Versunkene Welten und wie man sie findet - Eric H. Cline - E-Book

Versunkene Welten und wie man sie findet E-Book

Eric H. Cline

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Beschreibung

Untergegangene Städte, sagenumwobene Schätze, rätselhafte Schriftzeichen

Eric Cline, preisgekrönter Wissenschaftler und Autor, entführt uns in die spannende Welt der Archäologie und zeigt, wie sich die Beschäftigung mit den Völkern und Kulturen der Vergangenheit von der Amateurforschung zu einer hoch professionalisierten und technisierten Wissenschaft entwickelt hat. Dabei begegnen wir Entdeckern wie Howard Carter, Heinrich Schliemann und John Lloyd Stephens und begleiten sie dabei, wie sie die Grabkammern des Tutanchamun, die Überreste des antiken Troja und Stätten der Maya-Kultur ans Tageslicht befördern. Lebendig und packend erzählt Cline die faszinierende Geschichte der Archäologie und bringt uns zugleich die Arbeit der Archäologen näher.

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Seitenzahl: 781

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Zum Buch

In seinem neuen Buch begibt sich der renommierte Wissenschaftler und Autor Eric H. Cline auf die Spuren großer Archäologen und ihrer Funde und zeigt zugleich, wie sich die Beschäftigung mit den Völkern und Kulturen der Vergangenheit von der Amateurforschung zu einer hoch professionalisierten und technisierten Wissenschaft entwickelt hat. Wir begegnen Entdeckern wie Howard Carter, Heinrich Schliemann und John Lloyd Stephens und begleiten sie dabei, wie sie das fast unversehrte Grab des Tutanchamun, die Überreste des antiken Troja und Stätten der Maya-Kultur ans Tageslicht bringen. Darüber hinaus werden wir Zeuge von Clines eigenen Ausgrabungen und lernen ganz konkret, wie ein Archäologe arbeitet.

Versunkene Welten und wie man sie findet erzählt nicht nur die faszinierende Geschichte der Archäologie von ihren Anfängen bis heute, sondern hilft uns auch, unsere eigene Geschichte besser zu verstehen - von ihrer dunkelsten Vergangenheit bis zum Aufstieg und Fall der großen Zivilisationen

Zum Autor

Eric H. Cline, Jahrgang 1960, ist Professor für Klassische Altertumswissenschaft und Anthropologie und Direktor des Archäologischen Instituts an der George Washington Universität. Er hat an mehr als 30 Ausgrabungen in Griechenland, Ägypten, Israel, Jordanien und den USA teilgenommen. Für sein Buch 1177 v. Chr. wurde Cline mit dem ersten Preis der American School of Oriental Research für das beste populäre Buch ausgezeichnet.

Ausgrabungen in Tell Kabri

ERIC H.CLINE

VERSUNKENE

WELTEN

UND WIE MAN

SIE FINDET

Auf den Spuren

genialer Entdecker

und Archäologen

Mit Illustrationen von Glynnis Fawkes

Aus dem Englischen von Cornelius Hartz

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Three Stones Make a Wall. The Story of Archaeology bei Princeton University Press, Princeton & Oxford.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright © 2017 Princeton University Press

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Manuela Knetsch, Göttingen

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © dpa, Bild-Nr.: 20472656 (Maske); © GettyImages, Bild-Nr.: 79714894 (Boden)

Karten: Michele Angel

Typografie: DVA/Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Adobe Garamond

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22135-5V002

www.dva.de

Inhalt

Vorwort: Die versteinerte Hand eines Affen

Prolog: »Wunderbare Dinge«: Das Grab des Tutanchamun

Teil 1: Die Anfänge der Archäologie und die ersten Archäologen

1 Asche zu Asche im antiken Italien

2 Auf der Suche nach Troja

3 Im Reich der Pharaonen

4 Mysteriöses Mesopotamien

5 Im Dschungel Mittelamerikas

Nachgefragt 1: Woher weiß man, wo man graben muss?

Teil 2: Afrika, Europa, Levante: Die ersten Menschen und der Beginn der Landwirtschaft

6 Die Entdeckung unserer frühesten Vorfahren

7 Die ersten Landwirte im Fruchtbaren Halbmond

Teil 3: Die Ägäis in der Bronzezeit

8 Die ersten Griechen

9 Wo liegt Atlantis?

10 Taucher, Wracks und Schätze auf dem Meeresgrund

Teil 4: Echte Klassiker: Griechen und Römer

11 Vom Diskurs zur Demokratie

12 Was haben die Römer je für uns getan?

Nachgefragt 2: Woher weiß man, wie man graben muss?

Teil 5: Im Heiligen Land und drum herum

13 Ausgrabungen in Armageddon

14 Biblische Funde

15 Das Geheimnis von Masada

16 Wüstenstädte

Nachgefragt 3: Wie alt ist das Objekt, und warum blieb es erhalten?

Teil 6: Archäologie der Neuen Welt

17 Linien im Sand, Städte im Himmel

18 Gefiederte Schlangen und goldene Adler

19 U-Boote und Siedler, Goldmünzen und Bleikugeln

Nachgefragt 4: Darf man das, was man gefunden hat, behalten?

Epilog: Zurück in die Zukunft

Dank

Anmerkungen

Register

Bibliografie

Ein Stein ist ein Stein.

Zwei Steine sind ein Befund.

Drei Steine sind eine Mauer.

Vier Steine sind ein Gebäude.

Fünf Steine sind ein Palast.

(Sechs Steine sind ein Palast, den Außerirdische gebaut haben.)

Axiom der Archäologen

Vorwort

Die versteinerte Hand eines Affen

Hellenistische Büste aus Bronze, Tell Anafa

Als ich sieben Jahre alt war, brachte mir meine Mutter ein Buch mit, das The Walls of Windy Troy hieß.[1] Es war ein Kinderbuch, in dem es um Heinrich Schliemann und seine Suche nach den Überresten des antiken Troja ging. Nach der Lektüre verkündete ich, wenn ich groß sei, würde ich Archäologe werden. Als Jugendlicher verschlang ich Reiseerlebnisse in Yucatan von John Lloyd Stephens und Götter,GräberundGelehrte von C. W. Ceram. Beide Bücher zementierten meinen Berufswunsch – im Urwald vergessene Städte entdecken und antike Zivilisationen erkunden.[2] An der Universität wählte ich Archäologie als Hauptfach, und anlässlich meines bestandenen Examens schenkte mir meine Mutter noch einmal das Buch, mit dem alles 14 Jahre zuvor für mich begonnen hatte. Es steht heute noch bei mir im Regal in meinem Büro in der George Washington University.

Ich bin nicht der Einzige, den die Archäologie fasziniert; das sind erstaunlich viele Menschen, wie ich immer wieder feststelle. Man denke nur an den Erfolg der Indiana-Jones-Filme und an die zahllosen Dokumentationen, die das Fernsehen zu jeder Tages- und Nachtzeit ausstrahlt. Wie oft habe ich mir schon anhören müssen: »Wissen Sie, wenn ich kein/e [bitte ergänzen: Arzt, Anwältin, Buchhalter, Krankenschwester, Investmentbanker …] wäre, dann wäre ich am liebsten Archäologe geworden.« Dabei haben die wenigsten Menschen eine genaue Vorstellung davon, was ein Archäologe eigentlich tut. Viele glauben, dass man ständig nach versunkenen Schätzen sucht und an exotische Orte reist, um dort mit Zahnbürste und Zahnarztbesteck Artefakte freizulegen. Das ist leider überhaupt nicht der Fall, und es gibt sehr wenige Archäologen, die in irgendeiner Form an Indiana Jones erinnern.

Seit meinem zweiten Jahr am College war ich so gut wie jeden Sommer auf einer archäologischen Expedition – in meinen 35 aktiven Jahren mehr als dreißig Mal. Da ich vor allem im Nahen Osten und in Griechenland arbeite, ordnen mich die meisten Leute der Klassischen Archäologie zu. Aber ich habe auch schon in den USA gegraben, in Kalifornien und Vermont, was zum Fachgebiet der Archäologie der Neuen Welt zählt. Ich hatte das Glück, an einer Reihe hochinteressanter Projekte beteiligt zu sein, unter anderem in Tell Anafa, in Megiddo und Tell Kabri in Israel, auf der Athener Agora, in Böotien und Pylos in Griechenland, in Tell el-Maschuta in Ägypten, Palekastro auf Kreta, Kataret es-Samra in Jordanien und Agios Dimitrios und Paphos auf Zypern. Von den meisten dieser Orte oder Regionen hat kaum ein Nicht-Archäologe jemals gehört, höchstens von der Agora in der Innenstadt von Athen und möglicherweise noch von Megiddo in Israel, der biblischen Stadt Armageddon. Ich kann Ihnen versichern: An diesen Orten zu graben, hat nichts mit dem zu tun, was einem im Fernsehen oder Kino präsentiert wird.

Immer wieder werde ich gefragt: »Was war das Interessanteste, das Sie jemals gefunden haben?« Meine Antwort lautet: »Eine versteinerte Affenhand.« Diese Hand entdeckte ich bei meiner ersten Grabung in Übersee, im Sommer nach meinem zweiten College-Jahr. Im Rahmen eines Projekts der University of Michigan war ich dort in der griechisch-römischen Stätte Tell Anafa im Norden Israels tätig.

Eines schönen Tages am späten Vormittag – es wurde langsam ziemlich heiß und ich hatte schon Sorge, einen Sonnenstich zu bekommen – traf mein kleiner Grabungshammer auf ein Objekt, und zwar in einem so ungünstigen Winkel, dass es emporflog, sich drehte und schließlich ein Stück weiter weg im Sand landete. Während sich das Ding noch in der Luft befand, sah ich es grün schimmern und – vermutlich etwas verwirrt von der Hitze – schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Hey, das ist ja die versteinerte Hand eines Affen! Als es landete, war ich schon wieder zur Vernunft gekommen: Wieso sollte man ausgerechnet im Norden Israels einen versteinerten Affen finden?

