1924 - Gerhard Jelinek - E-Book

1924 E-Book

Gerhard Jelinek

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Beschreibung

Flapper Girls & Putschversuche Die Welt vergisst eine Pandemie, die Spanische Grippe hat ihren Schrecken verloren, eine Hyperinflation wird gestoppt. Der Schilling und die Rentenmark legen das Fundament für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Das "kurze Jahrzehnt" der aufregenden 1920er beginnt. Sechs Jahre nach dem Ersten Weltkrieg gewöhnen sich die Menschen Europas an neue Wirklichkeiten: Tempo und Technik. Flugzeuge umrunden erstmals die Erde. Sie brauchen dafür 175 Tage. Der erste Zeppelin fliegt über den Atlantik. Berlin wird Zentrum der künstlerischen Avantgarde, die moderne Frau mit Bubikopf und kurzen Röcken genießt ungeahnte sexuelle Freiheiten. Das Radio beginnt seinen Siegeszug. Neue Töne: Charleston, Swing und Shimmy. Wird jetzt alles gut? Blitze am Horizont. Adolf Hitler wird aus der Haft entlassen, Stalin gelangt an die Macht, Mussolini lässt seine Faschisten aufmarschieren, eine Spekulationsblase platzt, Banken stürzen, Attentate. Gerhard Jelinek führt uns zum Anfang der rasanten, goldenen 1920er – zwischen Hoffnung und aufziehenden Katastrophen. Eine Rückschau zum Anschnallen! Aus dem Inhalt: 22. Jänner – Die erste Opernredoute nach dem Krieg 2. Februar – Thomas Mann und die Aufnahmsprüfung in die Geisterwelt 8. Februar – Eine Löwin hält sich nicht ans Drehbuch 19. Februar – Zeitungskrieg und Revolverpresse 3. April – England zählt die Hundertjährigen 12. April – Alice Schalek reist nach Japan und kämpft für Frauenrechte 1. Juni – Das Revolverattentat auf Bundeskanzler Seipel 9. Juli – Die Biene Maja fliegt ins Kino 3. August – Roald Amundsen meldet Bankrott an 4. August – F. Scott Fitzgerald und das Phänomen der Flapper Girls 15. September – Die Sozialdemokratie bäckt das tägliche Brot 1. Oktober – "Hallo, hallo, hier Radio Wien auf Welle 530!" 10. Dezember – Das Automobil beginnt die Welt zu verändern

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GERHARD JELINEK

1924

SCHNELLER,FRECHER, WILDER

DER BEGINN DER FABELHAFTEN ZWANZIGER

Mit 32 Abbildungen

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Der Umwelt zuliebe #ohnefolie

© 2023 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Satz: Anna Haerdtl und Barbara Reiter mit Silvia Fuchs und Andrea Weingrill, Bureau A/O

Umschlagmotiv: © mauritius images/Superstock/Sydney Morning Herald

Lektorat: Gudrun Likar

ISBN 978-3-99050-253-2

eISBN 978-3-903441-18-7

INHALT

Jetzt wird alles gut. 1924 · Vorwort

2. JÄNNER · Die erste Banknote der Österreichischen Nationalbank

3. JÄNNER · Anhaltender starker Frost

22. JÄNNER · Die erste Opernredoute nach dem Krieg

2. FEBRUAR · Thomas Mann und die Aufnahmsprüfung in die Geisterwelt

5. FEBRUAR · Gold in Chamonix

8. FEBRUAR · Eine Löwin hält sich nicht ans Drehbuch

19. FEBRUAR · Zeitungskrieg und Revolverpresse

28. FEBRUAR · Das Silberne Zeitalter der Operette

13. MÄRZ · In Wien platzt eine ungeheure Spekulationsblase

25. MÄRZ · Griechenland ohne König, Türkei ohne Kalifen

1. APRIL · In München endet der Hochverratsprozess gegen Hitler

2. APRIL · Max Reinhardt eröffnet das Theater in der Josefstadt

3. APRIL · England zählt die Hundertjährigen

9. APRIL · Hekaphon gegen SC Donaustadt

10. APRIL · Die Reichsgräfin Triangi

12. APRIL · Alice Schalek reist nach Japan und kämpft für Frauenrechte

13. APRIL · Die Glocken kehren aus dem Krieg heim

14. APRIL · Die Aprilnarretei des Wetters

19. APRIL · Österreich erkennt die Sowjetunion an

28. APRIL · Karl Kraus träumt zu seinem 50. Geburtstag

1. MAI · Boxweltmeister Carpentiers Einzug in Wien

7. MAI · Der Streit um unsere Zigarren

20. MAI · Marianne Hainisch und die Einführung des Muttertags

28. MAI · Jedermann bleibt ungehört

1. JUNI · Das Revolverattentat auf Bundeskanzler Seipel

11. JUNI · Die Affäre Sternberg–Herberstein

16. JUNI · Mit Abfallsammelkörben gegen die Müllplage

23. JUNI · Die verschwundenen Münzen

24. JUNI · Eugenie Schwarzwald fährt nach Gloggnitz zum Begräbnis

26. JUNI · Zusammenbruch der Depositenbank

28. JUNI · Gedenken an den Doppelmord von Sarajevo

3. JULI · Gebaute Ideologie

6. JULI · Mit Ferienbeginn kommt der Sommer

7. JULI · Schilderung eines unbeteiligten Augenzeugen

9. JULI · Die Biene Maja fliegt ins Kino

10. JULI · Fünf Mal Gold für einen Finnen bei den Olympischen Sommerspielen

13. JULI · Der erste Flug um die Welt

15. JULI · Rapid Wien leistet in Salzburg Entwicklungshilfe

3. AUGUST · Roald Amundsen meldet Bankrott an

4. AUGUST · F. Scott Fitzgerald und das Phänomen der Flapper Girls

5. AUGUST · Ludwig Wittgenstein bewirbt sich um eine Stelle als Lehrer

27. AUGUST · Außerirdische suchen Kontakt mit der Erde

13. SEPTEMBER · Arnold Schönberg feiert seinen 50. Geburtstag

15. SEPTEMBER · Die Sozialdemokratie bäckt das tägliche Brot

20. SEPTEMBER · Fußball wird in Österreich zum Massengeschäft

1. OKTOBER · „Hallo, hallo, hier Radio Wien auf Welle 530!“

12. OKTOBER · Das deutsche Luftschiff Z.R. III hebt Richtung New York ab

26. OKTOBER · Baronin Marie Fould-Springer stiftet einen Preis

3. NOVEMBER · Richard Strauss verlässt die Direktion der Wiener Staatsoper

8. NOVEMBER · Die Eisenbahner streiken, eine Regierung stürzt

30. NOVEMBER · Die Arbeitslosigkeit steigt wieder

3. DEZEMBER · Deutschland wählt zum zweiten Mal in einem Jahr den Reichstag

4. DEZEMBER · Ein Schock für die zionistische Bewegung

10. DEZEMBER · Das Automobil beginnt die Welt zu verändern

11. DEZEMBER · Rudolf Wacker malt eine kleine Schweinerei

19. DEZEMBER · Fritz Haarmann wird 24 Mal zum Tode verurteilt

20. DEZEMBER · Alfred Lechner löst eine allfällige Energiekrise

27. DEZEMBER · Dem Rathaus geht ein Licht auf

29. DEZEMBER · Ein Menschenfresser wird verhaftet

31. DEZEMBER · Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler plaudern zu Silvester

Quellenverzeichnis

Namenregister

Der Autor

Bildnachweis

VORWORT

JETZT WIRD ALLES GUT. 1924.

