft verwendeten »Dunklen Zeitalter«.

War es denn nun ein Dunkles Zeitalter? Oder sollte man es heute als etwas anderes betrachten, vor allem dann, wenn man nicht nur auf die Gesellschaften schaut, sondern auch auf die Personen, aus denen sie bestand? Oder wie James Scott fragte: »Dunkel für wen und in welcher Beziehung?«17

Diese Frage bildet den Kern unserer Untersuchungen. Wie war es für die, die nach dem Zusammenbruch lebten, und worin unterschied sich die Lage in jedem der betroffenen Gebiete? Was war zum Überleben nötig? Das wollen wir in den nächsten Kapiteln herausfinden, indem wir jeder Gesellschaft und jeder Gegend ‒ manchmal kursorisch, aber häufig sehr detailreich, je nachdem, was die Quellenlage zulässt ‒ auf ihren Wegen und Abwegen vom 12. bis ins 8. Jahrhundert v. Chr. folgen, ehe wir dann zur Analyse übergehen. Fangen wir also an.

KAPITEL 1 Das Jahr der Hyänen, als die Menschen verhungerten Ägypten, Israel und die südliche Levante

Der schnelle Messerstich eines Mörders in die Kehle beendete 1155 v. Chr. die zweiunddreißigjährige Herrschaft des ägyptischen Pharaos Ramses III. Zwei Jahrzehnte zuvor hatte Ramses einen gewaltigen Sieg über die Seevölker errungen, jetzt aber erlag er einer kümmerlichen Haremsverschwörung, die eine seiner Frauen namens Tiye und sein unwichtiger Sohn Pentawere angezettelt hatten.

Von dem heute als »Haremsverschwörung« bekannten Mord erfuhr die moderne Ägyptologie erstmals vor rund 150 Jahren.1 Die Details stehen in sechs Papyri, von denen einige oder alle ursprünglich Teil einer einzigen Rolle gewesen sein könnten, die ein geschäftstüchtiger Antiquitätendieb in Stücke schnitt und dann an verschiedene Personen und Orte verkaufte. Das längste dieser Dokumente ist heute als Juristischer Papyrus Turin bekannt und (was angesichts des modernen Namens vielleicht nicht überrascht) im Turiner Museo Egizio beheimatet. Erworben wurde es zunächst durch Berardino Drovetti, der in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts französischer Generalkonsul in Ägypten war; Drovetti verkaufte den Papyrus anschließend an den König von Sardinien und schließlich fand er seine Bleibe im Museo Egizio.2

Der Papyrus enthält viele Einzelheiten über die vier Prozesse gegen die als Attentäter Angeklagten. Ausgeheckt wurde die Verschwörung anscheinend durch Tiye, die ihren Sohn mit Ramses III., Prinz Pentawere, gern auf dem Thron sehen wollte. Angeklagt wurden vierzig Verschwörer, sowohl Mitglieder des Harems als auch Hofbeamte, die dann in vier Gruppen vor Gericht kamen. Eine Reihe von ihnen wurde schuldig gesprochen und mit der Todesstrafe belegt; mehrere zwang man, sich noch im Gerichtssaal das Leben zu nehmen. Unter den zum Tode Verurteilten war auch Pentawere und man nimmt an, dass das ebenfalls für seine Mutter galt, obwohl über ihren Prozess kein Bericht erhalten ist.

Zwar war bekannt, dass Ramses III. schon tot war, ehe in diesem Fall die Urteile gesprochen wurden, aber aus den Papyri geht nicht hervor, ob der Anschlag Erfolg hatte, und unter Ägyptologen blieb die Frage lange offen. Erst 2012, als man CT-Scans an der Leiche Ramses’ III. durchführte, ließ sich diese Frage klären. Die Leiche hatte man über ein Jahrhundert zuvor entdeckt ‒ 1881 in der »Cachette«, dem Mumienversteck von Deir el-Bahari nahe dem Totentempel der Hatschepsut, wohin die Mumie zu Beginn der 21. Dynastie im späten 10. Jahrhundert v. Chr. aus Sicherheitsgründen von Priestern gebracht worden war, nachdem es über ein Jahrhundert lang zu einer Serie von Grabräubereien in Königsgräbern gekommen war.

