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Dieser Band enthält folgende Krimis Von Michael Hellmer: Sauerländer Heilige: Kriminalroman Von Nils van Doren: Der Mann von der Knock Von Alfred Bekker: Trevellian und der Bazooka-Killer Kubinke und die Frankfurter Morde Die Hannover-Morde Kubinke im Spinnennetz Kubinke und die Leichen im Keller Kubinke und die tätowierten Frauen Kubinke und das Netz der Verschwörer Kubinke und die Killer Kubinke und der Killer von Münster Kubinke und die verschwundenen Commissaire Marquanteur und der Kämpfer von Marseille: Frankreich-Krimi Drei Frauen wurden ermordet und später tätowiert aufgefunden. Doch diese Morde wurden nie aufgeklärt. Jahre später findet man erneut eine Frauenleiche mit der gleichen Tätowierung. Hat der Mörder wieder zugeschlagen? Doch warum diese lange Pause? Das fragen sich die beiden Ermittler Harry Kubinke und Rudi Meier, die diese Morde aufklären und den Mörder überführen wollen. Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jack Raymond, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.
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Seitenzahl: 1558
Veröffentlichungsjahr: 2025
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13mal Krimi Hochspannung im Thriller Bundle September 2025
Copyright
Sauerländer Heilige: Kriminalroman
Der Mann von der Knock
Trevellian und der Bazooka-Killer
Kubinke und die Frankfurter Morde
Die Hannover-Morde: Ein Kubinke Krimi
Kubinke im Spinnennetz: Kriminalroman
Kubinke und die Leichen im Keller: Kriminalroman
Kubinke und die tätowierten Frauen: Kriminalroman
Kubinke und das Netz der Verschwörer: Kriminalroman
Kubinke und die Killer: Kriminalroman
Kubinke und der Killer von Münster
Kubinke und die Verschwundenen
Commissaire Marquanteur und der Kämpfer von Marseille: Frankreich-Krimi
Titelseite
Cover
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Dieser Band enthält folgende Krimis
Von Michael Hellmer:
Sauerländer Heilige: Kriminalroman
Von Nils van Doren:
Der Mann von der Knock
Von Alfred Bekker:
Trevellian und der Bazooka-Killer
Kubinke und die Frankfurter Morde
Die Hannover-Morde
Kubinke im Spinnennetz
Kubinke und die Leichen im Keller
Kubinke und die tätowierten Frauen
Kubinke und das Netz der Verschwörer
Kubinke und die Killer
Kubinke und der Killer von Münster
Kubinke und die verschwundenen
Commissaire Marquanteur und der Kämpfer von Marseille: Frankreich-Krimi
Drei Frauen wurden ermordet und später tätowiert aufgefunden. Doch diese Morde wurden nie aufgeklärt. Jahre später findet man erneut eine Frauenleiche mit der gleichen Tätowierung.
Hat der Mörder wieder zugeschlagen? Doch warum diese lange Pause?
Das fragen sich die beiden Ermittler Harry Kubinke und Rudi Meier, die diese Morde aufklären und den Mörder überführen wollen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jack Raymond, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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von MICHAEL HELLMER
Sauerländer Heilige – Kriminalroman von Michael Hellmer
Ein mysteriöser Todesfall erschüttert das Sauerland: Unter einer Brücke wird der Ingenieur Lukas Brendel erhängt aufgefunden – umgeben von einem rätselhaften Kreis aus weißen Steinen und einer Figur der heiligen Barbara. Gerichtsmediziner Dr. Wagner und Kriminalhauptkommissar Neuhaus nehmen die Ermittlungen auf und stoßen auf dunkle Geheimnisse im regionalen Brückenbau, gefälschte Prüfprotokolle und alte Schuld. Mit scharfem Blick für Details und trockenem Humor folgt das Ermittlerteam Spuren zwischen Kiesgruben, Baustellen und lokalen Traditionen. Was verbindet die Steine, die Heilige und den Mord? Und wie viele Brücken stehen auf tönernen Füßen?
Atmosphärisch, spannend und voller Sauerländer Lokalkolorit – ein Krimi über Wahrheit, Zusammenhalt und das, was wirklich hält.
Für Fans von regionalen Krimis, authentischen Ermittlerfiguren und packender Spannung!
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Personen
Dr. Wagner: Gerichtsmediziner im Sauerland; hartnäckig, scharfer Blick für Details, erzählt „mit den Augen“.Heiner Van Dong: Wagners ruhiger, präziser Assistent; Ordnungssinn, trockener Humor.Ralf Herrmann: Talentierter Nachwuchs (Uni Köln); Pathologie/Forensik, neugierig, schnell im Denken.Kriminalhauptkommissar Neuhaus: Kripo Lüdenscheid; nüchtern, pragmatisch, verlässlich.Dr. Asselmeier: Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts; liebt Ordnung, Prozesse und korrekte Berichte.Taner: Wirt des MAMUTH in Lüdenscheid; Beobachter, guter Zuhörer.Natalia: Partnerin eines Ingenieurs; standhaft, bodenständig.Georg Milow: Bauleitung im Brücken-/Tiefbau; ernst, aus der Praxis kommend.Bernd Langen: Leiter einer Materialprüfstelle; technisch versiert, durchsetzungsstark.André Klee: Mitarbeiter in der Materialprüfung; zwischen Pflicht und Zweifel.Ralf Schröer: Mann aus dem Kies-/Schüttgut-Milieu; kennt Wege, Zufahrten und Abläufe.Jörg Schulte: Verwandter im Sauerland; zwischen Familie, Dorf und „man regelt das“.Pfarrer St. Josef: Geistlicher mit Sinn für geerdete Rituale und lokale Tradition.Kampschulte: Revierförster; wachsame Augen und Nase für den Wald.Devotionalienhändler (Wilhelmstraße): Alter Herr mit gutem Riecher für Kundschaft und Kerzenarten.Mitarbeiter Bergamt: Fachmann für Stollen, Tagesbrüche, Untertage-Altlasten.Begriffe
Sankt Barbara: Schutzpatronin von Bergbau/Tunnel; steht in der Region für „was hält“ – oft als Figur/Medaille.Kreis aus Steinen: Symbolische Markierung am Boden; kann ernst gemeint sein – oder inszeniert.Diatomeen (Kieselalgen): Mikroskopische Algen – forensisch nutzbar, um Gewässerherkunft zu unterscheiden (Stichwort: Navicula oblonga).Ligaturspur: Abdruck/Spur einer Schnur/Schlinge am Hals; wichtig für die Todesart-Bewertung.Absetzbecken: Wasserbecken in Kies-/Baubetrieben; charakteristische Wasser-/Algenprofile.Materialprüfstelle: Labor für Baustofftests (z. B. Betonwürfel unter Druck); Protokolle, Stempel, Chargen.Prüfprotokoll/Kladde: Dokumentation von Prüfergebnissen; zentrale Belegkette am Bau.Richtkrone: Brauch auf Baustellen/Richtfesten; Symbol der Fertigstellungsetappe.Tagesbruch: Plötzliches Einbrechen von Erdreich über alten Hohlräumen (Stollen).Stollen/Schacht: Untertage-Gänge aus Bergbauzeiten; lokal oft gesegnet („unter Barbara gestellt“).Devotionalien: Heiligenfiguren, Medaillen, Kerzen; echt (Kirche) vs. billig (Plastik/Vanilleduft).Marienschrein: Haus- oder Gartenschrein; Ausdruck von Frömmigkeit/Tradition.Orte
Gerichtsmedizinisches Institut Lüdenscheid: Wagners Arbeitsort; Labor, Sektionen, Befunde.MAMUTH (Lüdenscheid): Kneipe/Bar; inoffizieller Treffpunkt und „Beobachtungsraum“.Listertalsperre / Listersee: Wagners Zuhause am See; Ruhepol, Boot, Steine auf der Treppe.Bigge / Attendorn: Fluss/Talsperre in der Region; Wege, Brücken, Uferpfade.A45-Baustellen (Region): Brücken-/Tiefbau, Materialprüfung, Richtfeste.Kiesgrube Listerhammer (fiktiv): Kies-/Absetzbecken-Areal; Wasser, Proben, Zufahrten.Weringhausen / Verse (Ortschaften): Dörfer im Sauerland; Küchen, Gärten, Bachgrund.Pfarrheim St. Josef: Archiv, Listen, Fotos; Schachtzugang zu einem alten Stollen.Alter Stollen (Weringhausen): Untertage-Relikt; Schacht, Gedenkstelle, Barbara-Sims.Hohlweg / Revier Hegenscheid: Waldwege, Fundorte, Forstrevier.Nattenberg-Stadion (Lüdenscheid): Fußball, „Alltagspause“ im Ermittlungsstress.Brücke/Unterzug an der Bigge: markante Brückenstelle; Treffpunkt von Wasser, Stahl, Spuren.1 Der Regen hing über dem Sauerland wie ein grauer, lustloser Vorhang. Die Bigge war ein schwarzes Band, das zwischen den nassen Erlen hindurchzog, und irgendwo zwischen Attendorn und Listerscheid blubberte ein überlaufender Graben ins Talsperrenwasser, als würde er flüstern: Heute Nacht ist etwas passiert.
Es roch nach Moder, Pilzen und nasser Wolle.
Eigentlich war es eine Nacht, in der man es sich mit einer Decke und einer Flasche Rotwein gemütlich machte — nicht mit einer Stirnlampe durch den Dunst rannte. Aber Janq, der Postbote im orangefarbenen Funktionsshirt, hatte die Straßenlaternen der Stadt hinter sich gelassen und trabte die vertraute Ufertrasse entlang, weil er nachts besser denken konnte als am Morgen.
Die Lampe zuckte über den Matsch, über Fichtennadeln, die wie dunkle Pfeile wirkten, und dann blieb der Lichtkegel plötzlich an etwas hängen, das da nicht hingehörte.
Er stolperte beinah.
Erst sah er nur ein nasses Seil. Ein Strick.
Dann begriff sein Hirn, wozu dieses Seil diente.
Die Lampe zitterte. Sein Atem wurde keuchend, kondensierte in der feuchten Luft, und sein „Hallo?“-Ruf kam ihm so lächerlich vor, dass er ihn am liebsten wieder eingesammelt hätte. Man rief keine Toten zurück.
Unter dem niedrigen Stahlträger der Brücke hing ein Mann.
Die Schuhe waren sauberer als der Rest, gute Lederschuhe, so wie sie nur Leute trugen, die sich ins Auto setzten, um irgendwohin zu fahren, wo es geheizt war. Die Hosenbeine dunkelten im Regen nach. Um den Hals des Mannes, der schief in seinem Strick hing, glitzerte ein kleines Medaillon.