Die Welt vergisst eine Pandemie. Die Spanische Grippe hat nach mehreren Wellen ihren tödlichen Schrecken verloren.

Eine Hyperinflation ebbt ab. Der an den Goldwert gebundene Schilling löst in Österreich die alte Krone ab. Wegen seiner Stabilität wird er bald zum „Alpendollar“.

In Deutschland werden auf den Geldscheinen zwölf Nullen gestrichen. Eine „Rentenmark“ ersetzt eine Billion Mark. Zur Sicherung der Währung werden sämtliche Grundstücke auf deutschem Boden verpfändet. Nun kann die Reichsmark eingeführt werden, die etwa einem Vierteldollar entspricht. Die Währungsreform ist bei den verfeindeten Parteien höchst umstritten.

Zehn Jahre nach Beginn des Weltkriegs finden sich Europas Völker langsam mit den neuen Wirklichkeiten ab. Amerika ist die einzige Supermacht. Eine zweite industrielle Revolution und stürmische Fortschritte in der Technik kurbeln die Wirtschaft an. Die Autoindustrie wird zum Motor des Wachstums. Mit der explosionsartigen Verbreitung des Radios und einer boomenden Filmindustrie entsteht eine neue Kultur für Millionen. Die Wirtschaft wächst in den USA jährlich um sechs Prozent: Vollbeschäftigung. Mit 1924 beginnen fünf „goldene Jahre“. Krieg, Revolution, Seuche, Inflation – das war einmal. Jetzt wird alles gut. Hoffnung statt Verzweiflung. Auch nach Europa schwappt die Nachkriegskonjunktur über, schwächer zwar, aber doch.

Stefan Zweig, der österreichische Schriftsteller, dessen Romanporträts in den 1920er-Jahren in Massenauflage gedruckt werden, schreibt in seinem Lebensrückblick Die Welt von Gestern: „Es war … für Europa eine verhältnismäßig ruhige Zeit, dieses Jahrzehnt von 1924 bis 1933, ehe jener eine Mensch unsere Welt zerstörte. Gerade weil sie an Beunruhigungen so schwer gelitten, nahm unsere Generation den relativen Frieden als unverhofftes Geschenk. Wir alle hatten das Gefühl, man müsse nachholen, was die schlimmen Jahre des Kriegs und des Nachkriegs aus unserem Leben an Glück, an Freiheit, an geistiger Konzentration gestohlen; man arbeitete mehr und doch entlasteter, man wanderte, man versuchte, man entdeckte sich wieder Europa, die Welt. Nie sind die Menschen so viel gereist wie in diesen Jahren – war es die Ungeduld der jungen Leute, hastig gutzumachen, was sie versäumt in ihrem gegenseitigen Abgesperrtsein? Was es vielleicht ein dunkles Vorgefühl, man müsse noch rechtzeitig ausbrechen aus der Enge, ehe die Sperre wieder von neuem begann?“

Mit dem amerikanischen Dawes-Plan gelingt vorerst eine Stabilisierung der deutschen Wirtschaft auf Kredit. Bei den Berliner Reichstagswahlen Ende 1924 verlieren die radikalen Ränder, aber die gesellschaftliche Mitte bleibt dennoch gefährlich uneins.

Nach der Depression ist vor der Depression. Von 1924 bis 1929 geht es wirtschaftlich zunächst aufwärts. Selbst in den „Verliererstaaten“ Deutschland und Österreich gelingt eine durch große Opfer (und amerikanische Kredite) erkaufte Stabilisierung. Deutschlands Industrie erholt sich, die Arbeitslosigkeit sinkt binnen weniger Monate. Selbst Österreichs Wirtschaft erholt sich auf niedrigem Niveau. Der Priester Ignaz Seipel amtiert als christlichsozialer Bundeskanzler einer „Bürgerblock“-Koalition mit deutschnationalen Parteien und lässt sich als „Retter Österreichs“ plakatieren.

In Wien beginnen sich die Menschen langsam an die neue, die unbedeutende Rolle im europäischen Mächtespiel zu gewöhnen: Statt k. u. k. Glanz Bittsteller bei den Siegermächten. Der Völkerbund in Genf stellt die Republik unter Kuratel. Die einstige kaiserliche Metropole wird zum gesellschaftspolitischen Experimentierfeld einer selbstbewussten Sozialdemokratie. Zwischen dem „Roten Wien“ und den katholisch-konservativen Bundesländern vertieft sich der Graben. Neben dem alten Adel versucht eine kleine Schicht von Neureichen auf dem gesellschaftlichen Parkett zu glänzen. Die teuren Logen auf der ersten Opernredoute nach dem Krieg sind zwar ausverkauft, doch Hunderte „normale“ Eintrittskarten müssen verschenkt werden.

Die seit 1918 ungestillte Sehnsucht nach einem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich wird von den Siegermächten ignoriert. Österreich ist neutral und nähert sich Italien an. In Rom regiert seit zwei Jahren ein ehemaliger sozialistischer Journalist. Benito Mussolini träumt von einem neuen Imperium am Mittelmeer und erfindet den Faschismus als totalitäre Massenbewegung.

In Wien platzt im Frühjahr 1924 eine riesige Spekulationsblase. Finanzielle Abenteurer scheitern mit ihren Termingeschäften gegen den französischen Franc. Panik reißt die Börsenkurse nach unten. Kleinere und größere Banken schließen ihre Schalter. Sparer verlieren ihren Notgroschen. Das „Sanierungswerk“ von Bundeskanzler Ignaz Seipel, dem es nach zähen Verhandlungen gelingt, einen vom Völkerbund garantierten Kredit für die notleidende Alpenrepublik zu bekommen, droht zu scheitern.

Der sagenhaft reiche Camillo Castiglioni, Großspekulant, wagemutiger Industrieller, Kunstliebhaber, finanziert dem Theatererneuerer Max Reinhardt die Rückkehr aus Berlin nach Wien. Das Theater in der Josefstadt wird unter der Direktion Reinhardts zu einer Bühne, auf der die großen deutschsprachigen Schauspieler gefeiert werden. Richard Strauss verlässt die Wiener Staatsoper im Streit und macht damit das kulturelle Wien zur Provinz.