Als ich das Objekt näher betrachtete, erkannte ich, worum es sich in Wirklichkeit handelte: um das bronzene Element eines hellenistischen Möbelstücks in der Form des griechischen Gottes Pan – das ist der mit den Hörnern, der umherzieht und auf der Doppelflöte spielt. Wahrscheinlich hatte es einst an der Armlehne eines hölzernen Stuhls gesteckt. Das Holz war natürlich längst zerfallen, und so war lediglich dieser Bronzebeschlag übriggeblieben. Nach 2000 Jahren im Boden war die Bronze grün angelaufen. Wir bargen das Objekt ganz vorsichtig und zeichneten und fotografierten es, damit wir es am Ende veröffentlichen konnten. Fast dreißig Jahre lang sah ich das Ding nicht wieder, bis ich zufällig in einer Ausstellung an der Universität Haifa daran vorbeilief – es wurde dort als Leihgabe vom Israel Museum in Jerusalem gezeigt.

Doch 2013, zum Zeitpunkt dieses Wiedersehens, fand unsere Grabungsmannschaft an der kanaanitischen Stätte Tell Kabri im Norden Israels etwas, das sogar meine versteinerte Affenhand in den Schatten stellte. Seit 2005 leite ich die dortige Ausgrabung zusammen mit Assaf Yasur-Landau von der Universität Haifa; Jahr für Jahr wechseln wir uns als Grabungsleiter ab und Jahr für Jahr gibt es neue Überraschungen. Doch das, was wir in jenem Jahr fanden, hatte keiner von uns erwartet: Es war der älteste und größte Weinkeller, der je ausgegraben wurde. Er stammte aus der Zeit um 1700 v. Chr., war also fast 4000 Jahre alt.[3]

Im Juni, während der ersten Woche unserer Grabungssaison, stießen wir auf einen großen, bauchigen Krug, den wir »Bessie« tauften. Wir brauchten fast zwei Wochen, bis wir ihn vollständig freigelegt hatten, und stellten fest, dass er auf einem Estrichboden lagerte. Mittlerweile hatten wir 39 »Freunde« von Bessie entdeckt– insgesamt fanden wir in jenem Raum und in einem im Norden angrenzenden Korridor vierzig solcher Krüge, jeder von ihnen knapp 1 Meter hoch.

Zwar war jedes dieser Gefäße in Dutzende Scherben gesprungen, doch die Erde, die das Innere der Krüge ausfüllte, hatte dafür gesorgt, dass sie ihre ursprüngliche Form behalten hatten. Wir gingen zunächst davon aus, dass jeder dieser Behälter etwa 50 Liter Flüssigkeit enthielt. Wie unser Konservator bei der späteren Rekonstruktion herausfand, fassten sie sogar über 100 Liter, insgesamt wurden hier also 4000 Liter Flüssigkeit aufbewahrt.

Als Nächstes ließ Andrew Koh, der stellvertretende Grabungsleiter in Kabri, diverse Scherben auf organische Rückstände testen, um festzustellen, was sich in den Krügen befunden hatte. Die meisten wurden positiv auf Hydroxybenzoesäure, wie man sie in Rotwein findet, getestet; ein paar wiesen Spuren von Dihydroxybutandisäure auf, die in Rot- und Weißwein enthalten ist. Kein Zweifel– hier handelte es sich um Gefäße zum Lagern von Wein, genauer gesagt: Rotwein (und ein wenig Weißwein). Die Menge entspricht etwa dem, was heutzutage 6000 Weinflaschen fassen. Natürlich ist der Wein längst verschwunden, bis auf geringe Rückstände, die sich im Material eingelagert haben; trotzdem fragt man mich immer wieder, wie der Inhalt der Krüge wohl geschmeckt haben mag. Da wir das nicht mit Sicherheit sagen können, antworte ich immer, dass er zumindest heute ein »erdiges Aroma« habe.

Weinkrüge, Tell Kabri

Über unsere Entdeckung (und den Artikel, den wir anschließend in einer Fachzeitschrift veröffentlichten) berichteten viele große Zeitungen, darunter die NewYorkTimes, das Wall StreetJournal, die WashingtonPost und die LosAngelesTimes, sowie diverse Magazine wie Time,Smithsonian und Wine Spectator.[4] Seither haben wir noch vier Räume mit siebzig weiteren Krügen entdeckt. Wie es aussieht, werden wir auf diesem interessanten Ausgrabungsgelände noch mehrere Jahre lang zu tun haben.

Dass ich einmal einen Weinkeller aus dem antiken Kanaan entdecken würde, habe ich mir damals als Siebenjähriger, als ich beschloss, Archäologe zu werden, bestimmt nicht ausgemalt. Aber genau das ist ja das Schöne und das Spannende an der Archäologie – man weiß buchstäblich nie, was man wo finden wird. Meine Kolleginnen und Kollegen an der George Washington University, die in anderen Fachbereichen arbeiten, finden es immer wieder witzig zu fragen: »Was gibt’s Neues bei den Archäologen?« – denn natürlich ist alles, was wir ausgraben, alt. Dennoch hält die Archäologie immer wieder Überraschungen parat, sogar an Ausgrabungsstätten, die wir seit Langem sehr gut kennen. Zum Beispiel hat sich erst kürzlich herausgestellt, dass Troja mindestens zehn Mal so groß ist, wie wir bisher geglaubt haben. Die prähistorischen Malereien an den Wänden der Chauvet-Höhle in Frankreich sind älter, als man bislang angenommen hat. Mitten im Dschungel von Belize wurde mithilfe modernster Technik eine bis dato völlig unbekannte Stätte der Maya entdeckt. Und das Grabungsareal von Tanis in Ägypten lag lange Zeit quasi vor den Augen der Forscher, ohne dass es jemand entdeckt hätte. All dies waren Neuigkeiten, mit denen keiner gerechnet hatte.

Tagtäglich werden neue Funde publiziert und neue Hypothesen verkündet – es ist eine schiere Sintflut, deren Tempo stetig zuzunehmen scheint und die das Herz jedes Archäologen höherschlagen lässt. An einem einzigen Tag Anfang Juni 2016 zum Beispiel berichteten die Medien über eine neue Expedition, bei der in der Höhle der Schädel am Toten Meer in Israel nach Schriftrollen gesucht werden sollte, über den Fund von 400 Holztafeln mit lateinischer Schrift in London, über eine in Rom entdeckte Legionärskaserne aus der Zeit von Kaiser Hadrian, über einen Teenager aus Kanada, der in Mexiko möglicherweise eine Stätte der Maya entdeckt hatte, über die Eröffnung einer Ausstellung mit 500 Objekten aus dem alten Griechenland in Washington, D. C., über den Einsatz neuer Methoden der Fernerkundung an der Cheops-Pyramide und über die Tatsache, dass die Klinge eines Dolches von Pharao Tutanchamun aus Eisen hergestellt ist, das von einem Meteoriten stammt – was die NewYorkPost zu der wunderbaren (wenn auch faktisch nicht ganz akkuraten) Schlagzeile veranlasste: »King Tut’s dagger came from outer space« (»Tutanchamuns Dolch kam aus dem Weltall«).[5] Nur wenige Tage später folgten Berichte über neue archäologische Entdeckungen im Dschungel von Kambodscha, die mittels modernster Fernerkundung gemacht worden waren.[6]

So erfreulich es ist, dass heute so viele neue Entdeckungen gemacht werden– vielleicht mehr und in schnellerer Abfolge als je zuvor in der Geschichte der Archäologie–, so betrüblich ist es, dass dieses Buch dadurch wahrscheinlich zumindest in Teilen bereits veraltet sein wird, wenn es auf den Markt kommt. Die Beispiele, die ich eben aufgezählt habe, sowie ein paar weitere, auf die ich später noch kommen werde, waren zu dem Zeitpunkt, als ich mein Manuskript fertigstellte, brandaktuell. Während Sie dieses Buch hier lesen, wird die Presse längst über ganz andere Funde und neue Erkenntnisse berichten.

