12 Tage und ein halbes Jahrhundert - Christoph Nonn - E-Book

12 Tage und ein halbes Jahrhundert E-Book

Christoph Nonn

0,0
26,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

1871 wurde der deutsche Nationalstaat begründet. In den darauf folgenden fünf Jahrzehnten entstand das moderne Deutschland. In seinem anschaulich geschriebenen Buch zeigt Christoph Nonn die Janusköpfigkeit des deutschen Kaiserreiches, das sowohl Wegbereiterin des Dritten Reiches als auch unserer heutigen Demokratie war, und erzählt ausgehend von zwölf Tagen die Geschichte eines halben Jahrhunderts.
Versailles, 18. Januar 1871: Im Spiegelsaal des berühmten Schlosses der französischen Könige wird das deutsche Kaiserreich ausgerufen. Seine Entwicklung war geprägt von immenser wirtschaftlicher Dynamik bei weitgehendem politischem Stillstand, demokratischen Lernprozessen und autoritärer Verkrustung, bahnbrechenden Sozialreformen und heftigsten sozialen Konflikten. In zwölf Kapiteln, die jeweils von den Ereignissen eines bestimmten Tages ausgehen, beleuchtet Christoph Nonn diese faszinierend bunte Epoche und lässt die Menschen lebendig werden, die sie gestalteten und durchlebten. So etwa der Künstler Anton von Werner, der die Kaiserproklamation gleich mehrfach malte, Julie Bebel, die selbstbewusst in der Politik wie in der gemeinsamen Drechslerwerkstatt an die Stelle ihres Manns August trat, wenn der wieder einmal im Gefängnis saß, oder der Schuster Wilhelm Voigt, der als «Hauptmann von Köpenick» eine Stadt zum Narren hielt und damit eine Nation zum Lachen brachte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christoph Nonn

12 TAGE UND EIN HALBES JAHRHUNDERT

Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs 1871–1918

C.H.Beck

ZUM BUCH

1871 wurde der deutsche Nationalstaat begründet. In den darauf folgenden fünf Jahrzehnten entstand das moderne Deutschland. In seinem anschaulich geschriebenen Buch zeigt Christoph Nonn die Janusköpfigkeit des deutschen Kaiserreiches, das sowohl Wegbereiter des Dritten Reiches als auch unserer heutigen Demokratie war.

Im Spiegelsaal des berühmten französischen Königsschlosses Versailles wird im Januar 1871 das deutsche Kaiserreich ausgerufen. Seine Entwicklung war geprägt von immenser wirtschaftlicher Dynamik bei weitgehendem politischem Stillstand, demokratischen Lernprozessen und autoritärer Verkrustung, bahnbrechenden Sozialreformen und heftigsten sozialen Konflikten.

In zwölf Kapiteln, die jeweils von den Ereignissen eines bestimmten Tages ausgehen, beleuchtet Christoph Nonn diese faszinierend bunte Epoche und lässt die Menschen lebendig werden, die sie gestalteten und durchlebten. So etwa der Künstler Anton von Werner, der die Kaiserproklamation gleich mehrfach malte, Julie Bebel, die selbstbewusst in der Politik wie in der gemeinsamen Drechslerwerkstatt an die Stelle ihres Manns August trat, wenn der wieder einmal im Gefängnis saß, oder der Schuster Wilhelm Voigt, der als «Hauptmann von Köpenick» eine Stadt zum Narren hielt und damit eine Nation zum Lachen brachte.

ÜBER DEN AUTOR

Christoph Nonn ist Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Bismarck (22015) sowie die C.H.Beck Wissen-Bände Geschichte Nordrhein-Westfalens (2009) und Das deutsche Kaiserreich (2017).

INHALTSVERZEICHNIS

GEBRAUCHSANWEISUNG

VERSAILLES, 18. JANUAR 1871

Bildnis des Künstlers als junger Mann

Festakt mit Hindernissen

Eine schwere Geburt

Risse hinter der Einheitskulisse

Erinnern an die Reichsgründung: Die liberale Ära

Konservative Perspektivwechsel

Nationalgedenken, Heimatgedanke und Moderne

MARPINGEN, 3. JULI 1876

Gretchen Kunz sieht die Muttergottes

«Eine einzige grosse Lüge»

Der Wille zu glauben

«Kulturkampf»

Die Zentrumspartei

Religion und Konfession im Kaiserreich

LEIPZIG, 2. JUNI 1878

Ein Schock für Julie Bebel

Wege zum Sozialismus

Im Verein ist man weniger allein

«Reichsfeinde»

Die Frau und der Sozialismus

Sozialdemokratie und parlamentarische Demokratie

BERLIN, 27. SEPTEMBER 1883

Theodor Lohmann kann nicht anders

Ein Bürger und christlicher Sozialreformer

Vom langsamen Bohren dicker Bretter

Die Grundlegung der deutschen Sozialversicherung

Wessen Sozialversicherung?

OKAHANDJA, 21. OKTOBER 1885

Samuel Maharero unterschreibt einen «Schutzvertrag»

Die Deutschen und Afrika

Geschäfte auf Gegenseitigkeit

Siedlungskolonie «Deutsch-Südwest»

Der Weg zum Völkermord

Dunkler Kontinent Europa

BERLIN, 15. MÄRZ 1890

Ein alter Herr mag nicht gehen

Kanzler und Kaiser

Land im Umbruch

Bismarck und die letzte Forelle

«Neuer Kurs»?

«Der Kurs bleibt der alte, und nun Volldampf voraus!»

KIEL, 3. JANUAR 1896

Der Admiral kann warten

Leben von der Marine

Flottenpolitik, Weltpolitik, Bündnispolitik

Schlachtflotte und «nationale Sammlung»

Faszinierende Spektakel

KONITZ/WESTPREUSSEN, 11. MÄRZ 1900

Stolz und Vorurteil

Anna Roß, Meistererzählerin des Ritualmordgerüchts

Ganz andere Gerüchte

Die Faszination des Bizarren

Soziale Konflikte, Sündenböcke und Rituale der Demütigung

Antisemitismus im deutschen Kaiserreich

Die «Barbarei längst verflossener Jahrhunderte»?

KÖPENICK, 16. OKTOBER 1906

Wilhelm Voigt kauft eine Uniform

Der Hauptmann von Köpenick

Eine Legende wird gemacht

Der Militarismus der anderen

Zivilisten, Soldaten und europäische Moderne

Dreierlei Militärpolitik

NORDERNEY, 2. OKTOBER 1908

Der Reichskanzler hat Urlaub

«Bülow soll mein Bismarck werden»

Novemberstürme

Kaiser, Kanzler und öffentliche Meinung

Das Parlament und die politische Verantwortung

FREIBURG, 30. JULI 1914

Die Tränen der Charlotte Herder

Julikrisen

Augusterlebnisse

Fronterfahrungen

Heimatfronten

MÜNCHEN, 7. NOVEMBER 1918

Felix Fechenbach macht eine Revolution

Der Machtzerfall der Monarchie

Dem Ende entgegen

Die Dolchstoßlegende und andere Hypotheken

Das Erbe des Kaiserreichs

ANHANG

LITERATURVERZEICHNIS

ZUM WEITERLESEN

Versailles, 18. Januar 1871 (Die Kaiserproklamation)

Marpingen, 3. Juli 1876 («Kulturkampf», politischer Katholizismus und Religion)

Leipzig, 2. Juni 1878 (Sozialistengesetz und Sozialdemokratie)

Berlin, 27. September 1883 (Die Sozialversicherung)

Okahandja, 21. Oktober 1885 (Kolonien)

Berlin, 15. März 1890 (Bismarcks Entlassung)

Kiel, 3. Januar 1896 (Flottenbau)

Konitz/Westpreußen, 11. März 1900 (Antisemitismus)

Köpenick, 16. Oktober 1906 (Militär und Gesellschaft)

Norderney, 2. Oktober 1908 (Daily-Telegraph-Affäre, Öffentlichkeit und Parlamentarisierung)

Freiburg, 30. Juli 1914 (Erster Weltkrieg)

München, 7. November 1918 (Revolution und Ende des Kaiserreiches)

ANMERKUNGEN

Gebrauchsanweisung

Versailles, 18. Januar 1871

Marpingen, 3. Juli 1876

Leipzig, 2. Juni 1878

Berlin, 27. September 1883

Okahandja, 21. Oktober 1885

Berlin, 15. März 1890

Kiel, 3. Januar 1896

Konitz/Westpreußen, 11. März 1900

Köpenick, 16. Oktober 1906

Norderney, 2. Oktober 1908

Freiburg, 30. Juli 1914

München, 7. November 1918

DANK

BILDNACHWEIS

GEBRAUCHSANWEISUNG

Man kann dieses Buch von Anfang bis Ende lesen. Man muss es aber nicht.

Man kann auch am Ende anfangen. Oder mittendrin. Das Buch besteht aus zwölf Geschichten, die einzeln für sich gelesen werden können. Jede dieser zwölf Geschichten behandelt einen Aspekt der Geschichte des deutschen Kaiserreichs. Den Ausgangspunkt bildet jeweils ein bestimmtes Ereignis. Manche dieser Ereignisse haben einen festen Platz in historischen Handbüchern und Zeittafeln. Das gilt etwa für die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm zum deutschen Kaiser in Versailles am 18. Januar 1871, für das auf ihn verübte Attentat vom 2. Juni 1878, für die Entlassung Bismarcks am 15. März 1890, für die Julikrise 1914, für die Revolution in München am 7. November 1918. Andere sind weniger bekannt. Wer mit den Orten und Daten, die als Kapitelüberschriften dienen, nichts anzufangen weiß, dem sollten die Zwischentitel im Inhaltsverzeichnis einige Hinweise geben. Oder man schlägt hinten im Buch unter «Zum Weiterlesen» nach, um sich darüber zu orientieren, welche Themen die Kapitel behandeln. Dort finden sich auch einige Bemerkungen zu den wichtigsten Quellen und zentraler Literatur.