Und das war das Merkwürdigste an dieser Nacht überhaupt: Auf der Böschung, knapp oberhalb, lagen zwölf kleine weiße Steine im Kreis. Einer fehlte. In der Mitte stand eine Plastikfigur der heiligen Barbara, naiv bemalt, diese billige Kirchenladenware, wie man sie auf Kirmesständen gewinnen konnte — Schutzpatronin der Bergleute, der Tunnelbauer und derjenigen, die Angst vor plötzlichem Tod hatten.
Jemand hatte ihr einen winzigen Rosmarinzweig in die lackierten Hände gesteckt.
2 „Wenn’s nach mir ginge, würde ich jetzt den ersten Pinselstrich tun“, sagte Dr. Wagner und sah das Boot an, das noch immer nicht gestrichen war. Es stand schief aufgebockt neben der Blockhütte und sah ihn anklagend an, als sei er, der Gerichtsmediziner höchstpersönlich, der Grund, warum es die letzten zwei Jahre keinen einzigen Tropfen Farbe abbekommen hatte.
Er hielt schon den Farbtopf in der Hand, als sein Telefon summte.
Das Display leuchtete: Neuhaus.
„Wenn du jetzt sagst, du hast eine Leiche, dann komme ich nicht“, murmelte Wagner in den späten Nachmittag, in dem der Regen aufhörte, so als müsse er nur kurz Luft holen.
„Dann sage ich es nicht, Dr. Wagner“, brummte die Stimme. „Ich sage: Wir haben eine brandeilige Frage an einen verfügbaren Mediziner aus der Nachbarschaft.“
Wagner seufzte mit ganzer Seele. „Sag schon, wo.“
„Unterhalb von Listerscheid, kleine Brücke über einen Zulauf an der Bigge. Hängen. Nicht schön. Und irgendjemand hat dabei Kerzen anzünden wollen, aber sie sind nass geworden.“
„Kerzen?“
„So drei Stummel. Und da steht ’ne kleine Barbara im Gras. Kennen Sie, Doktor? Bergleute. Tunnel. Patronin. Woll?“
Wagner sah den Farbtopf an, wie man eine unerfüllte Jugendliebe ansieht, winkte dem Boot zu, drehte sich um und ging.
„Ich komme. Und wenn der Tote eine Stola um hat, rufe ich den Pfarrer an.“
„Witz komm raus. Bringen Sie Ihr Lachen mit. Hier friert jede Pointe ein.“
3 Die Brücke war niedriger, als man sie sich vorstellte, wenn man das Wort Brücke dachte. Eher ein grauer Unterzug, der den Wirtschaftsweg trug. Polizeiabsperrband flatterte nass. Zwei Uniformierte standen in gelben Westen und sahen aus, als warteten sie lieber auf den Frühling als auf den Gerichtsmediziner. Ein Rettungswagen mit laufendem Blaulicht, aber ohne die Hoffnung, die dieses Licht sonst bedeuten konnte, stand quer, um Neugierige fernzuhalten. Ein Mann in kurzer Jogginghose und langen Waden beobachtete die Szenerie und fror sichtbar, weigerte sich aber, zuzugeben, dass er fror.
Neuhaus, die Hände tief in den Manteltaschen, trat aus dem Nebel.
„Da sind Sie ja endlich“, knurrte der Kommissar. „Ich habe schon überlegt, ob ich erst zu Ihnen fahre, die Tür eintrete und Sie mitnehme. Woll.“
„Sie hättest schlichte klingeln können. Ich war da.“
„Sie waren in Malerklamotten. Das ist nicht dienstkleidskonform.“
„Ich streiche mein Boot. Das rettet auch Leben. Meines.“
„Hier war eins zu retten. Ging nicht.“
Wagner trat unter den Stahlträger. Das Tropfen war jetzt nur noch ein Rinnen. Er stand auf Zehenspitzen und sah sich die Haut am Hals des Mannes an. Der Strick war ein ordentlich verknotetes, industrielles Sisal. Nicht der billigste Baumarktrotz, nicht die feine Yachtleine, die einer wie Tegeler benutzt hätte, sondern etwas dazwischen. Es roch nach nassem Schnee, den es nicht gab.
Der tote Mann war vielleicht Ende vierzig, der Rasierer hatte ihn morgens noch gekannt, sein Friseur auch. Feine, graue Schläfen. Die Wangen schlank. Bei jedem Tropf, der von seinem Ohrläppchen fiel, zuckte der Jogger, als müsste er ihm eine Papierserviette dazu anbieten.
„Wer hat ihn gefunden?“, fragte Wagner, ohne den Blick vom Knoten zu nehmen. Die Haut hatte einen Abdruck, aber nicht die Art, die zu der Höhe passte. Es war wenig Stauungsblut in den Augen. Eine merkwürdige Blässe, die nicht nur vom Wetter kam.
„Der junge Mann da“, sagte Neuhaus und deutete auf die Waden. „Janq. Franzose mit polnischer Großmutter oder andersrum. Läuft viel.“ Neuhaus seufzte. „Wie heißen die Leute, die laufen, obwohl keiner sie jagt?“
„Masochisten“, sagte Wagner. „Und was haben wir da?“
Er kniete sich zu den kleinen, nassen Kerzenrestchen, die wie amputierte Finger aussahen. Drei. Daneben standen — nicht standen, lagen — die weißen Kiesel im Kreis. Einer fehlte. Wagner hielt die Hand über die Plastikhäuschen-Babara. Sie hatte denselben verniedlichten Ausdruck wie die Maria in Tegelers Garten. Ein Rosenkranz hing ihr schief über den Arm, als hätte ihn jemand hastig dort hin gehängt, ohne zu wissen, ob es so richtig war. Überhaupt — nichts daran wirkte geduldig vorbereitet.
„So etwas sehen Sie nicht alle Tage, woll?“, sagte Neuhaus. „Ich überlege, ob ich den Kollegen von der Sekte rufe. Wie heißen die? Kulte. Esoterik. Oder der Pfarrer reicht.“
Wagner runzelte die Stirn. Er legte seine Finger in den Schlamm neben den Kreis, ließ den Matsch durch die Kuppen gleiten. In der Mitte des Kreises war die Erde heller als außen — als hätte jemand einen Eimer umgestülpt, hochgehoben und dann die Barbara hineingestellt. Und zwischen den Kieseln war ein rotbrauner Film. Kein Wachs. Kein Ziegelmehl. Etwas anderes.
„Geben Sie mir mal Ihren Taschenlampen-Kegel“, murmelte Wagner und Neuhaus hielt brav. Wagner zog die Medaille des Toten aus dem Hemd. Barbara, in Messing geprägt, die Tür ihrer Turmzelle neben ihr. Auf der Rückseite stand eingraviert, mit schlechtem Werkzeug: Sankt Barbara steh mir bei. Und darunter: LB.
„LB?“, fragte Neuhaus.
„Lukas Brendel“, sagte einer der Uniformierten. „So steht’s im Geldbeutel. Führerschein. Bewohner von Finnentrop. Beruf: Ingenieur.“
„Ingenieur?“, wiederholte Wagner. Er brummte. „Barbara. Ingenieur. Sauerland. Tunnels.“
„Die A45“, sagte Neuhaus und hob die Augenbrauen. „Die Brücken. Sanierung. Haben Sie die Presse gelesen? Der halbe Märkische Kreis lebt von Beton. Und der andere halbe von Klatsch über diejenigen, die an Beton verdienen.“
„Und manche sterben davon“, ergänzte Wagner. Er tippte mit dem Finger gegen die Medaille. „Sankt Barbara soll die Verunglückten der tiefe Erde schützen. Das ist der offizielle Job. Inoffiziell halten die Leute ihre Medaillen fest und hoffen, dass der Dreck zusammenhält.“
Wagner bückte sich, nahm vorsichtig einen Kiesel aus dem Kreis und roch daran — was natürlich Quatsch war, aber er tat es ohnehin. Der Stein roch nach Fluss, nach Kalk, nach Algen. Das rotbraune Zeug, das ihn dünn überzog, roch nicht. Es sah aus wie Eisen.
„Ist das ein Selbstmord?“, fragte Neuhaus und tat so, als interessierte ihn die Antwort nicht besonders. Das war seine Methode: Frage eingestellt, um mehr zu kriegen als die Antwort.
Wagner hob die Hand und legte zwei Finger an die Kinnlade des Toten. Es war die Geste eines Mannes, der eigentlich streicheln wollte. Manchmal vergaß Wagner, dass die Leblosen davon nichts hatten.
„Die Ligaturspur ist zu hoch, aber nicht so hoch, wie sie sein müsste. Aufhängetod bei tiefer Suspension? Aber er hat fast mit den Fußspitzen Boden, der Unterkiefer ist nicht nach oben gezogen wie bei typischem Hängen. Kein Speichelfluss, jedenfalls nicht der, den ich erwarte. Das Zungenbein — dafür müssen wir ihn runterholen.“
Neuhaus nickte. „Tun Sie’s.“
Er nickte den Männern zu. Der Strick wurde entlastet, der Körper — plötzlich schwer, plötzlich Mann — sank in die Arme, auf die Bahre. Wagner ordnete noch, dass der Knoten fotografiert werden sollte, in Nahaufnahme, mit Maßstab. Dann trat er beiseite und richtete sich auf, langsam, weil ihm der Rücken knurrte.
„Der Kreis?“, fragte Neuhaus. „Ich kenne Ihre Meinung über Voodoo. Wollen Sie sie mir sagen, bevor ich den ganzen Esoterik-Kalender anfordere?“
„Jemand will, dass Sie an Voodoo denken“, sagte Wagner. „Oder an Barbara. Oder daran, dass der Mann etwas mit Barbara zu tun hatte. Der Kreis ist nicht sorgfältig. Theatralik ohne Handwerk. Keine Wachsreste, die Kerzen waren nie richtig an. Die Figur kommt aus einem Kiosk oder vom Devotionalienhändler in der Wilhelmstraße, gleich neben Ihrem Präsidium, Neuhaus. Kennen Sie den?“
„Sie werden mich doch nicht dort gesehen haben, Wagner“, knurrte Neuhaus und zog die Mundwinkel. „Ich kaufe meine Kreuze im Baumarkt.“
Wagner bückte sich noch einmal. Mit einem Holzspatel fuhr er durch das Rotbraune. Es blieb kleben wie Blut, nur ohne den metallischen Geruch. Eisenoxyd? Oder einfach Schlamm mit etwas Rost?
„Haben Sie den fehlenden Stein?“, fragte er in die Runde.
Der Uniformierte schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Dann ist das der Punkt, an dem man hinschaut“, sagte Wagner. „Nicht auf das, was da ist. Auf das, was fehlt.“
4 Heiner Van Dong sah auf die Uhr. Halb elf. Er war längst im Labor. Der Kaffee war dünn, weil der Filterhalter wieder gerissen war. Jemand hätte eine neue Maschine beantragen müssen, aber Asselmeier hielt solche Anschaffungen nur für recht und billig, wenn man sie in dreifacher Ausfertigung schriftlich begründete. „Ihre Begründung zeigt: Kaffee ist Luxusgut“, hatte er mal gesagt. „Wir sind kein Caféhaus.“
„Wir sind ein privates Institut, das die Justiz in gerichtsmedizinischen und forensischen Fragen berät“, hatte er angefügt. Es war sein Mantra.