Nach dem Artikel im British Medical Journal war klar, dass man Ramses die Kehle durchgeschnitten hatte. Das scharfe Messer, von dem die Wunde stammte, war ihm direkt unter dem Kehlkopf bis an die Nackenwirbel in den Hals gestoßen worden und hatte seine Luftröhre und alles Weichgewebe in dieser Region durchtrennt. Der Tod trat höchstwahrscheinlich sofort oder fast sofort ein. Während der Einbalsamierung legte man ein schützendes Amulett mit dem Horusauge in die Wunde, entweder zum Schutz oder zur Heilung, obwohl es dem König in seinem irdischen Leben nicht mehr helfen konnte. Ein dicker Leinenkragen um den Hals verbarg die Stichwunde. Daher konnten die Forscher erst bei der Analyse des CT-Scans durch den dicken Stoff sehen und die Verletzung erkennen, die den Pharao getötet hatte.3

Zusammen mit Ramses III. fand man im Königsversteck eine zweite Leiche, den Körper eines 18 bis 20 Jahre alten Mannes, der nur als »Unbekannter E« bekannt ist. Weil der Körper in eine rituell unreine Ziegenhaut eingewickelt und nicht richtig mumifiziert war, ist vorgeschlagen worden, es handle sich um den schuldigen Prinzen Pentawere. Wie DNA-Tests andeuten, könnte der Mann ein Sohn Ramses’ III. sein, aber über diese Folgerung ist sich die Ägyptologie keineswegs einig. Der forensische Befund, zu dem ein verzerrtes Gesicht und Halsverletzungen gehören, weist darauf hin, dass der Mann wahrscheinlich erdrosselt wurde.4

Der Mord gab für die nächsten Jahrhunderte die Stimmung in Ägypten vor, denn die Zeit danach, die Jahre nach dem Sieg über die Seevölker, war nicht idyllisch. Beispielsweise haben wir inzwischen Hinweise, dass die große Dürre, die sich durch Daten aus sogenannten Klimaproxys von Italien bis in den heutigen Iran verfolgen lässt und die ich für einen der wichtigsten Stressfaktoren im Vorfeld des Zusammenbruchs der Späten Bronzezeit halte, etwa um diese Zeit schließlich auch Ägypten traf. Dazu kam es, weil die Wassermenge des Nils sich verringerte, als der Niederschlag im Äthiopischen Hochland abnahm ‒ ein Zustand, der etwa 200 Jahre anhielt. Es überrascht nicht, dass dies wiederum zu einer Ernährungskrise und folglich zu Hungersnöten in Ägypten führte, außerdem zu damit verknüpften Wirtschaftsproblemen, darunter ausbleibenden Lohnzahlungen, die in Ramses’ 29. Herrscherjahr in einen Streik und eine Demonstration der Arbeiter in Deir el-Medina mündeten ‒ wahrscheinlich einer der frühesten Fälle von Arbeitskampf in der Geschichte.5

Als Ramses III. starb, endete gleichzeitig diese Epoche der ägyptischen Geschichte, obwohl seine Söhne und Enkel die Dynastie noch vier Jahrzehnte lang fortsetzten. Zwar brachen Ägyptens Kultur und Gesellschaft nicht vollständig zusammen und die Ägypter verschwanden nicht vom Erdboden, aber besonders erfolgreich war ihr Übergang zur neuen Weltordnung nach dem Zusammenbruch der Bronzezeit auch nicht. Sie überlebten, jedoch in stark reduzierter Form; zu den »Großmächten« ihrer Zeit wie noch in der Blütephase der 18. und 19. Dynastie hätte man sie nicht mehr gezählt.

Stattdessen waren die Ägypter die nächsten zwei Jahrhunderte lang durch eine intrigengeschüttelte Regierung gelähmt, ganz zu schweigen von Nachfolgekrisen und Rivalitäten, die dazu führten, dass es in verschiedenen Gebieten Ägyptens zeitweise zwei, drei und manchmal sogar vier Herrscher nebeneinander gab. Gelegentlich trat ein starker Anführer auf, etwa Scheschonq I., ein libyscher Herrscher, der die 22. Dynastie gründete. Aber das geschah erst gegen 945 v. Chr., über 200 Jahre nach dem Tod Ramses’ III., und auch das war nicht von Dauer.