Die Kapitel sind nach den Daten, die ihnen die Titel geben, chronologisch angeordnet. In dieser Reihenfolge gelesen, ergeben sie vielleicht auch eine Art umfassendere Geschichte des Kaiserreichs, oder zumindest von dessen zentralen Themen: Reichsgründung, «Kulturkampf», Sozialistengesetz, Sozialversicherung, Kolonialpolitik, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche, Flotten- und Außenpolitik, Antisemitismus, Militarismus, das Verhältnis von Parteien, Parlament und Regierung, schließlich der Erste Weltkrieg und der Untergang der Monarchie in der Revolution. Die behandelten Ereignisse dienen dabei jeweils als Aufhänger für längerfristige Entwicklungen. So geht es im Kapitel über die Reichsgründung auch um die Erinnerung daran, und wie sich in dieser der Wandel des nationalen Selbstverständnisses und des Nationsgedankens nach 1871 zeigte. Das Kapitel über den «Kulturkampf» behandelt auch den Stellenwert von Religion und die Entwicklung der Zentrumspartei. Die Geschichte des Sozialistengesetzes dient als Aufhänger für die Entwicklung der Sozialdemokratie, und so weiter.

Natürlich ist dieses Buch aber keine «Gesamtdarstellung» des Kaiserreichs. Die gibt es nicht und wird es nie geben. Die historische Forschung über die deutsche Geschichte zwischen 1871 und 1918 füllt schließlich ganze Bibliotheken. Zudem kommen ständig neue Erkenntnisse über diese Zeit hinzu, werden lange für Gewissheit gehaltene Annahmen widerlegt, ändern sich die Fragen, die in der Gegenwart an die Vergangenheit gestellt werden. Jeder Versuch, eine alle Aspekte der Zeit berücksichtigende, definitive Geschichte des Kaiserreichs zu schreiben, wäre deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die meisten Leser werden daher auf den folgenden Seiten das eine oder andere vermissen. Mir als Autor geht es nicht anders. Aber irgendwann muss jedes Buch einmal fertig werden. Das geht nicht ohne das manchmal schmerzhafte Setzen von Prioritäten, über die sich dann im Einzelnen streiten lässt.

Das Buch ist kein «Handbuch». Es ist ein Lesebuch. Das hat zum einen etwas mit meiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Idee des Handbuchs zu tun. Diese Idee scheint mir der naiven Vorstellung verwandt zu sein, dass man getrost nach Hause tragen kann, was man schwarz auf weiß besitzt. Tatsächlich vermitteln aber sogenannte Handbücher ebenso wenig zweifelsfreie Wahrheiten wie das Internet oder die Zeitung.

Zum anderen gibt es bereits viele solcher Handbücher über die Geschichte des Kaiserreichs. Manche davon erinnern an ein Sandwich: Sie bestehen aus zwei Hälften Politik mit sozialhistorischer Füllung in der Mitte und einem Klecks Geschlechtergeschichte als Zugabe obendrauf.[1] Andere kultivieren die Disziplin des Dreisprungs: Sie handeln nacheinander Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ab. Manchmal wird dann noch Kultur als vierter Kategorie größerer Platz eingeräumt,[2] manchmal wirken die wenigen Seiten darüber aber auch eher wie ein kümmerlicher Wurmfortsatz.[3]

Vor allem aber konzentrieren diese Handbücher sich auf Strukturen und vermitteln damit ein eher statisches Bild des Kaiserreichs. Im vorliegenden Buch stehen stattdessen die Menschen im Mittelpunkt, ihr Handeln und ihre Erfahrungen. Natürlich wirken Strukturen auf Menschen ein, prägen sie, setzen ihnen Grenzen. Aber es sind auch Menschen, die diese Strukturen machen, sie verändern oder zerstören.

In jeder der Geschichten dieses Buches spielt ein bestimmter Mensch die Hauptrolle. Unter den Akteuren sind Reichskanzler, Kaiser und ein Admiral – aber auch ein katholisches Bauernmädchen von der Saar; eine politisch engagierte Putzmacherin, Hausfrau und Mutter aus Leipzig; ein gewitzter Schuhmacher mit Faible fürs Militärische; eine skrupellose Gesindevermittlerin aus Westpreußen; der erst Sozialdemokrat und dann Soldat werdende Sohn eines jüdischen Bäckers; ein Herero aus Südwestafrika, der deutsches Interesse an seiner Heimat zu eigenen Zwecken nutzen will. Andere Geschichten werden erzählt aus der Sicht eines protestantischen Sozialreformers aus Niedersachsen, der frustrierten Frau eines Freiburger Verlegers, eines in Frankfurt an der Oder geborenen Tischlersohns mit künstlerischen Ambitionen. In weiteren Rollen treten außerdem auf: ein in Deutz zur Welt gekommener, vielseitig talentierter Drechslermeister, ein Bauer aus Mainfranken, ein unterschätzter Köpenicker Kommunalpolitiker, Städterinnen und Dorfbewohner, Bürger und Bäuerinnen, Arbeiterinnen und Fabrikanten, Offiziere und Soldaten, Großgrundbesitzer, Dienstmädchen, Parlamentarier, Pfarrersfrauen, Metzger, jede Menge Journalisten, Juden, Historiker und viele andere.

Ziel ist eine multiperspektivische Darstellung, eine Art Kaleidoskop, das die ungeheure Vielschichtigkeit des Lebens im deutschen Kaiserreich zumindest ansatzweise abbildet. Dieses Leben war geprägt von immenser wirtschaftlicher Dynamik bei weitgehendem politischem Stillstand, demokratischen Lernprozessen und autoritärer Verkrustung, bahnbrechenden Sozialreformen und heftigsten sozialen Konflikten. Vor allem aber war die Zeit des Kaiserreichs eine faszinierend bunte Epoche mit lebendigen Menschen, die sie gestalteten und durchlebten.

VERSAILLES, 18. JANUAR 1871

Anton von Werner in Frankreich 1870

Bildnis des Künstlers als junger Mann

Das Telegramm wurde dem Künstler am Vormittag des 15. Januar auf dem Eis zugestellt, als er mit seiner Braut Schlittschuh lief. Es kam vom Hofmarschall des preußischen Kronprinzen aus Versailles. Dort befand sich das Hauptquartier der preußischen und verbündeten Truppen, die seit Monaten Paris belagerten. Die Nachricht war ebenso kurz wie ihr Inhalt mysteriös. Sie lautete: «Geschichtsmaler v. Werner, Karlsruhe. Seine Königliche Hoheit der Kronprinz läßt Ihnen sagen, daß Sie hier Etwas Ihres Pinsels Würdiges erleben würden, wenn Sie vor dem 18. Januar hier eintreffen können. Eulenburg, Hofmarschall.»[1]

Der «Geschichtsmaler» Anton von Werner war damals 27 Jahre alt. Er stammte aus verarmtem ostpreußischen Dienstadel. Einer seiner Vorfahren hatte als Diplomat die Krönung des brandenburgischen Kurfürsten zum König am 18. Januar 1701 mit vorbereitet. Dafür war der Vorfahr mit einem Adelspatent belohnt worden. Doch auf diesen Aufstieg der Familie folgte bald ein steiler gesellschaftlicher Abstieg. Anton von Werners Urgroßvater wurde als Offizier im Siebenjährigen Krieg schwer verwundet. Dann brannte das Familiengut in Ostpreußen wiederholt ab und musste verkauft werden. Der Großvater sah sich gezwungen, eine Militärkarriere wegen schwerer Krankheit abzubrechen. Als Steuerbeamter schlug er sich mehr schlecht als recht durch und starb jung, «seine Familie in Not und Bedrängnis zurücklassend».[2] Antons Vater, mit vier Jahren Halbwaise geworden, fristete sein Leben schließlich als Tischler in Frankfurt an der Oder.

Dort wurde Anton selbst 1843 geboren. Die Einstellung, die der Junge in der Familie zu Preußen und dessen Kriegen vermittelt bekam, war nicht unbedingt allzu positiv. Zwar erzählte die Großmutter ihm viel vom «alten Fritz», zu dessen Lebzeiten sie noch geboren worden war. Dabei spielte allerdings die verheerende Niederlage Preußens in der Schlacht von Kunersdorf 1759 eine prominente Rolle. Dass der in dieser Schlacht verwundete Urgroßvater die ihm deswegen eigentlich zustehende Zivilversorgung nie erhalten hatte, nahm einen zentralen Platz in der Familienerinnerung ein. Offenbar nicht ohne Stolz wurde dem Jungen wiederholt von einer Ohrfeige berichtet, die sein Urgroßvater dem verantwortlichen preußischen Minister deshalb einst verabreicht haben soll. Auch sonst waren es weniger die «glanzvollen» Seiten preußischer Geschichte, von denen der kleine Anton in der Familie erfuhr: So erzählte die Großmutter viel und gerne von der Vernichtung der preußischen Armee bei Jena 1806 und den darauffolgenden Jahren französischer Besatzung – insbesondere von einem bestimmten französischen Offizier, den sie offenbar als junge Frau gekannt hatte.

Dennoch: Für den jungen Anton von Werner und seine Spielkameraden hatte «alles Militärische», wie er sich später erinnerte, «einen erhöhten Reiz». Auf Jahrmärkten drängten sie sich vor den Schaubuden, die, «mit beweglichen, auf Rädern laufenden Figuren ausgestattet», die Feldzüge in Schleswig-Holstein 1849 und später «aus dem Krimkrieg allerlei Episoden mit viel Pulvergeknalle zur Anschauung brachten. Gerade diese Darstellungen entzückten uns Jungens und regten uns zur Nachahmung an.» Es war «vor allem aber die Erinnerung an die Befreiungskriege», die die liberale deutsche Nationalbewegung für sich reklamierte und zelebrierte, «wenn einer der alten Krieger von 1813 zu Grabe getragen wurde», die von Werner nach eigener Aussage prägte. Tief beeindruckt hatten schon den Fünfjährigen danach auch die Schießübungen der Bürgerwehr 1848, als die preußischen Truppen seine Heimatstadt vorübergehend räumten.[3]

Vom Vater zunächst zu einer Ausbildung als Anstreicher gezwungen, begann er danach ein Studium an der Berliner Kunstakademie. Doch das Berlin der frühen 1860er Jahre erschien dem mit liberalen Ideen sympathisierenden Kunststudenten muffig und finster. Die Hoffnungen auf «den Anbruch einer neuen Zeit, den Beginn einer Ära voller Glück und freiheitlicher Entwicklung», die auch er wie viele Zeitgenossen mit der Übernahme der Regierung durch Wilhelm I. verbunden hatte, hatten der Konfrontation zwischen Monarch und Volksvertretung im preußischen Verfassungskonflikt Platz gemacht. Der junge von Werner geriet in die Gesellschaft «alter Achtundvierziger», wurde Mitglied eines Turnvereins und trat in die oppositionelle Fortschrittspartei ein.[4]