Heiner saß vor dem Mikroskop und tat so, als könnte er seine Sorgen so fokussieren wie die Schnitte darunter. Er war erst in der Nacht um zwei ins Bett gefallen. Berichte, Berichte, Berichte. Und Wagners Handschrift darüber, die wie EKGs aussah.
„Heiner!“, schallte es.
„Dr. Wagner?“, seufzte Heiner und hob nicht einmal den Kopf. „In zwei Minuten hätten Sie geklingelt, weil Sie Ihr eigenes Labor nicht mehr finden.“
„Witzig“, sagte Wagner, der in der Tür stand und aussah, als hätte er eine nasse Jacke auf dem Arm. „Sind Sie so freundlich, Dr. Van Dong, und suchen mir aus der Schublade die Diatomeen-Sets raus?“
„Diatomeen?“, fragte Heiner und hob dann doch die Augenbrauen. „Ich dachte, wir wären demnächst mal wieder bei Blausäure und Arsen? Ein Klassiker zur Abwechslung?“
„Ich will wissen, ob unser Freund da unten im Wasser gewesen ist, bevor er im Wasser war“, sagte Wagner.
„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Heiner.
„Das wundert mich. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht“, gab Wagner zu. „Er hing. Aber ich glaube nicht, dass er tot war, als er hing. Vielleicht hat man ihn vorher in den Bach gelegt, kurz und gründlich. Oder nachher. Und dafür will ich Kieselalgen sehen, und zwar an den falschen Stellen.“
Heiner seufzte. „Und das erklären Sie dann Kommissar Neuhaus in einem Satz, ja?“
„Ich erkläre es ihm in zehn“, sagte Wagner. „Er mag mich, wenn ich viel rede. Dann fühlt er sich überlegen.“
„Und was ist mit Asselmeier?“
Als Antwort erschien er, als hätte ihn jemand bei seinem Namen gerufen. Dr. Robert Asselmeier, Oberlippenbart, korrekt gebundene Krawatte. Er hielt einen Bericht in der Hand, der aussah, als sei er gegen den Willen des Papiers zu Papier gebracht worden: mit Wagners Handschrift.
„Wagner“, sagte er und strengte sich an, es nicht wie ein mildes Schimpfwort klingen zu lassen. „Ihr Bericht über die Schießerei in Hagen. Das ist, pardon, eine Schande. Ihre Terminologie ist ein Salat. Und ich habe den Eindruck, Sie spielen wieder Detektiv.“
„Ich spiele gar nicht“, sagte Wagner und hob den Umschlag mit der Barbara-Medaille hoch. „Ich arbeite.“
„Nicht in unserem Auftrag“, sagte Asselmeier.
„In unserem Auftrag atme ich“, sagte Wagner. „Und wenn ich mal nicht atme, schreiben Sie mir eine Mahnung.“
Asselmeier ignorierte das. „Sie sind heute Morgen schon wieder nicht auf direktem Wege ins Labor gekommen. Ich spüre es. Ich sehe es in Ihrer Jacke. Schlamm. Feuchtigkeit. Draußen gewesen, wo Sie nicht hin sollten.“
„Draußen gewesen, wo man Menschen findet“, murmelte Wagner und bemerkte, wie Heiner sich räusperte. „Haben Sie schon mal Leichen draußen gesehen, Asselmeier? Sehr hübsch. Bekommen Sie Natur gratis dazu.“
„Sie gehen mir auf die Nerven“, sagte Asselmeier, und das war für seine Verhältnisse eine äußerst unprofessionelle Formulierung. „Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Wir sind ein privates …“
„…Institut, das die Justiz berät“, sagten Wagner und Heiner im Chor. Wagner lächelte. Asselmeier nicht.
„Was ist das?“, fragte Heiner und deutete auf den Umschlag, den Wagner in der anderen Hand schwenkte.
„Barbara“, sagte Wagner. „Und LB. Und ein Kreis aus weißen Steinen minus eins. Sagen Sie’s niemandem. Außer Neuhaus. Der weiß es schon.“
„Ich werde den Staatsanwalt informieren, wenn Sie mir sachgerecht und vollständig berichten, Dr. Wagner“, sagte Asselmeier. „Und wenn Sie nicht wieder mit seltsamen Leuten und noch seltsameren Ermittlungsmethoden auftauchen.“
„Seltsame Leute?“, echote Wagner. „Meinen Sie Ralf Herrmann? Ein Genie.“
„Ein Student“, sagte Asselmeier mit dem Ton, mit dem andere „Husten“ sagen. „Herrmann studiert. Das ist gut. Aber Sie werden ihn nicht … hier hineinschleppen.“
„Zu spät“, sagte Wagner. „Er steht hinter Ihnen.“
Heiner sah es kommen, ehe Asselmeier sich umdrehte. Ralf Herrmann, rote Pulloverschicht unter einer Jacke, dicke Hornbrille, die er nervös zurechtrückte, stand unschuldig da.
„Dr. Wagner hat mir eine E-Mail geschrieben“, sagte Herrmann. „Ich habe gerade keinen Kurs. Ich könnte … helfen.“
Asselmeier legte die Hand auf das Herz, als kriege er gleich Palpitationen. „Nein“, sagte er. „Nein. Nein. Nein.“
„Weniger dramatisch, Herr Doktor“, sagte Heiner. „Er atmet. Das heißt, er ist noch nicht tot. Und wenn er hier ist, schreibt er vielleicht einen Bericht, den man lesen kann.“
„Das ist wiederum eine Idee“, sagte Wagner und pfiff leise zwischen den Zähnen. „Kommen Sie, Herrmann. Wir schauen Algen. Das ist romantischer, als es klingt.“
5 „Der Kreis“, sagte Neuhaus und kniete neben den Steinen. „Wollen Sie mich darüber belehren, dass Kinder sowas in der Pause machen?“
„Kinder nehmen glattere Steine“, sagte Wagner, der die erste Probe aus den Nähten des Hemdes des Toten kratzte. „Und sie sind konsequenter. Kinder ziehen Kreide. Erwachsene erzählen Geschichten. Jemand wollte erzählen: Ich habe Angst um meine Seele. Ich bitte Barbara. Und ich will, dass ihr das seht.“
„Dann hat dieser Jemand nicht den Hut von Lukas Brendel getragen“, sagte Neuhaus und hielt die Brieftasche in der Hand, die in einer Beweistüte steckte. „Brendel ist Projektleiter bei MIKA Baugesellschaft. Schwerpunkt: Brücken. A45. Und was lesen wir heute im Blättchen? ‚Anonymer Hinweis auf Baustelle: Prüfprotokolle gefälscht?‘“
„Sie lesen das Blättchen? Ich dachte immer, Sie wären eher der FAZ-Typ.“
„Ich lasse lesen“, brummte Neuhaus. „Meine Frau. Und ich kriege dann eine Zusammenfassung. Wir Männer sind so.“
„Wenn Brendel das System einer gefälschten Baustoffprüfung anfassen wollte, hätte er Feinde. Das ist keine Esoterik. Das ist Business.“
„Mit Richtkränzen zur Sicherheit“, sagte Neuhaus. „Und Kerzen, die nicht brennen.“
„Ich will die Tasche“, sagte Wagner. „Und seine Hände.“
„Wozu?“
„Vielleicht hat er Algen in den Fingernägeln. Oder Sand, der nicht von hier ist. Vielleicht hat er entzündete Nagelhäute — manche Ingenieure machen sich Nägel. Oder er war im Tunnel. Die Luft riecht dann anders. Man kann das nicht aufschreiben, aber man merkt es.“
„Sie haben den Beruf verfehlt, Doktor“, sagte Neuhaus. „Sie wären ein passabler Hund geworden.“
Wagner grinste ohne Humor. „Ich habe meinen Riechkolben selbst in Ordnung gebracht. Seit ich aufgehört habe zu rauchen.“
„Sie haben aufgehört?“, fragte Neuhaus und fischte sich eine Zigarette aus der Tasche, die er nicht anzündete. „Glückwunsch. Das wird nicht lange halten.“
„Ihr Optimismus ist ansteckend“, murmelte Wagner.
6 „Diatomeen“, flüsterte Ralf Herrmann andächtig, als wäre das der Name einer vergessenen Heiligen. „Kieselalgen sind schön.“
„Sie sind praktisch“, sagte Heiner. „Schön darf man privat finden. Beruflich sind sie langweilig, bis man sie braucht.“
Wagner beugte sich zur Linse. Ein Tropfen aus dem Waschbecken in Listerscheid, in dem der Tote hätte sein Gesicht gewaschen haben können, sah anders aus als ein Tropfen aus der Bigge. Anders als einer aus dem Kiesbett, anders als einer vom Hemdsaufschlag. Und anders als einer aus der Tasche des Toten — der war sauber gewesen, aber sauber auf eine Art, die wie frisch gewaschen wirkte. Keine Fäden, kein Flusen, kaum Hautschuppen. Das war normal bei Regen. Aber normal mochte Wagner nicht.
„Wenn er vorher im Wasser war, bevor er hing“, sagte Wagner leise, „ist er vielleicht gewaschen worden.“
„Wer wäscht einen Toten?“, fragte Herrmann.
„Jeder, der gerne will, dass etwas anderes nicht mehr zu sehen ist“, sagte Heiner. „Oder jeder, der gerne Rituale kopiert. Da wäscht man auch vor dem Bestatten.“
„Kein Ritual, das ich kenne, benutzt Barbara-Figuren aus der Plastikabteilung“, sagte Wagner. „Und wenn doch, will ich’s nicht kennen.“
Heiner legte den Kopf schief. „Was fehlt?“
„Die Frage nach dem fehlenden Stein“, sagte Wagner. „Er ist der dreizehnte. Zwölf liegen da. Einer fehlt. Was hat derjenige damit gemacht, der ihn weggenommen hat? In die Tasche gesteckt? Ein Souvenir? Oder hat er ihn jemandem in die Hand gedrückt?“
„Oder in den Mund“, murmelte Herrmann.
Wagner sah ihn an. Er mochte den Jungen. Er hatte Fantasie. Nicht die kindische Art, die alles bunt malte, sondern die brauchbare, die in Lücken Linien zog.
