1914 - Zeitenwende - Steffen Bruendel - E-Book

1914 - Zeitenwende E-Book

Steffen Bruendel

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Beschreibung

Eine einzigartige Epochendiagnose Viele deutschsprachige Künstler und Literaten jubeln bei Kriegsausbruch 1914. Auch Philosophen, Historiker und Theologen versuchen, dem Krieg einen höheren Sinn zu verleihen. Er wird als geistig-kulturelle Auseinandersetzung mit den Feinden und als Chance zur gesellschaftlichen Erneuerung gedeutet. Im Verlauf des Krieges mehren sich jedoch die kritischen Stimmen. Der Historiker Steffen Bruendel zeigt anhand zahlreicher Originaltexte auf, inwiefern Entwicklungen im künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Bereich angestoßen wurden, die bis heute nachwirken. Entstanden ist so ein spannender Blick auf die Zeit des Ersten Weltkriegs als Ideenwende – und ein außergewöhnliches Leseerlebnis. Das erste Buch zum Thema aus dem Blickwinkel der damaligen geistigen Elite Ein Lesegenuss für alle Leser von Florian Illies' 1913

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Seitenzahl: 381

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© für die Originalausgabe und das eBook:

2014 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel, München

Umschlagmotiv: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

eBook-Produktion: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-7766-8191-8

Bildnachweis

Für die Erlaubnis zum Abdruck der Plakate danken wir dem Museum Folkwang/Deutsches Plakat Museum, Essen.

Kapitel 1: Anonym, Deutschland (Deutsches Reich), Breslau, 1913; DPM 9104

Kapitel 2: Monogramm AM, Weihnachten / im Feld!; Deutschland (Deutsches Reich), 1914; Oscar Consée, München; DPM 4278

Kapitel 3: Louis Oppenheim, Wer Kriegsanleihe zeichnet,/macht mir die schönsten Geburtstags-/geschenke!/von Hindenburg; Deutschland (Deutsches Reich), 1917; Weylandt, Berlin; DPM 3960

Kapitel 4: Ferdy Horrmeyer, Und Eure Pflicht? Zeichnet Kriegsanleihe; Deutschland (Deutsches Reich), 1918; Hagelberg, Berlin; DPM 2504

Kapitel 5: Hermann Max Pechstein, Erwürgt nicht die/junge Freiheit/…/sonst/verhungern Eure Kinder [Werbedienst der Deutschen Republik, Fackel: 44], Deutschland (Deutsches Reich), 1919; DPM 4721

Trotz gründlicher Recherche ist es dem Verlag nicht gelungen, sämtliche Rechteinhaber ausfindig zu machen. Bei etwaigen Ansprüchen wenden Sie sich bitte an den Verlag.

Inhalt

Prolog

1. Abglanz

Leuchtendes München · Glitzerndes Wien · Protzendes Berlin · Apokalyptische Avantgarde · Glänzende Kaiser · Drohender Krieg

2. Aufbruch

Zustimmung · Freude · Einheit · Wahrheit · Gräuel

3. Umbruch

Heldenmythen · Frontkämpfer · Antikriegskunst · Ideenwende · Parteienkampf · Bruderkrieg · Kräftemessen

4. Aufbau

Ändern · Mitmachen · Abgrenzen · Ausgrenzen · Mitbestimmen · Hinnehmen

5. Abgang

Letzte Krönung · Letzte Mahlzeit · Letzter Vormarsch · Letzter Auftritt · Letztes Wort · Letzte Instanz? · Letzten Endes …

Epilog

Prolog

Als der Krieg begann, meldete sich der Dichter Ernst Lissauer freiwillig. Zu seiner Enttäuschung aber wurde der 32-Jährige, der einem großbürgerlichen Berliner Elternhaus entstammte, als untauglich eingestuft, sodass ihm der Kriegsdienst verwehrt blieb. Stefan Zweig, ein Jahr älter und im Wiener Großbürgertum aufgewachsen, suchte und fand – da ebenfalls wehruntauglich – immerhin eine Anstellung im Kriegsarchiv. Beide waren jüdischen Glaubens und wollten 1914 ihre ›vaterländische Pflicht‹ erfüllen. Zweig allerdings mokierte sich in seinen literarischen Erinnerungen über den 1937 in Wien verstorbenen Lissauer. Dieser sei »vielleicht der preußischste oder preußisch-assimilierteste Jude« gewesen, den er gekannt habe. Je deutscher etwas gewesen sei, desto mehr habe es ihn begeistert. Allerdings sehnte sich auch Zweig 1914 nach Anerkennung. Er begeisterte sich ebenso vorbehaltlos an der deutsch-österreichischen »Schwertbruderschaft« wie Lissauer und viele andere, verschwieg dies aber in seinen Erinnerungen.[1] Vom Expressionismus war Lissauer weitaus stärker beeinflusst als Zweig. Mit seinem »Haßgesang gegen England« wurde er 1914 gewissermaßen über Nacht bekannt. Im Krieg, so Zweig später süffisant, habe Lissauer Deutschland wenigstens mit Lyrik dienen wollen.[2]

Lissauers Gedicht »Führer«, das am 14. September 1914 von der »Vossischen Zeitung« veröffentlicht wurde, illustriert das Denken vieler Schriftsteller, die sich als nationale Vordenker verstanden. Es erfasste den Krieg als ideell getragen von Künstlern, Dichtern, Komponisten und Philosophen, gewissermaßen von einem »Generalstab der Geister«[3]:

An den Grenzen im Westen und Osten,

An beiden Meeren, entlang den Strand,

Erdharte Wolken lagern, Land überm Land,

Himmlische Mannschaft steht in Lüften auf Posten.

Luther, der Landsknecht Gottes, mit reisiger Bibel bewehrt,

Bach, vorbetend preisende Orgelgesänge,

Kant, gewappnet mit Pflicht, gewappnet mit Strenge,

Schiller, die mächtige Rede schwingend als malmendes Schwert,

Beethoven, von kämpfenden Erzmusiken umdröhnt,

Goethe, kaiserlich ragend, von Tagewerksonne gekrönt,

Bismarck, großhäuptig, geharnischt, pallaschbereit

Des ewigen Bundes Kanzler in Ewigkeit,

Seht sie gedrängt verdämmern in Ferneschein,

Dürer und Arndt und Hebbel, Peter Vischer und Kleist und Stein.

Rings über Deutschland stehn sie auf hoher Wacht

Generalstab der Geister, mitwaltend über der Schlacht.

Mochte der literarische Wert dieses Gedichts auch begrenzt sein, sein Inhalt war symbolisch hoch aufgeladen. Denn die von Lissauer benannten »Führer« repräsentierten die überzeitliche deutsche Kulturnation. Indem die als wahrhaft und tiefgründig definierte deutsche Kultur hervorgehoben wurde, stellte Lissauer sie der als oberflächlich angesehenen westlichen ›Zivilisation‹ gegenüber. Dieses Element verband sämtliche kriegspublizistisch tätigen Dichter und Schriftsteller. Auch Thomas Mann bezog sich auf Goethe und andere deutsche Geistesgrößen, darunter Schopenhauer, Nietzsche und Wagner, jenes »Dreigestirn ewig verbundener Geister«.[4] Solche Bezugnahmen dienten der Selbstvergewisserung und drückten das gerade in Kriegszeiten verbreitete Verlangen nach Führung und Vorbildern aus. Gemäß ihrem Selbstverständnis beanspruchten die deutschen Schriftsteller, Künstler und Gelehrten diese Führungsrolle für sich.