1862, auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts, beschloss er schließlich, der preußischen Heimat den Rücken zu kehren und an die Kunstschule nach Karlsruhe zu gehen. Enttäuschung über die Lehrer an der Berliner Akademie spielte auch eine Rolle dabei, zudem der Eindruck, bei Preisverleihungen übergangen worden zu sein. Nicht zuletzt aber war Baden «bei uns längst als konstitutioneller Musterstaat bekannt und gepriesen. Hier nun fühlte ich in der Tat den Hauch einer neuen Ära in dem Zusammenleben und Zusammenwirken von Fürst und Volk, die glückverheißend schien.» So zeigte Anton von Werner sich bald nach seiner Ankunft in Karlsruhe tief beeindruckt vom zivilen Auftreten des jungen badischen Großherzogs, des Schwiegersohns des Preußenkönigs Wilhelm I., von dem er eine so ganz andere, «stramm militärische Erscheinung» gewohnt war. «Auch dass man Offiziere mit Zivilisten zusammen am Biertisch sah, imponierte mir, weil ich es bei uns nie gesehen hatte.» Auf Reisen in Württemberg und Bayern machte er ähnliche Erfahrungen: «Der Vergleich zwischen Preußen, das als Inbegriff finsterster Reaktion galt, und Süddeutschland, dem Land der Freiheit, drängte sich überall und nicht gerade freundlich auf.»[5]

1866 sah der junge Kunststudent den Krieg zwischen den süddeutschen Staaten und Österreich auf der einen, Preußen auf der anderen Seite mit sehr gemischten Gefühlen aufziehen. Er spielte mit dem Gedanken, sich dem «verwünschten ‹Bruderkrieg›» durch Auswanderung in die USA oder nach Großbritannien zu entziehen.[6] Preußen war zwar seine alte Heimat. Aber südlich des Mains hatte er mittlerweile viele Freunde und in Malvina Schroedter, der Tochter eines seiner Karlsruher Lehrer, die Liebe seines Lebens gefunden. Mit diesen hoffte er zeitweilig sogar darauf, «daß vorher in Preußen noch eine Revolution ausbricht». Um sich der Gefahr einer Rekrutierung für den Dienst im preußischen Militär zu entziehen, bat er seine Eltern, bei einem eventuellen Einberufungsbescheid den Behörden vorzuflunkern, der Sohn sei mit unbekannter Adresse in die neutrale Schweiz verzogen.[7]

Nach dem preußischen Sieg im deutsch-deutschen «Bruderzwist», der für die meisten Zeitgenossen überraschend kam, änderte sich Anton von Werners Einstellung. Damit war er repräsentativ für viele, die zuvor dem Preußen Wilhelms I. und Bismarcks kritisch gegenübergestanden hatten. Während in Berlin eine Mehrheit der Abgeordneten der Fortschrittspartei die Nationalliberale Partei gründete, um fortan mit der Regierung zusammenzuarbeiten, besann von Werner in Karlsruhe, geblendet vom «glänzenden Feldzug unserer Truppen», sich wieder auf seine preußischen Wurzeln. Nachdem er sich kurz zuvor vorm Militärdienst noch hatte drücken wollen, bedauerte er es nun auf einmal selbst, nicht Soldat geworden zu sein! Speziell dazu mochte auch beitragen, dass man in dem von Kampfhandlungen weitgehend verschont gebliebenen Baden «vom Kriege gar nichts bemerkt» hatte.[8]

Bei Werner wurde die Versöhnung mit der alten preußischen Heimat außerdem noch dadurch befördert, dass ihm die Berliner Akademie der Künste im August 1866 nun doch einen Preis verlieh. Das Preisgeld und wachsende künstlerische Erfolge ermöglichten ihm in den nächsten drei Jahren längere Studienaufenthalte in Frankreich und Italien. Während der Norddeutsche Bund entstand, sich konsolidierte und mit den süddeutschen Staaten Verteidigungsbündnisse abschloss, sprach Werner im Ausland und in seinen Briefen an die Eltern mit wachsendem Respekt über Bismarck und «unser» Preußen.

Ende 1869 kehrte er wieder nach Deutschland zurück und übernahm die «patriotische» Aufgabe, ein Kieler Gymnasium mit Wandbildern zu Luther und der «nationalen Erhebung von 1813» zu verschönern. Dort traf ihn im Juli 1870 die «Nachricht von der französischen Kriegserklärung wie ein Blitz aus heiterem Himmel».[9] Der Beginn der Feindseligkeiten zwischen Frankreich und dem nun von den süddeutschen Staaten unterstützten Preußen machte dem Künstler vorerst nicht nur einen Strich durch seine Heiratspläne. Seinem Vater gegenüber klagte er deswegen spontan: «Wenn nur jetzt nicht der Krieg gekommen wäre!» Auch um die in Karlsruhe, in unmittelbarer Nähe der nun Front gewordenen Grenze, zurückgelassene Braut Malvina machte er sich zunächst große Sorgen. Dazu kamen beunruhigende Nachrichten über hohe Verluste des Regiments aus seiner Heimatstadt in den ersten Schlachten des Krieges. Vielleicht waren Freunde und Bekannte darunter? Schließlich fühlte er sich in Kiel selbst nicht ganz sicher: Was, wenn die Dänen auf Seiten Frankreichs in den Krieg eintraten? Oder die französische Flotte Kiel bombardierte?

Andererseits bot sich bei einem solchen Angriff, trotz mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen erfolgter Ausmusterung in Preußen, vielleicht doch noch die Möglichkeit, in einer Landwehrkompanie die 1866 im Nachhinein vermissten Kriegserfahrungen zu sammeln. Zudem steckte die Kriegsbegeisterung an, die sich wie ein Lauffeuer in Kiel ausbreitete. Denn diese war «kolossal und allgemein – wie überall», wie Anton von Werner schon kurz nach Kriegsbeginn registrierte. Als preußische und verbündete Truppen bald tiefer und tiefer in Feindesland eindrangen, wurde er nicht nur zunehmend optimistischer. In wachsendem Maß sah er im Krieg auch ein mögliches Karrieresprungbrett. Im August 1870 noch von der Hoffnung erfüllt, dass die Feindseligkeiten «allem Anschein nach rasch und glücklich zu Ende gehen» würden, wünschte er sich zwei Monate später sogar deren Verlängerung. Denn er könne, wie er dem Vater mit einer Mischung aus Pathos und Torschlusspanik erläuterte, «die Gelegenheit, die hoffentlich nie wiederkehrt, nicht vorbeigehen lassen, ohne aus eigener Anschauung, so viel es jetzt noch möglich ist», die Realität des Krieges kennenzulernen, um sie «einst künstlerisch zu verarbeiten».[10]

Deshalb ließ er seine Beziehungen zum Karlsruher Hof spielen. Von der Großherzogin erhielt er ein Empfehlungsschreiben an ihren Bruder, den preußischen Kronprinzen. So ausgerüstet, reiste er mit einigen Künstlerkollegen im Oktober 1870 über Straßburg, dessen von deutscher Artillerie zerschossene Vorstädte «einen fürchterlichen Eindruck» auf ihn machten, in das preußische Hauptquartier nach Versailles. Dort ebnete ihm die Empfehlung aus Karlsruhe nicht nur den Weg zum Kronprinzen, sondern auch zum preußischen Generalstabschef Helmuth von Moltke und anderen hohen Militärs. Die aristokratische und militärische Elite Preußens, die er bisher aus der Ferne als arrogant und unnahbar erlebt hatte, wirkte aus der Nähe jetzt «jovial» und umgänglich auf ihn. Mit Überraschung registrierte Werner zudem: «Sie hatten alle soviel Zeit und Interesse für die Kunst!» Das Bemühen seiner neuen Bekannten, ihre Rolle im deutsch-französischen Krieg durch künstlerische Werke gebührend hervorheben zu lassen, bescherte ihm eine ganze Reihe von lukrativen Aufträgen.[11] So waren es wohl nicht allein die Erweiterungen seines Erfahrungsschatzes durch das, was er auf dieser ersten Fahrt nach Versailles gesehen hatte, die ihn dem Vater berichten ließen: «Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich freue, daß ich noch den Krieg soviel jetzt davon noch zu sehen, mitmachen konnte.»[12]

Ende November 1870 kehrte Werner nach Karlsruhe zurück. Während der nächsten Wochen war er damit beschäftigt, die Verlegung seines Wohnsitzes nach Berlin vorzubereiten. Die im Versailler Hauptquartier geknüpften Verbindungen und angebahnten Geschäftsbeziehungen schienen diesen schon vorher erwogenen Umzug nun erst recht sinnvoll zu machen. Am 16. Januar 1871 wollte er deswegen in die preußische Hauptstadt reisen. Doch am Tag davor erreichte Werner die rätselhafte Nachricht des Kronprinzen, er könne etwas seines «Pinsels Würdiges erleben», wenn er vor dem 18. Januar in Versailles eintreffen werde.

Festakt mit Hindernissen

Der Künstler zögerte nicht. Er kaufte sich «einen dicken Reisepelz» – die Temperatur lag, bei stahlblauem Himmel, um zehn Grad unter null – und machte sich noch am selben Tag um 14 Uhr, vier Stunden nach Ankunft des Telegramms, auf die Reise. Diesmal kam er schneller voran als im Oktober. Dennoch dauerte es zwei Tage, bis er über Straßburg und Epernay mit dem Zug Lagny-sur-Marne, den Endpunkt der Bahnstrecke vor dem deutschen Belagerungsring um Paris, erreicht hatte. Am 17. Januar traf er dort um fünf Uhr nachmittags ein. Mittlerweile hatte Tauwetter mit Regen eingesetzt, und es dämmerte bereits. Für die Weiterfahrt hatte der Hofmarschall des Kronprinzen einen Platz für ihn in der Armeepostkutsche reserviert. «So ging’s in die pechschwarze Nacht hinein», Werner mit einem preußischen Feldjäger und dem Kutscher «zu dritt in dem mit Postpaketen gefüllten Wagen zusammengepreßt, wie in der Schachtel die Sardinen». Aus Furcht vor Angriffen französischer Partisanen wurde die Kutsche von einem weiteren Soldaten aus Bayern bewacht, der «oben auf dem Verdeck des Wagens schaukelte».