„Wir werden es sehen“, sagte Wagner. „Wenn uns Neuhaus die Leiche nicht an irgendein Krankenhaus verloren hat, das meint, es könnte schneller Totenscheine tippen als wir Berichte.“
7 „Ich bin nicht überzeugt“, sagte Asselmeier, was nichts Neues war. „Sie haben nichts außer einer Medaille, einer Plastikfigur, ein paar Steinen und Ihrem Bäuchlein-Gefühl.“
„Es ist kein Bauchgefühl“, sagte Wagner. „Meine Bauchdecke ist intakt.“
„Ich möchte, dass Sie Herrn Dr. Hansell anrufen und sich erkundigen, ob die JVA …“, begann Asselmeier, blieb aber hängen, als er Heiners Blick traf. „Ja, ich weiß. Andere Baustelle.“
„Andere Brücke“, sagte Heiner trocken.
„Dr. Wagner“, fuhr Asselmeier fort, „ich will nicht, dass Sie auf Baustellen herumklettern. Und ich will nicht, dass Sie Unruhe in Firmen bringen, die unsere Stadt mitfinanzieren.“
„Ist das ein Befehl?“, fragte Wagner.
„Es ist eine Bitte“, sagte Asselmeier. „Und ein Befehl.“
„Ich werde so ruhig sein wie ein Friedhof“, versprach Wagner und drückte die Klinke.
„Das beruhigt mich nicht“, rief ihm Asselmeier nach. „Sie machen Friedhöfe unruhig.“
8 Die MIKA-Baustelle war ein Stück oberhalb von Meinerzhagen. Wenn die Nebel sich hoben, sah man von hier das Ebbegebirge herüberwinken. Laster kamen, Laster gingen, und die Luft vibrierte vom Summen der Betonrüttler, die klangen, als würden sie eine große, böse Gitarre spielen.
Ein Mann im weißen Helm kam auf Neuhaus zu, der seine Dienstmarke nicht zeigen musste, um als Polizei durchzugehen. Er sah aus wie ein Mann, der arbeitete und nicht nur so tat. Sein Helm hatte Kratzer. Sein Gesicht auch.
„Georg Milow“, sagte er. „Bauleitung. Und Sie sind …“
„Kripo Lüdenscheid, Neuhaus. Das ist Dr. Wagner, unser Gerichtsmediziner.“
„Wieso Gerichtsmediziner?“ Milow runzelte die Stirn.
„Weil jemand gestorben ist, mit dem Sie gearbeitet haben“, sagte Neuhaus. „Lukas Brendel.“
Eine Sekunde lang lag da etwas in Milows Augen. Dann war es weg. Er sah über Neuhaus hinweg, als würde er nachdenken, wohin mit seinen Händen.
„Scheiße“, sagte er dann. „Ich habe vor zwei Tagen mit ihm telefoniert. Er hat rumgezickt. Prüfberichte. Der wollte alles dreifach sehen. Als wären wir Anfänger.“
„Sind Sie Anfänger?“, fragte Wagner freundlich.
„Sind Sie witzig“, sagte Milow. „Wir bauen hier seit dreißig Jahren. Ich habe an mehr Brücken mitgebaut als Sie Haare auf dem Kopf haben.“
Wagner fuhr sich unwillkürlich über die Stirn. „Gar nicht so schwer.“
„Er war …“, Milow suchte nach dem richtigen Wort. „Gründlich. Zu gründlich. Er hat sich Feinde gemacht mit seinem Misstrauen.“
„Wer?“, fragte Neuhaus.
„Alle“, sagte Milow. „Wer Rechnungen schreibt, mag Leute nicht, die unterschreiben nur, wenn sie es dreimal gesehen haben.“
„Gab es konkrete …“, Neuhaus setzte an.
„… Drohungen?“, half Wagner.
Milow zuckte die Schultern. „Anonyme Mails. Zettel an der Scheibe. ‚Halt die Klappe‘. So ein Kinderkram. Ich hab‘ ihn ausgelacht. Vielleicht war das ein Fehler.“ Er schluckte. „Sagt nicht meiner Frau, dass ich so etwas gesagt habe.“
„Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“, fragte Neuhaus.
„Gestern. Abends war er nicht da. Ich dachte, er sei bei seiner Frau. Er wohnt in Finnentrop.“
„Seine Frau ist nicht seine Frau“, murmelte Wagner, der die Brieftasche kannte. Da stand „ledig“. „Eine Freundin. Natalia. Polnischer Name, aber deutsch wie Kardinal Meisner.“
„Und Sie kennen die, Dr. Wagner?“, fragte Neuhaus.
„Ich kenne Brieftaschen“, sagte Wagner. „Ich kann ihnen sogar das Horoskop vorlesen.“
„Können wir die Prüfberichte sehen?“ Neuhaus.
Milow zögerte. „Das sind interne …“
„… Unterlagen“, sagte Neuhaus. „Ich weiß. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten weiter, auch wenn wir reinsehen. Wunder gibt’s. Und wenn Sie kooperieren, ersparen Sie uns und Ihnen einen dicken Kopf.“
Milow sah ihn an und wusste, dass er nicht gewinnen würde. „Kommen Sie mit“, sagte er dann.
9 Natalia wohnte am Rand von Finnentrop, in einem Mehrfamilienhaus, dem man ansah, dass es in den achtziger Jahren in einem Anflug von Zweckoptimismus aus dem Boden gestampft worden war. Der Balkon hatte ein Gitter, auf dem eine Sommerfahne hing, die im Regen klatschte. Jemand hatte einen kleinen Basilikumtopf drinnen auf die Fensterbank gestellt, der so traurig aussah, als wolle er lieber noch ein paar Jahre in Italien bleiben.
Natalia war Mitte dreißig. Ihr Blond war echt, ihr Blick nicht. Er war zu gerade. Sie hatte die Hände tief in die Taschen eines grauen Cardigans gesteckt, als Neuhaus den Ausweis zeigte. Es roch nach Suppe in der Wohnung, nach Bohnen.
„Er sollte gestern um acht hier sein“, sagte sie und starrte auf die Ecke des Teppichs, die sich hob. „Wir essen um acht. Immer um acht. Manchmal später. Aber spätestens um halb neun ist das Licht an. Er hat gesagt, er kommt. Er hat immer gesagt, er kommt. Und jetzt sind Sie da.“
„Es tut uns leid“, sagte Neuhaus mit einem Ton, den Wagner nicht oft bei ihm hörte. „Ist Ihnen in letzter Zeit etwas aufgefallen? Fremde Leute. Autos. Zettel.“
„Jemand hat vor zwei Wochen auf die Motorhaube geschrieben: Sankt Barbara sieht dich“, sagte Natalia. „Und ich habe gesagt: Wer ist Barbara? Und er hat gelacht und gesagt: Die, die ich trage.“
„Seine Medaille“, sagte Wagner. „Hat er die immer getragen? Auch nachts?“
„Immer“, sagte Natalia. „Er hat sie nur abgenommen, wenn er duschte. Und dann hat er sie auf den Badezimmerschrank gelegt, neben die Zahnbürsten.“ Sie sah Wagner plötzlich an, als hätte sie etwas in seinem Gesicht entdeckt, das sie irritierte. „Sie glauben nicht, dass er Selbstmord gemacht hat.“
„Ich glaube erstmal gar nichts“, sagte Wagner. „Ich sammle nur Dinge ein. Und die flechte ich. Und wenn sie nicht zu einem Zopf werden, den man ziehen kann, werfe ich sie weg.“
Natalia blinzelte. Ein Rest von Feuchtigkeit sammelte sich in ihren Augenwinkeln, und sie tat so, als sei das nur die Suppe. „Er hat gesagt, die Brücken sind alt. Aber nicht so alt, wie sie scheinen. Er hat gesagt, man muss Angst haben, wenn die Richtigen sagen, man müsse keine Angst haben.“
„Das ist wahr“, murmelte Wagner.
„Er hat gesagt, wenn er etwas sagen würde, dann …“, sie suchte nach Worten, „… würden sie die Steine zählen.“
„Welche Steine?“, fragte Neuhaus.
„Er hat gesagt: Wenn einer fehlt, dann weißt du, dass dir einer fehlt“, sagte Natalia. „Ich habe ihn ausgelacht und gesagt: Philosophie ist nicht dein Fach.“
„Vielleicht war es doch seins“, sagte Wagner.
Er sah die Wohnung an, die so ordentlich war, dass hier nicht jemand lebte, der Ordnung nur in Papieren mochte. Auf dem Tisch lagen Rechnungen, sauber zusammengeheftet. Ein Kindle. Ein Notizbuch mit einem Gummiband. Er deutete darauf.
„Darf ich?“, fragte er.
Natalia nickte, ohne zu sehen, worauf er zeigte.
Wagner blätterte. Es war keine Handschrift mehr, die man sofort als männlich oder weiblich erkannte. Es war eine, die schnell schrieb, und ordentlich. Eine Seite war herausgerissen, nur der Rand war noch da.
Wagner strich mit dem Fingernagel über die Perforation. „Eine Seite fehlt“, sagte er. „Wie ein Stein.“
„Ich habe gestern aufgeräumt“, sagte Natalia leise. „Aber ich reiße keine Seiten raus.“
„Vielleicht er“, sagte Neuhaus.
„Vielleicht er“, wiederholte Wagner. „Oder jemand, der die Suppe nicht mochte.“
10 „Heiner“, sagte Wagner, als er wieder im Institut war, „sagen Sie Neuhaus nichts von dem, was ich denke. Sonst nimmt er mir den Spaß.“
„Ich nehme Ihnen selber den Spaß, Dr. Wagner“, sagte Heiner. „Ich will wissen, was Sie denken.“
„Ich denke, dass jemand uns einen frommen Kranz geflochten hat, damit wir darin stolpern“, sagte Wagner. „Und dass dieser jemand Zeitdruck hatte. Die Kerzen waren nicht an. Die Steine sind vom Ufer. Die Barbara-Figur ist neu. Die Medaille war alt — die trug Brendel. Der Kreis sollte alt aussehen und war es nicht.“
„Das heißt: Inszenierung“, sagte Heiner.
„Das heißt: jemand hat in seinem Kopf den Satz: ‚Sankt Barbara sieht dich‘ und hat ihn draußen nachgebaut“, sagte Wagner.
„Und die Diatomeen?“, fragte Herrmann, der außerhalb von normalen Arbeitszeiten kein Problem kannte. Er stand da mit einem Glas, in dem eine Brühe schwappte, die aussah, als hätte jemand seinen Kaffee in die Bigge gegossen.
„Zeigen“, sagte Wagner.
Herrmann schob das Präparat unter die Linse. „Das hier ist aus einem Kragenstich“, sagte er. „Und das hier ist aus einer Pfütze, die wir unter der Brücke genommen haben.“ Er wechselte. „Und das hier ist aus dem Kreismatsch. Es sind unterschiedliche Spezies. Und die im Kragen …“, er rückte die Brille zurecht, „… passen nicht zur Bigge. Sie passen zu …“ — er stockte — „… stehenden Gewässern mit hohem Kalkgehalt. Teich. Kiesgrube. Oder Schacht.“
„Oder einer Baustelle, in der man Wasser abpumpt“, sagte Wagner leise. „Oder ein Tunnel.“
„Sauerländische Tunnel“, sagte Heiner. „Die neue Kathedrale.“
„Und Sie sind der Liturgiker“, grinste Wagner müde. „Wir gehen beten.“
11 Es war schon dunkel, als Wagner ins MAMUTH trat. Taner polierte ein Glas, obwohl es blank war, und warf Wagner einen Blick zu, der sagte: Du riechst nach Fluss.