Damit stellten sie sich bewusst in die Tradition der Befreiungskriege. 1807/08 hatte Johann Gottlieb Fichte, Philosoph und erster Rektor der Berliner Universität, »Reden an die deutsche Nation« gehalten, um mit ihnen zu Einheit und Sieg beizutragen. 1914/15 hielten Berliner Professoren »Deutsche Reden in schwerer Zeit«, in denen sie angesichts des Krieges zur Geschlossenheit aufriefen und eine nationale Erneuerung verhießen.[5] Vielen Intellektuellen galt der Kriegsbeginn als Katharsis: »Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung«, schrieb Thomas Mann im August 1914.[6] Bis Ende 1914 wurden Hunderte Kriegslyrikbände registriert. Stefan Zweig kommentierte, »wie Lissauer waren sie alle. Sie haben ehrlich gefühlt und meinten ehrlich zu handeln, diese Dichter, diese Professoren, diese plötzlichen Patrioten von damals«.[7] Den Künstlern ging es nicht anders. Franz Marc schrieb 1914 an Wassily Kandinsky, der Krieg sei der Durchgang zu einer »Zeit des Geistes« und werde Europa reinigen.[8]

Das politische Engagement von Künstlern, Dichtern und Denkern war ein besonderes Phänomen des Ersten Weltkriegs. Sie suchten Stimmungen auszudrücken, Erlebnisse abzubilden und Ideen zu entwickeln. Viele wurden selbst Soldat. Blickt man auf die Kriegsfreiwilligen der literarisch-künstlerischen Avantgarde, blieben nicht wenige Karrieren unvollendet: Bereits bekannte Künstler, aber auch vielversprechende Talente fielen an den Fronten im Westen und Osten oder auf See. Künstler und Dichter, die heute vor allem für ihre gesellschaftskritischen und pazifistischen Werke bekannt sind, schufen 1914/15 martialische Bilder und Skulpturen oder publizierten Kriegsgedichte und sogenannte Kriegsschriften. Auch große Denker meldeten sich zu Wort. Philosophen, Historiker und Theologen bemühten sich, dem Krieg eine größere Bedeutung, einen höheren Sinn zu verleihen. Nationalökonomen, Staatswissenschaftler und Juristen befassten sich mit wirtschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Implikationen des Krieges, während Naturwissenschaftler ihre Forschungen in den Dienst der Rüstung bzw. der Kriegswirtschaft stellten.

Aufgrund dieser »geistigen Mobilmachung«[9] wurde der Krieg nicht nur als Waffengang wahrgenommen, sondern auch als geistig-kulturelle Auseinandersetzung mit den Feinden gedeutet. Die Stilisierung zum Kulturkrieg oder »Krieg der Geister«[10], wie es in einer 1915 verbreiteten Schrift hieß, war in diesem Ausmaß etwas Neues. Bücher und Aufsätze zu kriegspolitischen Themen – sogenannte Kriegsschriften – erschienen, Gedichte wurden verfasst, und Werke der bildenden Kunst entstanden, um das Erlebte zu reflektieren. Das heißt jedoch nicht, dass ein solches Engagement als bloße Propaganda aufgefasst werden sollte. Es entsprang ebenso einer inneren Überzeugung wie die freiwillige Meldung zur Front oder die später bei vielen zu beobachtende Hinwendung zum Pazifismus.

Eine große Zahl der Enthusiasten von 1914 wurde durch ihre Kriegserfahrungen desillusioniert. Dass der patriotische Überschwang zunächst nur zögerlich hinterfragt oder kritisiert wurde, lag zum einen an der Zensur und zum anderen an der »Mobilisierungseuphorie« – ein passenderer Begriff als der missverständliche Terminus »Kriegsbegeisterung« –, der sich kaum jemand entziehen konnte. Wer 1914 der nationalen Begeisterung skeptisch oder distanziert gegenüberstand, schwieg am besten. Erst mit zunehmender Kriegsdauer und angesichts der allgemeinen Desillusionierung intervenierten künstlerische, literarische und akademische Vordenker immer stärker, wobei expressionistische Zeitschriften und Ausstellungen zu einem wichtigen Forum wachsender intellektueller Kriegsgegnerschaft wurden.

Im Nachhinein schönten viele Künstler und Dichter ihre Biografien und verschwiegen ihr affirmatives kriegspolitisches Engagement aus der Anfangszeit. Heute wird die Mehrzahl der Kriegsschriften und -gedichte als propagandistische Ergüsse oder chauvinistische Entgleisungen gedeutet. Aber auch wenn die Inhalte vieler Werke hundert Jahre später fremd anmuten, kann man sie weder pauschal als intellektuelle Verirrung verdammen noch als künstlerisch oder inhaltlich wertlos marginalisieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Nicht nur das kritische oder pazifistische, sondern auch das zustimmende kriegspolitische Engagement hat künstlerische und literarische Werke von nachhaltiger Wirkung geschaffen, ebenso wie es politischen Ideen zum Durchbruch verholfen hat. Zudem muss man berücksichtigen, dass die Werke der Kriegspublizistik, der Literatur und der bildenden Kunst häufig bereits in der Vorkriegszeit vorhandene Ansichten bzw. Motive fortführten und insofern keinen Bruch im jeweiligen Werk darstellten.[11] Kriegserlebnisse veränderten den künstlerischen Ausdruck bei vielen, aber nicht bei allen. Entwickelte sich zugleich eine politische Botschaft? Welche Wandlungen dem Weltkrieg zuzurechnen sind, lässt sich nicht pauschal sagen, zumal bei einigen Künstlern, Dichtern und Denkern eine werkimmanente Stringenz festzustellen ist, bei anderen dagegen ein Bruch und bei wieder anderen eine Diskrepanz zwischen »tatsächlich gemachter und ideologisch gewollter Kriegserfahrung«.[12]

Im Folgenden soll die Ideenwelt der künstlerischen und intellektuellen Elite zwischen 1914 und 1918 lebendig werden. Es geht um die Spiegelung des Krieges in ausgewählten Werken der Kunst, der Literatur und der Kriegspublizistik. Oft wird gesagt, der Krieg verhalf »der Moderne« zum Durchbruch. Nur welcher? Der Begriff an sich wurde in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts geprägt. Verschiedenen Theorien folgend, kann der Beginn der Moderne auf das Jahr 1810 (Romantik) oder auf 1890 (Naturalismus) datiert werden oder aber mit dem Auftreten der Avantgarde 1909 (Futurismus), 1910 (Expressionismus) oder 1916 (Dadaismus) einsetzen. Der dem Militärischen entlehnte Begriff der »Avantgarde«, der ursprünglich Vorreiter bzw. Vorhut bedeutete, bezeichnet das Selbstverständnis vieler Dichter und Künstler im Jahr 1914 vor und nach Kriegsbeginn auf treffende Weise.[13]

Heute gelten Zäsuren als »Bewegungsmuster«, also nicht als starre, sondern als dynamische Einteilungen. Dementsprechend kann der Erste Weltkrieg als »Produkt und Produzent von Modernisierungsphänomenen« gedeutet werden, die vielgestaltige Selbstbeschreibungen der Gesellschaft auslösten und in der Verarbeitung von Gewalterfahrungen »sowohl Konsolidierungs- als auch Veränderungstendenzen nach sich zogen«.[14] Die »Geburt der Moderne« im Ersten Weltkrieg wurde bereits vor einem Vierteljahrhundert im Rahmen einer tiefgründigen Kulturgeschichte nachgezeichnet und als kulturelle Zäsur beschrieben. Unlängst rückte vor dem Hintergrund des Zentenargedenkens die unmittelbare Vorkriegszeit in den Blickpunkt. In diesem Zusammenhang wurde das letzte Friedensjahr – 1913 – als morbid-nervöses europäisches Panoptikum beschrieben und durch eine detailgenaue Beobachtung verschiedener Protagonisten launig in Szene gesetzt.[15]

Zwischen diesen Polen schwebt die im Folgenden auf den Ersten Weltkrieg geworfene Perspektive, die zu einer historischen Revue einlädt. Begleitet werden die großen und kleinen Talente, die 1914 im Überschwang ihrer Gefühle zu den Waffen oder aber zu Pinsel und Feder griffen, um ihren Beitrag in einem Kampf zu leisten, der kollektiv als Verteidigungskrieg gedeutet wurde. Auch jene, die abseits standen und warteten, wollen wir nicht vergessen. Wir werden die Kulturschaffenden und Vordenker des deutschen Sprachraums mitsamt ihrer Hoffnung, ihrem Leid und ihrer Empörung in den Krieg begleiten. Einer nach dem anderen werden sie die Kriegsschauplätze verlassen, einige tot, andere lebend. Die Überlebenden verarbeiten ihre Erfahrungen. Das »wahre Gesicht« des großen, aber keineswegs großartigen Krieges wird aufgezeichnet, gezeichnet und gemalt – von Gezeichneten. Nach Beendigung des Krieges keimt schließlich noch einmal Hoffnung auf. Bricht nun eine bessere Zeit an?