In halsbrecherischer Fahrt durch die Nacht legte Werner auf diese Weise die letzten gut 50 Kilometer der Reise zurück. «Um 4 Uhr früh kamen wir ohne Unfall, nur tüchtig durchgerüttelt und etwas steif in den Gliedern in Versailles an.» Der Künstler schlief noch zwei Stunden im Quartier des preußischen Feldjägers, der ihn in der Postkutsche begleitet hatte. Kaum erholt, ging er «gegen 8 Uhr ins Quartier des Kronprinzen nach der mir wohlbekannten Villa Les Ombrages, gestiefelt und gespornt, denn ich glaubte nichts anderes, als daß ein Sturm auf Paris oder etwas Derartiges beabsichtigt sei, eine Meinung, die auch die Herren vom Etappenkommando in Straßburg und Epernay ausgesprochen hatten». Der Kronprinz begrüßte ihn nur kurz im Vorübergehen und beauftragte den Hofmarschall, «das Weitere» zu organisieren. Der fragte Werner «zu meiner höchsten Verwunderung, ob ich einen Frack mitgebracht hätte». Dann stellte er ihm für «heute vormittag zu der Festlichkeit im Schloss» einen Passierschein aus.[13]

In aller Eile besorgte sich der Künstler bei einem französischen Herrenausstatter den Frack. Von der Festlichkeit im Schloss hatte der Franzose auch bereits gehört, wusste aber genauso wenig, worum es sich handelte. Die wildesten Gerüchte machten die Runde. Weil deutsche Truppen an allen Frontabschnitten ihre Fahnen eingerollt und nach Versailles gebracht hatten, vermuteten manche Einheimische sogar, die Deutschen beabsichtigten, vor den sich erfolgreich verteidigenden Parisern zu kapitulieren.[14]

Gegen elf Uhr eilte Werner schließlich zum Schloss, einigermaßen in Sorge um die Sauberkeit seiner Frackhosen. Denn das Eis und der Schnee der letzten Tage hatten sich mit dem Tauwetter in «furchtbaren Dreck» verwandelt, wie ein Offizier des preußischen Generalstabs in seinem Tagebuch notierte. Auf der zum Schloss führenden Avenue de Paris und der davorliegenden Place d’Armes wimmelte es dennoch von Soldaten. Allen dienstfreien Mannschaften der deutschen Garnison war «gestattet» worden, sich in Paradeuniform dort zu versammeln.[15]

Kurz vor zwölf Uhr fuhr der Kronprinz vor und ging mit seinen Adjutanten ins Schloss. Bald darauf folgte König Wilhelm im offenen, von vier Pferden gezogenen Wagen. Trotz der Hurrarufe der Soldaten hatten allerdings sogar zum Pathos neigende Betrachter den Eindruck, dass sich eine wirklich feierliche Atmosphäre nicht einstellen wollte. Denn nicht nur mischte sich in das Hurra von Paris her der Donner französischer Festungsartillerie. Der Wagen des Königs musste zudem seinen Weg nehmen «zwischen Kriegsfuhrwerk, Proviantladungen und Viehzutrieb, durch den lebhaften städtischen Verkehr hindurch, der am Markttage herrschte».[16]

Vor dem Schloss stieg der König aus dem Wagen und schritt zunächst die dort aufgestellte Ehrenwache seines Garderegiments ab. Bei den von einem Unteroffizier gehaltenen Resten der Fahne des Regiments blieb er stehen. Das Fahnentuch war bei einem der ersten Gefechte des deutsch-französischen Krieges, der Schlacht von Weißenburg, zerfetzt und die Fahnenstange zersplittert worden. In dieser Schlacht hatte auch das Regiment aus Anton von Werners Heimatstadt Frankfurt an der Oder große Verluste erlitten. Bis zum 18. Januar 1871 betrug der Blutzoll des Krieges auf beiden Seiten zusammen mehr als 170.000 Tote und über 220.000 Verwundete, und es sollten noch einige Tausend dazukommen.

Der König befahl, die Fahne des Garderegiments zu den bereits in den Spiegelsaal des Schlosses gebrachten anderen zu tragen, und ging selbst hinein. Im Spiegelsaal wartete Anton von Werner als einer von einer Handvoll Zivilisten unter Hunderten von Uniformträgern bereits seit einer guten halben Stunde. An der vom Eingang aus linken Längsseite standen vor den Fenstern ordensgeschmückte preußische und bayerische einfache Soldaten und Unteroffiziere, die von verschiedenen Truppenteilen abgeordnet worden waren. Auf der rechten Seite, an der große Spiegel das durch die Fenster gegenüber eindringende Tageslicht zurückwarfen, standen Offiziere im Generalsrang und Ministerialbeamte, auch diese allesamt in Uniform. Gegenüber dem Eingang, an der Stirnseite des Spiegelsaals, waren auf einem Podium die Fahnenträger in Reih und Glied aufgestellt. Mit dem Auge des Malers taxierte Werner schon das künstlerische Potential der in den Spiegeln reflektierenden bunten Uniformen, der blitzenden Orden und Waffen und des Lichts.

Allerdings tappte er immer noch völlig im Dunkeln, «was aus diesem Gewirr ‹meines Pinsels Würdiges› sich entwickeln würde». Auf den Sinn der ganzen Veranstaltung konnte er sich nach wie vor keinen Reim machen. Angesichts des Datums schien es ihm am wahrscheinlichsten, dass ein Gedenken an die erste preußische Königskrönung am 18. Januar 1701 vorgesehen war, an deren Vorbereitung sein Vorfahr Anteil gehabt hatte. Der höchste Orden Preußens, der Schwarze Adlerorden, war damals gestiftet worden, und das daran erinnernde Ordensfest galt in Hofkreisen als wichtige Feier.

Dass König Wilhelm diesen Orden an prominenter Stelle trug, als er den Spiegelsaal betrat, war geeignet, die Vermutung zu bestärken. Der König, sein Sohn, die mit ihnen eingetretenen Angehörigen anderer deutscher Fürstenhäuser und der preußische Ministerpräsident Bismarck stellten sich gegenüber von einem Altar in der Mitte der Fensterseite auf. Werner, der in nächster Nähe stand, nahm sein Skizzenbuch heraus und begann ihre Porträts zu zeichnen. Der Kronprinz kommandierte: «Helm ab zum Gebet», und mit dem Absingen eines Chorals begann ein Gottesdienst. In seine Arbeit versunken, bekam der Künstler davon «natürlich so gut wie nichts» mit, ebenso wenig wie von der folgenden Ansprache des preußischen Hofpredigers.[17]

Er war allerdings nicht der Einzige, dem es so ging. Die unerwartet lange Predigt war nach der Erinnerung vieler Anwesender auch nicht sonderlich geeignet, die Aufmerksamkeit zu fesseln. So ließ der Kronprinz, abgestoßen von der «ziemlich taktlosen, langen, historisch-religiösen Abhandlung» des Hofpredigers, seine «Blicke während dieses Teils der Feier über die Versammlung und an die Decke schweifen». Der Generalstäbler Oberstleutnant Paul Bronsart von Schellendorf urteilte in seinem Tagebucheintrag zum 18. Januar, die «lange, aber ziemlich schwache Rede» habe «mehr den Charakter einer Hausandacht» gehabt. Überdies wurde seine Aufmerksamkeit wie die Werners von dem Gottesdienst durch ein Kunstwerk abgelenkt: Denn der «improvisierte Altar stand einer nackten Venus gegenüber, ein allerdings im Schloß von Versailles schwer zu vermeidendes Verhältnis».[18]

König Wilhelm dagegen ignorierte die Nackte oder nahm sie nicht wahr. Er blickte während des Gottesdienstes andächtig zu Boden und dankte dem Hofprediger nachher herzlich. Dann ging er zum Podium an der Stirnseite des Spiegelsaals, auf dem die Fahnenträger warteten. Wilhelm komplimentierte zunächst die 32 Angehörigen anderer deutscher Fürstenhäuser auf das Podium, bevor er sich selbst, flankiert vom Kronprinzen und seinem Schwiegersohn, dem badischen Großherzog, dort aufstellte. Die hohen Herrschaften standen nun bereits sehr gedrängt, in stetiger Gefahr, sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Den König hielt das aber nicht davon ab, noch zwei weitere Fahnenträger heraufzukommandieren.

Mit der Bewegung der Fürsten war der Rest der Teilnehmer ebenfalls in Bewegung geraten. Angeführt von Bismarck, verlagerten Minister, Generalstäbler und andere hohe Würdenträger ihre Position an die Stufen vor dem Podium. Doch es konnte, wie selbst eine die besondere Würde des Festakts betonende Darstellung vermerkte, «nicht fehlen, daß im Drange, der feierlichen Handlung so nahe wie möglich zu sein, auch die Versammlung selbst nachzufolgen suchte».[19]

Anton von Werner machte keine Ausnahme. Hinter einem Hauptmann arbeitete er sich «durch die dichtgedrängte Masse der Offiziere zu einem günstigeren Platz» vor – nicht ohne von einem Hofmarschall angeraunzt zu werden, was er als Zivilist denn überhaupt hier zu suchen habe. «Und nun ging in prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze das große Ereignis vor sich, das die Errungenschaft des Krieges bedeutete: die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches! Das also war es, was der Kronprinz Friedrich Wilhelm als etwas meines Pinsels Würdiges in seinem Telegramm bezeichnet hatte!»