Dies sind wirklich aufregende Zeiten für Archäologen. Dennoch möchte ich in diesem Buch auch die Gelegenheit nutzen, hier und da auf die vielen zweifelhaften Behauptungen einzugehen, die man immer wieder in TV-Dokumentationen, Medienberichten, persönlichen Blogs und anderswo zu hören bekommt– es ist mitunter nicht ganz einfach für den interessierten Laien, zwischen echten Entdeckungen professioneller Archäologen und den Theorien von Pseudo-Archäologen zu unterscheiden. Jahr für Jahr begeben sich enthusiastische Amateure ohne oder mit nur geringen archäologischen Kenntnissen auf die Suche nach mythischen Objekten wie der Bundeslade oder sagenumwobenen Orten wie Atlantis. Eine solche Suche liefert möglicherweise gute Fernsehbilder, aber im Zuge dessen gerät oft der tatsächliche wissenschaftliche Fortschritt ins Hintertreffen. Mitunter sind die Behauptungen dieser falschen Forscher so abwegig, dass ich mich im Jahr 2007 veranlasst sah, einen Artikel im BostonGlobe zu veröffentlichten, den ich in Anlehnung an den ersten Indiana-Jones-Film mit »Raiders of the Faux Ark« betitelte (auf Deutsch etwa »Jäger des gefälschten Schatzes«). Darin warnte ich die Öffentlichkeit vor Scharlatanen und rief meine Fachkollegen dazu auf, solche vermeintlichen Erkenntnisse immer nachzuprüfen, sobald sie die Medien erreichten.[7]

Nicht zuletzt durch den Einfluss dieser Pseudo-Archäologie können manche Leute nicht akzeptieren, dass der Mensch solch wichtige Schritte wie den Ackerbau oder die Domestizierung von Tieren aus eigener Kraft vollzogen hat– oder dass er so gewaltige architektonische Meisterwerke wie die Pyramiden oder die Sphinx schuf.[8] Sie glauben fest daran, dass die Menschen dabei Hilfe von außerirdischen oder manchmal auch göttlichen Wesen hatten, obwohl für eine solche Erklärung überhaupt keine Notwendigkeit besteht. Das Ganze hat solche Formen angenommen, dass wir dem altbekannten Axiom der Archäologen, das diesem Buch vorangestellt ist, inzwischen (selbstverständlich mit einem Augenzwinkern) eine sechste Zeile hinzugefügt haben: »Sechs Steine sind ein Palast, den Außerirdische gebaut haben.«

Der vielleicht wichtigste Grund, gerade jetzt ein solches Buch zu schreiben, ist aber, dass die Welt in den vergangenen Jahren Zeuge von solch zerstörerischen Übergriffen auf archäologische Stätten und Museen geworden ist, wie es sie in diesem Umfang und in dieser Häufigkeit noch nie gegeben hat. Im gesamten Nahen Osten kam und kommt es zu weitreichenden Plünderungen und zur planmäßigen Vernichtung von Altertümern, im Irak und in Afghanistan, in Syrien, Libyen und Ägypten– Vorkommnisse, die im direkten Zusammenhang mit den Kriegen und Aufständen in jenen Regionen stehen. Doch nicht nur dort werden antike Stätten geplündert; es ist ein globales Problem, das sich von Griechenland bis Peru erstreckt und in nie gekanntem Maße das einzigartige kulturelle Erbe der Menschheit bedroht.[9] Bereits im Jahr 2008 beschrieb ein Reporter das Ausmaß der Zerstörungen als »beinahe industriell«: »Plünderer bearbeiten antike Standorte mit Baggern und Bulldozern, sie tragen die obere Erdschicht in Bereichen ab, die so groß sind wie mehrere Fußballfelder. Dann durchkämmen sie das jeweilige Areal mit Metalldetektoren– Münzen verraten häufig den Standort weiterer Schätze– und bohren den Erdboden auf, um alles herauszuholen, was sich zu Geld machen lässt.«[10] Mit einem ganz ähnlichen Wortlaut warnte die UNESCO 2015 vor »Plünderungen in Syrien in einer quasi-industriellen Größenordnung«.[11]

Archäologen gehen aktiv dagegen vor, indem sie den anhaltenden Verlust antiker Kunstschätze dokumentieren und zu verhindern versuchen. Doch es sollte nicht ihnen allein aufgebürdet werden, sich um den Erhalt der Zeugnisse unserer Vergangenheit zu kümmern.[12] Dieses Problem geht uns alle an: Die gesamte Menschheit ist dafür verantwortlich, die Überreste längst verlorener Zivilisationen zu bewahren. Das Material, das ich für dieses Buch zusammengetragen habe, kann uns hoffentlich einmal mehr daran erinnern, woher wir kommen und welche Faszination davon ausgeht. Ich hoffe, dass sich die breite Öffentlichkeit auf diese Weise dazu mobilisieren lässt, das kulturelle Erbe der Menschheit zu retten, bevor es zu spät ist. Sicherlich werden nicht alle Leser dieses Buches die Zeit und die Möglichkeit haben, sich bei einer archäologischen Ausgrabung zu betätigen. Doch jeder kann sich zumindest an der öffentlichen Diskussion beteiligen und sich für die Arbeit der Archäologen und unser kulturelles Erbe einsetzen.

Außerdem ist es wieder einmal an der Zeit, eine neue Einführung in die Archäologie auf den Markt zu bringen, die sich an interessierte Menschen jeden Alters wendet, an junge Leute (wie ich einer war, als ich damals über Heinrich Schliemann las) genauso wie an Erwachsene und an Leute im Ruhestand, die sich erstmals auf das Feld der Archäologie wagen. In den letzten Jahrzehnten hat es nicht nur große fachliche Fortschritte in der Archäologie gegeben, sondern auch eine enorme Zahl neuer Entdeckungen. Dazu zählen: »Lucy«, das Teilskelett eines frühen Hominiden aus Hadar in Äthiopien. Die 3,6 Millionen Jahre alten Fußspuren im tansanischen Laetoli. Die spektakulären Höhlenmalereien in den Chauvet-Grotten in Frankreich. Die Schiffswracks vom Kap Gelidonya und von Uluburun im Südwesten der Türkei, beladen mit Gegenständen, die in diversen Ländern rund um das bronzezeitliche Mittelmeer angefertigt wurden. Der älteste Tempel der Welt in Göbekli Tepe und die neuen Ausgrabungen an der jungsteinzeitlichen Stätte Çatalhöyük, ebenfalls in der Türkei. Die Terrakotta-Armee in China. »Ötzi«, die Eismumie aus den Alpen. Die Kultur der Moche in Peru. All dies und noch viel mehr werde ich in diesem Buch präsentieren, und ich werde die Archäologinnen und Archäologen vorstellen, die an diesen Standorten gegraben haben, sowie die Techniken, mit denen ihnen die Entdeckungen gelungen sind.

Auf den folgenden Seiten möchte ich die Entwicklung der Archäologie nachzeichnen und zeigen, wie sich die Beschäftigung mit den Völkern und Kulturen der Vergangenheit zu einer hoch professionalisierten und technisierten Wissenschaft entwickelt hat. Unterwegs werden wir diverse Entdecker und Archäologen wie Howard Carter, Heinrich Schliemann, Mary Leakey, Hiram Bingham, Dorothy Garrod und John Lloyd Stephens kennenlernen. Frauen und Männer wie sie waren es, die die Überreste vergangener Völker und verlorener Zivilisationen ans Tageslicht gebracht haben, etwa diejenigen der Hethiter, der Minoer, der Mykener, der Troer, der Assyrer, der Maya, der Inka, der Azteken und der Moche. Wir werden uns archäologische Arbeiten aus der Alten Welt (Europa und Naher Osten) und aus der Neuen Welt (Nord-, Mittel- und Südamerika) anschauen.

Es sind diese Fachkollegen und Entdeckungen, die mich persönlich am meisten fasziniert haben, und sie sind besonders wichtig, wenn man verstehen möchte, wie sich das Fach Archäologie im Laufe der Jahre weiterentwickelt hat und wie uns diese neuen Entwicklungen dabei halfen, einige längst verloren geglaubte frühe Stätten und Zivilisationen ans Licht zu bringen.[13] In allen Kapiteln– auch in den mit »Nachgefragt« betitelten Zwischenkapiteln– stelle ich diverse Funde und Fundstätten vor. Es gibt dabei ein paar rote Fäden, die alles miteinander verbinden, unter anderem das weltweite Problem der Plünderungen, die harte, körperlich anstrengende Arbeit, die eine Grabung mit sich bringt, die Tatsache, dass Archäologen nach Informationen suchen und nicht nach Gold oder anderen Schätzen, und die technologischen Verbesserungen, die es uns erlaubt haben, neue Stätten zu finden und neue Erkenntnisse über längst ausgegrabene Standorte zu sammeln.

Daneben liefere ich ein paar praktische Details und gebe Ratschläge für die Arbeit als Archäologe. In den Zwischenkapiteln beantworte ich Fragen, die mir immer wieder gestellt werden, zum Beispiel: »Woher weiß man, wo man graben muss?«– »Wie findet man heraus, wie alt etwas ist?«– »Darf man das, was man gefunden hat, behalten?« Ich bediene mich dazu einer ganzen Reihe von Beispielen, wie Ötzi, den »Mann aus dem Eis«, oder die Terrakotta-Armee, greife aber ebenso auf meine eigenen Erfahrungen zurück, die ich in der Feldforschung gesammelt habe, von Kreta über Zypern bis nach Kalifornien. In einigen Fällen werde ich anhand dieser Beispiele auch aufzeigen, was man bei einer Grabung nicht tun sollte, etwa bei einem Survey, also einer Geländebegehung, in Griechenland von einer Klippe zu fallen – oder bei einer Grabung in Israel zu glauben, eine versteinerte Affenhand gefunden zu haben. Dadurch wird meine Darstellung im Hinblick auf einige Fundstätten gelegentlich recht spezifisch. So verwendet man bei Grabungen im Nahen Osten beispielsweise regelmäßig Spitzhacken, bei Grabungen an der Ostküste der Vereinigten Staaten jedoch so gut wie nie. Ich habe mich bemüht, jeweils darauf hinzuweisen, welche Techniken wo auf der Welt zum Einsatz kommen, und gehe auf entsprechende Unterschiede ein.

Alles in allem entspricht das Material, das ich für dieses Buch zusammengetragen habe, dem, was ich in meinem Kurs »Einführung in die Archäologie« verwende – ein Kurs, den ich seit 2001 an der George Washington University gebe und für dessen Unterlagen und Vorträge ich jedes Jahr die neuesten Entdeckungen, Forschungsergebnisse und Ideen berücksichtige. Ein anderer Professor oder Autor wäre vielleicht mit einem anderen Konzept an ein solches Buch herangegangen, das bleibt jedem unbenommen; die folgenden Erörterungen jedoch reflektieren meine ganz spezielle Liebe und Leidenschaft für das Feld der Archäologie und stecken randvoll mit meinen Lieblingsgeschichten und Beispielen, die das, was ich sagen möchte, besonders schön illustrieren. Ich hoffe, meine Leser finden das Material interessant genug, um darüber hinaus weiterzulesen und sich anderswo detaillierter über einzelne Stätten, Epochen und Völker zu informieren.