Anmerkungen

[1] Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/M. 1995, S. 265. Vgl. dazu Hey’l, Bettina: Stefan Zweig und der Erste Weltkrieg, in: Schneider, Uwe/Schumann, Andreas (Hg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Würzburg 2000, S. 263–291 (Zweig-Zitat 267).

[2] Zweig, Gestern, S. 265. Vgl. auch Utz, Joachim: Der Erste Weltkrieg im Spiegel des deutschen und englischen Haßgedichts, in: Assmann, Jan/Harth, Dietrich (Hg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt/M. 1990, S. 373–413, hier 377f.

[3] Abgedruckt in Anz, Thomas/Vogl, Joseph (Hg.): Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918. München, Wien 1982, S. 57 (Erläuterung 234f.).

[4] Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt/M. 1993, S. 63f.

[5] Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation, in: Fichtes Werke, Bd. VII. Berlin 1971, S. 257–499; Deutsche Reden in schwerer Zeit, gehalten von den Professoren an der Universität Berlin, 3 Bde. Berlin 1914/15.

[6] Mann, Thomas: Gedanken im Kriege, in: ders.: Essays, Bd. 1: Frühlingssturm. Frankfurt/M. 1993, S. 188–205, hier 193.

[7] Zweig, Gestern, S. 265f.

[8] Lankheit, Klaus (Hg.): Wassily Kandinsky – Franz Marc. Briefwechsel. München, Zürich 1983, S. 263, 267.

[9] Flasch, Kurt: Die geistige Mobilmachung – Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin 2000.

[10] Kellermann, Hermann: Der Krieg der Geister: Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914. Weimar 1915.

[11] Vgl. beispielsweise Beßlich, Barbara: Wege in den »Kulturkrieg« – Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000; Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1995.

[12] Schöning, Matthias: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-33. Göttingen 2009, S. 295. Vgl. auch Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland [nachf. Bundeskunsthalle] (Hg.): 1914. Die Avantgarden im Kampf. Ausst.-Katalog. Köln 2013, sowie die Kritik dieser »wunderbar spekulative[n] Ausstellung« (Hanno Rauterberg) in: Die Zeit, 14.11.2013, S. 67; FAZ, 9.11.2013, S. 34.

[13] Vgl. Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus. Stuttgart, Weimar 22010, S. 14. Zur Begrifflichkeit vgl. Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart. München 22010, S. 8, und Leiß, Ingo/Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte, Band 8: Wege in die Moderne 1890–1918. München 32004, S. 51–54.

[14] So zum Beispiel ein aktueller Forschungsansatz der Universität Siegen, vgl. http://www.uni-siegen.de/phil/aktuelles/vortraege/files/programm_der_erste_weltkrieg_als_kulturelle_zaesur.pdf (21.8.2013).

[15] Eksteins, Modris: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek 1990; Illies, Florian: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2012. Zur Kulturgeschichte der Vorkriegszeit vgl. Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914. München 32013.

Abglanz

LEUCHTENDES MÜNCHEN

»München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulentempeln, den antikisierenden Monumenten und Barockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gartenanlagen der Residenz spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide, und ihre breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven lagen in dem Sonnendunst eines ersten, schönen Junitages.«[16]

Mit diesen Worten beginnt Thomas Manns Novelle »Gladius Dei« aus dem Jahre 1902. Der Protagonist, ein junger, eher hässlicher Mann, schlendert an einem schönen Sommertag durch München und entdeckt im Fenster eines Kunsthändlers ein ihn unsittlich anmutendes Bild der Muttergottes, die Reproduktion eines Meisterwerks der Renaissance. Nachdem er den Ladenbesitzer mehrfach aufgefordert hat, das unzüchtige Bild zu entfernen oder gar zu verbrennen, lässt dieser ihn durch einen Mitarbeiter unsanft vor die Tür setzen. Daraufhin glaubt der Jüngling, am Himmel das breite Feuerschwert Gottes (Gladius Dei) zu erkennen. Indem Thomas Mann seinen Protagonisten als Reinkarnation eines radikalen, gegen die Verworfenheit der Welt kämpfenden spätmittelalterlichen Bußpredigers auftreten lässt, karikiert er den uninspirierten Kunstbetrieb seiner Zeit sowie den Münchner Renaissancekult, der sich darin erschöpfte, die Vergangenheit zu reproduzieren. München, immerhin eine der führenden Kunststädte des Reiches, wird hier von dem aufstrebenden, 1875 in Lübeck geborenen Schriftsteller als oberflächlich und wenig kunstsinnig, ja als kulturell geradezu gleichgültig vorgeführt.[17]

Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, da Thomas Mann, der als junger Mann noch gegen die Normen des Wilhelminismus aufbegehrt hatte, seit der Jahrhundertwende den Lebensstil des Großbürgers und loyalen Staatsbürgers pflegte und somit durchaus angepasst lebte. Trotz seiner Neigung zum eigenen Geschlecht ehelichte er 1905 Katharina (Katia) Pringsheim, die Tochter aus einer großbürgerlichen Gelehrtenfamilie. Skeptisch verfolgte er den Lebenswandel seines vier Jahre älteren Bruders Heinrich, der sich mit Frauen und Freunden umgab, die fast alle der Halbwelt des Theaters entstammten. Heinrichs lockeres Verhältnis zu der aus Brasilien stammenden Sängerin Ines (Nena) Schmied missbilligte Thomas entschieden. Es war die Kritik des etablierten Bürgers am freien Bohémien, die Abgrenzung des Konformisten vom Nonkonformisten.[18]

Folgerichtig unterschied sich auch ihre Meinung zur Literatur. Thomas Manns Ideal war der Bildungsroman, wobei er sich literarisch an den russischen Realisten, insbesondere Tolstoi, orientierte. Die Kompositionstechniken und die autobiografische Struktur übernahm er von den Romanen seines russischen Vorbilds. Außerdem war er im Sinne des Philosophen Friedrich Nietzsche davon überzeugt, dass das Geistige im Allgemeinen und der Künstler im Besonderen in der Gesellschaft isoliert seien. Darunter litt er massiv, denn er wollte wahrgenommen werden. So suchte Thomas Mann gezielt Themen, in die er Autobiografisches einbringen konnte. Besonders deutlich wurde das in seiner 1912 erschienenen Novelle »Der Tod in Venedig«.[19]

Heinrich Mann dagegen orientierte sich an Frankreich. Begeistert von den Werken Guy de Maupassants, Gustave Flauberts und Honoré de Balzacs entwickelte er das Konzept des Gesellschaftsromans. Die Übernahme französischer Schreib- und Darstellungsmuster war für Heinrich jedoch weit mehr als eine Formalität. Sie eröffnete ihm, dem geistig Heimatlosen, die Möglichkeit, an eine nationale Kultur anzuschließen und der deutschen Gegenwart aus dieser Perspektive ein gesellschaftskritisches Programm gegenüberzustellen. Schon 1904 bekannte er sich öffentlich zu Frankreich und würdigte dessen demokratische Gesellschaftsform.[20] Auch Émile Zola, der skandalumwitterte Bestsellerautor, prägte ihn. Zunächst waren es biografische Ähnlichkeiten, die Heinrichs Sympathie für Zola begründeten – in erster Linie ihrer beider unbürgerlicher Lebenswandel, der Zola zwei Kinder aus einer außerehelichen Beziehung beschert hatte und bei Heinrich Mann in einer gelösten Verlobung und einer späteren Scheidung resultierte –, sodass von einer habituellen Übereinstimmung zwischen beiden gesprochen werden kann.[21] Darüber hinaus verband sie aber auch die Sozialkritik, die ihr jeweiliges Werk kennzeichnete.