***

Die acht Pharaonen nach Ramses III. hießen alle Ramses (IV. bis XI.) und unter ihrer Herrschaft befand sich Ägypten in stetigem Niedergang. Die ersten beiden Könige, Ramses IV. und V., saßen zusammen nur zehn Jahre auf dem Thron und taten wenig Nennenswertes.6 Zum Tod von Ramses V. gibt es ebenfalls spannende Fragen, denn er könnte das Opfer eines weiteren Unglücks geworden sein, das vielleicht mit dem Zusammenbruch am Ende der Bronzezeit zu tun hat ‒ einer Seuche. Auf seinem mumifizierten Gesicht sind immer noch Pusteln sichtbar, was zu der Vermutung geführt hat, dass er gegen 1140 v. Chr. an den Pocken gestorben sein könnte. Vielleicht wird das durch Texte bestätigt, die von neuen Gräbern sprechen, welche für Ramses und andere Mitglieder seiner Familie in den Felsen geschlagen wurden. Anschließend bekamen die Arbeiter einen Monat Urlaub »auf Kosten des Pharaos« (also mit vollem Lohn), danach wurde das Tal der Könige sechs Monate lang für Besucher gesperrt, was man als Quarantäneversuch interpretiert hat.7

Unter der Herrschaft Ramses’ V. kontrollierte Ägypten noch die Kupferbergwerke in Timna auf der Sinai-Halbinsel, aber sein Name ist der letzte, der sich in diesem Gebiet findet. Ebenso ist sein Nachfolger Ramses VI. der letzte Pharao, dessen Name in den Türkisminen von Serabit el-Chadim erscheint, ebenfalls auf dem Sinai. Üblicherweise wird dies so gedeutet, dass die Ägypter ungefähr um 1140 v. Chr. die Kontrolle über die südliche Levante verloren und/oder sich von dort zurückgezogen hatten.8 Interessant ist, dass eine kleine bronzene Statuenbasis aus Megiddo, die die Chicagoer Expedition in den 1930er Jahren fand, die Kartusche Ramses’ VI. trägt. Häufig wird sie als Beweis angeführt, dass das kanaanitische Megiddo bis dahin noch nicht überwältigt worden war, aber der Fundkontext ist umstritten und kann nicht herangezogen werden, um solche Argumente zu stützen.9

Als Ramses VI. 1133 v. Chr. starb, verschütteten die Arbeiter, die sein Grab im Tal der Könige anlegten, versehentlich das Grab Tutanchamuns, das daneben lag; so blieb es erhalten und konnte 1922 n. Chr. von Howard Carter und Lord Carnarvon entdeckt werden. Anschließend kam der Sohn des Pharaos als Ramses VII. an die Macht. Von seiner Herrschaftszeit wissen wir nicht viel, aber Texte aus den (höchstens) zehn Jahren, die er regierte, zeigen, dass der Getreidepreis in die Höhe schnellte und die Wirtschaft instabil war.10

So ähnlich gingen die Probleme nach der nur einjährigen Herrschaft Ramses’ VIII., ebenfalls ein Sohn Ramses’ III., der wohl erst als alter Mann Pharao wurde, für den nächsten Herrscher weiter, Ramses IX. (ca. 1126‒1108). Er blieb 18 Jahre auf dem Thron, und in dieser Zeit mehrten sich die Schwierigkeiten in Ägypten, besonders in Form von Grabräuberei, Hungersnot und Unruhen durch »Fremde« nahe dem Arbeiterdorf in Deir el-Medina. Vielleicht verlor Ägypten damals zum ersten Mal die Kontrolle über Obernubien und die dortigen Goldminen. Denkbar ist auch, dass es unter Ramses IX. zwei konkurrierende Herrscher in Ägypten gab, was in den kommenden Jahrhunderten zum Normalfall wurde.11