Wer sich die Zeit nimmt, dieses Buch von vorne bis hinten zu lesen, weiß am Ende zumindest eine ganze Menge über diverse berühmte Stätten und Archäologen und erfährt, was das Fach Archäologie alles beinhaltet – und dass nicht etwa Aliens für die kulturellen Leistungen der Menschheit verantwortlich sind. Außerdem wird, wie ich hoffe, deutlich werden, warum die Archäologie eine so wichtige Disziplin ist und warum wir alle mithelfen sollten, die Vergangenheit für künftige Generationen zu bewahren. Denn die Archäologie lehrt uns nicht nur eine Menge über die Vergangenheit, sie bietet uns einen ganz allgemeinen Einblick in menschliche Befindlichkeiten und bereichert unser Verständnis für die Gegenwart und die Zukunft.

Um dies noch einmal ganz deutlich zu sagen: Die Geschichte der Archäologie setzt sich aus zahlreichen Einzelgeschichten aus aller Welt (und sogar aus dem Weltall) zusammen. Und die Forscherinnen und Forscher, die in diesen Geschichten auftauchen, eint ein gemeinsames Ziel: Sie alle wollen die Geschichte der Menschheit besser verstehen – von ihrer dunkelsten Vergangenheit bis zum Aufstieg (und Fall) der großen Zivilisationen. All das ist unsere Geschichte.

Prolog

»Wunderbare Dinge«: Das Grab des Tutanchamun

Die goldene Maske des Tutanchamun

Am 26. November 1922 warf Howard Carter zum allerersten Mal einen Blick in das Grab des Tutanchamun. Er musste die Augen ein wenig zusammenkneifen, um durch die kleine Öffnung, die er in die Wand gehauen hatte, etwas erkennen zu können. Was dahinterlag, wurde nur von einer Kerze erhellt, die er am ausgestreckten Arm in die Grabkammer hielt. Er erblickte einen Raum, der von oben bis unten vollgestopft war mit allerlei Gegenständen. Viele dieser Gegenstände waren aus Gold, überall glänzte und glitzerte es.

Der Earl of Carnarvon, der für die Kosten der Grabung aufkam, zappelte ungeduldig hinter Carter herum und zupfte ihn an der Jacke. »Was sehen Sie?«, wollte er wissen. »Was sehen Sie?«

Carter antwortete: »Ich sehe wunderbare Dinge.«[1]

Fünf Jahre lang hatten Carter und sein Mäzen Carnarvon nach Tutanchamuns Grab gesucht. Wie sich herausstellte, befand es sich unterhalb jener Stelle, an der sie Jahr für Jahr aufs Neue ihr Lager aufgeschlagen hatten, im Tal der Könige, gegenüber von Luxor auf der anderen Seite des Nils. Sie hatten es nicht gefunden, weil es tief unter Steinen und Geröll verborgen lag, zurückgelassen von Arbeitern, die 200 Jahre nach Tutanchamun ganz in der Nähe die Grabkammer für Ramses VI. gebaut hatten.

Zehn Jahre brauchte Carter, um alle Gegenstände aus dem Grab zu bergen und zu katalogisieren. Die Objekte wurden in das Ägyptische Museum in Kairo gebracht, wo sie heute noch zu bestaunen sind. Carnarvon indes erlebte dies nicht mehr, denn er starb Anfang April 1923, kurz nach Öffnung des Grabes. Sein Tod war ein Unfall: Er starb an einer Blutvergiftung, nachdem er sich beim Rasieren einen Mückenstich aufgeschnitten hatte. Unmittelbar nach seinem Tod kam das Gerücht auf, das Grab sei verflucht; wann immer in den Folgejahren jemand starb, der der bei der Öffnung des Grabes zugegen gewesen war, schlachteten die Medien den angeblichen Fluch weiter aus. Carter selbst lebte noch 17 weitere Jahre– allein deshalb wird an der Geschichte wohl kaum etwas dran gewesen sein.[2] Ironischerweise starb Tutanchamun neuesten Erkenntnissen zufolge ebenfalls an einem Mückenstich, nur dass die Mücke in seinem Fall Malaria übertragen hatte.[3]

Tutanchamun herrschte während der Zeit des Neuen Reichs. Er gehörte der 18. Dynastie an, die von etwa 1550 v. Chr. bis kurz nach 1300 v. Chr. in Ägypten regierte. Aus dieser Epoche stammen einige der berühmtesten Herrscher Ägyptens, zum Beispiel Hatschepsut, die legendäre weibliche Pharaonin, die zwanzig Jahre lang an der Macht war, ihr Stiefsohn Thutmosis III., der einen Großteil des heutigen Israel, Libanon, Syrien und Jordanien eroberte, der »Ketzerpharao« Echnaton, der den Monotheismus erfand, und Echnatons schöne Frau Nofretete. Die beiden Letztgenannten waren höchstwahrscheinlich Tutanchamuns Eltern.[4]

Tutanchamun bestieg um 1330 v. Chr. herum den Thron von Ägypten, zu diesem Zeitpunkt war er etwa acht Jahre alt. Zehn Jahre später fand er völlig unerwartet den Tod. Man begrub ihn im Tal der Könige, sein Grab wurde abgedeckt und geriet in Vergessenheit. Erst 3500 Jahre später fand man es wieder.

Carter kam im Alter von 17 Jahren zum ersten Mal nach Ägypten. 1907 war er bereits ein angesehener Ägyptologe. Zu jener Zeit, als Carnarvon auf ihn zukam, war der bärbeißige Carter gerade arbeitslos. Grund war eine heftige Auseinandersetzung rund um eine Touristengruppe aus Frankreich gewesen, die damit geendet hatte, dass Carter seinen Job bei der Regierung verlor – er hatte sich geweigert, um Entschuldigung zu bitten. Von diesem Zeitpunkt an verbrachte Carter seine Tage mit dem Malen von Aquarellen. Was Carnarvon betrifft, so hatte sein Arzt ihm verordnet, die Wintermonate in Ägypten statt in England zu verbringen, da seine Lunge bei einem Autounfall verletzt worden war.[5]

Zehn Jahre lang hatten die beiden Männer bereits an diversen Orten zusammengearbeitet, bevor sie beschlossen, im Tal der Könige nach Tutanchamuns Grab zu suchen. In dieser staubtrockenen, felsigen Gegend auf der dem modernen Luxor gegenüberliegenden Nilseite waren ab etwa 1500 v. Chr. die meisten Pharaonen des Neuen Reichs bestattet worden. Viele der dortigen Grabkammern waren bereits Jahrhunderte zuvor, teilweise schon in der Antike, wiederentdeckt und ausgeraubt worden, aber es gab durchaus noch einige, deren Standort unbekannt war. Und dazu gehörte das Grab des Tutanchamun. Fünf lange Jahre später, in denen sie kaum nennenswerte Funde vorzuweisen hatten – Carnarvon ging langsam das Geld aus und er verlor allmählich das Interesse an der Geschichte –, stellte Carter fest, dass es im Tal der Könige nur noch einen Ort gab, an dem sie nicht gesucht hatten: dort, wo sie jedes Jahr ihr Lager aufschlugen. Am 1. November 1922 begann er, dort zu graben, und nur drei Tage später, am Samstag, dem 4. November um 10 Uhr morgens, legte er die erste Stufe der Treppe frei, die zu Tutanchamuns Grab hinabführte.[6]

Den restlichen Samstag und den gesamten Sonntag über grub Carter weiter, und als am 5.November die Sonne unterging, entdeckte er im Gips einer versiegelten Tür den Stempel der königlichen Nekropole. Das konnte nur eines bedeuten: Wer auch immer hinter dieser Tür bestattet war, war eine bedeutende Persönlichkeit. Carter wies seine Helfer an, die Arbeit vorerst ruhen zu lassen, und telegrafierte Carnarvon, der sich noch in England befand. In seinem Tagebuch vermerkte Carter den Wortlaut seines Telegramms:

SCHLUSSENDLICH IM TAL WUNDERBARE ENTDECKUNG GEMACHT EIN GROSSARTIGES GRAB MIT INTAKTEN SIEGELN BIS ZU IHRER ANKUNFT ALLES ABGEDECKT GRATULIERE[7]

Was er Carnarvon verschwieg: Carter fürchtete, das Grab könne leer sein. An der Tür befanden sich tatsächlich intakte Stempel der Nekropolen-Wächter, doch anhand des oberen Teils des versiegelten Eingangs konnte er erkennen, dass dieser dennoch bei zwei verschiedenen Gelegenheiten geöffnet und wieder geschlossen worden war. Er war sich ziemlich sicher, dass man die Grabkammer in der Antike ausgeraubt hatte; insofern stellte sich eigentlich nur die Frage, ob irgendetwas im Grab zurückgelassen worden war, das sich noch zu bergen lohnte.

Am 23. November traf Carnarvon im Tal der Könige ein und die Arbeit wurde umgehend fortgesetzt. Schon am nächsten Tag hatten sie die Gewissheit, dass es sich tatsächlich um Tutanchamuns Grab handelte, denn unter den Abdrücken der königlichen Nekropolen-Stempel war klar und deutlich sein Name zu lesen.