Die gegensätzlichen Literaturkonzepte der Brüder Mann entwickelten sich analog zu ihrer Position im literarischen Feld. Während der Bildungsroman Thomas Manns seine Nähe zum literarischen und sozialen Establishment veranschaulichte, entsprach Heinrichs Gesellschaftsroman, in dem Außenseiter wichtige Rollen spielten, seiner eigenen Position am Rande der Gesellschaft und des Literaturbetriebs. Heinrichs Werk war gegen die wirtschaftliche und politische Elite des Kaiserreichs gerichtet. Präzise beschrieb er die Folgen der sozialen Marginalisierung der literarischen Intelligenz, die zur Entfremdung von Geist und bürgerlichem Kapitalismus führte. Folgerichtig verlangte er eine Literatur, welche die bürgerlichen Wertvorstellungen hinterfragte. Seine Gesellschaftsromane waren kritische Spiegelbilder ihrer Zeit, ganz im Stil von Zola, der in seinem Werk den Schwachen und Ausgestoßenen eine Stimme gegeben und deren Lebensumstände dargestellt hatte. Das war Antibürgerlichkeit als Programm. Schon in den 1890er-Jahren wandte sich Heinrich Mann – beeinflusst vom französischen Realismus – gesellschaftskritisch-satirischen Erzählungen zu. Mit seinem Roman »Im Schlaraffenland«, erschienen 1900, begann seine sozialkritische Auseinandersetzung mit dem Deutschen Kaiserreich.[22]

Sosehr sich die Literaturkonzepte beider Brüder unterschieden, so unvereinbar waren auch ihre Auffassungen von der gesellschaftlichen Rolle des Schriftstellers. In seinem überaus wirkungsvollen Essay »Geist und Tat« hatte Heinrich Mann 1910 die Forderung nach sozialer Verantwortung des Dichters erhoben. Dieser Text gilt als Gründungsschrift des Expressionismus sowie als Manifest des politisch engagierten Intellektuellen.[23] Ein Jahr später sollte eine kunsttheoretische Abhandlung von vergleichbarem Einfluss erscheinen: Wassily Kandinsky, fünf Jahre älter als Heinrich Mann und seit 1896 in der bayerischen Hauptstadt lebend, wo er 1909 die »Neue Künstlervereinigung München« mitgegründet hatte, veröffentlichte 1911 seine Schrift »Über das Geistige in der Kunst«.[24] Gemeinsam mit den Münchener Malern Franz Marc und Alexej von Jawlensky gehörte er dem »Blauen Reiter« an, einer Vereinigung, die Musiker, Dichter und Künstler zusammenbrachte und seit 1912 einen Almanach gleichen Namens herausgab. Kandinskys Aufsatz wurde zur wesentlichen Grundlage der sich entwickelnden abstrakten Malerei.[25]

Seit der Neugründung der Münchener Kunstakademie 1885 hatte sich die bayerische Hauptstadt zu einem geistig-kuturellen Zentrum entwickelt, das bedeutende Künstler wie Wilhelm von Kaulbach, Franz von Lenbach und Franz von Stuck prägten. Die Boheme um Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee und Kandinsky ging in den Schwabinger Künstlerlokalen ein und aus. München leuchtete tatsächlich. Dennoch blickte Heinrich Mann lieber nach Paris. In der kulturellen Tradition des westlichen Nachbarlandes sah er sein Ideal des in die Politik eingreifenden Literaten verwirklicht. Französische Schriftsteller, schrieb er, hätten das Volk zur Demokratie erzogen, indem sie »der bestehenden Macht entgegentraten«.[26] Damit spielte Heinrich auf Émile Zolas persönlichen Einsatz in der Dreyfus-Affäre an, der 1898 durch den Artikel »J’accuse …!« (Ich klage an …!) auch im Deutschen Reich bekannt geworden war. Zolas Engagement für den zu Unrecht wegen Spionage für Deutschland verurteilten Alfred Dreyfus hatte Heinrich beeindruckt und ihn von der Notwendigkeit des intellektuellen Eingreifens in das politisch-soziale Geschehen überzeugt.[27]

Thomas Mann betrachtete sich dagegen als verantwortungsfreien Künstler. Nach dem Abschluss seines Romans »Königliche Hoheit« entwarf er Anfang 1909 eine Antithese zu Heinrichs Essay »Geist und Tat« und entwickelte das Gegensatzpaar »Geist und Kunst«, so der Titel seiner unveröffentlichten Erwiderung. Thomas schrieb, dass der Geist sich in analytischer Literatur ausdrücke, während Kunst schöpferische Dichtung sei. Seit 1912 trat er immer stärker für eine spezifisch irrationale Kunst ein, die der intellektuellen Reflexion nicht bedürfe.[28] Mit Blick auf Heinrich kontrastierte Thomas den schnell schreibenden Literaten mit dem schöpferischen Dichter, der sich auf etwas Gegebenes – im Idealfalle die Wirklichkeit – stütze und dieses kreativ gestalte. Beeinflusst von Nietzsche entwickelte er eine Art kategorischen Ästhetizismus, der an den Künstler die Forderung stellte, sich über gesellschaftliche Ordnungen zu erheben, um dem Geist absolute Freiheit zu lassen. So verstanden war der Künstler unpolitisch und losgelöst von jeder sozialen Verantwortung. Gleichwohl empfand Thomas Mann, gerade im Vergleich zu seinem Bruder, einen Zwiespalt zwischen gesellschaftlicher Aufgabe und freiem, ungebundenem Schaffen.[29] Die Auseinandersetzung zwischen dem Rationalen und dem Wild-Schöpferischen, dem – in Nietzsches Terminologie – Apollinischen und Dionysischen durchzieht sein Werk, insbesondere seine 1912 erschienene Novelle »Der Tod in Venedig«.[30]

Treffend analysierte der Schriftsteller Erich Mühsam 1914 die verschiedenen Perspektiven der Brüder Mann. Thomas verarbeite seine Stoffe ästhetisch, Heinrich seine Themen emotional. Deshalb bevorzuge das bürgerliche Publikum Thomas, die Avantgarde jedoch Heinrich. Erich Mühsam, 1878 in Berlin geboren, aber wie die Brüder Mann in Lübeck aufgewachsen, war 1909 nach München gezogen und rasch zu einer zentralen Figur der Schwabinger Boheme geworden. Befreundet mit Heinrich Mann, erblickte auch Mühsam in der Literatur das Sprachrohr der Randgruppen. Schon 1903 hatte er, der homoerotische Neigungen verspürte, jedoch viele Beziehungen zu Frauen unterhielt, die Straffreiheit der Homosexualität gefordert. Mühsams literarisches Vorbild war Heinrich Mann. 1907 hatte er ihm »[v]orurteilsloseste Klugheit, die alles Menschliche versteht […], und sinnenhaftestes Genießen, das überall miterlebt«, attestiert. Deshalb sei Heinrich für ihn »viel bedeutender« als Thomas.[31]

Den unterschiedlichen Literaturkonzepten der Brüder Mann entsprach ihre Verankerung in verschiedenen Verlagen. Sie lassen sich als Autoren zweier Zeitschriften verorten: Thomas Mann als Publizist der »Neuen Rundschau« und Heinrich als Essayist der »Weißen Blätter« und Autor des Theodor Wolff-Verlages. In der zwischen 1894 und 1922 von Oskar Bie herausgegebenen »Neuen Rundschau«, dem Forum für moderne Literatur und Essayistik, erschienen Beiträge anerkannter Literaten. Neben Thomas Mann waren das Hermann Bahr, Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal. Die bei Fischer publizierte Zeitschrift galt als eines der wichtigsten literarischen Periodika der Moderne.[32] Die Monatsschrift »Die Weißen Blätter«, die von 1913 bis 1920 existierte, wurde zunächst von dem literaturaffinen, aus Siebenbürgen stammenden Erik-Ernst Schwabach und ab 1915 von dem elsässischen Schriftsteller René Schickele redigiert. Sie war ein wichtiges Sprachrohr des Expressionismus und avancierte während des Weltkriegs zum Publikationsorgan der europäischen Kriegsgegner. Sie erschien von 1913 bis 1915 beim Leipziger Verlag der Weißen Bücher, aus Zensurgründen ab 1916 dann in der Schweiz.[33]