In den „Goldenen Zwanzigern“ verzücken neue Rhythmen die Welt: der Foxtrott, der Shimmy. 1924 schreibt der 29-jährige Pianist James P. Johnson den Schlager, der für eine ganze Epoche steht: „The Charleston“. Das Jahrhundert des Jazz hat begonnen.

Auch in der Weimarer Republik swingt die neuartige amerikanische Musik in den Tanzsälen und Nachtcafés. Die Piccadilly Four aus Wiesbaden gelten als erste deutsche Jazzband. Auch wenn der US-Import von konservativen Kulturwächtern als „Negerkrach“ verunglimpft wird, so erobert er doch die Varietés.

Im französischen Chamonix beginnen die ersten Olympischen Winterspiele. Vier Sportler aus Österreich tragen die rot-weiß-roten Farben. Alle kommen aus Wien. Alle gewinnen Medaillen. Athleten aus Deutschland dürfen noch immer nicht an internationalen Wettspielen teilnehmen.

Auch die Olympischen Sommerspiele werden in Frankreich eröffnet. Das finnische Laufwunder Paavo Nurmi siegt in Paris und gewinnt fünf Goldmedaillen. Sein Name geht in den allgemeinen Sprachgebrauch ein: „Laufen wie ein Nurmi.“ Der US-amerikanische Schwimmer Johnny Weissmuller stellt einen neuen Weltrekord über 100 Meter Freistil auf. Er wird später als Tarzan Filmgeschichte schreiben.

Thomas Mann veröffentlicht seinen Roman Der Zauberberg. In den Lichtspielhäusern feiert Greta Garbo mit Gösta Berling – ihrem ersten Film unter diesem Namen – Triumphe. Die Schauspielikone Eleonora Duse stirbt. Die moderne Frau legt das Korsett ab: Bubikopf und kurze Röcke deuten ungeahnte sexuelle Freiheiten an. In Amerika nennt man diese Mädchen Flapper Girls. Tagsüber arbeiten sie in den Kontoren, nachts tanzen, rauchen, leben sie – einige auch exzessiv. Die meisten aber können vom schönen Leben, das ihnen auf der Leinwand vorgespiegelt wird, nur träumen.

In Wien findet Arthur Schnitzler eine neue Liebe. Der Engländer George Mallory scheitert beim Versuch, erstmals den Mount Everest zu besteigen, und gilt als verschollen. Berlin wird zum Zentrum der avantgardistischen Moderne: Konstruktivismus, Futurismus und die Künstler des Bauhauses.

Wetterleuchten am Horizont.

Wladimir Iljitsch Lenin stirbt in Gorki bei Moskau. Der Revolutionär und Putschist hat mit seinen Genossen die Sowjetunion gegründet. Seine Träume von einer mit wissenschaftlicher Notwendigkeit kommenden Weltrevolution sind gescheitert. Sein Nachfolger Josef Stalin übernimmt die Kommunistische Partei und wird die Sowjetunion zu einem diktatorischen Terrorstaat umbauen. Lenin ahnt das und warnt in seinem Testament vor dem Georgier Stalin. Er will ihn verhindern, auch damit scheitert der Todkranke.

In München wird der Führer einer krakeelenden Kleinpartei wegen eines dilettantischen Putschversuchs, bei dem ein Dutzend Menschen sterben, in einem Prozess zu nur vier Jahren Festungshaft verurteilt. Die Weltpresse schreibt von einem „Skandalurteil“ einer mit den Angeklagten klüngelnden bayrischen Justiz. Adolf Hitler verfasst auf der Festung Landsberg seine politische Biografie: Mein Kampf. Nach wenigen Monaten Haft wird der Nationalsozialist noch im gleichen Jahr begnadigt.

Drei amerikanische Flugzeuge umrunden die Welt in 175 Tagen. Der deutsche Zeppelin Z.R. III überfliegt erstmals den Atlantik. Und der norwegische Polarforscher Roald Amundsen muss Konkurs anmelden. Österreichs Nationalteam schlägt Bulgarien 6:0, während Deutschland sein erstes Länderspiel gegen Italien verliert. Der Wiener Kicker-Star Matthias Sindelar beginnt bei einem neuen Verein und wirbt – eher untypisch für den späteren Cafetier – für saure Milch mit Erdbeermarmelade: „Fru-Fru“.

Das Automobil gibt Gas, verdrängt Kutschen und Spaziergänger von den Straßen. In den USA fahren Mitte der 1920er-Jahre schon 15 Millionen Autos auf den Straßen. Das Jahrhundert der individuellen Mobilität beginnt. Fließbandarbeit verändert die Welt. Die industrielle Produktion bedrängt und verdrängt das Gewerbe. Konsumgüter werden für Millionen erschwinglich. Zwei neue Automarken prangen am Kühlergrill: Mercedes-Benz und Volvo. Beide Firmen werden 1924 gegründet.

Und in Österreich spottet Karl Kraus: „Der Hausmeister ist an den Kosmos angeschlossen.“ Das Radio ist erfunden. Der Rundfunk wird zum Massenmedium.

1924 WIRD DAS LEBEN SCHNELLER, FRECHER UND WILDER.

DIE FÜNF »GOLDENEN ZWANZIGERJAHRE« BEGINNEN.

ES WIRD EIN KURZES JAHRZEHNT.

DIE ERSTE BANKNOTE DER ÖSTERREICHISCHEN NATIONALBANK

NEUES JAHR, NEUER GELDSCHEIN, ALTE WÄHRUNG

2. JÄNNER · Das Jahr beginnt gut. Endlich kommt die Republik auch in den Portemonnaies der Österreicher an. Seit dem Ende der Monarchie hat die österreichisch-ungarische Nationalbank die alten k. u. k. Geldscheine eingezogen. Neue Banknoten werden aber mit den alten Klischees weiter gedruckt. Die Insignien der Habsburgermonarchie bleiben so erhalten. Auch die Trennung der Nationalbanken in nationale Zentralbanken der Nachfolgestaaten dauert Jahre. Die Doppelmonarchie gibt es seit November 1918 nicht mehr, eine österreichisch-ungarische Nationalbank aber schon.

1924 ist damit Schluss. Die im Jahr zuvor gegründete OeNB lässt einen neuen 10 000-Kronen-Schein drucken. Der Maler und Grafiker Rudolf Junk hat die Banknote ohne besondere Idee entworfen. Eine blondgelockte Maid mit zwölf Blüten im Haarkranz blickt versonnen in eine ungewisse Zukunft.