Als es ihnen am 25. November endlich gelang, die schwere steinerne Tür zu öffnen, fanden sie dahinter einen fast 10 Meter langen Korridor, der vorsätzlich mit Erde, Steinen, Putz und anderem Bauschutt gefüllt worden war. Den folgenden Tag über schleppten die Arbeiter den Schutt nach draußen und schichteten ihn neben dem Eingang zum Grab zu einem Haufen auf, der immer weiter anwuchs. Gegen 14 Uhr hatten sie eine zweite versiegelte Tür freigelegt, die in jenen Raum führte, den wir heute die »Vorkammer« nennen.[8]

Allerdings wussten sie immer noch nicht, ob sie kurz vor der Entdeckung des Jahrhunderts standen– oder ob sie eine leere Kammer vorfinden würden, die Jahrtausende zuvor von Grabräubern leergeräumt worden war. Was sie bereits sicher wussten, war, dass Carter recht gehabt hatte: Das Grab war in der Antike zweimal geöffnet worden, zum ersten Mal anscheinend bereits kurz nach der Bestattung, als der Eingangskorridor noch leer gewesen war– abgesehen von einigen Objekten wie Krügen, die Material zur Einbalsamierung enthielten, und zum zweiten Mal, nachdem der Korridor bereits mit Bruchstücken weißen Gesteins gefüllt worden war. Wie Carter und Carnarvon nach Beseitigung der Trümmer deutlich sehen konnten, hatten die Grabräuber entlang der oberen linken Kante einen Tunnel gegraben, der irgendwann später mit Brocken aus dunklem Feuerstein und Kieseln aufgefüllt wurde.[9]

Sie schlugen ein kleines Loch in die zweite Tür, und Carter sah mit Erleichterung, dass die Vorkammer noch voller Gegenstände war. Später schrieb er:

Zuerst konnte ich gar nichts sehen, denn die warme Luft, die aus der Kammer entwich, ließ das Licht der Kerze flackern; doch als sich meine Augen daran gewöhnt hatten, tauchten nach und nach Details des Raumes aus dem Nebel auf: seltsame Tiergestalten, Statuen und Gold – überall das Glitzern von Gold. Einen Moment lang – denen, die neben mir standen, muss es wie eine Ewigkeit vorgekommen sein – stand ich starr vor Staunen da, und als Lord Carnarvon die Ungewissheit nicht länger ertragen konnte, fragte er mich ängstlich: »Können Sie etwas sehen?« Alles, was ich herausbringen konnte, war: »Ja, wunderbare Dinge.«[10]

Am 26. November vermerkte Carter in seinem Tagebuch, was als Nächstes geschah. Es klingt im Nachhinein wie aus dem Drehbuch eines Hollywood-Films, und dennoch entspricht es der Wahrheit. Sie vergrößerten das Loch, damit Carter und Carnarvon gleichzeitig hindurchschauen konnten, und als sie nun in den Raum blickten, den sie mit einer Taschenlampe und einer weiteren Kerze erhellten, kamen sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie hatten eine »fantastische Sammlung an Schätzen« entdeckt, wie Carter es formulierte: »Zwei merkwürdige Königsstatuen aus schwarzem Ebenholz – mit goldenen Sandalen, in den Händen Stab und Streitkolben – tauchten aus der Finsternis auf; seltsam geformte vergoldete Sofas mit Löwen-Köpfen, Hathor-Köpfen und Geschöpfen, die direkt aus der Hölle zu kommen schienen; … Vasen aus Alabaster, einige wunderschön gestaltet, mit Lotus- und Papyrusmuster, fremdartige schwarze Schreine mit einer vergoldeten Monsterschlange, die aus ihrem Inneren auftauchte, … detailreich geschnitzte Stühle, ein Thron mit goldenen Einlagen, … Hocker in allen erdenklichen Formen und Ausführungen, aus gewöhnlichen und aus seltenen Materialien, und zu guter Letzt ein Durcheinander von Bestandteilen umgestürzter Streitwagen, golden glänzend, aus deren Mitte eine Kleiderpuppe hervorragte.«[11]

Die lapidaren Worte, mit denen Carter seinen Tagebucheintrag beendet, klingen, als habe er beim Schreiben noch immer unter Schock gestanden: »Wir schlossen das Loch wieder, verriegelten das Holzgitter, das vor der ersten Tür platziert worden war, bestiegen unsere Esel und kehr[t]en zurück zum Lager. Erst jetzt wurde uns klar, was wir da alles gesehen hatten«.[12]

Wir können uns heute kaum vorstellen, was Carter und Carnarvon bei dieser Entdeckung durch den Kopf gegangen sein muss, vor allem wenn man bedenkt, wie viele Jahre sie eine Enttäuschung nach der anderen hatten hinnehmen müssen. Jetzt hatte sich ihr großer Traum erfüllt, und das in einem Maße, wie sie es nie für möglich gehalten hatten.

Später, als Carter und seine Mannschaft den Inhalt dieser ersten Kammer ans Tageslicht beförderten, fanden sie die Überreste eines verknoteten Schals, in dem sich acht Ringe aus massivem Gold befanden.[13] Carter war der Ansicht, dass eine Gruppe der Grabräuber bei ihrer Arbeit überrascht worden war und in der Aufregung den Schal mit den Ringen in eine der Kisten geworfen hatte; möglicherweise hatten dies aber auch die Vertreter der Obrigkeit getan.

Eine zweite Gruppe Grabräuber war in weitere Räume gelangt und hatte sie durchwühlt, unter anderem in einen, den wir heute als »Anbau« bezeichnen, sowie in die sogenannte »Schatzkammer«. Obwohl diese Räume einen etwas aufgeräumteren Eindruck machten als die Vorkammer, schätzte Carter, dass die Grabräuber an die 60 Prozent der einst in der Schatzkammer aufbewahrten Schmuckstücke hatten mitgehen lassen.

Dennoch waren diese Räume noch immer dermaßen vollgestopft mit Artefakten, dass Carter fast drei Monate brauchte, um alle Objekte zu katalogisieren und abzutransportieren. Erst Mitte Februar 1923 erreichte er die eigentliche Grabkammer Tutanchamuns. Am 15. Februar schrieb er in sein Tagebuch: »Vorbereitungen getroffen zur Öffnung der versiegelten Tür zur Grabkammer.« Und am 16. Februar heißt es lediglich: »Versiegelte Tür geöffnet«, gefolgt von einer Liste derjenigen, die mit dabei gewesen waren.[14]

Diese Personen wurden Zeugen dessen, was die NewYorkTimes als »den außergewöhnlichsten Tag in der gesamten ägyptischen Grabungsgeschichte« bezeichnete. Carter und einige andere beschrieben später detailliert, was sie damals dort vorfanden – die riesenhaften vergoldeten Schreine, die um den Sarkophag des Pharaos herumstanden, und die zahllosen Gegenstände, die sich überall in der Grabkammer stapelten.

Dann allerdings kam es zu einigen unvorhergesehenen Ereignissen, nicht zuletzt zu diversen juristischen Auseinandersetzungen, die dazu führten, dass Carter erst knapp zwei Jahre später, im Oktober 1925, Tutanchamuns Mumie in Augenschein nehmen konnte. Dort lag der Pharao – in einem Sarkophag, der sich in einem weiteren Sarkophag befand, und jener wiederum steckte in einem dritten. Die beiden äußeren waren aus mit Blattgold verkleidetem Holz gefertigt, der innere Sarkophag bestand aus massivem Gold und wog über 100 Kilo. Darin lag Tutanchamun. Seine Mumie trug eine goldene Totenmaske mit Einlagen aus Lapislazuli und blauem Glas, der Rumpf und die Beine unterhalb der Maske waren mit einer dicken Schicht Pech (Bitumen) bedeckt.[15]

Howard Carter und ein Assistent untersuchen Tutanchamun

Carter unternahm diverse vergebliche Versuche, Tutanchamun aus dem Sarg zu bekommen; einmal entzündete er sogar ein Feuer unter der Mumie. Am Ende beschloss er, sie an Ort und Stelle zu untersuchen. Die zurückhaltenden Formulierungen in seinem Tagebuch für den 11. November 1925 lassen seine damaligen Gefühle erahnen: »Heute war ein großer Tag für die Geschichte der Archäologie und, wie ich hinzufügen möchte, für die Geschichte archäologischer Entdeckungen. Ein Tag von jenen, auf die man jahrelang hinarbeitet, wenn man viele Jahre gräbt, konserviert und aufzeichnet, stets in der Hoffnung darauf, dass das, was man bislang nur vermutet, sich endlich als Tatsache entpuppt.«[16] Carter und seine Assistenten brauchten neun Tage, um Tutanchamuns Mumie auszuwickeln und zu untersuchen, wobei sie sorgfältig alle Objekte verzeichneten, die in den Mumienbinden enthalten waren.

Wie eine Untersuchung des Skelettes ergab, war Tutanchamun noch recht jung gewesen, als er starb, wahrscheinlich zwischen 18 und 22 Jahre alt. In den vergangenen Jahren hat man sich wieder intensiver mit der Mumie beschäftigt, was zu neuen Theorien darüber geführt hat, wie Tutanchamun ums Leben gekommen war und warum er so jung sterben musste. Mithilfe modernster Technik sind dabei einige neue Aspekte rund um Tutanchamuns Leben und Tod ans Licht gekommen.

Im Jahr 2005 leitete Zahi Hawass, der ehemalige Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung, eine Studie, bei der Tutanchamuns Mumie erstmals einer Computertomografie unterzogen wurde. Er fand heraus, dass Tutanchamun einen komplizierten Beinbruch erlitten hatte.[17] Möglicherweise entzündete sich dieser Bruch und führte zu seinem Tod; er starb also eventuell infolge eines Unfalls, bei dem er vom Streitwagen gefallen war. Manche Forscher waren dennoch der Meinung, dass er ermordet wurde.[18]

Im selben Jahr bat man drei unterschiedliche Teams forensischer Anthropologen, Tutanchamuns Gesicht zu rekonstruieren.[19] Die Ergebnisse fielen überraschend unterschiedlich aus: Das französische Team schrieb ihm weiblich anmutende Gesichtszüge zu, dem ägyptischen Team zufolge sah er eher etwas dicklich aus. Und die US-Amerikaner, denen man vorher nicht verraten hatte, wessen Gesicht sie da eigentlich rekonstruierten, warteten mit einer dritten Interpretation auf.