Ein Dokument des Pazifismus war auch Erich Mühsams ab 1911 herausgegebene und von Heinrich Mann gelobte Monatszeitschrift »Kain«. Mit kriegsbedingter Unterbrechung existierte sie bis 1919. Mühsam rief zur Verbrüderung des Subproletariats auf und pries 1912 die Anarchie als Befreiung von Zwängen aller Art. In Schwabinger Künstlerkneipen diskutierte er oft mit Heinrich Mann und einem jungen Wiener Maler, dem Expressionisten Max Oppenheimer, genannt Mopp.[34] Die schon seit 1907 bestehende Freundschaft zwischen Oppenheimer und Heinrich Mann fand in zahlreichen Bildnissen des Schriftstellers ihren künstlerischen Ausdruck. Außerdem porträtierte Oppenheimer viele Künstler der Wiener Avantgarde. Die Hauptstadt der k. u. k. Monarchie war seinerzeit ein bedeutendes kulturelles Zentrum Mitteleuropas.[35]

GLITZERNDES WIEN

»Als Oskar Kokoschka begann, war die innere Stimme, auf die sich die Dichter des Expressionismus berufen, stark in ihm. […] Es geschah in Wien in der Nähe Klimts. Jeder Kompromiss mit dem Perversitätenbäcker schloss eine tragfähige Basis aus. Kokoschka durchschaute die mangelhaften Ausdrucksmittel Klimts und brach mit dem Kunstgewerbe des Dekorateurs.«[36]

Mit diesen Worten beschrieb der aus dem Banat stammende und seit 1890 in Berlin lebende Kunsthistoriker und Schriftsteller Julius Meier-Graefe 1924, wie sich der niederösterreichische Maler und Grafiker Oskar Kokoschka als künstlerischer Gegenpol zu Klimt positioniert hatte. Nach dem Besuch der Wiener Kunstgewerbeschule hatte Kokoschka, Jahrgang 1886, den Jugendstil abgelehnt und schon früh expressive Porträts gemalt, die guten Absatz fanden, vor allem in Deutschland. An der Wiener »Kunstschau« 1909 waren neben Arbeiten österreichischer Künstler auch Werke Vincent van Goghs und Edvard Munchs ausgestellt worden, zweier Künstler, die für die Entfaltung des Expressionismus und damit auch für Kokoschka von besonderer Bedeutung waren. Durch seine Bekanntschaft mit dem Berliner Literaten und Kunsthändler Georg Levin alias Herwarth Walden siedelte Kokoschka 1910 in die deutsche Hauptstadt über, wo er für Waldens expressionistische Kunstzeitschrift »Der Sturm« tätig war. Kokoschkas Drama »Mörder, Hoffnung der Frauen« gilt als eines der ersten expressionistischen Theaterstücke und entfachte wegen des erotischen Inhalts bei seiner Uraufführung 1909 einen Skandal. 1910 veröffentlichte der »Sturm« eine Federzeichnung, mit der Kokoschka sein Drama prägnant illustrierte, und 1911 stellte der einflussreiche Berliner Galerist Paul Cassirer erstmals Kokoschkas Werke aus.[37]

Gustav Klimt, Jahrgang 1862, war der Prototyp des Sezessionisten. Das glitzernde Ornament, der Manierismus und eine auffällige Ziseliertheit kennzeichneten sein Werk. Die Wiener »Secession« war eine 1897 als Abspaltung vom konservativen Wiener Künstlerhaus gegründete Vereinigung bildender Künstler Österreichs. Schon ein Jahr später publizierte sie ihre eigene Zeitschrift »Ver Sacrum«, Heiliger Frühling, die schnell zur bedeutendsten österreichischen Kunstzeitschrift avancierte und eine neue, ›heilige‹ Blüte der Kunst verkündete. Sie machte das Wiener Publikum mit den französischen Impressionisten bekannt. Zu den bekanntesten Größen, die im Wiener Kulturleben um 1900 beheimatet waren, gehörten die Dichter Hugo von Hofmannsthal, der Publizist Karl Kraus und der Komponist Arnold Schönberg. Schönberg verabscheute den Jugendstil, das Ornament und den Historismus und bevorzugte die strenge Form in Musik und Kunst, denn beides sollte seiner Ansicht nach nicht dekorieren, sondern wahr sein.[38] Als Komponist und Maler war Schönberg »eine der typischen Mehrfachbegabungen«[39] der österreichischen Hauptstadt. Im Februar 1913 wurden seine »Gurrelieder« bejubelt, die noch dem Schönklang der Spätromantik verhaftet waren, doch kurze Zeit später, im März desselben Jahres, löste er mit einem Konzert neuartiger Musik zeitgenössischer Komponisten einen Skandal aus.[40]

Schon 1907 und 1908 hatte Schönberg mit »Skandalkonzerten« einen musikalischen Paradigmenwechsel eingeleitet: Er hatte mit zentralen, allgemein anerkannten Grundsätzen gebrochen und sich vom abendländischen Verständnis von Harmonik distanziert, das seit etwa vierhundert Jahren Geltung hatte. Seine Tonarrangements waren nicht mehr nachvollziehbar, vielmehr folgten sie einer unbewussten Ordnung. Wenngleich sich Schönberg nicht als Umstürzler, sondern als Weiterentwickler sah, erkannte das Publikum, dass Schönberg sich von der Tonalität verabschiedet hatte.[41] Allerdings gab es auch nichtmusikalische Gründe, sich gegen eine Musikrichtung zu wehren, deren Ordnung schwer verständlich war. Hier ist zum einen der Antisemitismus jener Jahre zu nennen, zum anderen aber auch die Angst um die alte Ordnung. Eine Umschichtung der Werte lag in der Luft. »Man lernte plötzlich ein neues Sehen und gleichzeitig in der Musik neue Rhythmen und Tonfarben durch Mussorgski, Debussy, Strauss und Schönberg«, so Stefan Zweig.[42]

Dass sich in der Musikwelt tatsächlich etwas tiefgreifend Neues ankündigte, illustrierte auch das im Mai 1913 uraufgeführte Ballett »Le Sacre du Printemps« (»Das Frühlingsopfer«), das Igor Strawinsky für die seit 1909 in Paris auftretende Compagnie »Ballets Russes« unter Sergei Djagilew komponiert hatte. Die außergewöhnliche Klangstruktur dieses Balletts, dessen vollständiger Titel »Le sacre du printemps. Tableaux de la Russie païenne en deux parties« bzw. »Die Frühlingsweihe. Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen« lautete, zeichnete sich durch zahlreiche Dissonanzen und die Übereinanderschichtung verschiedener Rhythmen (Polyrhythmik) aus.[43] ›Tout Paris‹ hatte sich im Théâtre des Champs-Élysées versammelt, aber kaum hob sich der Vorhang, brach ein Proteststurm los. Nicht nur die als Lärm empfundene Musik, sondern auch Waslaw Nijinskis primitiv wirkende Choreografie sowie sein neuartiger, geradezu erotischer Tanz verstörten das Publikum, sodass diese Uraufführung als einer der größten Skandale in die Musik- und Tanzgeschichte einging. Ein Kritiker sprach sogar vom »Massacre du printemps«.[44]

In ganz Europa war Sexualität Tabu und Obsession zugleich. Mittels der von ihm begründeten Psychoanalyse untersuchte der Wiener Arzt Siegmund Freud die verschiedenen Ebenen der menschlichen Persönlichkeit. Das Leben in der Doppelmonarchie, einem Reich konkurrierender Idiome, Kulturen, Ethnien und Lebensweisen, erleichterte es ihm, seine Aufmerksamkeit von sozialen Konventionen auf verborgene handlungsleitende Faktoren zu lenken.