Der erste Schein wird auch der letzte sein. Denn schon zum Jahresende werden die Kronen-Papiere mit der roten Aufschrift „Ein Schilling“ überdruckt. Der Völkerbundrat in Genf will das so. Der Wunsch der internationalen Geldgeber ist Befehl. Mit dem zügellosen Gelddrucken ist es vorbei. Österreich und Deutschland müssen zu stabilen Währungen zurückkehren.

Am 20. Dezember wird vom österreichischen Nationalrat das „Schillingrechnungsgesetz“ beschlossen. Ein Schilling entspricht 10 000 alten Kronen. Die Münzen werden schon ab Juni ausgegeben und ersetzen die 10 000-Kronen-Scheine. Der Feingoldgehalt der neuen Währung wird mit exakt 0,211720086 Gramm festgelegt. Demnach wäre ein Schilling des Jahres 1924 heute 12,60 Euro wert, wäre der alte Schilling tatsächlich mit Gold aufzuwiegen gewesen.

Beim viel größeren nördlichen Nachbarn wird auf Druck Englands – und im Hintergrund Amerikas – endlich eine Währungsreform möglich. Die dem Verlierer Deutschland beim Friedensvertrag von Versailles aufgezwungenen und unrealistischen Reparationszahlungen für den Weltkrieg werden indirekt gesenkt. Die Gesamtsumme von ungeheuren 132 Milliarden Goldmark bleibt auf dem Papier bestehen, aber es gibt keine Zahlungsfrist mehr. Pro Jahr soll das Deutsche Reich eine Milliarde Goldmark zahlen. Das Thema bleibt allerdings auf der politischen Agenda und heizt weiterhin die nationalistische Propaganda an.

Die Vereinigten Staaten haben ein Interesse daran, dass Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Nur wenn die Deutschen an die Franzosen und Engländer zahlen (können), können diese den Amerikanern ihre Kriegsschulden zurückzahlen. Denn bei aller Bündnisfreundschaft: Die ungeheure Menge an Waffen- und Munitionslieferungen der USA an die Alliierten war nicht geschenkt, sondern auf Kredit finanziert.

Während sich die Kriegsverlierer Österreich und Deutschland durch die Hyperinflation auf Kosten ihres Mittelstands rasch entschulden können, müssen Engländer und Franzosen ihre Kriegsschulden in Dollar zahlen. London schafft das mit Mühe durch Steuererhöhungen, Paris hat den Krieg fast zu hundert Prozent mit Krediten finanziert.

Das amerikanische Eigeninteresse hilft Deutschland. New Yorker Banken gewähren dem Deutschen Reich im Rahmen des Dawes-Plans eine Anleihe von 960 Millionen Goldmark, um die Reichsmark zu stabilisieren. Diese Finanzhilfe funktioniert. Deutschland stabilisiert seine Reichsmark und wird wieder kreditwürdig. Die deutsche Industrie erhält Zugang zum internationalen Finanzmarkt. Innerhalb weniger Monate nimmt die Konjunktur Fahrt auf, befeuert von Krediten. In den wilden 1920er-Jahren borgen sich Staat, Geldinstitute und Unternehmen fast 25 Milliarden Reichsmark von den Banken an der New Yorker Wall Street und finanzieren damit die Boomjahre bis zur Weltwirtschaftskrise 1929. Die deutsche Wirtschaft steht unter Dampf, angeheizt durch ein Strohfeuer. Frankreich erhält endlich deutsche Reparationszahlungen und kann nun seinerseits seine Schulden an den amerikanischen Staat rückzahlen. Der Kreislauf des Geldes funktioniert wieder.

Der erste neue Geldschein der Österreichischen Nationalbank wird auch die letzte Banknote mit der „Kronen“-Währung sein. Die Regierung führt den Schilling ein.

ANHALTENDER STARKER FROST

„EINE KÄLTE, WIE WIR SIE SCHON LANGE NICHT VERSPÜRT HABEN“

3. JÄNNER · Es schneit weiter! In der Salzburger Getreidegasse liegt der Schnee am Dreikönigstag fast mannshoch. Für die Passanten ist ein schmaler Weg freigeschaufelt. Österreich, Italien, ja ganz Europa sind von einem dicken Schneemantel bedeckt. Selbst auf Sardinien ist dieser Tage sei 23 Jahren zum ersten Mal wieder Schnee gefallen. Der Vesuv hat eine weiße Haube und raucht. Auch aus Neapel und Sizilien werden starke Schneefälle gemeldet. Das Wetter wird zur Attraktion. Touristen reisen an, „um diesen seltenen Anblick zu genießen“.

In Ancona bebt zu Neujahr zehn Sekunden lang die Erde, was aber eher wenig mit dem Schneefall zu tun haben dürfte. In Mittelitalien herrscht große Kälte, in Rom rieselt seit zwei Tagen leise der Schnee, in Florenz schneit es hingegen heftig. Das Fußball-Länderspiel zwischen Österreich und Italien muss aus Turin nach Genua verlegt werden, da „die Gefahr besteht, daß Schneefall die Durchführung erschwert“.

Wenigstens in Mailand kann gekickt werden. Der Wiener Sportklub besiegt zu Neujahr Internazionale Milano mit 3:1. Heute wäre das eine Sensation. Anno 1924 bestätigt dieser Auswärtserfolg der Mannschaft aus der Wiener Vorstadt nur die europäische Vormachtstellung des Wiener Fußballs am Kontinent.

Der Beginn des Jahres 1924 wird vom Wetter beherrscht. Aber lange bevor die Klimaerwärmung zum Thema wird, bestaunen die Menschen im Alpenland die weiße Pracht. Seit den 1870er-Jahren war Frau Holle nicht mehr so fleißig wie zu Beginn des Jahres 1924. „Die ältesten Leute können sich nicht erinnern, daß in dieser Gegend ein solcher Schneefall jemals vorgekommen wäre. Der Verkehr zwischen den einzelnen Dörfern steht still, die Straßen und Wege sind alle tief verschneit. Äußerlich sind die Feiertage daher auch sehr still verlaufen.“

Die Schneemengen in der Getreidegasse sind so außerordentlich, dass geschäftstüchtige Photographen (vor hundert Jahren schreiben sie sich mit dem schönen griechischen „ph“) sogar Ansichtskarten drucken lassen. Das Linzer Volksblatt bilanziert die Wetterlage zu den Feiertagen: „Das neue Jahr hat begonnen, wie das alte geschlossen hat, mit einer Kälte, wie wir sie schon lange nicht mehr verspürt haben. Der Neujahrstag war ein prachtvoller Wintertag, der Schnee knirschte unter den Füßen und ein blauer Himmel spannte sich über die weiße Erde. Die Kälte, die am Silvestertage 20 Minusgrade zeigte, hielt auch am Neujahrstage an.“

Aus dem Tiroler Achental berichtet der Allgemeine Tiroler Anzeiger, dass es seit Menschengedenken rund um Weihnachten nicht mehr so viel geschneit habe. Der Postverkehr ist unterbrochen. Briefe müssen mit Schiffen über den Achensee zugestellt werden. Und auch in Vorarlberg hat die feuchte Luft aus dem Süden in Kombination mit einer hartnäckigen Nordströmung für jede Menge Pulverschnee gesorgt. 1,70 Meter Schneehöhe werden gemessen. Die Arlbergbahn ist unterbrochen. Das Vorarlberger Tagblatt weiß: Die Züge aus dem Osten können immerhin bis Dalaas fahren, dann heißt es für die Passagiere: Schienenersatzverkehr. Mit Fuhrwerken oder zu Fuß geht es weiter bis nach Bludenz.