Zu den Rechtsdokumenten dieser Zeit zählen die als »Grabräuberpapyri« bekannten Texte. Es gibt ein Dutzend oder mehr aus der Zeit Ramses’ IX.‒XI., darunter der Papyrus Abbott und der Papyrus Leopold-Amherst aus dem 16. Herrscherjahr Ramses’ IX. Darin finden wir detaillierte Beschreibungen, wie Gräber in der Nekropole der Könige, aber auch in privaten Gräberfeldern beraubt wurden. Anscheinend war es gerade in diesem Jahr 16 zu den meisten derartigen Plünderungen gekommen. Einige Grabräuber wurden gefasst und während der anschließenden Verhöre und Prozesse zu Geständnissen gebracht. Die Diebe wurden durchweg zum Tode verurteilt, wahrscheinlich durch Pfählen, denn das war die übliche Strafe für das Plündern eines Königsgrabes.12

Begonnen hatten die Raubaktionen aber noch früher, denn wir wissen, dass irgendwann vor dem Jahr 9 Ramses’ IX. Diebe ins Grab Ramses’ VI. eindrangen. Auch hier fasste man einige der Diebe. In einem Papyrusfragment in Liverpool, dem Papyrus Mayer B, gestand einer der Festgenommenen: »Ich verbrachte vier Tage damit, in [das Königsgrab] einzubrechen, und wir waren zu fünft. Wir öffneten das Grab und betraten es. Wir fanden einen Korb, der auf 60 Kisten lag.« Anschließend schilderte er den Fund von Bronzekesseln, bronzenen Waschbecken und verschiedenen weiteren Bronzegegenständen. Außerdem öffneten die Räuber zwei Truhen mit Kleidung, die genau beschrieben wird.13 Dass Bronze- und nicht etwa Goldobjekte erwähnt werden, ist besonders interessant und könnte ein Reflex des gesunkenen Wohlstands seit den Tagen Tutanchamuns sein.

Leider bricht der Text an dieser Stelle ab, also wissen wir nicht, was die Räuber sonst noch fanden und/oder mitnahmen, wie ihre Tat entdeckt oder welche Strafe später verhängt wurde, obwohl es wahrscheinlich die Todesstrafe war. Was wir jedoch wissen: Als 1898 die Mumie Ramses’ VI. im Grab Amenophis’ II. gefunden wurde, wohin sie später zu ihrem Schutz verbracht worden war, stand fest, dass sie »von den Grabräubern grausam attackiert worden war ‒ Kopf und Rumpf waren mit einer Axt in Stücke gehackt worden«. Der britische Archäologe Peter Clayton bemerkt: »Die Priester hatten die Stücke pietätvoll auf einem Brett neu eingewickelt, damit das Ganze einem Menschen ähnelte. Als Elliot Smith es 1905 untersuchte, fand er in den Binden Teile von mindestens zwei anderen Körpern: die rechte Hand einer Frau und die verstümmelte rechte Hand mit Unterarm eines anderen Mannes. Wo der Hals des Königs hätte sein müssen, lagen sein abgetrenntes linkes Hüftbein und Teile des Beckens.«14

Einige Probleme aus der Zeit Ramses’ IX. dauerten auch unter seinem Nachfolger Ramses X. an, der am Ende des unruhigen 12. Jahrhunderts für kurze Zeit herrschte. Laut den spärlichen Aufzeichnungen aus seiner Zeit waren die Hauptprobleme ein anhaltender Nahrungsmangel und, damit verbunden, ein Rückgang von Aktivitäten, die mit Arbeit zu tun hatten (wohl aus Hunger), außerdem die Gegenwart weiterer, nicht genannter Fremder in und um Deir el-Medina.15 Der Nachfolger, Ramses XI., sollte der letzte Ramses sein ‒ seine Herrschaft markierte den Beginn des neuen Jahrhunderts und zugleich das Ende der 20. Dynastie.

Insgesamt war das 12. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten von Nahrungsknappheit, politischen Machtkämpfen und anderen Problemen geprägt. Wie resilient waren die Ägypter? Sie konnten die Krise bewältigen und weiterexistieren, aber eigentlich misslang ihnen ein richtiger Übergang, denn weder passten sie sich besonders gut an, noch wandelten sie sich irgendwie. Folglich beobachten wir nicht nur soziale Probleme, sondern auch einen raschen Verfall der einstigen Rolle Ägyptens als große internationale Macht.