Mit 50 Millionen Einwohnern war Österreich-Ungarn das nach Deutschland bevölkerungsreichste mitteleuropäische Land. De facto handelte es sich um einen Verbund habsburgischer Ländereien, deren Nationalitäten – Deutsche, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Ruthenen (Ukrainer), Slowenen, Serben, Kroaten, Italiener, Bosnier und Rumänen – miteinander konkurrierten.[45] Die nationale Vielfalt spiegelte sich auch in der parteipolitischen Auseinandersetzung wider. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts konkurrierten vor allem zwei große Parteien miteinander, die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten. 1911 wurden die Sozialdemokraten stärkste Fraktion, was politisch jedoch bedeutungslos war, weil die Regierung vom Kaiser ernannt wurde.[46]

Die noch in der Retrospektive beeindruckende kulturelle Vielfalt des habsburgischen Reiches zeigte sich neben der Musik auch im literarischen Schaffen. Nirgendwo sonst lagen »Lebenslust und Ressentiment, Weltoffenheit und Intoleranz, Erotik und Morbidität« so nah beieinander wie in Wien. Schriftsteller und Dichter fanden unentwegt Anregungen. Nervosität galt als Kennzeichen der Zeit. »Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten«, spottete der Wiener Lyriker und Dramatiker Hugo von Hofmannsthal. Beeinflusst von der Psychoanalyse Sigmund Freuds entdeckten die Literaten das Unbewusste. Zum Wiener Begriffsarsenal des Fin de Siècle gehörten »Décadence, Synästhesie, Dilettantismus, Neurotiker, Symbolismus«. Hermann Bahr, als Schriftsteller, Theoretiker und Vermittler zur internationalen Kunstszene eine zentrale Figur im Wiener Literaturzirkel, sprach von einer neuen »Romantik der Nerven«. Zu den bedeutendsten Vertretern der literarischen Moderne zählten der 1862 geborene Arthur Schnitzler und der 12 Jahre jüngere Hugo von Hofmannsthal. Ihre Auseinandersetzung mit dem 1872 geborenen Dramatiker, Publizisten und Satiriker Karl Kraus zeugt von einem scharfen Kampf um die Deutungshoheit im Literaturbetrieb. Kraus, seit 1899 Herausgeber der Zeitschrift »Die Fackel«, positionierte sich als Gegner des Kreises um Bahr, Schnitzler und Hofmannsthal und rechnete scharf mit der »Kaffeehausdekadenzmoderne« ab, eine Anspielung auf den Lebensstil der literarischen Boheme.[47]

Lange Zeit war Wien die kulturelle Hauptstadt des deutschsprachigen Raumes gewesen. Im 1870 gegründeten Deutschen Kaiserreich erklomm dann München mit seinen Malern und Dichtern, Theatern und der Oper die Position als Zentrum der Kunst. Auch Dresden mit seiner Oper war weiterhin von Bedeutung, und selbst die kleinen Residenzstädte glänzten mit eigenen Theatern und Museen. Mit dem rapiden wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands seit der Jahrhundertwende wurde die Hauptstadt des jungen Reiches jedoch immer wichtiger. Gerade die Tatsache, erinnerte sich Stefan Zweig, dass in Berlin »keine richtige Tradition, keine jahrhundertealte Kultur vorhanden war, lockte die Jugend zum Versuch an. Denn Tradition bedeutet immer auch Hemmung.« In Berlin »suchte man das Neue. So war es nur natürlich, dass die jungen Menschen aus dem ganzen Reiche und sogar aus Österreich sich nach Berlin drängten, und die Erfolge gaben den Begabten unter ihnen recht.«[48] Einer der begabtesten Wiener, der in Berlin reüssierte, war der 1873 als Maximilian Goldmann geborene Max Reinhardt. 1905 gründete er dort die Spielschule Berlin und leitete von 1905 bis 1930 das Deutsche Theater. Wie sah es nun also aus in Berlin?

PROTZENDES BERLIN

Die erste Dekade nach der Jahrhundertwende war durch Frieden und Wohlstand gekennzeichnet. Das Deutsche Reich erfuhr einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg: Die Arbeitslosenquote war gering, und die Bevölkerung wuchs stetig. 1910 hatte das Reich 65 Millionen Einwohner. Die Zeit von 1895 bis 1913 gilt als erstes deutsches Wirtschaftswunder, durch das Deutschland neben Großbritannien und den USA zu den führenden Industrienationen aufstieg. Zudem war Deutschland mit Besitzungen in Afrika, China und der Südsee die drittgrößte europäische Kolonialmacht und besaß die zweitstärkste Flotte der Welt. Nach der Jahrhundertwende entwickelte sich auch die Mobilität rasant. Im Jahre 1904 erwarb der Deutsche Kaiser – seit 1888 regierte Wilhelm II. – sein erstes Automobil und sollte bis 1914 einen Fuhrpark von etwa 25 Kraftwagen besitzen. Neuheiten gab es auch beim Luftverkehr: Während die Entwicklung des Flugzeugs voranschritt, revolutionierten ab 1909 zunächst die nach ihrem Erfinder Ferdinand Graf von Zeppelin benannten Luftschiffe die zivile Luftfahrt.[49]

Berlin, die Residenzstadt der preußischen Könige und seit 1871 Hauptstadt des neuen Deutschen Reiches, entwickelte sich besonders rasant. Beständig wurde neu-, an- und umgebaut. Dabei blieb die Architektur jedoch überwiegend dem Alten verhaftet. Modern waren vor allem die neuen Bahnhofshallen oder Industriebauten, wie beispielsweise die 1908/09 von Peter Behrens erbaute Turbinenhalle der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG). Bei offiziellen Repräsentationsbauten herrschte der sogenannte Historismus vor, ein eklektizistischer Baustil, der – zugespitzt formuliert – Ämter meist in neugotischer Klinkerbauweise errichtete, Museen und Justizbauten in neoklassizistischer Art und Museen und Opern wiederum im Stil des Neobarock. Der nach der Zeitschrift »Jugend« benannte Stil stellte eine bewusste ästhetische Abkehr vom Baustil der Gründerzeit, der Dekade nach 1871, dar. Das städtische Bürgertum lebte im noblen Westend und urlaubte in den »Kaiserbädern« an der Ostsee: Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin. Die Anfänge des Massentourismus entstanden in Form des Badeurlaubs: 1911 verzeichnete allein Heringsdorf über 10 000 Badegäste. 1902 wurde die erste Strecke der Untergrundbahn, kurz U-Bahn genannt, feierlich eröffnet. Aber auch der oberirdische Verkehr nahm zu. Die Straßen waren voller Pferdefuhrwerke, Autos und Straßenbahnen. Der seit 1911 in Berlin lebende Maler Ernst Ludwig Kirchner hat das faszinierende bunte Treiben auf Berlins zentralem Potsdamer Platz in vielen Gemälden festgehalten.[50]

Das deutsche Wissenschaftssystem genoss weltweit höchstes Ansehen. Die 1911 in Berlin auf Anregung des einfallsreichen Wissenschaftsmanagers Adolf von Harnack durch Wilhelm II. gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften ermöglichte Forscherkarrieren auch außerhalb der Universität. Davon profitierten insbesondere Konvertiten und jüdische Wissenschaftler wie Fritz Haber und Albert Einstein. Zwar waren ihnen Professorenstellen in Preußen versagt, aber sie übernahmen 1911 und 1917 die neuen Kaiser-Wilhelm-Institute für Chemie bzw. Physik. Zwischen 1901 und 1918 erhielten 21 Deutsche den Nobelpreis, darunter der Schriftsteller Gerhart Hauptmann (1912) sowie der Chemiker Fritz Haber (1918). Auch der literarisch-publizistische Markt gedieh. Neben dem Naturalisten Hauptmann, Jahrgang 1862, gehörte der ein Jahr jüngere Richard Dehmel zu den bedeutendsten Schriftstellern des Kaiserreiches. Die ungehemmte Erotik seiner Lyrik beeindruckte die Jugend und inspirierte Komponisten wie Gustav Mahler und Richard Strauss. Neben der Bildungs- und Unterhaltungsliteratur sowie einer eher elitären Kunstliteratur bildete sich ein Markt für Massenliteratur heraus. Der Kommerzialisierung des literarischen Feldes widerstanden auch angesehene Schriftsteller nicht. Obwohl beispielsweise Thomas Mann das Werk seines Bruders gering schätzte, beneidete er ihn um seine Verkaufserfolge.[51]