Zu Jahresbeginn zeigt der Winter, was er kann. Riesige Schneehaufen in der Salzburger Getreidegasse sind so ungewöhnlich, dass davon sogar Postkarten gedruckt werden. Die Kälte hat Europa im Griff. Schnee auch in Sizilien und Neapel.

Das Verkehrschaos, das vor hundert Jahren trotz aller Mühsal keine besondere Aufregung verursacht, hindert die Menschen nicht, Winterfreuden zu genießen. In Lustenau ziehen „die Wintersportler geradezu scharenweise aus, um sich in den umliegenden Bergen zu tummeln. Es ist erfreulich, daß heute so viele junge Leute dieses gesunde Vergnügen dem dumpfen Stubenhocken vorziehen.“ Und die Salzburger Nachrichten aus Land und Stadt wissen aus Lofer zu berichten, dass es ideale Bedingungen für den Wintersport gibt, während sich in Wien Heerscharen von Schneeschauflern bei den Meldestellen der Straßenbahn einfinden. Es werden mehr als 14 000 Arbeiter aufgeboten, um die wichtigsten Straßen vom Schnee zu befreien. Für die vielen Arbeitslosen ist das Schneeschaufeln ein willkommenes Zubrot. Und der Wetterbericht der Zentralanstalt für Meteorologie in der Wiener Zeitung verheißt weitere Arbeit: „Wie vorhergesehen, wurde die in den Kontinent eingedrungene warme Luft durch den kräftigen Vorstoß der Kälte wieder zurückgeworfen, beziehungsweise vom Boden abgehoben. Das Frostgebiet ist heute nachts bis zu den Pyrenäen vorgerückt. Die Voraussage lautet: Wechselnd bewölkt, zeitweise leichter Schneefall nicht ausgeschlossen, anhaltender starker Frost.“

Die „Schneebahnen“ am Semmering bleiben weiterhin gut befahrbar. Das freut die Gäste der Nobelhotels und der Kurhäuser.

DIE ERSTE OPERNREDOUTE NACH DEM KRIEG

„HARMLOSE MENSCHEN MIT VIEL SEHNSUCHT NACH SCHÖNHEIT UND LUXUS!“

22. JÄNNER · Es müssen zwei verschiedene Veranstaltungen gewesen sein. Das Wiener Salonblatt, das so tut, als ob es die Monarchie und ihre Gesellschaft noch immer gäbe (was ja partiell auch nicht ganz falsch ist), berichtet geradezu überschwänglich von der ersten Neuauflage des Opernballs im Haus am Ring: „Die Opernredoute hielt alles, was man von ihr nur erwartet hatte. Und man hatte sehr viel erwartet. An Ausschmückung des Raumes, Licht, Glanz, Blumen: Meister Roller hatte sich selbst übertroffen, an reichem Besuch, auch aus dem Auslande, die Erwartungen auch darin erfüllt, vor allem aber an schon Tradition gewordener Schönheit und Charme der Wienerinnen.“

Gegen die äußeren Reize der maskierten Damen wird ein Gentleman wohl nichts einwenden dürfen. Aber so ein Opernball hat seit jeher eine politische Dimension. Der christlichsoziale Bundeskanzler Ignaz Seipel bleibt dem Ball demonstrativ fern. Ein tanzender Priester im Talar wäre damals schwer vorstellbar gewesen. Und die Bekleidungsvorschrift sah Frack, Zylinder und Gehstock vor. Lange Kleider für die Damen sowieso.

Der katholische Politikerpriester ärgert sich im Vorfeld über die Zurschaustellung von Reichtum und Champagnerlaune, das passt nicht zu seinem harten Sparprogramm, das Österreich vom Völkerbund als Preis für einen Millionenkredit verordnet wurde. Das sagt Seipel auch in einer Ansprache vor dem Fest in der Oper. Ihn stören die kolportierten Preise für die begehrten Logen. Zwölf Millionen Kronen kostet einer der plüschigen Sitze für die Redoute. Viel Geld? Damals schon. Für die ins Heute transponierte Summe von rund 6000 Euro lässt sich heute keine Loge für den Opernball mehr reservieren, nicht einmal am zweiten Rang. Andere Zeiten.

Eine Schöne der Nacht. Der Stummfilmstar Eva May glänzt auf der ersten Wiener Opernredoute nach dem Krieg. Wenige Monate nach dem Ball wird sich Eva May in einem Hotel erschießen. Grund: Der steinreiche Patronenfabrikant Fritz Mandl weigert sich, sie zu heiraten. Er ehelicht später die Schauspielerin Hedwig Kiesler. Sie wird als Hedy Lamarr in Hollywood ein Weltstar.

Der befrackte Berichterstatter von Der Tag korrigiert den Bundeskanzler. Er erkennt hinter den Masken der besseren Gesellschaft die verarmte Elite einer klein gewordenen Alpenrepublik. Die Gala-Uniformen der k. u. k. Militärs fehlen, nur die Saaldiener erinnern in ihren schwarz-gelben Livreen an die Habsburgerzeit. „Die Zwölfmillionenlogen waren vollbesetzt, und der Schmuck, die Toiletten der Sanierten, die in ihnen saßen, haben ungeheuere Werte repräsentiert. Die Zweimillionenstadt Wien, Zentrum eines komplizierten mitteleuropäischen Lebens, hat mindestens 106 Familien, die reich, sehr reich sogar sind! Ganz stimmt das nicht, denn ungefähr 30 von diesen Logen beherbergten Tschechoslowaken, Polen, Jugoslawen, Italiener und andere Ausländer. Allerdings, Parkett und Bühnensaal füllten nicht nur die Logengäste, sondern mehr noch die zwei- bis dreitausend Damen und Herren, die ein Eintrittsgeld von einer halben Million zu zahlen hatten.“