Sturm im Mumiental Ägypten während der 21. Dynastie

Ramses XI. herrschte in Ägypten zu Beginn des 11. Jahrhunderts v. Chr. fast dreißig Jahre lang, von ca. 1098 bis 1070. Seine Herrschaftszeit war mit Abstand die längste aller Pharaonen der 20. Dynastie. Seine ersten 19 Jahre verliefen relativ friedlich, obwohl es weiterhin zu Grabräuberei und Hungersnöten kam. Ein Papyrus spricht von einer Frau, die aus einem Grab entwendetes Gold besaß und behauptete, sie habe es als Bezahlung für etwas Essen im »Jahr der Hyänen, als die Menschen verhungerten«, erhalten. Es sollte noch schlimmer kommen, denn in der zweiten Hälfte von Ramses’ Herrschaft stand Ägypten im Zeichen von Zerfall und Bürgerkrieg, der mit rivalisierenden Herrschern endete.16

Den Großteil seiner Verwaltungsstrukturen hatte Ägypten bis dahin bewahren können, jetzt aber, als die Hohepriester des Amun in Theben mit den Königen um die Herrschaft über das Land kämpften, begann das System zusammenzubrechen. Ein Hohepriester des Amun namens Herihor, der im Reisebericht des Wenamun genannt ist (auf den ich in Kapitel 3 eingehen werde), beanspruchte die Kontrolle über Nubien und Oberägypten und legte sich den Titel »Vizekönig von Kusch« und »Wesir des Pharao« zu. Im 19. Herrscherjahr Ramses’ XI. regierte Herihor über Oberägypten und Nubien bis nach Theben. Jetzt wurde dieses Jahr als »Jahr 1 der Erneuerung« bekannt (nach dem ägyptischen wehem mesut, »Wiederholung der Geburten«), obwohl diese »ramessidische Renaissance« kaum eine Renaissance in unserem Sinn war.17

Zur gleichen Zeit übernahm ein Beamter namens Smendes die Macht im Norden, also in Unterägypten, vor allem in der Umgebung von Pi-Ramesse im Nildelta. Auch er taucht im Reisebericht des Wenamun auf, ebenso seine Frau Tanetamun, die vielleicht eine Tochter Ramses’ XI. war. Ramses selbst blieb zwar Pharao, war aber praktisch zur Marionette reduziert. Damit war die Herrschaft über Ägypten auf drei Personen verteilt ‒ Ramses XI., Herihor und Smendes ‒, wobei die beiden Letzteren dem Namen nach Ramses Gehorsam leisteten, tatsächlich aber unabhängig handelten.18

Das Zerbrechen Ägyptens war keine Hilfe bei der Antwort auf die Krisen dieser Zeit. Grabräuberei blieb ein so großes Problem, dass Herihor und die anderen Priester einige Königsmumien aus ihren eigentlichen Gräbern im Tal der Könige entfernen ließen. Beispielsweise brachte man die Mumie Ramses’ II. im 15. Herrscherjahr des Smendes zeitweise im Grab Sethos’ I. unter. Später mussten beide Könige erneut umziehen, zuletzt Ende des 10. Jahrhunderts in die »Cachette«, das Mumienversteck von Deir el-Bahari.19

Gleich nach dem Tod Ramses’ XI. im Jahr 1070 v. Chr. wurde Smendes Pharao, begründete damit eine neue Königsdynastie, die 21., und herrschte die nächsten 25 Jahre lang. Damit beginnt die Dritte Zwischenzeit, die insgesamt eine Zeit der Umwälzungen mit chaotischen Zwischenphasen war ‒ und mit einigen wenigen relativen Wohlstands. Smendes und seine direkten Nachfolger regierten über ein Jahrhundert lang bis ca. 945 in der neuen Hauptstadt Tanis im Nildelta.20

Herihor wiederum herrschte von Theben aus weiterhin über Oberägypten, womit das Land nun zweigeteilt war. Anscheinend bestand diese Lage unter Herihors Nachfolger Pinudjem I. weiter, der nach Herihors Tod vom Hohepriester zum König aufrückte. Höchstwahrscheinlich war er mit Henuttaui, wohl einer Enkelin Ramses’ XI., verheiratet. Damit waren beide neue Herrscherfamilien mit der letzten Dynastie verbunden ‒ und so begann die Wiedervereinigung von Ober- und Unterägypten.21