„Doc“, sagte er. „Ich habe das Gefühl, mir entgeht eine gute Geschichte.“
„Wir alle haben dieses Gefühl, Taner“, sagte Wagner und ließ sich auf den Barhocker sinken, der unter seiner Last ein unwilliges Geräusch machte. „Die ganze Stadt ist eine gute Geschichte, aber sie will nicht erzählt werden.“
„Trinken?“, fragte Taner.
„Was haben Sie ohne Blasen?“, fragte Wagner. „Und ohne Heiligen.“
„Dann bleibt Wasser“, sagte Taner. „Sidi Harazem ist alle.“
Wagner lachte unerwartet auf. „Gott sei Dank.“
„Wieso?“, fragte Taner.
„Weil ich heute schon einen Heiligen überdosiert habe.“
„Wie geht’s dir?“, fragte Taner leiser als sonst.
Wagner sah den Tresen an. Dann den Spiegel hinter der Whiskeybatterie. Sein eigenes Gesicht darin. Geäderte Augen. Ein Strich von Müdigkeit, den selbst die Liebe nicht wegwischen würde. „Ich bin in Ordnung“, sagte er. „Ich habe eine Leiche gesehen. Ich habe eine Plastikbarbara gesehen. Ich habe einen Kreis gesehen. Ich habe eine Frau gesehen, die glaubte, die Suppe wäre schuld, dass ihr Leben kalt geworden ist. Ja, ich bin in Ordnung.“
„Willst du nicht lügen?“, fragte Taner freundlich. „Lügen ist erlaubt.“
„Ich lüge am liebsten, wenn ich Anträge ausfülle“, sagte Wagner. „Gegenüber dem Leben bin ich ehrlich. Das rächt sich. Später.“
„Du willst etwas“, sagte Taner, der den Ton hörte, den Wagner benutzte, wenn er vorgab, Wein zu trinken, obwohl er Durst auf Blut hatte.
„Ich will wissen“, sagte Wagner, „wer in deinem Laden Barbarafiguren kauft.“
Taner lachte laut. „Doc, ich bin Migrationshintergrund mit ordentlichem Gewerbeschein. Ich verkaufe kein Heiligengedöns. Dafür haben wir in der Wilhelmstraße den Datteltaschenmacher mit dem Rosenkranzregal.“
„Der alte Mann mit der Zeitung“, sagte Wagner. „Ich war neulich dort. Er hatte ein Hörgerät, das piepte.“
„Er sagt, sein Ohr sei die Hölle“, sagte Taner. „Vielleicht ist es der Himmel. Je nachdem, wen er hört.“
„Ich fahre morgen früh hin“, sagte Wagner. „Und dann frage ich ihn, ob er gestern Abend jemandem Barbara verkauft hat, der nass war.“
Taner nickte. „Und wenn er sagt: ‚Ich habe nur den lieben Gott verkauft‘?“
„Dann sage ich: ‚Der zahlt nicht‘“, murmelte Wagner. „Noch ein Wasser.“
12 Als er die Blockhütte erreichte, hatte der Regen wieder eingesetzt. Es trommelte aufs Dach. Der Schlamm am Gartentor saugte an seinen Schuhen. Im schwachen Licht der Verandalampe glitzerte etwas an der Tür.
Er trat näher.
SOMBODY WATCHES YOU, stand da.
„Die Schule hat wieder angefangen“, murmelte Wagner und fuhr mit dem Fingernagel über das falsche M. Es war eins zu wenig, wie damals. Nur das Subjekt hatte gewechselt.
Er ging ins Haus, wusch den Matsch ab und starrte fünf Minuten lang sein Boot an. Dann setzte er sich an den Küchentisch, klappte sein uraltes Notebook auf, das so klackte, als wollte es beim Schreiben mitreden, und tippte eine Mail an Herrmann.
Betreff: Barbara.
Text: „Ralf: Morgen früh Uni Köln, Pathologie. Frag Sander (nicht lächeln), ob er weiß, wer sich mit Kieselalgen von Schachtwässern auskennt. Ich will einen Vergleich. Und frag im Geolabor, ob sie Karten haben, wo hier im Umkreis von 20 km stehende Gewässer/Absetzbecken sind. Wir brauchen Karten. Und Heiner: sag Asselmeier, ich sei beim Zahnarzt. Und sag ihm, er soll nicht rufen, weil ich nicht ans Telefon gehe. Dr. W.“
Er schickte es ab, lehnt sich zurück und hörte dem Regen zu, der immer denselben Text schrieb: Geh schlafen. Geh schlafen. Geh schlafen.
Wagner stand auf, machte das Licht aus und wusste, dass er in der Nacht, wenn der Regen nachlassen würde, die Steine zählen würde, die um sein eigenes Haus herum lagen. Zwölf waren es. Einer fehlte.
Er wusste nur noch nicht, an welcher Stelle.
13 Am nächsten Morgen war der Devotionalienhändler aus der Wilhelmstraße in Lüdenscheid schon auf. Er hatte nicht nur eine Zeitung, sondern zwei, eine für die Politik und eine für die Menschen. Wagner trat ein und lächelte, so gut er konnte.
„Sie schon wieder“, sagte der Alte und griff ans Ohr. „Ich hab das Piepen im Griff.“
„Das freut mich“, sagte Wagner. „Ich möchte Ihnen eine Barbara abkaufen.“
„Groß oder klein?“
„Wie im Fenster“, sagte Wagner. „Billig. Plastik. Für unter die Brücke.“
Der Alte blinzelte. „Ich verkaufe nicht für unter die Brücke. Ich verkaufe für die Fensterbank.“
„Nennen Sie es Fensterbank“, sagte Wagner. „Haben Sie gestern Abend eine verkauft? An einen Mann, der nass war?“
„Ich habe gestern Abend einen Mann gesehen, der trocken war und einen Hund hatte“, sagte der Alte. „Und ich habe einen jungen Mann gesehen, der sagte, seine Oma hätte eine Kerze gewollt. Und ich habe eine Frau gesehen, die sagte, sie hätte eine Totenmesse, und die hat fünf Kerzen gekauft, obwohl der Pfarrer immer nur drei braucht. Und ich habe …“, er stockte — „… einen Mann gesehen, der Handschuhe trug. Er hat nicht gesprochen. Er hat eine Barbara genommen, die ich noch gar nicht ausgepackt hatte, als wüsste er, wo sie liegt.“
„Wie sah er aus?“, fragte Wagner ruhig.
„Wie jemand, der viel drinnen arbeitet“, sagte der Alte. „Er roch nicht nach draußen. Er roch nach Zement.“
Wagner nickte. „Sie sind gut“, sagte er.
„Ich bin fast taub, aber ich rieche noch“, sagte der Alte. Er lächelte schmal. „Wollen Sie die Barbara?“
Wagner legte einen Zehner hin und steckte die Heilige in die Jacke. „Für meine Fensterbank“, sagte er.
„Und für Ihre Seele“, sagte der Alte. „Sie sehen aus, als hätten Sie eine.“
„Ab und zu“, sagte Wagner. „Ab und zu.“
14 Ralf Herrmann stand vor dem großen Bildschirm im Geolabor der Uni Köln, als Wagner ihn am Telefon hatte. Die Leitung rauschte, weil Sauerland, aber die Stimme war klar vor Eifer.
„Dr. Wagner“, sagte Herrmann ohne Guten Tag, „ich habe Absetzbecken markiert. Vier im Umkreis von zwölf Kilometern. Und da ist noch eins, das offiziell stillgelegt ist. Eine Kiesgrube bei Listerhammer. Wasser drin. Hoher Kalk. Passt zu dem, was wir haben.“
„Und Sander?“, fragte Wagner.
„Sander sagt, er sei Herzgott, kein Wasserfloh“, sagte Herrmann. „Aber er hat mir die Telefonnummer von einem Hydrobiologen gegeben, der die Region erforscht hat. Der sagt: In der Grube gibt es eine Diatomeen-Spezies, die sehr charakteristisch ist. Sie heißt Navicula oblonga Listerensis. Das hat er selbst draufgeschrieben. Er ist stolz.“
„Dann schauen wir uns die Grube an“, sagte Wagner. „Heute Nachmittag. Neuhaus?“
„Ich bin schon auf dem Weg“, sagte Neuhaus, der immer dann da war, wenn Wagner glaubte, er wäre alleine. „Und wenn wir dort nur Frösche finden, lade ich Sie ein. Auf einen Kaffee. Und nicht in Taners MAMUTH. In die Kantine vom Präsidium.“
„Das ist keine Einladung“, sagte Wagner. „Das ist eine Drohung.“
„Sie sollten mal wieder lernen, sich zu freuen“, sagte Neuhaus. „Vielleicht hilft die Barbara dabei.“
„Die Barbara hilft beim Beten“, sagte Wagner. „Beim Denken helfe ich mir selbst.“
„Amen“, sagte Neuhaus.
15 Die Kiesgrube lag da, als hätte jemand vergessen, sie zuzuschütten. Das Wasser war milchig. Am Rand stand ein Schild: Betreten verboten. Betreten verboten ist im Sauerland ungefähr so verbindlich wie „Bitte leiser“. Ein Mann in Gummistiefeln kam ihnen entgegen. Er hatte ein Gesicht, das vom Wind gezeichnet war. Keine Helme. Keine Kräne. Hier war Schwerkraft der Chef.
„Hier dürfen Sie nicht“, sagte er, und es klang nicht böse, eher verwundert.
„Kripo“, sagte Neuhaus. „Wir dürfen, wenn wir höflich sind.“
Der Mann nickte. „Dann seien Sie höflich.“
Herrmann stand am Wasser und hatte bereits eine Flasche eingetunkt. Er sah aus wie ein Kind, das im Urlaub eine Qualle gefunden hatte.
„Haben Sie hier in den letzten Tagen jemand gesehen?“, fragte Neuhaus den Gummistiefelmann.
„Immer Leute“, sagte der. „Jugendliche. Angler. Hunde. Was wollen Sie wissen?“
„Ob Sie einen Mann gesehen haben, der Handschuhe trug, obwohl es nicht kalt war.“
„Die Hälfte der Leute hier trägt Handschuhe“, sagte er. „Weil sie Müll aufsammeln. Oder wegwerfen.“
„Hilfreich“, murmelte Wagner.