„Hätten“ ist korrekter. Denn im kalten Winter 1924 bleibt die Nachfrage nach Opernballkarten hinter den Erwartungen zurück. So werden kurz vor der Veranstaltung 1500 Billetts weitgehend verschenkt, um sich die Peinlichkeit von gähnender Leere zu ersparen. Das hätte das Bild getrübt. Wien und seine „bessere“ Gesellschaft spielen sich selbst alte Größe vor. Die Bühne, nach Entwürfen des Bühnenbildners Alfred Roller adaptiert, ist in ein riesiges Zelt verwandelt und bietet „geradezu einen feenhaften Anblick“. Im hellen Licht Dutzender Kristalllüster findet der kritische Blick des Der Tag-Reporters manch Fadenscheiniges: „Die Mehrzahl der Besucher war geradezu das, was man schäbig gekleidet nennen darf! Armseligere, unmodernere, fleckengeputzte, gewendete und umgeänderte Fähnchen an solchen Masten hat man noch nie auf einem Elitefest gesehen! Und die Herren erst! Man hätte die Redoute ruhig unter der Devise ‚Frack- und Zylinderrevue 1850 bis heute‘ vor sich gehen lassen können. Großväterliche und urgroßväterliche Fracks mit mächtigen Schwalbenschwänzen und ungeheuer breiten Hosen. Diese Opernredoute mit ihren Zwölfmillionenlogen war wahrhaftig kein orgiastisches Fest, sie bewies, wie ungeheuer weit wir von einer durchgreifenden Gesundung des Lebens entfernt sind.“

In den anderen Wiener Blättern wird da eher die Eleganz der Logengäste gelobt. Das Modellhaus Berta Farnhammer schneidert für ein Dutzend Damen die entsprechenden Roben. Auffallen um einen hohen Preis. Die Stummfilm-Ikone Eva May zieht alle Blicke auf sich: „Weiße Perücke, Silbercorsage, mit Brillanten gestickt, rosa Seide, mit Tüll überzogen, von unten bis oben mit Marabou besetzt, feenhaft.“ Es ist einer der letzten öffentlichen Auftritte der Schauspielerin. Ihr Liebesleben verläuft turbulent und endet unglücklich. Eva May bemüht sich, ihren Cousin, den schwerreichen Waffenfabrikanten Fritz Mandl, zu ehelichen. Der schillernde Billionär mit exzellenten Kontakten zu den italienischen Faschisten führt jedoch später eine andere Schauspielerin aufs Standesamt: Hedwig Eva Maria Kiesler, die in Hollywood als schönste Frau der Welt gilt, als Hedy Lamarr im Film Ekstase die erste Nacktszene der Filmhistorie dreht und einen weiblichen Orgasmus auf die Leinwand bringt.

Ludwig Hirschfeld, Chefredakteur des Gesellschaftsblatts Moderne Welt sieht genau hin, greift zur Feder und verpackt ironische Kritik an der neureichen, aber nicht unbedingt stilsicheren Gesellschaft in Reime: „Mit dem Hut im Genick, / Um die Mitte sehr dick, / Im unmöglichen Frack, / Die Hände im Sack, / Mit taxierendem Blick: / Die haben jetzt Glück.“

Hat sich viel geändert in hundert Jahren? Die von Bundeskanzler Ignaz Seipel im Vorfeld befürchteten Proteste gegen das scheinbare „Fest der Reichen“ bleiben zur allgemeinen Überraschung aus. Der Prälat hat sich geirrt. Die Oper ist schon Stunden vor Beginn der Redoute von einer „erregten Menschenmenge umbraust“, schreibt der Journalist von Der Tag in einem fiktiven „Brief an den Bundeskanzler“: Es sind aber keine wütenden Inflationsopfer, keine zornigen Arbeiter aus den Vorstädten, die von der Polizei zurückgedrängt werden: „Diese Leute, die in bitterer Frostnacht stundenlang ausharrten, waren wirklich nicht gekommen, um zu demonstrieren, sondern – um zu sehen! Um schöne Frauen, elegante Männer, bedeutende Persönlichkeiten, Schmuck und Perlen wenigstens aus der Ferne, von der Galerie herab oder gar nur beim Aussteigen aus dem Auto sehen zu können! Und man hörte keinen Hohn, keine haßerfüllten Beschimpfungen, kein neidisches Wort, sondern nur das ‚Ah!‘ und ‚Oh!‘ und ‚Schau!‘ harmloser Menschen mit viel Sehnsucht nach Schönheit und Luxus!“

THOMAS MANN UND DIE AUFNAHMSPRÜFUNG IN DIE GEISTERWELT

„… DAS UNMÖGLICHE SEHEN, DAS DENNOCH GESCHIEHT.“

2. FEBRUAR · Im Rotlicht erhebt sich ein Taschentuch, schwebt einen Meter über dem Boden. Eine Schreibmaschine beginnt wie von Geisterhand zu klappern. Ein in Trance versetztes Medium, dessen Arme und Beine mit phosphoreszierenden Nadeln gespickt sind, damit im Dunkeln deren Bewegungen beobachtet werden können, überwindet mit der Kraft seines Geistes den Raum und die Schwerkraft. Das Medium hebt von seiner Chaiselongue ab, schwebt minutenlang im dunklen Raum. Das Dutzend Zuseher – Ärzte, Universitätsprofessoren und ein Schriftsteller – ist aufgeregt, gar erregt. Die Männer sind Zeugen einer Levitation.

Der Mann, der im Mittelpunkt des Interesses „fliegt“, heißt Rudi Schneider, ein 21-jähriger gelernter Mechaniker aus Braunau am Inn an der bayrisch-österreichischen Grenze. Der Hochschullehrer und praktische Arzt Adalbert Freiherr von Schrenck-Notzing hat Rudi verpflichtet. Er ist zurzeit das bekannteste Medium. An ihm – und an seinem Bruder Willi – will der Freiherr seine parapsychologischen Forschungen betreiben.

Auch Thomas Mann nimmt an dieser exklusiven Séance teil. Der Schriftsteller ist fasziniert und gleichzeitig angewidert, er weiß nicht, was er von dem, was er da sieht, halten soll, und beschreibt seine Zweifel in seinem Essay-Band Okkulte Erlebnisse: „Ich werde also versuchsweise noch ein oder das andere Mal mich zu Herrn von Schrenck-Notzing begeben, zwei- oder dreimal, nicht öfter. Das kann mir nicht schaden, ich kenne mich. Ich bin der Mann der kurzen Leidenschaften, ich werde sehen, daß es zu nichts führt und mir das Ganze für immerdar aus dem Sinne schlagen. Ich will auch nicht zwei- oder dreimal noch dorthin gehen, sondern nur noch ein einziges Mal, und dann nie wieder. Ich will nichts weiter, als einmal noch das Taschentuch vor meinen Augen ins Rotlicht aufsteigen sehen. Das ist mir ins Blut gegangen, ich kann’s nicht vergessen. Noch einmal möchte ich, gereckten Halses, die Magennerven angerührt von Absurdität, das Unmögliche sehen, das dennoch geschieht.“

Was geschieht in der Villa des Münchner Arztes? Schrenck-Notzing ist in jenen Tagen der erfahrenste Experimentator auf dem Gebiet der Parapsychologie. Ein Faszinierter, ein Forscher, kein Scharlatan. Er hat nicht nur mit den beiden Innviertler Brüdern, sondern auch mit anderen „Medien“ Séancen abgehalten.

