Das deutsche Kaiserreich - Christoph Nonn - E-Book

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Christoph Nonn

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Beschreibung

1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles Das deutsche Kaiserreich gegründet. 1918 ging es mit der Niederlage im ErstenWeltkrieg unter. Prägnant und anschaulich führt Christoph Nonn in ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte ein und hinterfragt die gängigen Deutungen dieser umstrittenen Epoche.

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Christoph Nonn

DAS DEUTSCHE KAISERREICH

Von der Gründung bis zum Untergang

C.H.Beck

Zum Buch

Während der Zeit des Kaiserreichs verwandelte Deutschland sich in atemberaubendem Tempo. 1871 noch ein ländlich geprägtes Entwicklungsland, war es 1918 eine der modernsten Industrienationen der Welt geworden. Die wirtschaftliche Dynamik veränderte auch Gesellschaft und Politik nachhaltig. Anschaulich zeichnet Christoph Nonn nach, wie Adels- und Fürstenherrschaft in die Defensive gedrängt wurden. Das verhängnisvollste Erbe des Kaiserreichs für die weitere deutsche Geschichte bildeten schließlich weder obrigkeitsstaatliche Traditionen noch radikaler Nationalismus, Militarismus oder Antisemitismus, sondern eine Mentalität der Verantwortungslosigkeit.

Über den Autor

Christoph Nonn ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Düsseldorf. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Geschichte Nordrhein-Westfalens (2009), Bismarck (2015) sowie 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreiches 1871–1918 (2020).

Inhalt

Karte: Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg 1914

Einleitung

1. Deutschland 1871 – und ein Blick voraus

Ein Entwicklungsland

Entwicklungen: Industrialisierung, Migration, Globalisierung

Stadt und Land

Klassen

Religion

Nationalismus und Partikularismus

2. Reichsgründung und liberale Ära (bis 1879)

Der Weg zum Nationalstaat

Das Deutsche Reich und die europäischen Mächte

Der innere Ausbau des Nationalstaats

Bismarck und die Liberalen

Kulturkampf und konservative Wende

3. Die konservative Ära (1879–1890)

Die Politik der wechselnden Mehrheiten

Sozialistengesetz und Sozialversicherung

Verbindungen zwischen konservativer Innen- und Außenpolitik

Bismarcks Entlassung

4. «Neuer Kurs» (1890–1894)

Integration statt Konfrontation

Caprivis Scheitern

5. Die Verteidigung konservativer Vorherrschaft (1894–1912)

Das persönliche Regiment Wilhelms II.

Flotten- und Weltpolitik

«Nationale Sammlung»

Der Bülow-Block

Der «schwarz-blaue Block»

6. Das Kaiserreich in der Krise (1912–1918)

Die stabile Krise 1912–1914

Julikrise 1914: Der Weg in den Krieg

Legitimitätskrise im Krieg

Das Ende des Kaiserreichs

7. Deutschland 1918 – ein Blick zurück, ein Blick voraus

Die Bewährungsprobe des Nationalstaats

Industrialisierte Klassengesellschaft

Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Literaturhinweise

Ortsregister

Personenregister

Karte: Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg 1914

Einleitung

1951 stellte das Allensbacher Institut für Demoskopie einem repräsentativen Querschnitt der westdeutschen Bevölkerung die Frage, wann es den Deutschen im 20. Jahrhundert am besten gegangen sei. Die meisten Befragten antworteten: vor 1914. Ein Jahr später fragte das Institut danach, welcher Deutsche am meisten für sein Land getan habe. Mit weitem Abstand wurde bei den Antworten Otto von Bismarck, der erste Kanzler des Deutschen Reiches, am häufigsten genannt.

Das Ergebnis der Umfrage war symptomatisch für das Bild des Kaiserreichs in der frühen Bundesrepublik. Das Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das vorläufige Ende des deutschen Nationalstaats gebracht. Nach zwei verheerenden Kriegen, der krisenhaften Zwischenkriegszeit und den Hungerjahren nach 1945 erschienen das Kaiserreich und Bismarck als Inbegriff der «guten alten Zeit».