Herrmann hob die Flasche aus dem Wasser. Der Tropfen an der Lippe zitterte. „Ich brauche das Labor“, sagte er. „Wenn wir Glück haben, ist diese Navicula oblonga Listerensis drin. Wenn wir Pech haben, auch.“
„Und wenn wir so mittelviel Glück haben?“, fragte Neuhaus.
„Dann finden wir in Brendels Kragen dieselbe Diatomeen-Signatur“, sagte Wagner. „Und dann war er hier. Bevor er hing.“
„Und dann?“, fragte Neuhaus.
„Dann suchen wir denjenigen, der Handschuhe trägt, wenn er Barbara kauft“, sagte Wagner. „Und der Zement riecht.“
„Milow?“, fragte Neuhaus.
„Zu offensichtlich“, sagte Wagner. „Ich tippe auf jemanden, der eine Ebene tiefer arbeitet. Lager. Materialprüfer. Der Mann, der nicht auffällt, weil er immer da ist.“
„Ich liebe Ihre Theorien“, sagte Neuhaus. „Nicht, weil sie immer stimmen. Sondern weil sie uns von der Stelle bringen.“
„Das ist das Netteste, was Sie je zu mir gesagt haben“, sagte Wagner.
Sie standen da, und für einen Moment schien das Graue des Himmels heller zu werden.
„Da ist noch was“, sagte Neuhaus. „Heute früh hat jemand an meine Tür geschrieben.“
„SOMBODY WATCHES YOU?“, fragte Wagner.
„Nein“, sagte Neuhaus. „Sankt Barbara sieht dich. In sauberem Deutsch. Ohne Tippfehler. Meine Frau hat’s weggewischt. Sie mag keine grauen Sachen an unserer weißen Tür.“
„Vielleicht hat sie recht“, sagte Wagner. „Vielleicht brauchen wir ein paar weiße Türen.“
Er sah auf das Wasser. Es war milchig und verriet nichts. Aber wenn man genau hinsah, gab es kleine Linien, die nach innen führten. Kein Kreis. Eher ein Spiralchen.
Wagner dachte daran, wie man Spiralen auflöst. Man geht nach innen, bis man die Mitte sieht. Und dann geht man wieder raus.
Die Mitte war ein Mann, der an einer Brücke hing. Und die Außenlinie lief über eine Kiesgrube, über eine Baustelle, über einen hässlichen Laden mit hübschen Heiligen.
Und irgendwo da draußen stand jemand und zählte Steine. Zwölf. Einer fehlte.
Wagner hob den Blick, als würde er denjenigen sehen wollen.
„Ich komme“, sagte er leise, ohne zu wissen, zu wem.
Und der Regen sagte: „Beeil dich.“
16 Die Leiche war kalt, als hätten die Finger des Wassers sie länger gehalten, als gut gewesen wäre. Wagner stand in seinem Kittel, den Kragen offen, die Ärmel hoch, und legte das Messer beiseite, um den Knoten der Krawatte zu betrachten, die jemand ihm so ordentlich wieder unter den Strick geschoben hatte, dass man meinen konnte, er hätte es selbst getan.
„Ligaturspur“, murmelte er. „Nicht ganz horizontal. Nicht ganz schräg. Ein Mittelding. So wie Ihre Stimmung, Heiner.“
„Meine Stimmung ist hervorragend, Dr. Wagner“, sagte Heiner Van Dong trocken und reichte ihm die Pinzette. „Sie wird noch besser, wenn wir heute mal ohne Geschrei fertig werden.“
„Geschrei gab es bei ihm genug“, sagte Wagner leise. „Er hat Luft gebraucht und keine bekommen.“
Herrmann stand neben dem Tisch, die Hände seltsam gespreizt, als wüsste er nicht, wohin damit. Er hatte sich vorgenommen, nicht zu stören. Und störte, indem er sich das vornahm.
„Hier“, sagte Wagner und zeigte auf die Innenseite der Unterlippe. „Petechien. Aber nicht die, die ich beim klassischen Hängen sehe. Und am Zungenbein …“ Er legte die Fingerspitzen an. „… kein Bruch. Das heißt nicht, dass er nicht gehangen hat. Es heißt: Er hat vorher schon etwas anderes erlebt.“
Herrmann beugte sich. „Da ist etwas Weißes zwischen den Zähnen“, murmelte er.
Wagner griff nach der Pinzette und zog es vorsichtig heraus. Ein winziges, flaches Etwas. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger in das Licht.
„Ein Kiesel“, sagte er. „Ein sehr kleiner. Weiß. Gestrahlt. Wie vom Ufer.“
Heiner hob die Augenbrauen. „Vielleicht hat er ihn im letzten Urlaub am Meer …“
„Heiner“, sagte Wagner sanft. „Ich mag Sie, wenn Sie klug sind, nicht wenn Sie witzig sind.“
Er legte den Stein in ein Schälchen. „Das ist der dreizehnte“, sagte er. „Und er war da, wo einer sein sollte, wenn iemand ein Zeichen setzen will, das nur einer liest, der genau hinsieht.“
„Oder einer, der dreizehn zählen kann“, sagte Heiner.
„Wir schicken ihn mit der Diatomeenprobe zusammen unters Elektronenmikroskop“, sagte Herrmann. „Wenn wir Glück haben, sehen wir auf der Oberfläche Spuren von …“
„… der Grube“, ergänzte Wagner. „Oder von der Bigge. Oder von einem Spülbecken in einer Baustellenbaracke. Und jetzt sehen wir uns die Lunge an.“
Sie öffneten. Der Geruch, der dann kam, war nie schön. Und doch unterschied er sich. Wasser, das in eine Lunge geraten war, roch nach dem, was es mitbrachte. Wagner schloss die Augen, so als wolle er den Geruch besser hören.
„Milchig“, sagte er. „Kalkig. Nicht Fluss. Nicht Regen. Nicht Leitungswasser. Stehendes, kalkiges. Und die Diatomeen …“ Er deutete auf das, was Herrmann schon vorbereitet hatte. „… sind nicht die von der Bigge. Es sind die Navicula oblonga Listerensis Ihres Hydrobiologen, Ralf. Gratulieren Sie ihm. Er darf seinen Namen behalten.“
„Das heißt: Er ist ertränkt worden, bevor man ihn gehängt hat“, sagte Heiner sachlich.
„Kurz“, sagte Wagner. „Nicht genug, um die Lunge vollzusaugen. Aber genug, um ihm die Luft zu nehmen. Vielleicht hat man ihn nur mit dem Kopf hineingedrückt. Und dann hat man ihn aufgehängt. Und dann Barbara gespielt.“
„Wollen wir darüber streiten, ob ‚Barbara spielen‘ eine Beleidigung ist?“, fragte Heiner.
„Nein“, sagte Wagner. „Wir streiten später über Kultur. Jetzt rufen wir Neuhaus an.“
17 „Ich höre“, sagte Neuhaus, als er die Tür zum Labor geöffnet hatte und sein Mantel das Kondenswasser mit hereinbrachte. „Und ich will hören, dass ich nicht völlig falsch lag, als ich heute Morgen glaubte, Sie hätten mehr als Bauch.“
Wagner zeigte ihm den Stein im Schälchen und die Fotografie der Innenseite der Unterlippe, auf der man die winzige Wunde sah, die der Stein gemacht hatte. Dann die Diatomeenbilder. Dann die Notiz, die Herrmann hastig geschrieben hatte, damit man daraus später einen Satz machen konnte, den auch ein Staatsanwalt verstand.
„Listerhammer-Grube“, sagte Neuhaus. „Zwei Kilometer Luftlinie von der Baustelle. Und die Barbara kommt aus der Wilhelmstraße.“
„Ein Mann mit Handschuhen hat sie geholt“, sagte Wagner. „Der alte Mann im Laden hört nicht, aber er riecht. Nach Zement.“
„Materialprüfung“, sagte Neuhaus. „Die haben die Finger immer im Zement. Wer ist bei MIKA im Labor?“
„Wir haben gestern Milow gesehen“, sagte Wagner. „Er hat uns nicht den Laborleiter vorgestellt. Er hat ihn nicht einmal erwähnt.“
„Dann erwähne ich ihn jetzt“, sagte Neuhaus und blätterte durch die Kopien, die man ihm aus der Baustellenleitung hatte geben müssen. „Lager- und Materialprüfstelle: Leiter Dipl.-Ing. Bernd Langen. Stellvertreter: André Klee. Langen ist heute bei einem Seminar in Dortmund. Klee ist …“, er seufzte. „… nicht erreichbar.“
„Klee“, sagte Wagner und schmeckte das Wort. „Der Handschuhtyp aus dem Alltag. Ich will seine Hände sehen.“
„Ich auch“, sagte Neuhaus. „Und ich will sein Auto sehen. Und seine Stiefel. Und seinen Müll. Und ich will wissen, wem er berichtet.“
„Und ich will wissen, was auf der herausgerissenen Seite stand“, sagte Wagner. „Aus Brendels Notizbuch.“
Neuhaus nickte. „Wir fahren“, sagte er. „Heiner, schreiben Sie bitte auf, was wir dem Staatsanwalt sagen dürfen, ohne dass er vor lauter Glück aus dem Fenster springt.“
„Ich schreibe ihm, dass es regnet“, sagte Heiner. „Das ist ungefährlich.“
18 Die Laborhalle von MIKA roch nach verschnittenem Gestein und heißem Metall. Eine Presse, die Betonwürfel auf Festigkeit testete, stand wie eine mürrische Kuh in der Ecke und brummte im Leerlauf. Ein Mann in grauem Kittel hob den Kopf, als Neuhaus und Wagner eintraten. Er hatte dunkle Augenringe, wie jemand, der zu wenig schlief oder zu viel dachte. Oder beides.
„André Klee?“, fragte Neuhaus.
„Klee“, sagte er, ohne die Hand aus den Taschen zu nehmen. „Was wollen Sie? Wir arbeiten.“
„Das sehe ich“, sagte Neuhaus und zeigte nur kurz den Ausweis. „Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Und Sie möchten uns auf alles antworten, was wir nicht fragen.“
Klee blinzelte. „Das ist ein gutes System“, sagte er. „Dann muss ich nicht denken.“
„Wie angenehm“, murmelte Wagner.
„Wo waren Sie gestern Abend?“, fragte Neuhaus.
„Zu Hause“, sagte Klee. „Wie jeder brave Mann.“
„Und brav war es?“, fragte Wagner.
„Ich habe mit meiner Mutter telefoniert“, sagte Klee. „Wenn Sie das brave Telefonate nennen, ja.“
„Haben Sie Herrn Brendel gesehen?“
„Gestern? Nein.“
„Vorgestern?“
„Ja. Er hat mir wieder erklärt, dass Prüfprotokolle keine Fantasieprosa sind.“
„Das sind sie nicht“, sagte Wagner.