Im Jahr 2014 wurde eine weitere CT-Analyse durchgeführt, die sowohl unter Wissenschaftlern als auch in den Medien für viel Wirbel sorgte. Auf Basis von etwa 2000 Scans wurde eine virtuelle Autopsie durchgeführt, die ergab, dass Tutanchamun unter einer Vielzahl körperlicher Beschwerden gelitten hatte, unter anderem ein Klumpfuß, vorstehende Zähne und diverse Gendefekte.[20] Zudem gab es Anzeichen dafür, dass er an Malaria erkrankt war. Es ist also genauso gut möglich, dass er an Malaria starb und nicht an seinem Beinbruch.

Bereits 2010 untersuchte man die DNA von Tutanchamuns Mumie, um mehr über seine Eltern und Großeltern zu erfahren. Die meisten Forscher glaubten, dass Tutanchamuns Vater der Pharao Echnaton war, obwohl beide in antiken Inschriften niemals zusammen auftauchten. Die DNA-Studien scheinen diese Vermutung zu bestätigen, auch wenn nach wie vor unklar ist, wer die Mutter gewesen ist– war Tutanchamun der Sohn von Nofretete oder nicht?[21] Da die Technologie weiter voranschreitet, bleibt zu hoffen, dass wir irgendwann ganz genau wissen, wer seine Eltern waren.

Tutanchamun und sein Grab geben auch heute noch Rätsel auf. Der Ägyptologe Nicholas Reeves und einige seiner Kollegen haben darauf hingewiesen, dass es so scheint, als seien viele von Tutanchamuns Grabbeigaben ursprünglich für jemand anderen gedacht gewesen, da sie Spuren anderer Königsnamen tragen. Eventuell trifft das auch auf die berühmte Goldmaske zu – vielleicht zwang Tutanchamuns plötzlicher Tod im jugendlichen Alter den Hofstaat, ihn mit Objekten zu begraben, die eigentlich gar nicht für ihn vorgesehen waren. Mag sein, dass dies sogar auf das Grab selbst zutrifft.[22]

Reeves’ Theorie schaffte es 2015 in die Nachrichten, nachdem ein in Madrid ansässiges Unternehmen namens Factum Arte, das sich darauf spezialisiert hat, Repliken von Kunstwerken anzufertigen, hochauflösende Fotografien von den bemalten Wänden im Inneren des Tutanchamun-Grabs online gestellt hatte. Aufgenommen worden waren die Bilder im Rahmen des Vorhabens, in der Nähe des Grabes für Touristen eine Replik der Grabkammer aufzustellen.[23] Das Originalgrab hatten die modernen Besucher inzwischen stark beschädigt, teils unfreiwillig, durch die Feuchtigkeit ihres Atems, teils aber auch vorsätzlich durch Kritzeleien an den Wänden (genau wie im Falle der steinzeitlichen Höhlenmalereien von Altamira, Lascaux und Chauvet in Frankreich und Spanien, wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden).[24]

Factum Arte hatte auch die Wandflächen unter den gemalten Szenen gescannt und gepostet, und als Nicholas Reeves sich diese Bilder anschaute, entdeckte er, fast wie Howard Carter ein Jahrhundert vor ihm, »wunderbare Dinge«: Reeves glaubte, hinter den Malereien an der Nord- und Westwand der Grabkammer die Umrisse zweier versteckter Türöffnungen gesehen zu haben. Gab es etwa weitere Kammern, die noch niemand entdeckt hatte? Und die vielleicht sogar die sterblichen Überreste der Nofretete bargen?[25] Die ägyptischen Behörden fackelten nicht lange und überprüften Reeves’ Hypothese. Ein Spezialist aus Japan namens Hirokatsu Watanabe wurde eingeflogen, der die Bereiche hinter den zwei Wänden der Grabkammer mit einem Hightech-Georadarsystem scannte. Ein Georadar funktioniert wie ein herkömmlicher Radar, ist aber in der Lage, Gegenstände im Erdboden oder eben auch hinter einer Mauer zu identifizieren. Anfang 2016 gab es erste Ergebnisse, und sie waren positiv: Hinter beiden Wänden schien sich je eine weitere Kammer zu befinden, und beide Kammern enthielten möglicherweise metallene und organische Objekte. Eine zweite Scan-Aktion, die im März 2016 von einem Team der National Geographic Society durchgeführt wurde, brachte jedoch Ernüchterung– es war »nicht möglich, den Befund zu bestätigen«, und die Resultate des ersten Scan-Vorgangs musste angezweifelt werden.[26] Diese Situation illustriert sehr schön, wie selbst die Ergebnisse der besten High-Tech-Geräte noch durch handfestes Ausgraben bestätigt werden müssen (wie wir ebenfalls in einem späteren Kapitel bei weiteren Fällen andernorts sehen werden). Was Tutanchamun angeht, müssen wir auf weitere Ergebnisse und eine entsprechende, durch Kollegen begutachtete Publikation warten.

Tutanchamun und sein Grab schlagen auch heute, fast hundert Jahre nach ihrer Entdeckung, noch Wellen. Sie sind das berühmteste Beispiel für die Faszination und den Reiz, der von der Archäologie ausgeht, und dafür, welche Überraschungen sie mitunter bereithält. Meiner Erfahrung nach ist die Archäologie überhaupt eine Disziplin der kleinen und großen Überraschungen, und wie wir sehen werden, trägt jeder Fortschritt in Wissenschaft und Technik zu solchen Entdeckungen bei.

Teil 1

DIEANFÄNGEDERARCHÄOLOGIEUNDDIEERSTENARCHÄOLOGEN

1

ASCHE ZU ASCHE IM ANTIKEN ITALIEN

»Cave canem«-Mosaik und Gipsausguss eines Hundes

Im Jahr 1752, 170 Jahre bevor Carter das Grab Tutanchamuns in Ägypten entdeckte, fanden Archäologen in Italien 300 antike Papyrusrollen. Die Rollen lagen in einer römischen Villa, die innerhalb der Ruinen einer Stadt im Schatten des Vesuvs nahe Neapel ausgegraben wurde. Die Stadt hieß Herculaneum und war bei einem Vulkanausbruch am 24. August 79 n. Chr. verschüttet worden. Die Papyrusrollen gehörten zur römischen Privatbibliothek des Hauses, das seither passenderweise als »Villa dei Papiri« bekannt ist und möglicherweise vom Schwiegervater des Julius Caesar erbaut wurde. Als man die intakten Papyrusrollen vor über 250 Jahren ausgrub, bewahrte man sie auf, obwohl sie komplett verkohlt waren und viel zu zerbrechlich, um sie zu entrollen.[1]

Jahrhundertelang glaubte man, die Rollen seien lediglich eine Kuriosität – sahen sie doch nach wenig mehr aus als nach Klumpen aus verkohltem Holz. Doch seit 2009 sind Papyrologen (Forscher, die sich mit Papyrusrollen und -fragmenten beschäftigen) in der Lage, Teile der Schrift auf diesen Papyri zu entziffern, und zwar ohne sie entrollen zu müssen.[2] Mithilfe konzentrierter Röntgenstrahlen können sie den minimalen Kontrast zwischen dem verkohlten Papyrus und der antiken (und ebenfalls kohlenstoffbasierten) Tinte sichtbar machen und so einzelne Buchstaben erkennen.[3] Dabei hilft den Papyrologen der Umstand, dass die Tinte geringe Mengen an Blei zu enthalten scheint.[4] Falls diese Technologie weitere Fortschritte macht, werden wir vielleicht eines Tages in der Lage sein, den gesamten Text aller Rollen aus der Villa dei Papiri zu lesen. Das wäre schon deshalb eine Sensation, weil es gut möglich ist, dass die Bibliothek des wohlhabenden Hausbesitzers Bände wie die verschollenen Bücher von Livius’ Römischer Geschichte beinhaltete.[5]

Die Ruinen des benachbarten Pompeji waren bereits anderthalb Jahrhunderte vorher entdeckt worden: Im Jahr 1594 stießen Arbeiter, die einen Bewässerungsgraben anlegten, zufällig auf die Ruinen der antiken Stadt – doch sie gruben sie wieder ein, und vorerst kümmerte sich niemand darum. So kam es, dass ab 1709 zunächst Herculaneum ausgegraben wurde. Um diese Jahreszahl ein wenig in Perspektive zu setzen: Benjamin Franklin war damals erst drei Jahre alt, Johann Sebastian Bach war Mitte zwanzig. In Europa tobte der Spanische Erbfolgekrieg. Anne Stuart saß auf dem Thron des gerade erst durch den Zusammenschluss von England, Wales und Schottland entstandenen Königreichs Großbritannien. Und es sollte noch fast sechzig Jahre dauern, bis Kapitän James Cook in Australien landete.