Doch von den beiden 1949 zunächst als Provisorien gebildeten Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches gewann zumindest die Bundesrepublik schnell an Selbstbewusstsein. Und mit dem außerordentlichen Boom des «Wirtschaftswunders» nahm das Bedürfnis nach Orientierung an einer «guten alten Zeit» ab. Gegenüber der schönen bunten Welt der Werbung und des Konsums verblasste der Glanz des Kaiserreichs. Statt das Paradies in die Vergangenheit zu projizieren, fanden die Bundesbürger es zunehmend in der Gegenwart. Diese lief am Ende der 1950er Jahre dem Kaiserreich den Rang ab, als das Allensbacher Institut erneut danach fragte, wann es den Deutschen im 20. Jahrhundert am besten gegangen sei. Auch Bismarcks Stern sank: Weit häufiger als er wurde nun Konrad Adenauer als derjenige «große Deutsche» genannt, der am meisten für das Land geleistet habe.

In den 1960er Jahren setzte sich dieser Trend fort. Am Ende dieses Jahrzehnts erreichten die durch demoskopische Untersuchungen ermittelten Popularitätswerte des ersten Reichskanzlers einen vorläufigen Tiefpunkt. Und nur noch fünf Prozent der Westdeutschen sahen die Zeit vor 1914 als diejenige an, in der es Deutschland am besten gegangen sei. Ebenso viele nannten die Zeit zwischen 1933 und 1939.

Das markierte kein Ende des öffentlichen Interesses an der Zeit des Kaiserreichs, wohl aber eine Umwertung. Die Jahre zwischen 1871 und 1918 erschienen jetzt vielfach als «schlechte alte Zeit». In weiten Kreisen der Öffentlichkeit und der Geschichtswissenschaft wurde das Kaiserreich als autoritärer Obrigkeitsstaat gesehen, unfähig zu jeglicher Reform, charakterisiert durch himmelschreiende soziale Ungleichheit, geprägt von Militarismus, Antisemitismus und radikalem Nationalismus. In ihm sei die Saat für eine andere, «dunkle Moderne» gelegt worden, die dann im Nationalsozialismus auf furchtbare Weise aufging.

Dieses negative Bild des Kaiserreichs als direkter Vorläufer des «Dritten Reiches» ist besonders während der 1960er und 1970er Jahre in zahllosen Büchern gezeichnet worden und wird das teilweise bis heute. Frühzeitig wurde allerdings auch Kritik an diesem Bild laut. So meinte der Historiker Thomas Nipperdey schon 1975, dass das Kaiserreich in vielen Kontinuitäten stehe. Es gehöre nicht nur zur Vorgeschichte der nationalsozialistischen Diktatur, sondern auch zur Vorgeschichte einer Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie in der Bundesrepublik. Seit der Wiedervereinigung, mit der 1990 der 1871 gegründete deutsche Nationalstaat neu entstanden ist, verstärkt sich die Neigung zur Konstruktion positiver Kontinuitäten. Das Bild des Kaiserreichs ist tendenziell noch einmal heller geworden.

All diese Kontinuitätskonstruktionen instrumentalisieren Geschichte immer auch für politische Zwecke. Sie sagen letztlich mehr über ihre eigene Zeit aus als über jene, die sie zu beschreiben vorgeben. Dass die Fragen nach dem, was gestern war, aus dem Heute erwachsen, ist allerdings ebenso unvermeidlich wie legitim. Beschäftigung mit Geschichte, die mehr ist als das antiquarische Anhäufen von «Fakten», gewinnt Interesse erst aus der Gegenwart. Ein Gemeinwesen muss sich immer wieder darüber verständigen, in welche Traditionen es sich stellen will und in welche nicht. Die pauschale Etikettierung einer vergangenen Epoche als entweder «gut» oder «schlecht» ist dafür jedoch wenig hilfreich.