„Manche sehen das anders“, sagte Klee und sah an Wagner vorbei. „Was wollen Sie hier eigentlich, Herr Doktor …?“
„Wagner“, sagte Wagner. „Ich schaue mir gerne Hände an.“
Klee zog die Hände aus den Taschen. Sie waren sauber, sauberer als Wagners. Die Nägel gepflegt, an einem Finger eine kleine Rötung.
„Schön“, sagte Wagner. „Sie tragen Handschuhe?“
„Manchmal“, sagte Klee.
„Wenn Sie Barbara kaufen?“
Klee sah ihn an, als habe Wagner ihn gerade gebeten, eine Sonate zu pfeifen. „Ich trage Handschuhe, wenn ich Handschuhe trage“, sagte er. „Und ich kaufe keine Heiligen.“
„Wer dann?“, fragte Neuhaus. Er war nah gekommen, näher als Klee lieb war. „Ihr Laborleiter? Ihr Kollege? Ihr Chef?“
Klee zuckte die Schultern. „Vielleicht Milow“, sagte er. „Der hat einen Sinn für Symbole. Der stellt auch Richtkronen auf, wenn der Investor nicht zuguckt.“
„Milow roch nicht nach Zement“, sagte Wagner, der begonnen hatte, in Rätseln mit sich zu sprechen, wenn er denken musste. Er sah sich um. Auf dem Tisch lagen Prüfprotokolle, sauber ausgefüllt, mit Stempel und Unterschriften. Unterlage für Unterlage. Eine Reihenfolge. Eine Ordnung.
Er strich mit der Hand darüber. Etwas war seltsam. Ein Datum, das falsch war. Eine Unterschrift, die zweimal leicht anders geschrieben war. Er hob die Mappe an. Eine Seite kippte heraus. Eine Seite mit einer Notiz am Rand: LB.
„LB“, sagte er laut. „Lukas Brendel.“
Neuhaus war bei ihm. „Was ist das?“, fragte er.
„Ein Abgleich“, sagte Wagner. „Handschriftlich. Jemand hat sich markiert, was er kritisch findet. Und jemand hat die Seite wieder da hinein geschoben, aber nicht richtig. Vielleicht hat ihn jemand dabei gestört, sie ganz zu entfernen. Oder er war zu eilig.“
Wagner schnippte. „Heiner!“, rief er, obwohl Heiner nicht da war. „Heiner würde jetzt sagen: Fingerabdrücke. Spurensicherung. Und mir dann sagen, dass ich nicht alles anfassen soll.“
„Ich sage es Ihnen“, sagte Neuhaus. „Nicht anfassen.“
„Zu spät“, sagte Wagner. „Ich habe bereits gesündigt.“
„Es tut nichts zur Sache“, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Sie fuhren herum.
Bernd Langen stand in der Tür, der Mann aus dem Verzeichnis, der heute in Dortmund hätte sein sollen. Er hatte einen anderen Kittel an als Klee, einen, der so sauber war, als hätte er ihn nur angezogen, um in die Halle zu kommen, wenn Besuch war. In seiner Hand hielt er ein Metallstück. Ein Kern, den man aus einem Betonbalken gebohrt hatte. Er hielt ihn wie eine Waffe.
„Das hier ist ein Labor“, sagte Langen. „Kein Gericht. Hier werden Proben getestet. Und Ihre Anwesenheit verfälscht die Ergebnisse.“
„Sie sind überraschend schnell aus Dortmund zurück“, sagte Neuhaus.
„Seminar abgesagt“, sagte Langen. „Aufgrund eines Trauerfalls.“
„Das finde ich rücksichtsvoll“, sagte Wagner. „Dann können wir zusammen trauern.“
Langen trat näher. Seine Augen waren ruhig, zu ruhig. „Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden“, sagte er. „Das ganze System hängt an Zeitplänen. An Lieferketten. An Unterschriften. Wenn eine unterschreibt, hakt es. Wenn zwei unterschreiben, läuft es. Wenn drei unterschreiben, verdienen alle. Und wenn einer meint, er müsste plötzlich die Barbara spielen, dann …“
„Dann hängt er plötzlich wirklich“, sagte Wagner.
Langen lächelte. Es war kein schönes Lächeln. „Ich habe niemanden aufgehängt“, sagte er. „Ich bin Ingenieur. Kein Schlachter.“
„Sie haben jemanden kurz in Wasser getunkt“, sagte Wagner. „Und jemand anders hat ihn aufgehängt. Es muss ja Aufgabenverteilung geben.“
Klee bewegte sich. Ein unwillkürlicher Schritt. Ein halber. „Herr Langen“, sagte er leise.
„Halt den Mund, André“, sagte Langen.
Neuhaus hob die Hand. „Ich habe das Bedürfnis, jemanden zu bitten, die Presse auszuschalten“, sagte er. „Aber hier ist keine.“
„Hier sind nur wir“, sagte Langen und legte das Metallstück auf den Tisch. Er trat hinter die Presse und legte die Hand an den Schalter. Die Maschine brummte, lauter, lauter. „Und hier ist die Kraft, die die Wahrheit macht. Fünfhundert Kilonewton. Mit einem Druck reißen wir Beton. Und mit einem Druck zerreißen wir Papiere. Und mit einem Druck lassen wir Geschichten verschwinden.“
„Und manchmal machen Sie Geschichten lauter“, sagte Wagner. Er trat einen Schritt zur Seite, als wüsste er, was gleich passieren könnte. „Und manchmal drückt Barbara auf die falsche Taste.“
„Barbara ist eine lächerliche Puppe“, sagte Langen verächtlich. „Eine für Kinder und Witwen.“
„Und Ingenieure, die glauben, die heilige Barbara würde sie retten, wenn der Beton bröckelt“, sagte Wagner. „Ich habe verstanden.“
Langen griff nach dem Hebel. Ein anderer Mann zog die Tür der Halle zu. Klee blieb stehen. Es war für eine Sekunde still, bevor der Lärm der Presse die Luft zerfetzte.
Es war die Sorte Lärm, die man in den Knochen hörte.
„Aus!“, brüllte Neuhaus. „Sofort!“
„Ich will einen Test zeigen“, brüllte Langen zurück. „Einen einzigen Test.“
Wagner spürte, wie sich die Haut an seinem Nacken zusammenzog. Er hatte diese Sorte Test nicht gern, seit dem Tag, an dem jemand versucht hatte, ihn in einer Gefängnisküche zu testen.
Er dachte an Kurt und seine Fäuste. Er dachte an Taner und sein Mineralwasser. Er dachte an die Barbara-Figur in seiner Tasche, die er am Morgen gekauft hatte, um sie in die Fensterbank zu stellen und jetzt in der Kitteltasche fühlte, wie ein lächerliches Amulett.
„Ich will lebend rausgehen“, murmelte er.
„Dann bewegen Sie sich“, brüllte Neuhaus.
Und Langen zog am Hebel.
19 Der Druck ging in die Knie der Maschine. Eine Platte senkte sich. Unten stand kein Betonwürfel. Unten lag die zerknüllte Seite mit den LB-Kritzeleien. Langen grinste. Es war die Art Grinsen, die man einem Mann wegwischen wollte.
„Es gibt Kopien“, sagte Wagner leise.
„Nicht von allem“, sagte Langen.
„Doch, von allem“, sagte Neuhaus und trat nach vorn, den Arm ausgestreckt, als könne er den Strom ausschalten, der die Presse zum Monster machte. „Die Zeiten, in denen man mit einem Druck verschwindend machen konnte, sind vorbei.“
„Sie sind nie vorbei“, sagte Langen.
Und dann passierte etwas, womit keiner gerechnet hatte: Klee stürzte nach vorn, griff nach der Seite unter der Presse, gerade in dem Moment, in dem die Platte weiter sank. Er schrie auf. Es war ein menschliches, grässliches Geräusch, und zugleich löste seine Bewegung den Hebel, als hätte die Maschine ein Gewissen.
Langen fuhr herum. Für eine Sekunde lag da in seinem Gesicht etwas, das man Mitgefühl hätte nennen können, wenn man ihn nicht kannte. Dann war es weg. Er griff nach dem Not-Aus. Die Maschine stoppte. Klee hielt die Seite in der Hand, seine Finger bluteten.
„Sie Idiot!“, schrie Langen. „Sie verdammter Idiot!“
„Ich wollte nur …“, keuchte Klee. „… dass er es nicht zerdrückt.“
Neuhaus war bei ihm. „Verbinden“, rief er in den Flur. Jemand brachte eine Rolle Verbandsmaterial. Heiner wäre stolz gewesen, wie ordentlich Neuhaus die Hand bandagierte, die so unvernünftig heldenhaft gehandelt hatte.
Wagner hob die Seite auf, die Klee gerettet hatte. Ein dreckiger Fleck, Bluttröpfchen am Rand. Und dazwischen die Handschrift von Brendel: LB. Und darunter: Klee. Fragezeichen. Und dann: Langen. Pfeil. Lieferant XY. Und weiter unten, in eiligem, krakeligem Strich: „Absetzbecken!“ mit einem Ausrufezeichen.
„Er hat Ihnen getraut, André“, sagte Wagner leise. „Er hat Klee geschrieben, Fragezeichen. Er hat gedacht, Sie könnten auf seiner Seite sein.“
Klee sah ihn an, und in seinen Augen war etwas, das man nur selten bei erwachsenen Männern sah: Scham.
„Ich bin auf keiner Seite“, sagte er. „Ich wollte meinen Job behalten.“
„Manchmal sind die Seiten nicht so kompliziert, wie man meint“, sagte Wagner. „Manchmal sind sie sehr einfach: Leben. Oder Sterben.“
Er steckte die Seite in eine Tüte. Langen stand da, als hätte man ihm den Strom abgestellt.
„Sie sind verhaftet“, sagte Neuhaus. „Wegen Verdachts auf Mord, in Tateinheit mit … ich erspare Ihnen die Liste. Sie ist lang. Und sie wird länger.“
Langen lächelte wieder. Es war dieses Lächeln. „Sie haben keine Beweise“, sagte er. „Außer Papier. Und Papier ist geduldig. Und schmutzig.“
„Wir haben Diatomeen“, sagte Herrmann, der in der Tür stand, als hätte er die ganze Zeit gewartet, den richtigen Satz zu sagen. „Und die sind nicht geduldig. Die erzählen alles.“
„Und wir haben eine Barbara“, sagte Wagner und zog die Plastikfigur aus der Kitteltasche. „Mit Fingerabdrücken von Handschuhen. Und einem Ladenbesitzer mit einem guten Riecher.“
„Das ist lächerlich“, sagte Langen. Und für einen Moment sah man, dass er Angst hatte.
20 Der Abend kam von Westen her über das Sauerland, und mit ihm kamen die Schlagzeilen. „Projektleiter an Brücke tot – Polizei ermittelt“, stand da. „Kripo prüft Materialprüfungen“, stand da. „Sankt Barbara sieht dich“, stand irgendwo klein, weil irgendein Lokalredakteur dachte, das sei witzig.