Es waren die ersten archäologischen Ausgrabungen in Europa, ja überhaupt auf der Welt. Für gewöhnlich schreibt man dieses Verdienst einem Mann namens Emmanuel Maurice de Lorraine, Herzog von Elbeuf, zu, der zu jener Zeit in der Nähe von Neapel lebte und als Erster in Herculaneum Tunnel graben ließ. De Lorraine hatte das ganze Gelände gekauft, nachdem dort einige Stücke antiken Marmors aufgetaucht waren.[6] Zufällig gruben sich seine Arbeiter als Erstes direkt in das römische Theater von Herculaneum hinein. Von dort holten sie eine ganze Reihe antiker Marmorstatuen ans Licht; die meisten wanderten zum Landgut des Herzogs, wo sie als Dekorationsobjekte dienten, manche tauchten bald anderswo in Europa auf, ein paar auch in Museen. Es war nicht ganz das, was wir heute unter Archäologie verstehen, sondern eher eine Art Plünderung– niemand kam auf die Idee, irgendetwas schriftlich festzuhalten. Vor allem aber ging es eher darum, ein paar hübsche Kunstschätze aus dem Altertum zu bergen, als etwas über den Kontext in Erfahrung zu bringen, in dem man sie gefunden hatte.

Immerhin begann man bereits wenige Jahrzehnte später in Herculaneum– und später auch im benachbarten Pompeji– mit fachmännischen Ausgrabungen. Sie markieren den Anfang dessen, was wir heute als »Archäologie der Alten Welt« bezeichnen oder, was in diesem Fall etwas präziser ist, als »Klassische Archäologie« (so nennt man die Erforschung dessen, was uns die alten Griechen und Römer hinterlassen haben). Die methodische Archäologie lässt sich größtenteils auf die Bemühungen eines Mannes zurückführen: Johann Joachim Winckelmann, derallenthalben als Vater der Klassischen Archäologie giltundder sich als erster Wissenschaftler überhaupt eingehendmit den Artefakten aus Herculaneum und Pompeji befasste.[7]

Im Laufe des 18. und bis ins 19.Jahrhundert hinein wuchs die Bedeutung der Archäologie als wissenschaftliche Disziplin. In diesem Zusammenhang sollte man darauf hinweisen, dass Winckelmanns Wirken in die Zeit der Aufklärung fiel, die etwa zur selben Zeit wie die Ausgrabungen in Herculaneum begann und wenig später ganz Europa erfasste. Das ebenso plötzliche wie nachhaltige Interesse an der Archäologie und der Antike ist wenig überraschend, bedenkt man den zeitgenössischen Kontext: Es war eine Epoche, in der diverse Wissenschaften große Fortschritte machten, in der zahlreiche öffentliche Museen und Privatsammlungen entstanden, in der Darwinismus und Sozialdarwinismus ihren Anfang nahmen und in der die Europäer einen Großteil der Erde eroberten und kolonialisierten.

Wie wir heute wissen, wurden durch den Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. Herculaneum, Pompeji, Stabiae und mehrere weitere antike Städte zerstört und unter der Vulkanasche begraben. Allein in Pompeji starben über 2000 Menschen, in Herculaneum und anderen Städten der Region war die Zahl der Opfer noch höher.[8] Einige dieser Städte waren mondäne Badeorte in der Bucht von Neapel, wo sich wohlhabende Einwohner Roms Ferienhäuser gebaut hatten, in denen sie freie Tage und den Sommer verbrachten. In dieser Hinsicht hat sich in der Region bis heute nicht viel geändert: Die Bucht von Neapel ist noch immer ein beliebtes Touristenziel.

Es gab auch Augenzeugen, die den Vesuvausbruch überlebten, zum Beispiel den 17-jährigen Plinius den Jüngeren, einen Neffen (und Adoptivsohn) des berühmten Naturforschers Plinius des Älteren. In zwei Briefen an den römischen Historiker Tacitus, der ihn um einen solchen Bericht gebeten hatte, schildert Plinius die Katastrophe. Er schreibt von dunklen Wolken, Blitzen, Feuer und Staub, viel, viel Staub, in der benachbarten Stadt Misenum. Von einer alles einhüllenden Dunkelheit, wie in einem Zimmer ohne Fenster, in dem jemand die Lampen gelöscht hat. Er schreibt, er habe Frauen und Kinder weinen und Männer schreien gehört. Bald wurde es heller, so Plinius, aber nur deshalb, weil sich das Feuer weiter ausbreitete und nach und nach die ganze Stadt erfasste. Und dann wurde es wieder dunkel und ein schier unaufhörlicher Ascheregen ging auf die Gebäude und Straßen nieder. Hätten er und seine Begleiter sich nicht ständig die Asche von den Kleidern geklopft, wären sie irgendwann komplett darunter begraben worden.[9]

Der Vesuv, durch einen Bogen in Pompeji gesehen

Es war eine interessante – und wichtige – Epoche in der römischen Geschichte. Mehr als hundert Jahre zuvor war mit der Ermordung Julius Caesars 44 v. Chr. der Wechsel von der Römischen Republik zum Kaiserreich eingeläutet worden. 27 v. Chr. war Augustus als erster römischer Kaiser an die Macht gekommen und hatte die julisch-claudische Dynastie begründet. Als 79 n. Chr. der Vesuv ausbrach, saß Kaiser Titus auf dem Thron, der der nachfolgenden flavischen Dynastie angehörte.

Die Ausgrabungen in Pompeji begannen im Jahr 1750, fast zur selben Zeit, als man die verkohlten Papyrusrollen in Herculaneum fand. Auch in Pompeji war an jenem Vormittag Ende August 79 n. Chr. die Zeit stehen geblieben: Mit Geschirr und Lebensmitteln gedeckte Tische luden zu einer Mahlzeit ein, die niemand mehr essen sollte. Tote lagen in den Straßen – ganze Familien hatten zusammen Schutz gesucht, hier und da lagen einzelne Personen, deren Hände ein paar Schmuckstücke umklammerten.

Die Katastrophe, die Pompeji heimsuchte, brachte alles Leben in der Stadt abrupt zum Stillstand. Asche und Bimsstein vermengten sich mit dem einsetzenden Regen und ergaben ein zementartiges Gemisch, das bald aushärtete. Wer aus der Stadt geflohen war und später zurückkehrte, um seine Habseligkeiten zu retten, hatte kein Glück. Viele Dutzend Menschen sowie die Stadt selbst wurden begraben. Im Laufe der Zeit zerfielen alle verderblichen Materialien – Holz, Brot, menschliche Körper – und ließen Hohlräume in der exakten Form dessen zurück, was einst vom Aschegemisch eingeschlossen worden war.

Im Jahr 1863 fand der italienische Archäologe Giuseppe Fiorelli, der damals die Ausgrabungen in Pompeji leitete, heraus, was es mit diesen Hohlräumen auf sich hatte. Ihm wurde klar, dass er und seine Mitarbeiter die Hohlräume behandeln konnten wie Bildhauer, die mit dem Wachsausschmelzverfahren arbeiten, um Bronzestatuen zu gießen.[10] Sobald seine Mannschaft nun bei ihren Ausgrabungen auf einen solchen Hohlraum stieß, ließ Fiorelli diesen mit Gips ausgießen. Nachdem man die Asche abgetragen hatte, blieb von dem, was sich dort einst befunden hatte, ein exaktes Gipsduplikat übrig. So rekonstruierten sie zahlreiche Körper, darunter ganze, zusammengekauert daliegende Familien, sowie diverse organische Dinge wie hölzerne Tische und andere Möbel, ja sogar einzelne Laibe Brot.[11] Auch Haustiere gehörten dazu, unter anderem ein Hund, der noch immer dort lag, wo sein Herrchen ihn angekettet hatte; die Gliedmaßen waren völlig verdreht, und man konnte im Gipsabguss deutlich sein Halsband erkennen.

So gut Fiorellis Methode funktionierte, um Gegenstände wie Holzmöbel oder Brotlaibe zu rekonstruieren, sie hatte eine entscheidende Schwachstelle: Wenn man den Hohlraum eines menschlichen Körpers mit Gips ausgoss, blieb alles, was nach dem Zerfall der sterblichen Überreste in diesem Hohlraum erhalten war, wie Knochen oder Artefakte, im Gipsabguss stecken. Eine Lösung bestand darin, statt Gips ein transparentes Material wie Kunstharz zu verwenden. Dieser Prozess ist jedoch um einiges kostspieliger und wurde bislang nur bei einem einzigen Opfer des Vesuvausbruchs angewendet: 1984 bei der sogenannten Toten von Oplontis. So wissen wir, dass sie Goldschmuck und eine Haarnadel trug.[12]

Später kamen die Archäologen auf die Idee, die von Fiorelli und seinen Mitarbeitern angefertigten Gipsabgüsse noch einmal neu zu untersuchen, um herausfinden, was an Knochen und anderen Gegenständen in ihnen enthalten war. Im September 2015 begann ein Team aus unterschiedlichen Spezialisten wie Radiologen, Archäologen und Anthropologen damit, die Gipsabgüsse diversen Analysen zu unterziehen, mithilfe von Laser-Bildgebung, Computertomografie und DNA-Proben. Insbesondere die CT-Scans ergaben faszinierende neue Details, etwa bei einem vierjährigen Jungen, der zusammen mit seinen Eltern und einem jüngeren Geschwisterkind den Tod fand. Man sieht deutlich, welch große Angst er zum Todeszeitpunkt hatte, auch wenn nach wie vor nicht ganz klar ist, woran genau er gestorben ist. Die Scans zeigen, dass viele der Opfer Kopfverletzungen erlitten hatten, vielleicht von einstürzenden Gebäudeteilen oder herabfallendem Gestein, und dass die Opfer aus allen Teilen der Bevölkerung stammten. Bis dahin dachte man, dass es nur die ganz jungen, alten und kranken Einwohner Pompejis nicht mehr geschafft hatten, die Stadt zu verlassen.[13]