Voraussetzungen für eine differenziertere Darstellung des Kaiserreichs sind aber durchaus gegeben. Über keine andere Epoche deutscher Geschichte ist mehr geforscht worden als über diese. Unterschiedliche Bewertungen gründeten dabei oft in verschiedenen Perspektiven und Methoden. Manche Historiker haben ihr Augenmerk mehr auf Strukturen gerichtet, andere mehr auf Ereignisse und Entwicklungen. Je nach methodischem Zugang ergab sich ein eher statisches oder eher dynamisches Bild des Kaiserreichs.

Wenn der Schwerpunkt von dem, was hier folgt, mehr auf den Abläufen liegt, dann hängt das mit der Überzeugung des Autors zusammen, dass der eigentliche Sinn von Geschichtsschreibung das Aufspüren von Ursachen und Wirkungen ist. Aus demselben Grund steht auch politische Geschichte – im weitesten Sinne – im Vordergrund der Darstellung. Denn auf diesen Bereich konzentriert sich mit guten Gründen die Diskussion um Kontinuität und Diskontinuität, um den Stellenwert des Kaiserreichs in der deutschen Geschichte.

Solche Diskussionen gehören zum beständigen Prozess von gesellschaftlicher Selbstvergewisserung und Selbstprüfung. In einer pluralistischen Gesellschaft können dabei durchaus auch verschiedene Geschichtsbilder nebeneinanderstehen. Es gibt mehr als nur ein mögliches Bild des deutschen Kaiserreichs. Das hier vorgelegte ist lediglich jenes, welches mir nach einigen Jahrzehnten der Beschäftigung mit den Quellen als das plausibelste erscheint.

1. Deutschland 1871 – und ein Blick voraus

Ein Entwicklungsland

Im Jahr seiner Gründung war das Deutsche Reich alles andere als ein moderner Industriestaat. Die Hälfte aller Beschäftigten in den Grenzen des Reiches arbeitete direkt in der Landwirtschaft. Darüber hinaus lebten viele Handwerker und andere Dienstleister von Aufträgen aus diesem wichtigsten Wirtschaftszweig. Das galt sogar für Teile der Industriebeschäftigten – wie jene, die Landmaschinen herstellten. Insgesamt dürften 1871 etwa zwei Drittel aller Deutschen direkt oder indirekt vom Agrarsektor abhängig gewesen sein.

Auch sonst lässt sich das neu gegründete Reich mit einem heutigen Entwicklungsland vergleichen. Zwei von drei seiner Bürger lebten in ländlichen Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern. Nur jeder Zwanzigste wohnte in einer Großstadt. Die Lebenserwartung eines Neugeborenen in Deutschland lag 1871 bei weniger als 40 Jahren. Das war vor allem Folge einer erschreckend hohen Kindersterblichkeit, an der sich seit Jahrhunderten wenig geändert hatte. Ein Viertel aller Kinder erlebte schon die Feier ihres ersten Geburtstags nicht. Auch danach starben viele, noch bevor sie geschlechtsreif wurden.

Wer die Kindheit überlebte, hatte zwar gute Chancen, immerhin seinen sechzigsten oder siebzigsten Geburtstag zu erleben. Zu feiern gab es dann allerdings in der Regel nicht viel: Alter war mit einem beträchtlichen Armutsrisiko verbunden. Öffentliche oder private Vorsorge für Arbeitsunfähigkeit wegen Alter oder auch Invalidität gab es nur rudimentär. Nicht zuletzt um die Altersversorgung der Eltern sicherzustellen, wurden in deutschen Familien um 1871 viele Kinder geboren. Pro Frau waren es im statistischen Mittel zwischen vier und fünf.