Willi Schneider wird durch Thomas Mann zu einem europäischen Star. Der spätere Nobelpreisträger für Literatur verarbeitet 1924 die Séancen beim Freiherrn Schrenck-Notzing und verwendet das Material, nur ein wenig literarisch verbrämt, für seinen Roman Der Zauberberg. Das Medium im Schweizer Sanatorium oberhalb von Davos heißt nicht Willi, sondern Ellen Brand, die Versuchsanordnung im Roman entspricht aber weitgehend dem von Thomas Mann drei Mal Erlebten, Beschriebenen und Gesehenen, es selbst kaum glaubend, aber doch seinen Sinnen vertrauend: „Wir warten. Und bei meiner Ehre, so wahr ich hier sitze, da fängt vor unseren Ohren die Schreibmaschine dort unten am Boden zu ticken an. Es ist verrückt. Es ist, auch nach allem, was zuvor geschehen, verblüffend, lächerlich, empörend durch seine Absurdität und anziehend durch seine Merkwürdigkeit bis zum Äußersten.“

In Der Zauberberg vertreiben sich die Patienten die Langeweile mit spiritistischen Sitzungen, in denen die Geister der Verstorbenen gerufen werden und auch erscheinen. Das funktioniert – in der Literatur.

Nach dem Ende des Weltkriegs erleben Phänomene (und Betrügereien) des Okkultismus und des Spiritismus eine Hochblüte – in Berlin, Paris, London und Wien. Infolge des Zerfalls der alten politischen Ordnungen, der Auflösung religiöser Bindungen, in einer Atmosphäre gesellschaftlicher Depression und rauschhafter Neuerung suchen viele Menschen die Sensation des Übersinnlichen. In Wien entwickelt der abgerüstete k. u. k. Hauptmann Erich Czernin von Dirkenau einschlägige Aktivitäten. Czernin wird zum Sammelpunkt einer Schar von großbürgerlichen Existenzen und Aristokraten, die Interesse an „übersinnlichen“ Erscheinungen mit dem Glauben daran verwechseln. Czernin-Dirkenau engagiert die damals bekanntesten „Medien“ zur Vorführung der „physikalischen Phänomene“ und berichtet über die Sitzungen in vier Vorträgen, die auch als schmales Büchlein im Wiener „Prognostisch astronomischen Verlag“ erscheinen.

Die Zeitungen und die Bevölkerung sind an derartigen „wissenschaftlichen“ Veranstaltungen höchst interessiert. Gläubige und Spötter liefern sich auf den Seiten der Boulevardpresse heftige Wortgefechte. Die Aufhebung physikalischer Gesetze durch übersinnliche Kräfte fasziniert das Publikum und auch höchst angesehene Wissenschaftler. Der Psychiater Edmund Holub, Primarius an der Niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke, wird zum Zentrum dieser Experimente, die sehr oft mit den Schneider-Brüdern Willi und Rudi Am Steinhof stattfinden.

Auch Physiker, Mathematiker und Philosophen des später weltberühmten Wiener Kreises werden in den Bann des Okkulten gezogen, was der wissenschaftlichen Haltung der Forschergruppe diametral entgegengesetzt ist. Dennoch entwickeln einzelne Mitglieder des Wiener Kreises ein höchst intensives Interesse an diesen metaphysischen Phänomenen, die mit dem unscharfen Begriff „Parapsychologie“ umschrieben werden. Das führt durchaus zu Kontroversen im Wiener Kreis. Dieser ist die bedeutendste intellektuelle Hervorbringung Wiens der Nachkriegsjahre. Das zentrale Thema dieses interdisziplinären Zirkels von Wissenschaftlern ist eine rational-empirisch geprägte Weltsicht, die unter der Überschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung“ internationale Geltung erlangt. Karl Popper und Ludwig Wittgenstein gehören der am physikalischen Institut der Universität Wien diskutierenden Gruppe eigentlich nur am Rande an. Zum ursprünglichen Kreis zählen die Mathematiker Hans Hahn und Richard von Mises sowie der Nationalökonom Otto Neurath. Der Philosophieprofessor Moritz Schlick ist das „Zentralgestirn“ dieser Wissenschaftsströmung. Und der Philosoph, der allem Esoterischen abhold ist, lässt sich für eine Kommission zur Wahrheitsfindung gewinnen.

Die eher linksliberale Zeitung Der Tag berichtet am 2. Februar in großer Aufmachung über die Gründung eines Komitees, das sich zur Aufgabe gestellt habe, Para-Erscheinungen zu studieren. Sieben honorige Herren, allesamt habilitierte Professoren, darunter eben Moritz Schlick und der weltberühmte Doyen der Wiener Psychiatrie, Julius Wagner-Jauregg, wollen den okkulten Phänomenen auf die Schliche kommen. „Ein Name mit internationaler Bedeutung taucht in der Diskussion auf. Wagner-Jauregg, eine der ersten Leuchten unserer Wiener Medizinischen Fakultät, erklärt sich bereit, die Erscheinungen studieren zu wollen. Was er sagt, werden auch die glauben, die bisher skeptisch waren und in dieser modernsten Wissenschaft nichts anderes fanden, als einen Grund, um ihren voreiligen Spott anzubringen.“

Der namenlose Redakteur von Der Tag lässt Sympathien fürs Unerklärbare erkennen, wenn er schreibt: „Die offizielle Wissenschaft stand den parapsychischen Erscheinungen lange Zeit scharf ablehnend gegenüber. Mehr noch, sie traf jeden, der sich in dieses Studium vertiefen wollte, mit ihrem Bannstrahl. Nun ist endlich nach einer monatelang dauernden, fruchtlosen Debatte das Eis gebrochen worden.“

Der Redakteur hat selbst an spiritistischen Sitzungen teilgenommen und staunend im Sesselkreis die Kunststücke (darauf wird es wohl hinauslaufen) gesehen: „In einem Kreis von acht oder neun Sitzungsteilnehmern stand ein Sessel mit einer Weckeruhr, einer Glocke und einer mit Leuchtfarbe bestrichenen Pappendeckelschachtel. Willi ließ durch die von ihm ausgehende Kraft diese Dinge nacheinander frei in die Luft schweben.“ Betrug scheint ausgeschlossen. „Das Medium selbst war ebenso wie die Sitzungsteilnehmer ungefähr einen Meter weit von dem Phänomen entfernt und hatte keineswegs die Möglichkeit, den auf dem Sessel liegenden Dingen mit Armen oder Beinen nahezukommen.“

Ein Medium im Zwielicht. Der Braunauer Rudi Schneider fasziniert mit seinen parapsychologischen Fähigkeiten auch Thomas Mann. Erst Jahre später fliegt der Schwindel auf.