Wagner saß in Taners MAMUTH und trank diesmal tatsächlich etwas mit Prozenten. Taner tat, als hätte er nicht bemerkt, dass Wagner damit eine Grenze überschritt, die er sonst mied.
„Und?“, fragte Taner. „Ist die Barbara zufrieden?“
„Die Barbara ist eine Plastikpuppe“, sagte Wagner. „Zufrieden ist sie, wenn die Farbe nicht abblättert.“
„Und Sie?“, fragte Taner.
„Ich bin müde“, sagte Wagner. „Und ich frage mich, wie viele Brücken stehen, weil die Richtigen unterschrieben haben. Und wie viele Menschen hängen, weil die Falschen nicht unterschrieben haben.“
„Wollen Sie damit sagen, dass …“, begann Taner.
„Ich will damit sagen, dass ich morgen zu Natalia fahre“, sagte Wagner. „Und ihr das Geld gebe, das Heiner immer noch in seinem Kittel hat, weil ich es ihm abgenommen habe, bevor er es wieder abgenommen hätte.“
„Sie sind ein guter Mensch, Doc“, sagte Taner.
„Ich bin ein mieser Mensch, der ab und zu etwas Ordentliches tut“, sagte Wagner. „Und jetzt machen Sie mir bitte einen Sangri-Cool-Drink. Ohne Ascorbinsäure. Ich habe heute genug Herzen in der Hand gehabt.“
„Wird gemacht“, sagte Taner.
Wagner sah durch die Scheibe. Draußen stand es in den Gesichtern, die an der Ampel warteten: die Müdigkeit, die man hier aus Höflichkeit nicht zeigte. Die Flagge am Balkon in Finnentrop hing nass. In der Blockhaus-Siedlung an der Lister war irgendwo Licht aus, weil der Mann, der es angedreht hätte, nicht mehr da war.
Wagner dachte an den Kreis aus Steinen. Zwölf. Einer fehlte. Er stand auf und legte den kleinen weißen Stein, den er aus der Leiche geholt hatte, auf die Theke. Taner sah ihn an.
„Für wen?“, fragte er.
„Für die, die zählen“, sagte Wagner.
Und zum ersten Mal an diesem Tag lächelte er so, dass es jemand sehen konnte.
21 Die Vernehmungsräume im Präsidium hatten die Farbe von Kaffee mit zu viel Milch, der zu lange gestanden hatte. Neuhaus mochte sie nicht. Es roch nach altem Papier und neuen Lügen.
Bernd Langen saß auf dem Stuhl, der an den Boden geschraubt war, als ginge er sonst spazieren. Er hatte die Hände ineinander gefaltet, als betete er, tat es aber nicht. Klee saß daneben, der Verband um die Finger frisch, das Gesicht bleich. Eine Polizistin stellte eine Karaffe Wasser hin, als sei es ein Friedensangebot.
Neuhaus legte das Bandgerät an. Es war altmodisch. Das war gut. Moderne Technik ging leichter kaputt, wenn die falschen Leute mit dem richtigen Ellenbogen an den falschen Knopf kamen.
„Für das Protokoll“, sagte er. „Name?“
„Bernd Langen“, sagte Langen und sah ihn an, als sei „Bernd Langen“ ein Gattungsbegriff, den jeder kennen musste.
„André Klee“, sagte Klee und blickte auf seine Hände.
„Wir sind hier, um darüber zu sprechen, weshalb Herr Brendel heute nicht mehr lebt“, sagte Neuhaus.
„Weil er keine Luft mehr bekommen hat“, sagte Langen ruhig.
„Das ist medizinisch korrekt“, sagte Neuhaus. „Juristisch reicht mir das nicht.“
Wagner stand in der Ecke, als sei er nur zufällig hier. Er hatte die Barbara-Figur in der Jackentasche, und er fragte sich, ob sie im Raum irgendetwas tat. Vermutlich nicht.
„Angefangen hat es mit Prüfberichten“, sagte Neuhaus. „Mit Zahlen, die nicht zu den Würfeln passten. Mit Stempeln, die auf dem falschen Papier klebten.“
„Wir kürzen Wege ab“, sagte Langen. „Wir wissen, wie Beton sich verhält. Wir wissen, wann wir uns einen Zwischenschritt sparen können.“
„Und wann spart man einen Menschen?“, fragte Wagner leise.
Langen sah ihn an. „Sie sind der Leichenarzt“, sagte er. „Sie arbeiten mit dem, was bleibt. Ich arbeite mit dem, was entsteht.“
„Und mit dem, was einstürzt“, sagte Neuhaus.
„Nichts ist eingestürzt“, sagte Langen scharf.
„Noch nicht“, sagte Wagner.
Klee schluckte. „Er hat …“, begann er und brach ab.
Neuhaus hob die Hand. „Sagen Sie es“, sagte er.
„Er hat gesagt, wir müssten ein Zeichen setzen“, stieß Klee hervor. „Dass er aufhört. Dass er unterschreibt, ohne zweimal zu gucken. Er hat gesagt, er will nicht, dass irgendjemand …“, er stockte, „… uns in die Quere kommt.“
„Wer hat ‚er‘?“, fragte Neuhaus.
Klee nickte in Richtung Langen. „Der Chef“, flüsterte er.
„Und was war Ihr Zeichen?“, fragte Wagner. Er tat, als sei das eine Frage über Verkehrszeichen.
„Er wollte ihn nur …“, Klee suchte nach einem Wort, „… erschrecken. Er hat gesagt, wir halten ihn kurz unter Wasser. Und dann reden wir mit ihm. Und dann ist Ruhe.“
„So macht man das in Ihrer Welt?“, fragte Wagner. „Man tauft und überzeugt?“
„Wir nennen es Druckprobe“, sagte Langen. „Und ja. Es funktioniert. Bei neun von zehn.“
„Und beim zehnten?“, fragte Neuhaus.
„Pech“, sagte Langen. „Wir haben ihn zu schnell rausgezogen. Er hat Wasser geschluckt, aber er hat geatmet. Er hat uns ins Gesicht gespuckt, hat geschrien, dass er zur Polizei geht. Da habe ich gesagt: Dann finis“, er bewegte die Hand, als würde er eine Fliege verscheuchen, „… und habe ihn aufgehängt.“
„Warum der Kreis?“, fragte Wagner.
„Damit Sie Idioten da draußen denken, es war ein Irrer“, sagte Langen. „Oder ein Frommer. Irgendwas, das mit uns nichts zu tun hat.“
„Und die Barbara?“, fragte Neuhaus.
„Ich habe die Figur schon immer lächerlich gefunden“, sagte Langen. „Ich dachte, wenn ich sie ihm in die Hand drücke, ist es noch lächerlicher. Aber er hat sie festgehalten. Wie ein Kind. Das fand ich …“ Er stockte. Zum ersten Mal im Gespräch suchte er nach einem Wort und fand es nicht. „… strange“, sagte er dann, weil das Deutsche ihm nicht reichte.
„Wer hat die Medaille angefasst?“, fragte Wagner.
„Er“, sagte Langen und deutete mit dem Kinn auf Klee. „Er hat sie aus dem Hemd gezogen und geguckt, was draufsteht.“
„Ich …“, begann Klee und presste die Lippen zusammen. Der Verband an seiner Hand war rot geworden, eine kleine Spur, die sich in den Stoff zog, wie ein Gedanke.
„Sie sind festgenommen“, sagte Neuhaus. „Beide.“
„Ich weiß, wie das läuft“, sagte Langen. „Ich bekomme einen Anwalt. Und der sagt Ihnen, dass Sie nichts haben, außer einem Haufen Algen und einem Plastiktinnef.“
„Ich habe etwas, was Sie nicht haben“, sagte Wagner. „Einen Sinn für das, was Sie nicht sehen wollen.“
„Ich sehe alles“, sagte Langen.
„Sicher?“, fragte Wagner. „Haben Sie Brendel gesehen, als er die Luft aus seinem Mund gesucht hat? Haben Sie sein Gesicht gesehen? Sie sagten eben, er hat die Barbara festgehalten wie ein Kind. Ich glaube Ihnen. Und ich glaube, genau das wird Sie verfolgen. Länger als jede Haft. Länger als jedes Urteil. Barbara sieht Sie. Nicht weil sie heilig ist, sondern weil Sie plötzlich etwas gesehen haben, das nicht in Ihre Tabellen passt: Scham.“
Langen schwieg.
Neuhaus stand auf, als sei alles gesagt. Es war nicht alles gesagt, aber es reichte. Für eine Nacht.
22 Natalia öffnete nicht sofort, als Wagner am nächsten Vormittag klingelte. Man hörte die Schritte, die man hörte, wenn jemand aufpasst, dass das Gesicht sich nicht verzieht, bevor die Tür aufgeht.
„Sie“, sagte sie schließlich, ohne den Namen. „Kommen Sie rein.“
Der Basilikumtopf war verschwunden. Der Tisch war leer. Kein Kindle. Kein Notizbuch. Als hätte das Leben sich für ein paar Stunden abgemeldet.
„Ich will Ihnen nichts vormachen“, sagte Wagner, als sie sich setzten. „Ich will Ihnen sagen, was wir wissen. Ein Mann, den er kannte, hat ihn … unter Wasser gedrückt. Ein anderer hat ihn aufgehängt. Sie haben es so aussehen lassen, als wäre es …“ — er sah auf seine Hände — „… eine Entscheidung gegen die Welt. Das war es nicht. Es war deren Entscheidung gegen ihn.“
Natalia nickte leicht. „Ich habe gedacht, es wäre so“, sagte sie leise. „Er war nicht … so. Er hätte nicht …“ Sie brach ab.
„Nein“, sagte Wagner. „Er hätte nicht.“
„Wer?“, fragte sie.
„Ein Kollege“, sagte Wagner. „Und der Chef von dem Kollegen. Sie sitzen.“
Natalia atmete aus. Es war ein Atem, der klang, als hätte jemand eine schwere Tür einen Spalt geöffnet. „Danke“, sagte sie. „Dass Sie es sagen. Viele sagen nichts.“
„Ich rede zu viel“, sagte Wagner. „Sagen die Leute.“
„Reden Sie noch einmal“, sagte sie. „Sagen Sie: Er hat nicht gelitten.“
Wagner sah sie an. Er wollte nicht lügen. Er konnte nicht lügen. „Er hat gelitten“, sagte er sanft. „Aber kurz. Und er hat festgehalten.“
„Was?“
„Das hier“, sagte Wagner und stellte die Barbara-Figur auf den Tisch. „Er hatte sie in der Hand. Ich weiß, das ist für Sie vielleicht nur Plastik. Für ihn war es etwas, woran er festhalten konnte.“
Natalias Gesicht bewegte sich, als suchte es die richtige Reihenfolge. Dann hob sie die Hand und strich über die Figur, als täte es weh.