Reflexartig zeichnete der Künstler weiter. Dafür hatte er sich schließlich auf einen besseren Platz vorgedrängelt. Denn so prunklos die Sache ihm auch scheinen mochte: «Der Vorgang war gewiß historisch würdig, und ich wandte ihm meine gespannteste Aufmerksamkeit zu, zunächst natürlich seiner äußeren malerischen Erscheinung, notierte in aller Eile das Nötigste, sah, daß König Wilhelm etwas sprach und daß Graf Bismarck mit hölzerner Stimme etwas Längeres verlas, hörte aber nicht, was es bedeutete.»[20]

Wilhelm hatte den Fürsten dafür gedankt, dass sie die Aufforderung Ludwigs II. von Bayern unterstützten, die Kaiserwürde im neuen Deutschen Reich anzunehmen. Bismarck las anschließend die Proklamation Wilhelms «an das deutsche Volk» vor, in dem der König sich dazu bereiterklärte. Dass der preußische Ministerpräsident dabei keine allzu imposante Vorstellung ablieferte, war nicht nur Anton von Werners Eindruck. Später für die Veröffentlichung überarbeitete und offenbar geschönte Berichte attestierten beiden Rednern zwar «kräftige» Stimmen. Der Kronprinz notierte dagegen am 18. Januar in sein Tagebuch, dass Bismarck, «der ganz grimmig verstimmt aussah,» seine Ansprache «in tonloser, ja geradezu geschäftlicher Art und ohne jegliche Spur von Wärme oder feierlicher Stimmung» verlas.[21]

Nach dem Ende von Bismarcks Vortrag brachte der Großherzog von Baden als ranghöchster der anwesenden deutschen Fürsten – die Könige von Bayern, Württemberg und Sachsen fehlten bei der Zeremonie – ein Hoch auf den Kaiser aus. Das Publikum antwortete mit mehrfachen Hoch- und Hurrarufen. Fahnen, Helme und Waffen wurden geschwenkt, nicht ganz ungefährlich in dem proppenvollen Saal, aber niemand kam zu Schaden. Anton von Werner «schrie mit und konnte dabei natürlich nicht zeichnen». Vor dem Schloss «antwortete wie ein Echo das Hurra der dort aufgestellten Truppen. Der historische Akt war vorbei: Es gab wieder ein Deutsches Reich und einen Deutschen Kaiser! Ich sah noch, wie der Kaiser den Kronprinzen umarmte und von den ihn umgebenden deutschen Fürsten beglückwünscht wurde. Eine beabsichtigte Defiliercour der anwesenden Offiziere mißglückte.»[22]

Dass die nicht geplante Gratulation des Monarchen durch die Militärs «des unvermeidlichen Gedränges wegen keinen rechten Charakter hatte», registrierten auch der Kronprinz und andere Teilnehmer. Doch damit nicht genug der peinlichen Momente und Pannen. Die Musikkorps waren angewiesen worden, nach dem Ende des offiziellen Teils der Feier im Vorraum des Spiegelsaals einen Marsch anzustimmen. «Aber so sehr waren der Kaiser und die Fürsten noch in der Unterredung mit den sie umringenden Festgenossen begriffen, daß der zu lauten Musik sofort wieder Einhalt geboten werden mußte.»[23] Irritiert sah Werner «dann den Kaiser die Stufen der Estrade hinabschreiten, an Bismarck vorbei, den er nicht zu bemerken schien».[24]

Eine schwere Geburt

Jahre später sollte er von Bismarck selbst erfahren, dass es sich dabei um alles andere als Zufall gehandelt hatte. Denn bei der Vorbereitung der Versailler Kaiserproklamation waren der zukünftige Kaiser und sein Kanzler massiv aneinandergeraten. Deshalb grollte Wilhelm und ignorierte Bismarck nach dem Festakt. Und das war auch der Grund, warum der Kanzler «ganz grimmig verstimmt» war und seine Rolle in der Zeremonie sichtlich unmotiviert spielte. Noch einige Tage später klagte Bismarck seiner Frau in einem Brief: «Diese Kaisergeburt war eine schwere, und Könige haben in solchen Zeiten ihre wunderlichen Gelüste, wie Frauen, bevor sie der Welt hergeben, was sie doch nicht behalten können. Ich hatte als Accoucheur [Geburtshelfer] mehrmals das dringende Bedürfnis, eine Bombe zu sein und zu platzen, daß der ganze Bau in Trümmer gegangen wäre.»[25]

Was war geschehen? Den Funken für den Streit hatte die Frage gezündet, welchen Titel Wilhelm als Kaiser zukünftig tragen sollte. Auf den ersten Blick war das in der Tat ein kurioser Anlass. Allerdings handelte es sich dabei um ein Thema, das nicht nur tiefe Einblicke in die Befindlichkeiten und Eigenheiten der zentralen Akteure der Reichsgründung bietet. Der Streit um des Kaisers Titel beleuchtet auch grell ein hartnäckiges Hindernis der nationalen Einigung Deutschlands, das Anton von Werner als Wandler zwischen den Welten seit 1862 schon am eigenen Leib erfahren hatte: den Gegensatz zwischen Preußen und dem Süden. Mit der Zeremonie in Versailles war dieser Gegensatz nicht wirklich überwunden. Die Auseinandersetzung zwischen König Wilhelm und Bismarck um den Kaisertitel war, um im Bild zu bleiben, tatsächlich nur ein vorläufiger Höhepunkt der Geburtswehen des deutschen Kaiserreiches.

Seit dem Sieg über Österreich 1866 herrschte Preußen nördlich des Mains unangefochten. Die Gründung des von ihm dominierten Norddeutschen Bundes war der sichtbare Ausdruck dafür. Südlich des Mains sah die Lage zunächst aber noch anders aus. Obwohl die süddeutschen Staaten nun notgedrungen mit Preußen durch Verteidigungsallianzen verbunden waren, zeigten sie sich wenig interessiert, die Beziehungen enger zu gestalten. Das merkte der aus dem Norden stammende Anton von Werner selbst in Baden, trotz der engen dynastischen Verbindungen des dortigen Großherzogs zur preußischen Königsfamilie. Das persönliche Verhältnis zu einem bis dahin guten Freund, dem Karlsruher Schriftsteller Viktor von Scheffel, verschlechterte sich nach 1866 sogar, weil diesem «der Unmut über die neuen Verhältnisse in Deutschland noch immer böse Stunden bereitete, während seine sonst gleichgesinnten Freunde schon angefangen hatten, die Sache von der praktischen Seite zu sehen». Die gemeinsamen Abende in Scheffels Mansarde gestalteten sich deshalb «nicht mehr so harmlos und heiter wie früher».[26] In Bayern und Württemberg stand sogar eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung Preußen feindlich gegenüber.

Mit dem Beginn des Krieges gegen Frankreich im Juli 1870 änderte sich das, und damit eröffneten sich auch der preußischen Politik neue Perspektiven. Durch die süddeutschen Staaten lief eine Welle nationaler Begeisterung. Eine erneute Machterweiterung der preußischen Monarchie geriet so in den Bereich des Möglichen. Gespräche über den Eintritt Süddeutschlands in den Norddeutschen Bund wurden begonnen. Nach langwierigen Verhandlungen war bis Ende November 1870 in Versailles darüber weitgehende Einigkeit erzielt.

Am 1. Januar 1871 traten die entsprechenden Verträge formell in Kraft. Tatsächlich war jedoch vieles noch offen. Offiziell hieß das Resultat der Verhandlungen in den Verträgen «Deutscher Bund». Zumindest auf preußischer Seite sprach man aber bereits ganz ungeniert von einem «Deutschen Reich». Im Süden bestanden Animositäten gegen die Dominanz Preußens weiter fort. Dass die «Kaiserkrone auf dem Haupt eines Hohenzollern» Anton von Werners badischem Freund Viktor von Scheffel weiterhin «eine ganz unmögliche und unnatürliche Sache» erschien und Werner wegen seiner preußischen Herkunft auch an der Karlsruher Kunstschule offene Feindschaft entgegenschlug,[27] ließ sich zwar ignorieren. Beträchtliche Teile der Bevölkerung Württembergs und vor allem Bayerns lehnten die Reichsgründung aber nach wie vor ab. Die notwendige Ratifizierung der Einigungsverträge im bayerischen Landtag zog sich hin. Schließlich sollte sie am 17. Januar stattfinden, am Tag vor dem für die Kaiserproklamation vorgesehenen Termin, wurde aber dann erneut verschoben.

Der bayerische und der württembergische König waren überhaupt nur durch eine Reihe von Sonderrechten zur widerstrebenden Unterzeichnung der Verträge bewegt worden. Bayern und Württemberg würden im neuen Bund weiter über eigene Postdienste und Eisenbahnen verfügen, die Besteuerung von Bier und Branntwein selbst regeln, ihre Monarchen zumindest noch eingeschränkte militärische Kommandogewalt besitzen. König Ludwig II. von Bayern hatte auch keineswegs selbst die Idee gehabt, seinen preußischen Kollegen Wilhelm zur Annahme der Kaiserkrone aufzufordern. Der entsprechende Text war vielmehr in Berlin formuliert worden. Damit der bayerische «Märchenkönig» diesen schließlich unterschrieb, musste Bismarck erst unter der Hand viel Geld versprechen, das Ludwig unter anderem für den Bau von Schloss Neuschwanstein brauchte.

Mit Blick auf die Kaiserproklamation plädierte Bismarck für äußerste Vorsicht, um die Empfindlichkeiten der Süddeutschen nicht zu verletzen. Wenn die Ratifizierung des Vertrages mit Bayern im Münchner Landtag scheiterte, stand die fast erreichte deutsche Einigung wieder in Frage. Schon das für den Festakt von König Wilhelm festgelegte Datum stellte in dieser Hinsicht ein Problem dar: Als Jahrestag der Krönung von 1701 stand der 18. Januar in einer rein preußischen Tradition. Die Gefahr war nicht von der Hand zu weisen, dass die übrigen deutschen Fürsten sich degradiert fühlten zu rein dekorativen Zaungästen einer Erhöhung Preußens und seiner Monarchie, die mit ihrer eigenen Erniedrigung einherging.

Das galt umso mehr, als Wilhelm sich zunehmend auf die Forderung versteifte, zum «Kaiser von Deutschland» ausgerufen zu werden. Bismarck, zumindest nach außen hin kühl logisch argumentierend, riet davon unter Hinweis vor allem auf die Lage in Bayern ab. Wenn man den preußischen König zum «Kaiser von Deutschland» ausrufe, könne das als Anspruch auf territoriale Herrschaft auch in den Gebieten der anderen Bundesfürsten verstanden werden. Es komme aber darauf an, «den Gegnern der deutschen Sache jede Waffe zur Verdächtigung unserer Absichten zu entziehen». Deshalb plädierte er für den unverfänglicheren Titel «Deutscher Kaiser».[28]

Sosehr Wilhelm sich zeitweilig bereitfand, diese taktischen Argumente anzuerkennen, so wenig konnte er sich prinzipiell mit dem von Bismarck vorgeschlagenen Titel anfreunden. Ohne territoriale Herrschaft auszudrücken, war der Kaisertitel in seinen Augen weniger wert als der des preußischen Königs. Am Vortag der Kaiserproklamation «brach er in die Worte aus, nur ein Scheinkaisertum übernähme er, nichts weiter als eine andere Bezeichnung für ‹Präsident›». Bei aller Emotionalität sah der greise Wilhelm in mancher Hinsicht weiter als sein Ministerpräsident. Preußen gewann durch die Verbindung mit Deutschland zwar auf den ersten Blick Macht. Auf lange Sicht ging es aber damit in der Nation auf – und letztlich unter. Zu Bismarck und dem diesen unterstützenden Kronprinz «sagte er in äußerster Erregung, er könnte uns gar nicht schildern, in welcher verzweifelten Stimmung er sich befände, da er morgen von dem alten Preußen, an welchem er allein festhielte und fernerhin auch festhalten wollte, Abschied nehmen müßte. Hier unterbrachen Schluchzen und Weinen seine Worte.»