Die wenigsten Eltern konnten beträchtliche Zeit für die Erziehung ihrer Kinder erübrigen. Das war nur in einer kleinen gesellschaftlichen Elite der Fall. Besonders im gehobenen Bürgertum galt Kindererziehung als vornehmste weibliche Aufgabe. Während Erziehungsratgeber sich lange an die «Hausväter» gewendet hatten, waren nun Frauen ihre Hauptadressaten. Allerdings war der Mann weiter der «Herr im Haus». Frauen verfügten in Ehe und Familie, wie überhaupt in der Gesellschaft, kaum über Rechte. In bürgerlichen Kreisen wurde von ihnen neben der Sorge um die Kinder hauptsächlich erwartet, das «traute Heim» als Rückzugsraum für den außer Haus arbeitenden Mann herzurichten und dekorativ zu sein. Schulen für sogenannte höhere Töchter bereiteten diese hauptsächlich auf die Rolle einer Hausfrau und Mutter vor.

Die meisten Frauen in Deutschland lebten 1871 nicht in einem solchen goldenen Käfig. Doch das Leben der Mehrheit war kaum weniger fremdbestimmt. In landwirtschaftlichen Betrieben, die in den meisten Regionen des Landes das Leben der Menschen noch dominierten, arbeiteten Frauen wie eh und je mit – wie meist auch die Kinder. Im Handwerk und in Ladengeschäften war es nicht anders. Neben der Versorgung des Nachwuchses blieb im Normalfall auch der Haushalt an den Frauen hängen. Bei Fabrikarbeitern gab es dieselbe Dreifachbelastung der Frauen, die wie ihre Männer erwerbstätig sein mussten, damit die Familie finanziell über die Runden kam. Eine Beschränkung der maximalen Arbeitszeit existierte 1871 noch nicht. Freizeit war für die Mehrheit der Frauen unter diesen Bedingungen ein Fremdwort.

Der Mehrheit der Männer erging es freilich nur wenig besser. In Fabriken wurde 1871 meist zwölf Stunden täglich gearbeitet, von Montag bis Samstag. Der Rest des Tages war mit Essen, Schlafen und dem Weg zur Arbeitsstätte gefüllt. Freie Zeit hatten Industriearbeiter allenfalls am Sonntag – aber selbst das nicht immer und überall. Ein generelles Verbot von Sonntagsarbeit gab es nicht. Im Handwerk und im Dienstleistungsbereich sah es ähnlich aus. Landwirte arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Allein kleine adlige und großbürgerliche Eliten verfügten über wirkliche freie Zeit. Nur sie konnten auch Urlaub machen. Der Masse der Bevölkerung war solcher Luxus unbekannt. Für sie gab es keine Fluchten aus dem von Plackerei geprägten Alltag.

Selbst räumliche Mobilität war zunächst recht schwach ausgeprägt. Wenige der frischgebackenen Untertanen von Kaiser Wilhelm I. im neu gegründeten Deutschen Reich verlegten 1871 ihren Wohnort. Die meisten blieben dort, wo sie geboren worden waren. Die Arbeitsstelle wechselte man zwar relativ häufig. Vor allem zog die wachsende Industrie mehr und mehr Beschäftigte aus dem landwirtschaftlichen Sektor an. Dafür mussten diese aber oft nicht die Wohnung, ja noch nicht einmal den Arbeitsplatz wechseln: Denn ein beträchtlicher Teil der industriellen Produktion erfolgte in Heimarbeit auf Bauernhöfen oder in Hütten von Landarbeitern.

Wie die der Menschen war auch die Mobilität von Gütern gering. Die meisten Waren des täglichen Bedarfs wurden am selben Ort oder zumindest in derselben Region verbraucht, wo sie erzeugt worden waren. In den Landgemeinden, wo die große Mehrheit der Bevölkerung lebte, versorgten sich die meisten Menschen überwiegend mit Nahrungsmitteln aus eigener Produktion. Wer kein Selbstversorger war, deckte sich auf dem lokalen Markt ein. Lebensmittel machten den bei Weitem größten Posten im Familienbudget aus. Darüber hinausgehende Konsumansprüche waren gering und ließen sich ebenfalls überwiegend vor Ort befriedigen. Importe aus anderen Regionen und Ländern spielten für die Bevölkerung des ländlichen Deutschland, von wenigen Gütern abgesehen, keine große Rolle.