Die glanzvolle kulturelle Entwicklung war aber nur eine Seite des Reichs. Die Kehrseite der Medaille beinhaltete markante Defizite in der politisch-sozialen Entwicklung. Der Reformbedarf des Reiches war groß, so gab es in Preußen und anderen deutschen Staaten restriktive Klassenwahlrechte, welche die Arbeiter benachteiligten. Außerdem war der Zuschnitt der Wahlkreise für die SPD nachteilig, und die politische Wirkung des demokratischen Reichstagswahlrechts wurde dadurch begrenzt, dass der Reichskanzler nicht dem Parlament, sondern dem Kaiser verantwortlich war. Somit beruhte die Macht des Reichstags vor allem auf seinem Budgetrecht. Der Ausschluss der Parteien von einer verantwortlichen Mitbestimmung führte dazu, dass sie in dogmatischen Streitereien verharrten, was eine parteiübergreifende Zusammenarbeit – zum Beispiel der Sozialdemokraten mit der katholischen Zentrumspartei oder der Fortschrittlichen Volkspartei – erschwerte. Obwohl konservative Kreise, Unternehmer und die Regierung die Sozialdemokraten als Klassen- und Reichsfeinde diskriminierten, war die SPD bei den Reichstagswahlen 1912 stärkste Partei geworden. Doch trotz dieses Erfolgs gelang es ihr kaum, Wähler außerhalb des Arbeitermilieus zu überzeugen. Sie hielt am Marxismus fest, war aber »negativ« in das politische System integriert. Eine vorrevolutionäre Situation bestand in Deutschland nicht, auch wenn die Agitation von rechts wie links ein anderes Bild zeichnete.[52] Erich Mühsam hatte die Rolle der SPD schon 1907 in seinem Gedicht »Der Revoluzzer« karikiert, das er der Sozialdemokratie widmete:

War einmal ein Revoluzzer,

im Zivilstand Lampenputzer;

ging im Revoluzzerschritt

mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: Ich revolüzze!

Und die Revoluzzermütze

schob er auf das linke Ohr,

kam sich höchst gefährlich vor.

[…]

Doch die Revoluzzer lachten,

und die Gaslaternen krachten,

und der Lampenputzer schlich

fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben

und hat dort ein Buch geschrieben:

nämlich, wie man revoluzzt

und dabei doch Lampen putzt.[53]

Die politische Kultur war durch eine ideologische Polarisierung gekennzeichnet. Dem transnationalen Sozialismus der Arbeiterschaft stand ein übersteigerter bürgerlicher Nationalismus gegenüber. Die Diskriminierung nationaler Minderheiten korrespondierte mit pangermanistischen Vorstellungen. Einflussreiche Agitationsverbände wie der »Flottenverein« und der »Alldeutsche Verband« mit Tausenden Mitgliedern schürten nationalistische und xenophobe Stimmungen.[54] Neben dem Nationalismus ist auch die starke Stellung des preußischen Militärs zu nennen, die zuletzt 1913 in der »Zabern-Affäre«, einer Überreaktion der in Elsass-Lothringen stationierten Truppen auf die Beleidigung eines Offiziers, ihren problematischen Ausdruck fand. Auch die »Daily-Telegraph-Affäre« von 1908 gehörte zu den innenpolitischen Krisen, die den politischen Reformstau verdeutlichten. In einem veröffentlichten Gespräch des Kaisers mit einem englischen Obristen hatte sich Wilhelm II. unter anderem probritisch geäußert, was in der überwiegend englandfeindlichen deutschen Öffentlichkeit für Empörung und Kritik an der verfassungsmäßig starken Stellung des Monarchen sorgte.[55] Schon den Zeitgenossen war die Doppelgesichtigkeit des Kaiserreiches bewusst, das fortschrittliche Elemente ebenso aufwies wie rückständige und deshalb bis heute kontrovers diskutiert wird.[56]

Auch außenpolitische Krisen prägten die Wahrnehmung der Künstler und Dichter, zumal sich die Mächtekonstellation zu Ungunsten Deutschlands verschob. Dem »Dreibund« zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien stand die »Entente cordiale« aus Großbritannien, Frankreich und Russland gegenüber. In Deutschland fühlte man sich eingekreist, hatte aber mit der eigenen Politik ungewollt zur Annäherung der späteren Kriegsgegner beigetragen. In drei großen Krisen und zwei Balkankriegen trafen die Machtinteressen der europäischen Großmächte teils mittel-, teils unmittelbar aufeinander. Die für Deutschland unbefriedigenden Ergebnisse der beiden Marokkokrisen von 1905/06 und 1911, in denen die kolonialen Ambitionen Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands aufeinanderprallten, zeigten, wie isoliert das Reich war. Allerdings ist hervorzuheben, dass beide Krisen friedlich beigelegt werden konnten. Auch als Österreich-Ungarn 1908 durch die Annexion Bosniens eine Krise provozierte, wurde ein Waffengang vermieden. Bis 1914 gab es keine kriegerische Auseinandersetzung unter den europäischen Großmächten, wohl aber zwei lokal begrenzte Kriege auf dem Balkan 1912/13.[57] Bis zum Juli 1914 lebten die Deutschen mit einer latenten Kriegsgefahr. Dass die diversen Krisen künstlerisch verarbeitet wurden, veranschaulicht Franz Marcs 1913 im Rahmen seiner Tierbilderserie gemaltes Gemälde »Die Wölfe (Balkankrieg)«.[58] Auch der 1887 im schlesischen Hirschberg geborene Georg Heym, dessen Lyrik 1910 den Beginn des literarischen Expressionismus markierte, reflektierte das allgemeine Krisenbewusstsein in seinem 1911 entstandenen Gedicht »Der Krieg«:

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,

aufgestanden unten aus Gewölben tief.

In der Dämmrung steht er, groß und unbekannt,

Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,

Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit.

Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.

Es wird still. Sie sehen sich um. Und keiner weiß.

[…]

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,

Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.

Aber riesig über glühnden Trümmern steht,

Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht.

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,

In des toten Dunkels kalten Wüstenein,

Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,

Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.«[59]

APOKALYPTISCHE AVANTGARDE

Die Dekade seit der Jahrhundertwende war durch widerstreitende Vorstellungen und ein breites Spektrum zivilisationskritischer Meinungen gekennzeichnet. Seit 1900 beherrschte ein Gefühl des Niedergangs von Zivilisation und Kultur das Denken vieler Menschen. Neue Wissenschaftszweige wie die Soziologie, die Kriminologie und die Psychoanalyse verstärkten das Krisenbewusstsein, weil ihre Forschungsfelder – Kriminalität, Sexualität, Prostitution und Neurosen – als Ausdruck gesellschaftlicher Dekadenz galten. Vor dem Hintergrund der Schriften Charles Darwins, Arthur de Gobineaus, Paul de Lagardes und Houston Steward Chamberlains glaubte man, dass auch die Nationen miteinander im Überlebenskampf stünden und sich die stärkere, gesündere durchsetze. Der vermeintlichen Degeneration des Volkes wollte man mit Rassehygiene und Eugenik begegnen.[60] Nervosität war ein Charakteristikum der Zeit. Schon 1878 hatte Friedrich Nietzsche, einer der einflussreichsten Denker, konstatiert: »Die Summe der Empfindungen, Kenntniße, Erfahrungen, also die ganze Last der Kultur, ist so groß geworden, daß eine Überreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist, ja daß die kultivierten Klassen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer größeren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist.«[61] Der kulturelle Niedergang galt als universales Phänomen der Zeit. Georg Trakl, 1887 in Salzburg geboren und der Hauptvertreter des österreichischen Frühexpressionismus, hat dies 1913 in seinem Gedicht »Verfall« ausgedrückt:

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,

Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,

Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,

Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten

Träum ich nach ihren helleren Geschicken

Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.