Eigentlich war die Besprechung am 17. Januar anberaumt worden, um den Festakt am nächsten Tag insgesamt zu planen, und dabei in letzter Minute auch endlich eine Einigung in der umstrittenen Titelfrage zu erzielen. Beides misslang völlig. Die Teilnehmer verzettelten sich stattdessen in Debatten über die Geschichte Brandenburg-Preußens und das historische Verhältnis von Kaiser und Königen. Beide Seiten bemühten dabei die abstrusesten Argumente, um ihren Standpunkt in der Titelfrage zu untermauern. «Im höchsten Zorn sprang der König schließlich auf, brach die Verhandlungen ab und erklärte, von der zu morgen angesetzten Feier nichts mehr hören zu wollen.»[29] Wilhelm war dermaßen aufgebracht und aufgewühlt, dass er sogar «drauf und dran war, zurückzutreten».[30]

Natürlich konnte keine Rede davon sein, den Festakt abzusagen. Jede detailliertere Planung unterblieb jedoch, zumal der König sich für den Rest des Tages ganz zurückzog und unansprechbar war. Ein Großteil der Pannen und Peinlichkeiten bei der Zeremonie am 18. Januar hätte sonst wohl vermieden werden können. Der größte anzunehmende Unfall blieb immerhin aus, weil der badische Großherzog in buchstäblich letzter Minute spontan eine salomonische Lösung für die umstrittene Titelfrage fand. Frühmorgens von Wilhelm schriftlich dazu aufgefordert, im Spiegelsaal nach der Proklamation das Hoch auf ihn als «Kaiser von Deutschland» auszubringen, was auch immer Bismarck sage, versuchte der Großherzog unmittelbar vor dem Festakt zu vermitteln. Der zuerst von ihm angesprochene Kanzler «war ganz außer sich vor Ärger», während Wilhelm ebenfalls «sehr ungehalten» reagierte und «sich in heftigen Ausdrücken über Bismarck» äußerte. Beide wandten sich unwirsch mit den Worten ab, der Großherzog müsse eben tun, was er für richtig halte. Und das tat dieser dann auch, indem er das Hoch weder auf den «Kaiser von Deutschland» noch auf den «deutschen Kaiser» ausbrachte, sondern auf «Kaiser Wilhelm».[31]

Obwohl damit wenigstens ein Fettnäpfchen geschickt umgangen worden war, hinterließ die Feier nicht allein bei Wilhelm und Bismarck, die noch tagelang schlecht aufeinander zu sprechen blieben, einen üblen Nachgeschmack. Angesichts des Aufgalopps fürstlicher Prominenz in Versailles konnte es nicht ausbleiben, dass die Abwesenheit der drei Könige von Bayern, Württemberg und Sachsen umso mehr auffiel. Ihr Fehlen war kein Zufall: Sie blieben dem Festakt, in dem ihr preußischer Kollege über sie erhöht wurde, demonstrativ fern.

Einige ihrer Verwandten waren freilich da. Und bei diesen war schon die Ansprache des preußischen Hofpredigers am 18. Januar geeignet, schlummernde Ressentiments wieder zu wecken. Denn die König Wilhelm so gut gefallende, unerwartet lange Predigt thematisierte vor allem die Größe Preußens und seiner Monarchen. Nur kurz und am Ende sprach der Prediger auch die nationale Einigung an, die so zum i-Tüpfelchen auf einer jahrhundertelangen Geschichte des preußischen Aufstiegs wurde. Der sächsische Kronprinz schimpfte nachher voll Ingrimm über diese «taktlose Rede voll preußischer Selbstvergötterung» – eine Einschätzung, die auch andere teilten, so dass Bismarck sich zu eifrigen Versuchen der Schadensbegrenzung unter den nichtpreußischen Teilnehmern veranlasst sah.[32]

Vollends verstimmt, und das von dem ganzen Festakt, reagierte Prinz Otto von Bayern, der Bruder des bayerischen «Märchenkönigs». Noch mehr als zwei Wochen nach der Kaiserproklamation schrieb er Ludwig II. nach München, er könne «gar nicht beschreiben, wie unendlich weh und schmerzlich es mir während jener Zeremonie zumute war, wie sich jede Phase in meinem Innern sträubte und empörte gegen all das, für was ich innerlich tief glühe und was ich von Herzen liebe und wofür ich mit Freuden mein Leben einsetze […] Welchen wehmütigen Eindruck machte es mir, unsere Bayern sich da vor dem Kaiser neigen zu sehen […] Alles so kalt, so stolz, so glänzend, so prunkend und großtuerisch und herzlos und leer.» Kaum habe er es erwarten können, aus dem Spiegelsaal herauszukommen: «Erst draußen in der freien Luft atmete ich wieder auf. Dieses wäre also vorbei.»[33]

Dass es mit der Eigenstaatlichkeit nun faktisch «vorbei» war, erfüllte besonders in Bayern, aber auch anderswo im neuen Deutschen Reich nicht wenige mit Bitterkeit. Bis zur inneren Einigung dieses Reiches war es nach dem Abschluss der äußeren Formalitäten und Festivitäten noch ein langer Weg. Der Abschied vom Alten fiel aber nicht nur südlich des Mains, sondern gerade auch in Preußen vielen schwer. Der preußische König Wilhelm blickte in einem Brief an seine Frau fast mit gleichen Worten und identischen Bildern von Sprachlosigkeit, psychischen und physischen Beschwerden auf die Kaiserproklamation zurück wie der bayerische Prinz: «Ich kann dir nicht sagen, in welcher morosen Emotion ich in diesen letzten Tagen war […] vor allem über den Schmerz, den preußischen Titel verdrängt zu sehen!»[34]

Nicht allein die Angehörigen des bayerischen und württembergischen Königshauses fürchteten um Vorrechte und Symbole ihrer Herrschaft. So feilschte der Onkel Ludwigs II. und Ottos, der spätere Prinzregent Luitpold von Bayern, auf eigene Initiative in den Tagen vor dem 18. Januar in Versailles noch um die Bewahrung des Eigencharakters der Armee Bayerns. Auch der Preußenkönig Wilhelm erklärte in der Besprechung mit Bismarck am Vortag der Kaiserproklamation erregt, wenn er schon «das Kreuz» tragen solle, deutscher Kaiser zu werden, so verbitte er sich doch entschieden, «der preußischen Armee eine gleiche Zumutung wie seiner eigenen Person zu machen; er wolle daher nichts von einem ‹Kaiserlichen Heere› hören, weil er wenigstens unsere Armee vor dergleichen bewahren möchte und nicht dulden könnte, daß die Truppen gar ‹deutsche› Namen und Bezeichnungen sich gefallen lassen müßten». Von Reichsministern wollte er aus dem gleichen Grund nichts wissen. Eine vom Kronprinzen favorisierte Idee, die Kaiserproklamation unter einem Wappen des neuen Reiches stattfinden zu lassen, lehnte Wilhelm brüsk ab. Die schwarzweißrote Reichskokarde wollte er «nur neben der preußischen dulden».[35]

Dass am preußischen Hof eigenstaatliches Bewusstsein und renitenter Partikularismus eher noch stärker ausgeprägt waren als in den süddeutschen Staaten, konnte unter diesen Umständen nicht verwundern. Das Amt des Hofmarschalls lud für den 18. Januar bezeichnenderweise zum Fest des preußischen Schwarzen Adlerordens in den Spiegelsaal des Versailler Schlosses ein. Danach finde dann auch noch die Kaiserproklamation statt! Das stieß sogar dem badischen Großherzog sauer auf: Entgeistert konstatierte er, aus preußischer Sicht erscheine die Proklamation offenbar «als eine nebensächliche Zutat zum ‹Ordensfeste›. Der Kaisertitel wird als eine Degradation des Königs von Preußen betrachtet.»[36]

Obwohl der Kronprinz und Bismarck diese Sicht nicht teilten, waren Wilhelm und seine Hofbeamten damit alles andere als allein. Die meisten preußischen Militärs stimmten mit ihrem obersten Kriegsherrn vielmehr völlig überein. Der Generalstäbler Bronsart von Schellendorf nannte die Kaiserproklamation «am alten Krönungstag der preußischen Könige» in seinem Tagebuch abfällig einen «großen Mummenschanz». Selbst Kriegsminister Albrecht von Roon, ein enger Vertrauter Bismarcks, hegte «schwere Bedenken» gegen die «Titelvermehrung» des preußischen Monarchen. Wie sein Schwager, der Hofprediger, sah Roon das deutsche Kaisertum vor allem «als fernere Etappe für die weitere historische Entwicklungsphase unserer Preußischen Königsherrlichkeit».[37]

Vielleicht am treffendsten charakterisierte Leonhard von Blumenthal, Chef des Generalstabs bei der Armee des Kronprinzen, in einer Tagebucheintragung am Abend des 18. Januar die ambivalente Einstellung der aristokratischen Elite Preußens gegenüber der Kaiserproklamation. Wie Roon, Bronsart und der Hofprediger sah auch er diese als eine logische Fortführung einer Entwicklung, die exakt 170 Jahre zuvor mit der Königskrönung des brandenburgischen Kurfürsten begonnen hatte. Die Geschehnisse dieses «historischen Tages» seien insofern durchaus «eine historische Notwendigkeit». Und doch: «Es war sehr feierlich, mir aber wehmütig zu Muth bei dem Tode des schönen Königthums.»[38]

Risse hinter der Einheitskulisse

Der preußisch-süddeutsche Gegensatz und die partikularistischen Vorbehalte auf beiden Seiten waren nicht die einzigen Risse hinter der am 18. Januar 1871 zur Schau gestellten Kulisse nationaler Einheit. Im Vorfeld der Kaiserproklamation kam es auch von ganz anderer Seite zu einem Vorstoß, der die Dauerhaftigkeit von alten Konflikten in dem neu gegründeten Nationalstaat illustriert: Das Parlament des Norddeutschen Bundes sandte eine Abordnung nach Versailles, um seinen Anspruch auf Mitgestaltung des neuen Reiches anzumelden. Offiziell war der Zweck dieser Aktion, den preußischen König aufzufordern, «durch die Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen». Tatsächlich ging es darum, die Rolle der Volksvertretung in diesem «Einigungswerk» symbolisch aufzuwerten. Der Kaiserkrone sollte, wie es einer der Initiatoren des Unternehmens, der nationalliberale Abgeordnete Eduard Lasker, intern formulierte, «der populäre Ursprung aufgedrückt» werden.[39]

Die Abordnung der Parlamentarier gelangte Mitte Dezember 1870 auf dem gleichen Weg nach Versailles wie Anton von Werner: Mit der Eisenbahn bis Lagny, dann weiter in Postkutschen, von einer bewaffneten Militäreskorte gegen befürchtete Partisanenangriffe geschützt. Am 16. Dezember 1870 erreichten die 27 Abgeordneten das preußische Hauptquartier. Doch dort ließ man sie erst einmal warten. Am Hof herrschte die Furcht, «der Reichstag wolle den Fürsten die Kaiserfrage aus den Händen winden». Wilhelm hatte zuvor bereits erregt erklärt, «er wolle sich die Krone nicht vom Parlament anbieten lassen, sonst komme es auf den Fall von 1849 zurück, und das dürfe nicht sein».[40] Die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 wurde auch dadurch heraufbeschworen, dass die Abgeordneten mit Eduard Simson von demselben Parlamentarier angeführt wurden, der damals im Namen der deutschen Nationalversammlung Wilhelms Bruder und Vorgänger die Kaiserkrone offeriert hatte.