Die Aufgabe, die Gräber im Tal der Könige zu schützen, wurde fortgeführt, indem man zehn Königsmumien in einen Nebenraum des Grabes Amenophis’ II. verbrachte. Unter ihnen waren die Leichen von Thutmosis IV., Amenophis III., Merenptah, Siptah, Sethos II. sowie Ramses I., V. und VI. 1898 entdeckte der französische Ägyptologe Victor Loret, der gerade zum Direktor der ägyptischen Altertumsbehörde ernannt worden war, das Grab und sämtliche Königsmumien, unter ihnen auch den oben erwähnten Ramses VI. Zwar erforschte er das Grab sorgfältig und führte ein Grabungstagebuch, doch ist nicht mehr als ein Vorbericht publiziert. Ironie der Geschichte: Lange nach Pinudjems Tod wurde auch seine Mumie zur sicheren Verwahrung in das Versteck in Deir el-Bahari geschafft.22

***

Smendes, der etwa 1043 v. Chr. starb, wurde wahrscheinlich in Tanis bestattet und eröffnete so eine Reihe von Gräbern der 21. Dynastie. Etwa fünf Jahre nach seinem Tod kam nach der kurzen Herrschaft eines anderen Monarchen ein Sohn Pinudjems I. namens Psusennes I. auf den Thron und regierte am Ende fast fünfzig Jahre (ca. 1039‒991). Ab seinem Herrschaftsantritt waren Ober- und Unterägypten wieder vereint. In seine Zeit gehört vielleicht auch der erste Fall eines ägyptischen Auftretens in der Levante seit beinahe einem Jahrhundert.23

Die Belege dafür liefern teilweise die Gold- und Silbergefäße aus dem Grab des Psusennes in Tanis sowie weitere Objekte, darunter Uschebtis (kleine Statuetten in Menschengestalt, die in Gräber gestellt wurden, um der bestatteten Person im Leben nach dem Tod zu dienen). Entdeckt wurde es 1939‒40, als gerade der Zweite Weltkrieg begann, vom französischen Ägyptologen Pierre Montet. Seine Funde übertrafen alle Erwartungen ‒ man hat von einer der reichsten altägyptischen Bestattungen gesprochen, die je gefunden wurden, nur übertroffen vom Grab König Tutanchamuns.24

Als Montet die Grabkammer das erste Mal betrat, sah er in der Mitte des Raumes einen Sarkophag aus massivem Silber, umgeben von Bronzegefäßen und anderen Objekten; weitere Gegenstände säumten die Wände. Die Wandgemälde bestätigten, dass es sich um das Grab Psusennes’ I. handelte. Montet alarmierte König Faruk, der damals das moderne Ägypten beherrschte, und wartete die Ankunft des Monarchen ab, ehe er den Sarg öffnete. Der Ägyptologe Bob Brier beschreibt diesen Moment so: »Als der Sarg am 25. März 1939 geöffnet wurde […], zeigte sich eine Goldmaske, die den längst verstorbenen Pharao bedeckte.« Doch es war nicht Psusennes. Stattdessen gaben die Hieroglyphen an, dass die Mumie im Sarkophag ein bis dahin unbekannter König war, Scheschonq IIa. Das war überaus seltsam, denn seinem Namen nach zu schließen gehörte dieser König zur Dynastie nach der des Psusennes, der 22., die vielleicht ein Jahrhundert später regierte. Noch dazu lag Scheschonq nicht allein in der Vorkammer, denn dort fanden sich auch die Mumien der letzten beiden Könige der 21. Dynastie, Siamun und Psusennes II. Zwischen ihnen hatte man Scheschonqs Sarkophag abgestellt.25

Wenn Scheschonq IIa im Grab Psusennes’ I. lag, wo lag dann Psusennes? War auch hier eine Königsmumie während der Antike umgebettet oder versteckt worden? Weit war die Mumie nicht gekommen, wie sich zeigte, und Montet brauchte nicht lange, bis er das herausfand. Schon im nächsten Jahr, als er ab Mitte Januar 1940 fortfuhr, die verschiedenen Grabbeigaben aus dem Raum zu entfernen, der in Wirklichkeit nur die Vorkammer des eigentlichen Grabes war, bemerkte er in der Westwand zwei versteckte, kaum sichtbare Türen. Später schrieb er: »Wir begannen mit der Nordöffnung. Kleine Steinblöcke ließen sich leicht entfernen, aber dann versperrte uns ein großer Granitblock den Weg, der so exakt in den Gang eingepasst war, dass wir es einige Zeit für unmöglich hielten, ihn zu entfernen. Als wir durch den äußerst schmalen Spalt elektrisches Licht fallen ließen, sahen wir drinnen zwei Metallgegenstände, einen schimmernden und einen grün angelaufenen, dazu einen massiven Stein.«26