So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.

Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.

Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen

Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,

Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.[62]

Ein herausragendes Merkmal der Epoche ist das Nebeneinander von Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus, das auch in der Kunst existierte. Gerade die Befürworter moderner Stilentwicklungen und die Avantgarde stimmten in den Kulturpessimismus ein. In ihm, so könnte man sagen, überschnitten sich mitunter die Avantgarde und die Avantgardekritiker. Die auf die Industrialisierung folgende Elektrifizierung und der zunehmende Verkehr vermittelten ein Gefühl des Aufbruchs und der Beschleunigung. Zugleich wurde die Euphorie durch Naturkatastrophen gebremst, wie zum Beispiel die Erdbeben von San Francisco 1906 und Messina 1908, sowie durch technische Desaster wie den Untergang der Titanic 1912. Das waren tragische Vorfälle, aber zugleich exzellente Sujets für die Kunst! Max Beckmann hielt seine Inspiration im Tagebuch fest: »Ich las dann noch in den Zeitungen weiteres über das schreckliche Unglück in Messina, wobei mir bei der Beschreibung eines Arztes, und zwar bei der Stelle, wo halbnackte losgelassene Sträflinge in den furchtbaren Getümmel über andere Menschen […] herfallen, die Idee zu einem neuen Bilde kam.« Der 1884 in Leipzig geborene Maler, der seit 1907 mit seiner Frau in Berlin lebte, lehnte die radikale Abstraktion ab und suchte nach einer modernen Form der figurativen Malerei. 1909 vollendete er die großformatige »Szene aus dem Untergang von Messina«. Die Darstellung zeigt den Menschen als Täter und Opfer zugleich. Bedrohung, Angst und Gewalt symbolisieren nicht nur die Brutalität der Moderne, sondern deuten darauf hin, dass Verbrechen und entfesselte Triebe die Künstler durchaus auch faszinierten. 1912 vollendete Beckmann ein weiteres dramatisches Katastrophenszenario: »Der Untergang der Titanic«.[63]

Allgemein wurde die Vergänglichkeit menschlicher Errungenschaften auf gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungen übertragen und führte zu einer kulturpessimistischen Grundhaltung.[64] Sensationen wie die Wiederentdeckung des alle 76 Jahre wiederkehrenden Halleyschen Kometen im Jahre 1910, der die Menschen in große Panik versetzte, inspirierten Hans Davidsohn 1911 zu einem kurzen, grotesken Gedicht, das ihn unter dem Namen Jakob van Hoddis als expressionistischen Lyriker bekannt machte. Es hieß »Weltende« und zeigte den Menschen als Schlauberger – so die Bedeutung des in der ersten Gedichtzeile erwähnten »Spitzkopfes« –, der offenbar die Kontrolle über Natur und Technik verloren hat. In Hoddis’ zerbrechender Weltordnung spiegelten sich Beschleunigung und Reizüberflutung als Charakteristika der Zeit:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

In allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.[65]

Die große Bedeutung dieses damals viel zitierten Gedichts hat der Dichter und spätere sozialistische Kulturpolitiker Johannes R. Becher rückblickend wie folgt beschrieben: »Diese zwei Strophen, oh diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns empor gehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wußten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns.«[66] Der in Hoddis’ Gedicht erwähnte Begriff »Sturm« ist möglicherweise auch eine Reminiszenz an die 1910 gegründete gleichnamige expressionistische Wochenschrift des Berliner Galeristen Herwarth Walden. Diese trug dazu bei, avantgardistische Künstler wie August Macke, Franz Marc, Ludwig Meidner und Wilhelm Morgner bekannt zu machen. Man traf sich in Waldens Galerie in der Tiergartenstraße, wo sich Künstler, Literaten und Musiker kennenlernten, Futurismus, Kubismus und andere neue Entwicklungen diskutierten und sich inspirieren ließen. »Expressionist zu sein war eben mehr als eine Frage des künstlerischen Stils, es war eine bestimmte profilierte Form des Lebens und Denkens überhaupt.«[67] Beeinflusst von Franz Marc, malte August Macke 1911 das für ihn untypische Bild »Der Sturm«, das mit dunklen Farbtönen und einem kräftigen Rot eine unheimliche Dynamik, zugleich aber auch eine diffuse Untergangsstimmung vermittelt.[68]

1912 präsentierte Walden in seiner Galerie die italienischen Futuristen Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini, die in ihren Werken dynamische Elemente mit der statischen kubistischen Form verbanden und so Bewegung suggerierten. Unter den Eröffnungsgästen war auch Filippo Tommaso Marinetti, der Begründer des Futurismus und Verfasser des einflussreichen »futuristischen Manifests« von 1909. Es stellte einen Tabubruch dar und provozierte dadurch, dass es Jugend, Gewalt, Aggressivität, Geschwindigkeit und Krieg verherrlichte. Krieg sei »die einzige Hygiene der Welt«, und es gelte, die »Liebe zur Gefahr« zu besingen. Im Bereich der Literatur setzten »befreite Worte« die Syntax außer Kraft. Buchstaben sowie Wörter in unterschiedlicher Größe und in unterschiedlichen Schriften bildeten eine Art Sprachcollage. Inspiriert von den Futuristen, wurden Manifeste zum Medium der Avantgarde.[69]

Das Unbehagen an der Kultur führte zu einer dezidierten Modernitätskritik. Statt der individualistischen Gesellschaft erstrebte man eine tiefere Gemeinschaft und suchte ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Materialismus, Kommerzialisierung und Verweltlichung galten als negative Begleiterscheinungen der Moderne, deren Inbegriff die Großstadt war. Laut, hektisch, überfüllt, schmutzig und unhygienisch verkörperte sie mit ihren Warenhäusern und Amüsiertempeln, dem Straßenverkehr und den Menschenmassen das Gegenteil all dessen, was als gesund, rein und fromm galt. Ernst Ludwig Kirchner vollendete im Sommer 1914 sein monumentales Gemälde »Potsdamer Platz«, das den Großstadtmoloch eindrücklich als grellbunte Straßenszene mit Passanten und Prostituierten darstellte. Massenproduktion, Massenkultur und Massenmedien repräsentierten die Seelenlosigkeit des Großstadtlebens, das die Künstler gleichermaßen abstieß und faszinierte.[70] Georg Heym hatte »Die Stadt« drei Jahre zuvor, 1911, wie folgt beschrieben:

Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein

Zerreißet vor des Mondes Untergang.

Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang

Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein.

Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt,

Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.

Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein

Eintönig kommt heraus in Stille matt.

Gebären, Tod, gewirktes Einerlei,

Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei,

Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei.

Und Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand,

Die drohn im Weiten mit gezückter Hand

Und scheinen hoch von dunkler Wolkenwand.[71]

Gegenbewegungen, die alsbald entstanden, setzten der Großstadt das gesunde Landleben entgegen und machten es sich zum Ziel, Zivilisationsschäden durch Naturnähe zu heilen. Zu ihnen gehörten die Reformpädagogik, die Lebensreform- und die Freikörperkultur-Bewegung. Auch die Jugendbewegung setzte dem industriell geprägten städtischen Dasein das Naturerleben entgegen. Die örtliche Einheit von Wohnen und Arbeit sowie Kultur und Bildung war das Ideal der Gartenstadt Hellerau, die 1909 in Dresden entstand. Die künstlerische Avantgarde teilte die Vorliebe für die Natur und gründete schon im ausgehenden 19. Jahrhundert beschauliche Künstlerkolonien wie Ahrenshoop und Worpswede sowie in den Vorkriegsjahren Murnau. Zahllose Landschaftsbilder illustrieren die Stadtflucht der Künstler.[72]