Ob das wissenschaftliche Komitee je eine der spiritistischen Sitzungen tatsächlich begleitet und überwacht hat, bleibt fraglich. Tatsache ist jedoch, dass die Schneider-Brüder bald nach den Experimenten Am Steinhof des Betrugs überführt werden. Der Wiener Physikprofessor Karl Gabriel Przibram enttarnt die Tricks der beiden Innviertler „Medien“ und kann in einer entsprechenden Versuchsanordnung die telekinetischen Experimente nachstellen. Damit verblasst der Ruhm der gelernten Motormechaniker bald.

Thomas Manns Roman Der Zauberberg wird 1924 gedruckt, mit aller übersinnlichen Verzauberung seiner Protagonisten. Es ist ja nur Literatur, aber große.

GOLD IN CHAMONIX

„EIN DREIFACHES HIPP-HIPP-HURRA!“

5. FEBRUAR · Österreichs Medaillenbilanz bei den ersten Olympischen Winterspielen ist beeindruckend. Jeder Teilnehmer kommt mit einer Medaille aus Chamonix heim. Gut, es waren genau zwei Männer und zwei Frauen, die die strapaziöse Reise aus Wien in den mondänen französischen Wintersportort am Fuße des Mont Blanc angetreten haben. Und alle Winter-Olympioniken kommen aus der Bundeshauptstadt. Das ist schon sehr speziell, wie diese ganze „Wintersportwoche“ im Zeichen der fünf olympischen Ringe.

Denn zu den offiziell ersten Olympischen Spielen wird Chamonix erst zwei Jahre nach dem bescheidenen Sportfest in den französischen Hochalpen geadelt. Die Winterspiele finden zwar unter der olympischen Fahne statt, das olympische Feuer aber darf nicht entzündet werden. Jahrelang haben die Herren im Internationalen Olympischen Komitee darüber gestritten, ob es neben den Sommerspielen auch Winterspiele geben soll. Der Gründer des Olympischen Komitees, Pierre de Frédy, Baron de Coubertin, scheitert immer wieder an den Vertretern der nordischen Länder. Norwegen, Finnland und Schweden mögen keine Konkurrenz zu ihren seit 1901 regelmäßig ausgetragenen „Nordischen Spielen“ oder zu den Sprung- und Langlauf-Bewerben am Holmenkollen, dem Hausberg von Oslo. Und immerhin gilt Wintersport in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vornehmlich als skandinavische Angelegenheit.

Ende Jänner 1924 ist es dann aber so weit. 245 Männer und 13 Frauen kämpfen in 16 Disziplinen um Gold, Silber und Bronze. Es sind auch nur 16 Nationen in die französischen Alpen gekommen. Der alpine Skilauf gehört bei der ersten „Wintersportwoche“ noch gar nicht zum offiziellen Programm. Dafür aber Curling, Bobfahren und Eishockey. Bei der bescheidenen Eröffnungszeremonie vor ein paar Hundert Schaulustigen marschieren alle Wettkämpfer in ihrer Sportadjustierung, also mit langen Sprunglatten auf der Schulter, umgehängten Schlittschuhen – dazu kommt noch ein Trupp verwegener Männer mit Besen. Dieses Utensil benötigen die Herren beim Curling, damals bereits olympisch.

Der kleine große Star. Die elfjährige Eiskunstläuferin Sonja Henie wird bei den ersten Olympischen Winterspielen in Chamonix Letzte. Vier Jahre später siegt sie in St. Moritz.

Athleten aus dem Deutschen Reich werden auch sechs Jahre nach Kriegsende gar nicht eingeladen. Österreicher schon. Dabei überlegen die alpenländischen Behörden lange, überhaupt Sportler nach Chamonix zu schicken. Das Illustrierte (Österreichische) Sportblatt erinnert in seiner Ausgabe vom 9. Februar an das bürokratische Zaudern im Vorfeld: „Es ist am Platz, daran zu erinnern, wie groß die Gefahr des Unterbleibens der Expedition nach Chamonix war. Die ursprünglich schwankende Haltung des Hauptverbandes in dieser Frage entsprach den Stimmungen jener Tage, und wer weiß, wie die Entscheidung ausgefallen wäre, wenn nicht Pierre Coubertin im letzten Moment die letzten Zweifel und Missverständnisse zerstreut hätte. Erst jetzt sieht man, welch unverzeihlicher, nie wieder gutzumachender Fehler die Nichtbeschickung der Winterspiele in Chamonix gewesen wäre.“

Hinter der norwegischen Flagge ziehen 14 Athleten über die Dorfstraße auf den Eislaufplatz, der noch bis kurz vor der Eröffnung aufgrund des warmen Wetters einem See gleicht. Eine Kunsteisbahn gibt es in Chamonix nicht. Zum Glück für die Olympischen Spiele strömt kalte Luft aus dem Norden und lässt das Wasser doch noch gefrieren. Norwegen hat nur Sportler geschickt, die als sichere Sieger gelten, mit einer Ausnahme: Sonja Henie. Die elfjährige Eiskunstläuferin wird trotz schöner Pirouetten aufgrund einiger Hoppalas Letzte bei den Damen. Vier Jahre später wird die Tochter eines vermögenden Pelzhändlers Olympiasiegerin in St. Moritz. Sie wird noch zwei weitere Goldmedaillen gewinnen und als zehnfache Weltmeisterin in die Annalen des Sports eingehen – freilich nicht nur in diese. Die blonde Norwegerin hat einen besonderen Fan: Adolf Hitler. Bei einem Schaulaufen im Berliner Sportpalast begrüßt sie ihn mit einem lauten „Heil Hitler!“. Wiederholt sind Sonja (und ihre Eltern) private Gäste beim Reichskanzler am Obersalzberg. Und Joseph Goebbels unterstützt ihre erfolgreiche Filmkarriere, die sie auch nach Hollywood führt.

In Chamonix wird freilich eine Wienerin zum Star der Eislaufbewerbe. Herma Planck-Szabó ist amtierende mehrfache Weltmeisterin und gilt als unschlagbar. In den österreichischen Blättern wird der erste heimische Olympiasieg, noch dazu der einer Frau, trotzdem eher beiläufig behandelt, gleichrangig mit irgendwelchen steirischen Meisterschaften. Olympia hat noch nicht die Strahlkraft, die es wenige Jahre später entwickeln wird. Nur 88 Reporter berichten für die ganze Welt aus Chamonix. Ein österreichischer Journalist ist nicht dabei. Die Stunde