Der König weigerte sich deshalb kategorisch, die parlamentarische Abordnung zu empfangen, ehe nicht die Zustimmung sämtlicher Fürsten zur Kaiserproklamation gegeben wurde. Erst nachdem diese eingetroffen war, fand Wilhelm sich dazu bereit, der Abordnung eine Audienz zu gewähren. Die verlief dann durchaus harmonisch, auch wenn man sich am Hof darüber mokierte, dass die Parlamentarier «in den primitivsten Wagen» vorfuhren. Allen Versuchen allerdings, den Volksvertretern einen Anteil an der Reichsgründung zuzubilligen, schob Wilhelm entschieden einen Riegel vor. Er nehme zwar, erklärte er in seiner Antwort auf die Ansprache des Führers der Parlamentsdeputation, den «Wunsch der deutschen Nation und ihrer Vertreter» wohlwollend und dankend zur Kenntnis. Die Grundlage für die Kaiserproklamation könne er aber «nur in der einmüthigen Stimme der deutschen Fürsten» sehen.[41]

Über diese höfliche Abfuhr für die Volksvertreter kam es zwischen Wilhelm und Bismarck zu keinem Streit, wie es ihn um die Titelfrage und die damit zusammenhängende Verstimmung der süddeutschen Fürsten gab. Das Kanzleramt wurde an der Formulierung der vom König vorgelesenen Antwort auf die Stellungnahme der parlamentarischen Deputation beteiligt. Der Kanzler selbst hatte die Verhandlungen mit den Parlamentariern geführt, in denen der Ablauf der Audienz vorab minutiös festgelegt worden war.

Während Bismarck sich mit seinem König tagelang Wortgefechte darüber lieferte, ob dieser sich zum «Deutschen Kaiser» oder «Kaiser von Deutschland» krönen lassen sollte, zog keiner der beiden auch nur eine Minute die Variante «Kaiser der Deutschen» in Betracht. Das war der Vorschlag der Nationalversammlung von 1849 gewesen. Und damit wäre man auch der parlamentarischen Abordnung 1870 entgegengekommen, hätte den Volksvertretern eine begriffliche Brücke gebaut: ein Kaiser, der von den Deutschen legitimiert war und für sie regierte, nicht über sie.

Doch wie die Erinnerung an 1849 König Wilhelm, seinem Kanzler und seinem ganzen Hof Gänsehaut bereitete, so war der Gedanke an eine solche «volkstümliche» oder demokratische Legitimation der Aristokratie, die Preußen und bald das neue Reich regierte, zutiefst zuwider. Gerade die Umstände, unter denen es zur Kaiserproklamation gekommen war, schienen den Angehörigen dieser alten Elite einmal mehr die Unterlegenheit demokratischer und parlamentarischer Regierungsweise zu belegen. Nach der Gefangennahme des französischen Kaisers Napoleon III. in den ersten Wochen des Krieges war in Paris die parlamentarische Republik ausgerufen worden. In den Provinzen Frankreichs mobilisierte die Republik neue Armeen. Doch vergleichsweise leicht gelang es den deutschen Truppen im Dezember 1870 und Januar 1871, diese improvisierten französischen Volksarmeen zu besiegen. Die militärischen Erfolge im Vorfeld der Kaiserproklamation bestärkten die aristokratischen Eliten Preußens noch einmal in ihrer Überzeugung von der Überlegenheit ihrer eigenen Herrschaft und der Unzulänglichkeit der Demokratie.

Generalfeldmarschall Leonhard von Blumenthal, Stabschef der in Versailles stationierten Armee des Kronprinzen, fasste solche Gedanken am 15. Januar 1871 in einer Tagebucheintragung zusammen. Das republikanische Frankreich, schrieb Blumenthal, stehe vor der endgültigen Niederlage und dem Zerfall. Am besten sei es in dieser Situation, den sich in deutscher Gefangenschaft befindenden Napoleon III. wieder als französischen Kaiser einzusetzen und mit ihm Frieden zu schließen: «Wir haben dann der Welt und namentlich unseren demokratischen Landsleuten gezeigt, daß Volksheere gegen geschulte Truppen, die gut geführt werden, nichts ausrichten können, und vor allen Dingen, wir haben die Republik beseitigt, die uns augenscheinlich in unserem inneren Lande die größten Gefahren bereiten und uns nie zur Ruhe kommen lassen würde. Bei der demokratischen und liberalen Denkungsweise der Deutschen haben wir die Republik mehr zu fürchten als Frankreich, bei uns würde mit der Republik alles aus dem Leim gehen».[42]

Die Form, in der der König von Preußen am 18. Januar zum «Kaiser Wilhelm» proklamiert wurde, war ein konsequenter Ausdruck dieses Denkens. Symbolsprache und Ablauf des Festakts sollten in jeder Hinsicht signalisieren, dass hier eine Kaisererhebung aus ausschließlich fürstlicher Machtvollkommenheit vorgenommen wurde. Die Reden Wilhelms, Bismarcks und die Ansprache des Hofpredigers vermieden peinlich genau jedes Wort, das diese Aussage hätte in Frage stellen können. Das «Volk» wurde nur als Adressat der Proklamation erwähnt, die Bismarck nach Anton von Werners Wahrnehmung «mit hölzerner Stimme» reichlich teilnahmslos verlas. Präsent war es allenfalls in Uniform, als die von der Militärführung ausgesuchten Ordensträger unter den Unteroffizieren und Mannschaften der verschiedenen Truppenteile. Von Werner wirkte als einer von ganz wenigen Zivilisten wie ein Fremdkörper. Zugelassen war er wohl auch nur deswegen, weil die aristokratischen Eliten ihn wegen seines Adelstitels als Standesgenossen ansahen.

Die Botschaft, die der Festakt vermittelte, war klar: Der neue Nationalstaat sollte ein Reich der Fürsten und der Aristokratie sein. Die Distanz zu den Parlamenten, zur Nationalbewegung hätte größer kaum sein können. Von den Parlamentariern war keiner in den Spiegelsaal des Versailler Schlosses eingeladen. Nach ihrer ergebnislosen Audienz beim preußischen König hatte die Deputation der Volksvertreter unverrichteter Dinge wieder aus Versailles abreisen müssen.

In der Anfang Januar 1871 formell in Kraft getretenen Verfassung kam dem Reichstag folgerichtig die Funktion eines demokratischen Feigenblatts zu. Neben dem preußischen König, der als Kaiser das Reich nach außen vertrat, die Streitkräfte befehligte, den Kanzler ernannte und die übrigen Verfassungsorgane einberufen konnte, sollte der Bundesrat, die Vertretung der fürstlichen Regierungen, das Machtzentrum sein. Dagegen sah die Verfassung für den von allen erwachsenen Männern zu wählenden, demokratisch legitimierten Reichstag nur eng begrenzte Kompetenzen vor. Er durfte den Etat bewilligen – wobei der Verfassungskonflikt in Preußen bereits gezeigt hatte, dass dieses parlamentarische Recht in der politischen Praxis auch ignoriert werden konnte. Zusammen mit dem Bundesrat war der Reichstag zudem an der Gesetzgebung beteiligt. Allerdings konnte nicht nur die Fürstenkammer als Ganzes, sondern schon der preußische König oder ein Bündnis der Fürsten von drei Mittelstaaten jedes Gesetz durch ein Veto zu Fall bringen. Der Bundesrat verfügte zudem bei Zustimmung des Kaisers über das Recht, den Reichstag jederzeit aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.

Diese Verfassung, die den alten fürstlichen Eliten die entscheidenden Machtpositionen reservierte, war genau genommen noch nicht einmal die eines deutschen Nationalstaats, den die liberalen Mehrheiten der meisten deutschen Parlamente befürworteten. Sie trug vielmehr den Namen «Verfassung des Deutschen Bundes». Das seit Anfang 1871 zumindest in der Theorie bestehende staatliche Gebilde, dem mit der Kaiserproklamation vom 18. Januar ein Oberhaupt gegeben wurde, war anfänglich eine Föderation, ein Bund der Fürsten. Sosehr freilich das Volk und seine parlamentarischen Vertreter zugunsten der traditionellen aristokratischen Machteliten marginalisiert, sosehr die eigentlichen Repräsentanten und die Idee der Nation in diesem Fürstenbund ausgeschlossen waren: Durch die Hintertür der Sprache kamen sie doch wieder herein. Selbst die Aufzeichnungen und Ansprachen der am 18. Januar 1871 unter sich bleibenden alten Elite legen davon beredtes Zeugnis ab.