Als Montet schließlich den Sperrstein entfernen konnte, indem er ein Kabel sechsmal um ihn legte und den Stein mit einer Winde wegzog, ging er den Gang weiter entlang und fand sich in einem schmalen Raum wieder. Es war eine der beiden Grabkammern mit einem massiven Sarkophag aus rosa Granit, umgeben von Gold- und Silbergefäßen, dazu Kanopenkrügen (in denen die konservierten Eingeweide der Mumie lagen) und anderen Gegenständen. Inzwischen war seit der Entdeckung des Grabes fast ein Jahr vergangen ‒ aber hatte Montet nun endlich den Pharao gefunden? Er selbst bemerkte: »Die Inschriften, die den Sarkophag links und rechts einrahmten, und die auf der Ostseite verrieten uns, dass wir diesmal bei Psusennes angekommen waren.«27

Doch ursprünglich war der Sarkophag eindeutig für Pharao Merenptah bestimmt und verwendet worden, den ersten Pharao, der 1207 v. Chr. die Seevölker bekämpfte und von »Israel« sprach. All seine Kartuschen waren ausgemeißelt und durch den Namen des Psusennes ersetzt worden, aber es blieben genug Reste, um die Originaltexte erkennen zu lassen. Kurz vorher war Merenptahs Mumie ins Grab Amenophis’ II. verlegt worden, also war dieser Sarkophag (der innerste von dreien) jetzt zur Wiederverwendung frei. Folglich hatte man ihn anscheinend von seinem Originalstandort im Tal der Könige in dieses Grab in Tanis verbracht.28

Ende Februar hob Montet den schweren Deckel des rosa Sarkophags. Drinnen fand er »einen zweiten Sarkophag aus schwarzem Granit in Form einer Mumie«. Dem Stil nach hatte dieser Sarg einmal einem Vornehmen der 19. Dynastie gehört. Unverzüglich öffnete Montet ihn. Im Innern lag ein dritter Sarkophag, diesmal aus massivem Silber. Als sein Deckel abgehoben wurde, sah man keine Särge mehr, nur eine Goldmaske und ein vergoldetes Mumienbrett, die den Leichnam des Königs bedeckten. All seine Binden und das Fleisch waren vollständig verwest; nur ein blankes, aber mit Goldschmuck überhäuftes Skelett war noch übrig. Die Hieroglyphen bestätigten, dass Montet endlich Psusennes I. gefunden hatte, der seitdem den Beinamen »der silberne Pharao« trägt. Der Ägyptologe brauchte weitere zehn Tage, um sorgsam die Goldmaske und anschließend die Gebeine des Psusennes zu bergen; schließlich wurden sie mit anderen Gegenständen aus dem Grab ins Museum nach Kairo transportiert.29

Hinter der anderen versteckten Tür lag allerdings noch eine weitere Grabkammer. Ursprünglich war sie für Mutnedjmet, die Frau Psusennes’ I., bestimmt gewesen, aber irgendwann hatte man ihren Leichnam entfernt und durch den von Psusennes’ unmittelbarem Nachfolger Amenemope ersetzt. Unklar ist, wann dieser Austausch stattfand oder wieso Siamun, Psusennes II. und Scheschonq IIa alle nicht in eigenen Gräbern lagen, sondern in der Vorkammer zum Grab Psusennes’ I. Vielleicht wurden Siamun und Psusennes II. von vornherein hier beigesetzt, aber der Ägyptologe Aidan Dodson hat darauf hingewiesen, dass Pflanzenreste an der Mumie Scheschonqs »in die Knochen eingewachsen zu sein scheinen, während der Sarg in stehendem Wasser lag«. Das ist vielleicht ein Hinweis, dass Scheschonqs ursprüngliches Grab überschwemmt wurde und man ihn deswegen in der Vorkammer des Psusennes neu beisetzen musste.30