Anders als Pompeji wurde Herculaneum von einer schnell fließenden, 10 Meter hohen Schlammwelle heimgesucht, die die Stadt komplett unter sich begrub. Geologen nennen einen solchen Schlammstrom einen Lahar; auch in der jüngeren Vergangenheit gab es solche Lahare bei Vulkanausbrüchen, 1985 in Kolumbien und 1991 auf den Philippinen.[14] Der Schlammstrom konservierte große Teile von Herculaneum, und die Archäologen fanden es genauso vor, wie es 79 n. Chr. zurückgelassen worden waren. Bei manchen Häusern steht sogar noch das zweite Stockwerk (was bei archäologischen Ausgrabungen so gut wie nie vorkommt), und viele Wände sind noch immer mit Malereien und bunten Fliesen dekoriert. Sogar ein paar Gegenstände aus Holz haben überlebt, darunter Dachbalken, Türen, Betten und eine Wiege.[15]

Zunächst glaubte man, den Bewohnern von Herculaneum sei es gelungen, aus der Stadt zu fliehen. Doch bei Ausgrabungen im Jahr 1981 und bei weiteren in den 1990er-Jahren fand man die Überreste von 300 Leichen in mehreren Gebäuden, die die Archäologen für Bootshäuser am ehemaligen Ufer halten. Vermutlich warteten diese Menschen auf ihre Evakuierung und wurden auf einen Schlag getötet, als der Vulkanausbruch eine Hitzewelle von über 500 °C durch die Gegend schickte. Durch die Hitze und die nachfolgende heiße Asche wurden diese Leute buchstäblich bei lebendigem Leib gegrillt, Haut und innere Organe verbrannten. Zurück blieben nur die Skelette, man sah noch, wie sie sich in Todesqual gewunden hatten.[16]

Wie in Herculaneum wurden auch in Pompeji viele Häuser durch die Folgen des Vesuvausbruchs konserviert: Hier wurden sie unter einer mehrere Meter hohen Schicht aus Asche und Bimsstein begraben. Eines der bekanntesten ist das »Haus des Fauns«, so benannt nach der Bronzestatue, die im Innenhof des Hauses inmitten eines großen Beckens stand, das dazu diente, Regenwasser zu sammeln. Die Statue stellt einen Faun dar– eine Satyrgestalt mit Hörnern und einem Schwanz, die für gewöhnlich die Doppelflöte spielt.

Zu diesem Haus gehörte auch ein aufwendig gestalteter Garten mit verschiedenen Bäumen und Pflanzen. Der Vulkanausbruch begrub mehrere solcher Ziergärten, in Pompeji wie auch in Herculaneum. Als Archäologen wie Wilhelmina Jashemski von der University of Maryland im Jahr 1961 begannen, speziell jene Bereiche behutsam auszugraben, entdeckten sie in den Gärten die Wurzelhohlräume des früheren Pflanzenbestands. Da sich dadurch die bei jeder Pflanzenart unverwechselbaren Wurzeln rekonstruieren ließen, waren die Forscher in der Lage aufzuzeigen, wie die Gärten damals ausgesehen hatten. In einem Fall ließ sich sogar der Grundriss eines ganzen Weinbergs nachzeichnen.[17]

Nach 300 Jahren, in denen fast ununterbrochen ausgegraben wurde, haben die Archäologen einen Großteil des antiken Pompeji freigelegt, wenn auch längst nicht alles. Wir kennen den Stadtplan von Pompeji heute so gut, dass wir wissen, in welchen Teilen die wohlhabenderen Einwohner angesiedelt waren und wo die Mittel- und Unterschicht hauste.[18] Heute können sich Touristen die unterschiedlichen Stadtviertel und ihre Gebäude anschauen– Thermen, Gerbereien, Ladengeschäfte und diverse Wohnhäuser. 2014 verkündete Dr. Steven Ellis, er habe mit seinem Archäologen-Team von der University of Cincinnati bei Grabungen nahe der Porta Stabia, einem der Haupttore der Stadt, zehn Häuser mit zwanzig Ladenfronten entdeckt, die Speisen und Getränke verkauft oder serviert hatten. Ein solches bauliches Arrangement scheint typisch für Pompeji gewesen zu sein; auch in vielen Privathäusern war zur Straße hin ein Laden untergebracht.[19]

Doch was aßen und tranken die Pompejanerinnen und Pompejaner? Um das herauszufinden, gibt es viele Möglichkeiten – Ellis und sein Grabungs-Team untersuchten zu diesem Zweck diverse Latrinen, Abflussrohre und Sickergruben. Beim Gedanken, an solch einem Ort zu graben, mag sich manch einer angewidert abwenden. Aber das, was Archäologen dort finden, ist für sie manchmal mehr wert als Gold und Edelsteine: dann nämlich, wenn sie daraus rekonstruieren können, wie die Einwohner einer Stadt vor 2000 Jahren gelebt haben. In früheren Zeiten, als es noch keine zentrale Müllabfuhr gab, warfen Stadtbewohner ihre Abfälle meist in die Latrinen, und genau dort werden Archäologen heute fündig.

So auch in Pompeji. Ellis und sein Team fanden Spuren von »Getreide, Obst, Nüssen, Oliven, Linsen, regionalem Fisch und Hühnereiern sowie ein paar wenige Hinweise auf teureres Fleisch und Salzfisch aus Spanien«. Im Abflussrohr eines Hauses, das etwas zentraler lag und wohlhabenderen Menschen gehörte, entdeckten sie Überreste von »Schalentieren, Seeigeln und echten Delikatessen, wie das Kniegelenk einer geschlachteten Giraffe«.[20] So erhalten wir nicht nur Hinweise darauf, was die Pompejaner zur Zeit des Vesuvausbruchs aßen, sondern die Funde bestätigen zugleich die (wenig überraschende) Tatsache, dass Einwohner, die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten angehörten, unterschiedliche Dinge aßen.

Straße in Pompeji

Ellis und die anderen Archäologen von der University of Cincinnati führten im Rahmen ihrer Ausgrabungen in Pompeji auch ein paar technische Neuerungen ein. So gehörten sie 2010 zu den Ersten, die vor Ort mit dem iPad arbeiteten, um Daten zu erheben und Fotos zu machen. Dazu verwendeten sie diverse handelsübliche Apps, die sie aber teilweise modifizierten, um sie für ihre Zwecke besser nutzen zu können. Am Ende luden sie bereits Ergebnisse auf die Server in Cincinnati hoch, während sie sich noch vor Ort bei der Ausgrabung befanden.[21] Und das zu einer Zeit, in der bei unzähligen Ausgrabungen in aller Welt die Datensätze noch immer in Papierformulare eingetragen werden, hier und da in dreifacher Ausfertigung, um nach der Grabungssaison per Fotokopierer vervielfältigt zu werden.

In einigen der vornehmeren Wohnhäuser in Pompeji waren die Fußböden mit Mosaiken verziert. Im »Haus des Fauns« zum Beispiel fand man ein Bodenmosaik mit einer berühmten Szene, in der Alexander der Große entweder 333 oder 331 v. Chr. gegen den Perserkönig Dareios III. kämpft. Das »Haus des tragischen Dichters« besitzt im Eingangsbereich ein Bodenmosaik, auf dem ein schwarz-weißer Hund (welcher Rasse, ist nicht ganz klar) mit rotem Halsband dargestellt ist. Unter seinen Pfoten steht cave canem – das ist Lateinisch für »Warnung vor dem Hund«.

Im Inneren anderer Häuser sind sogar noch die antiken Wandmalereien erhalten. In der »Villa der Mysterien« gibt es einen kleinen Raum, eventuelle ein Speisezimmer, dessen vier Wände mit Szenen bemalt sind, die man als Darstellung des Mysterienkultes des Dionysos interpretiert hat; möglicherweise zeigen sie einen Initiationsritus, mit dem eine junge Frau in den Kult eingeführt wird.[22] Andere Wohnhäuser schmücken gemalte Szenen mit Tänzerinnen, Familienporträts, Bilder von Früchten und diversen anderen Gegenständen. In mancherlei Hinsicht unterscheidet sich dies nicht allzu sehr von den Bildern und Fotos, die wir uns heute zu Hause an die Wände hängen.

Auch die Außenseiten der Gebäude wurden bemalt, zum Beispiel mit Werbe- und Wahlkampfsprüchen– die Häuserwände waren vor 2000 Jahren so etwas wie die sozialen Medien.[23] Die Slogans wurden so platziert, dass Passanten auf der Straße oder Kunden der Geschäfte gegenüber sie gut sehen konnten. Man hat Werbung für einen Gladiatorenwettkampf vom 8. bis 12.April gefunden (für welches Jahr, wissen wir nicht) und Ankündigungen für die Markttage in verschiedenen Städten– anscheinend fand samstags in Pompeji ein Wochenmarkt statt, freitags in Rom und an den anderen Tagen in den Städten Nuceria, Atella, Nola, Cumae und Puteoli.

An der Außenwand einer Gaststätte hatte jemand die Getränkekarte mit Preisen aufgemalt, fast so, wie wir das heute gewohnt sind. Der Wirt warb mit den Worten: »Hier bekommst du einen Becher Wein für einen As [Münze von geringem Wert], einen Becher besseren Wein für zwei, einen Becher Falerner für vier.« An einem anderen Laden stand geschrieben, dass jemand von dort einen Kupferkessel gestohlen habe und dass auf denjenigen, der ihn zurückbringe oder der Hinweise auf den Dieb habe, eine Belohnung warte.

Außerdem hat man Hunderte Wahlkampfsprüche und -graffiti entdeckt. Zu den interessanteren zählt die Aufforderung: »Ich bitte euch, Marcus Cerrinius Vatia zum Ädil zu wählen; all jene, die die ganze Nacht lang zechen, unterstützen ihn.« Wohl für denselben Kandidaten sprach sich noch eine andere Klientel aus: »Die Kleinganoven unterstützen Vatias Bewerbung zum Ädil.« Ob er gewonnen hat, werden wir leider nie erfahren.