In kaum einer Rede oder Tagebucheintragung dieser Elite an diesem Tag fehlten die Begriffe «Deutsches Reich», «deutsches Volk» und «Deutschland». Selbst in den wenigen Sätzen der kurzen Ansprache des überzeugten preußischen Partikularisten Wilhelm, die sich zudem an die Fürsten richteten, kamen sie vor. Obwohl sein Kriegsminister Roon die Kaiserproklamation als Etappe des preußischen Aufstiegs verstand, sah er in ihr doch gleichzeitig das Ergebnis von «Deutschlands Aufraffung und Einigung». In der von Bismarck verlesenen «Proklamation an das Deutsche Volk» war gleich dreimal die Rede vom «Deutschen Reich». Bismarck sprach in ihr von der «deutschen Nation» als dem «Vaterlande», dem jetzt «die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs» gewährt sei.[43]

Kaum einer der am 18. Januar im Spiegelsaal Anwesenden, der Aufzeichnungen über diesen Tag machte, versäumte dabei, den Ort des Geschehens in einem nationalhistorischen Narrativ zu verorten. Wie viele zog auch Bismarcks enger Mitarbeiter Heinrich Abeken eine Linie von der ersten preußischen Königskrönung 1701 zur Kaiserproklamation eines Hohenzollern 170 Jahre später «im Schloß von Versailles nach Niederwerfung des stolzen Frankreich an der Spitze eines Heeres, wie es Ludwig XIV. nie gesehen». Der schlesische Malteserritter Friedrich Graf Frankenberg sah eine «Wiedergeburt des Deutschen Kaiserreiches […] in der Halle des mächtigsten, grausamsten Feindes des alten Deutschen Reiches». Auch der Kronprinz kontextualisierte die Ereignisse des Tages in einem nationalhistorischen Rahmen, als er seinem Tagebuch anvertraute: «Erst im Laufe der Zeiten wird uns das ganze volle Gewicht dessen bewußt werden, was es heißt, im Prachtsaal von Ludwigs XIV. Schloß zu Versailles die Wiedereinsetzung des auf den französischen Schlachtfeldern geschaffenen Deutschen Reiches» miterlebt zu haben. Dem Hofprediger blieb es vorbehalten, in seiner Ansprache am deutlichsten einen Zusammenhang zwischen dem «Sonnenkönig» als Erbauer des Spiegelsaals und der Gegenwart zu konstruieren: Mit der Kaiserproklamation Wilhelms sei «die Schmach gesühnt, die von dieser Stätte und von diesem Königssitze aus dereinst auf unser Deutsches Volk gehäuft worden ist».[44]

In all diesen Aussagen offenbart sich die Orientierung an der Vorstellung einer Jahrhunderte zurückreichenden «deutsch-französischen Erbfeindschaft». Das Deutsche Reich wurde in dieser Konstruktion 1871 nicht begründet, sondern wiederhergestellt, nachdem es seit der Zeit Ludwigs XIV. von den Franzosen gedemütigt und schließlich zerstört worden sei. Die in Preußen regierenden konservativen und aristokratischen Eliten zeigten damit ihre Beeinflussung durch die Nationsidee als erfundener Tradition, wie sie seit den «Befreiungskriegen» von liberalen Historikern produziert worden war. Die alten Eliten mochten sich dem Anspruch der in den Volksvertretungen dominierenden liberalen Nationalbewegung auf politische Mitbestimmung noch so stur verweigern: Kulturell konnten sie sich der Suggestivkraft von deren ideologischen Konstruktionen nicht entziehen.

Bei vielen der Zeitzeugen wurde das nationalhistorische Narrativ durch die Kunstwerke des Spiegelsaals aktiviert. Der Großherzog von Baden fand sich durch deren Betrachtung zu Gedanken über den Kontrast zwischen französischem Prunk einerseits, deutscher «Einfachheit», Sitte und «Kraft» andererseits angeregt – eine Gegenüberstellung, die Bronsart von Schellendorf, ironisch gebrochen in seiner Kontrastierung von preußischem Altar und nackter französischer Venus, ebenfalls vornahm. Der Hofprediger entdeckte in den Wandgemälden des Spiegelsaals «hochmütige Vermessenheit» im Gegensatz zu deutscher Demut. Der vom Prediger gelangweilte Kronprinz ließ derweil seinen Blick «an die Decke schweifen, wo Ludwigs XIV. Selbstverherrlichungen, riesig in Allegorien und erläuternden, prahlenden Inschriften abgebildet, namentlich die Spaltung Deutschlands zum Gegenstand haben», und fragte sich «mehr als einmal, ob es denn wirklich wahr sei, daß wir uns in Versailles befänden, um hier die Wiederherstellung des deutschen Kaisertums zu erleben – so traumartig wollte mir das Ganze erscheinen».[45]

Die historische Konstruktion des preußischen Thronerben einer «Wiederherstellung» von Reich und Kaisertum deckte sich mit der vieler anderer Angehöriger der alten Herrschaftselite. Sie entsprach aber auch ganz der Sicht Anton von Werners. Überraschenderweise brauchte der Künstler dafür gar keine Anregung durch das Bildprogramm im Spiegelsaal: Es reichte offenbar schon seine nationale Sozialisierung bei der liberalen Fortschrittspartei. Auch wenn die liberale Bewegung es nicht vermochte, der Geburt des Kaiserreiches 1871 ihren politischen Stempel aufzudrücken – das von ihr produzierte nationalhistorische Narrativ erwies sich als ausgesprochen wirkungsmächtig. Selbst aus der im Januar 1871 veröffentlichten «Verfassung des Deutschen Bundes» wurde bei einer redaktionellen Überarbeitung wenige Monate später doch noch die «Verfassung des Deutschen Reiches».

Das von den aktuellen Ereignissen befeuerte Konzept der «deutsch-französischen Erbfeindschaft» beeinflusste Denkweisen und Sprachmuster so mit weitreichenden politischen Konsequenzen. Obwohl regierende konservative Eliten und die in den Parlamenten dominierenden Liberalen in mancher Hinsicht Widersacher blieben, wirkte die von beiden gleichermaßen wahrgenommene Frontstellung gegen den «Erbfeind» Frankreich als Katalysator der nationalen Einigung. Wie die bleibenden partikularistischen Vorbehalte in Preußen und den süddeutschen Staaten wurden auch die Gegensätze zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen Regierung und Parlament am 18. Januar 1871 nicht beseitigt. Die echte nationale Begeisterung, die in den durch den Spiegelsaal des Versailler Schlosses brausenden Hochrufen ebenso greifbar ist wie in den Briefen und Tagebucheintragungen der Beteiligten, deckte diese Gegensätze aber einstweilen zu.

Während der Krieg gegen Frankreich manche Konflikte entschärfte, verschärfte er gleichzeitig einen anderen: den zwischen militärischer und ziviler Führung in Preußen. Nach der Kaiserproklamation am 18. Januar lud der frischgebackene Kaiser Wilhelm Fürsten und Generäle zu einem Diner ein. Im Anschluss trafen die meisten Teilnehmer sich in der Villa des Kronprinzen zu Gesprächen, an denen auch Anton von Werner teilnahm. Bei dieser Gelegenheit beklagte Reichskanzler Bismarck sich beim badischen Großherzog bitter nicht nur über Wilhelm, sondern auch über den Generalstab und dessen Leiter Helmuth von Moltke: Die preußische und damit auch die deutsche Politik sei ein Spielball der «Launen des Generalstabs». Wilhelm höre nur auf Moltke, und deswegen könnten «sich die Herren Militärs alles gegen mich erlauben».[46]

Auseinandersetzungen zwischen militärischer und politischer Führung gab es im preußischen Hauptquartier nahezu seit Beginn des Krieges. Als Anfang September 1870 in der Schlacht von Sedan Napoleon III. und ein großer Teil des französischen Heeres in deutsche Gefangenschaft gerieten, drängte Bismarck auf einen schnellen Friedensschluss. Um die Franzosen an den Verhandlungstisch zu bekommen, war er auch bereit, den deutschen Vormarsch zu unterbrechen. Moltke, militärischer Logik folgend, wollte stattdessen die Offensive in Richtung Paris fortsetzen – und konnte Wilhelm als Oberbefehlshaber dafür gewinnen. Zudem erschwerte der Generalstab Verhandlungen durch die kategorische Forderung, bei einem Friedensschluss müsse Frankreich das Elsass und Lothringen abtreten.

Es waren nicht unbedingt Motive der Humanität, die Bismarck bewegten. Angesichts des von der neuen republikanischen Regierung Frankreichs ausgerufenen Volkskrieges drängte er die Militärs sogar, «weniger Gefangene» zu machen, und bemängelte die «Schwäche, mit der das Kriegsrecht von Seiten der militärischen Befehlshaber gehandhabt wird».[47] Sein Drängen auf einen schnellen Frieden war vielmehr von der Sorge motiviert, dass sonst andere europäische Mächte in den Krieg eintreten könnten. Nach der Einkesselung von Paris forderte die zivile Führung deshalb auch, die Verteidiger der französischen Hauptstadt erst durch massiven Artilleriebeschuss zu zermürben. Dann sollte möglichst bald ein Sturmangriff folgen, um die Feindseligkeiten zu beenden.

Der Generalstab lehnte das zunächst ab. Moltke war zwar wie Bismarck nicht eben zimperlich: Er setzte darauf, die Pariser auszuhungern. Auch wenn das länger dauern sollte, würde es der deutschen Seite die bei einem Sturmangriff zu erwartenden hohen Verluste ersparen. Ende Dezember 1870 konnte der Kanzler den Monarchen jedoch für seinen Plan gewinnen. Die Zahl der für die Beschießung von Paris eingesetzten Artilleriegeschütze stieg aber nur schleppend an, und Bismarck argwöhnte, dass Moltke und der Generalstab logistische Probleme vorschoben, um die Ausführung des Befehls absichtlich zu verzögern.

Im Vorfeld der Kaiserproklamation steigerte der immer reizbarer werdende Kanzler sich geradezu in den Glauben hinein, es liege eine regelrechte Verschwörung der Militärs gegen ihn vor. Diese wüssten wohl, meinte Bismarck, «daß sie einen königlichen Befehl nicht oder nur mangelhaft zu vollziehen brauchten», um ihm «einen Hieb auszuteilen». Im Generalstab halte man ihn ohnehin «für einen verkappten Demokraten». Zu den militärischen Lagebesprechungen werde er von den «Halbgöttern» in Uniform nicht eingeladen. Informationen über neue Entwicklungen an der Front erhalte er erst, wenn diese schon an die Presse gelangt seien. Vom Monarchen bekomme er keine Unterstützung. «Der Kaiser hat kein wahres Vertrauen mehr zu mir», jammerte er am Abend der Proklamation in Versailles schließlich und kündigte – nicht zum ersten Mal – seinen Rücktritt nach dem Ende des Krieges an.[48]