1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols - Horst Schreiber - E-Book

1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols E-Book

Horst Schreiber

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Beschreibung

80 Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich liegt erstmals eine Studie vor, die den Anschluss 1938 in allen Bezirken Tirols und in der Landeshauptstadt beleuchtet. Zwölf Beiträge analysieren den Aufstieg der NSDAP, NS-Terror und deutschnationale Traditionen einer Grenzstadt, Verfolgung und Rache, Gleichschaltung und Propaganda. Gewalt und Ausgrenzung, aber auch sozialpolitische und alltagskulturelle Angebote waren für die Mehrheit der Tiroler Bevölkerung attraktiv. Sie schmiedeten die NS-Volksgemeinschaft zusammen. Der vorliegende Band macht dies auch aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive sichtbar. Nutznießerinnen aus dem Kreis des Bundes deutscher Mädel kommen ebenso zu Wort wie ein betagtes jüdisches Ehepaar und eine jüdische Familie, deren umfangreicher Briefverkehr nun vorliegt. Viele Ablichtungen und ein eigener Foto-Essay erschließen neue visuelle Blickwinkel. Wenig beachtete öffentliche und private Vorfälle belegen, welch widersprüchliche, teils absurde Auswirkungen die politischen Ereignisse des März 1938 in den Tälern und auf den Bergen Tirols hatten.

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1938

Der Anschluss in denBezirken Tirols           

 

 

 

 

Veröffentlichungen des

Innsbrucker Stadtarchivs,Neue Folge 62

STUDIEN ZU GESCHICHTE UND POLITIK

Band 21

herausgegeben von Horst SchreiberMichael-Gaismair-Gesellschaftwww.gaismair-gesellschaft.at

Horst Schreiber (Hg.)

1938

Der Anschluss in denBezirken Tirols

StudienVerlag

InnsbruckWienBozen

Inhalt

Einleitung

Horst Schreiber

Von den Anfängen der NSDAP zur Machtübernahme

Bezirk Kitzbühel

Sabine Pitscheider

„Trotz Verbot noch nicht tot“– Nationalsozialistischer Terror im Bezirk Kitzbühel 1933/34

Bezirk Imst

Rainer Hofmann / Astrid Schuchter

„Freikarte nach Dachau“ – Naziterror in Imst 1938

Bezirk Innsbruck-Land

Sabine Pitscheider

„... in enger Zusammenarbeit mit Partei und Staat ...“ – Nationalsozialistische Bürgermeister in Innsbruck-Land 1938/39

Bezirk Kufstein

Gisela Hormayr

„Grenzen, die keine waren, sind nicht mehr“

Bezirk Reutte

Richard Lipp

Auf dem Weg in eine bessere Zukunft?

Bezirk Landeck

Roman Spiss

Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot: Der Nährboden für den Nationalsozialismus

Stadt Innsbruck

Horst Schreiber

Die Inszenierung des Nationalsozialismus als Umbruchs- und Aufbruchszeit

Horst Schreiber / Michael Guggenberger / Niko Hofinger

„Volksgemeinschaft“ als Ausschluss

Bezirk Schwaz

Horst Schreiber / Claudia Rauchegger-Fischer

Von kleinen und großen Karrieren: Profiteure und Nutznießerinnen der NS-Machtübernahme

Bezirk Lienz

Martin Kofler

Der abseits gelegene Anschluss: Osttirol 1938 – ein Fotoessay

Epilog

Michael Guggenberger

Berg und Tal im Anschlussrausch

Anhang

Anmerkungen

Literatur (Auswahl)

Autorinnen und Autoren

Einleitung

Lange Zeit blieb in Tirol eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf wissenschaftlicher Grundlage weitgehend aus. In den letzten 25 Jahren sind zahlreiche Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus in Tirol erschienen. Dabei spielte das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck eine entscheidende Rolle. Seit dem Jahr 2000 ist die Michael-Gaismair-Gesellschaft eine weitere bedeutende Akteurin auf diesem Gebiet. In ihren Jahrbüchern findet sich eine große Zahl an Beiträgen zur NS-Herrschaft, umfangreiche Publikationen und Pionierarbeiten zum Thema gibt die Gaismair-Gesellschaft in ihren wissenschaftlichen Reihen heraus: in den Studien zu Geschichte und Politik sowie im sozialwissenschaftlich ausgerichteten transblick. Seit der Jahrtausendwende entfaltet _erinnern.at_, das Institut für politisch-historische Bildung über Holocaust und Nationalsozialismus des Bundesministeriums für Bildung, regional, national und international große Aktivitäten in der Fortbildung von Lehrkräften, in der Herausgabe von Unterrichtsmaterialien, Lernheften, Homepages und DVDs, aber auch in der fachlichen Unterstützung bei der Veröffentlichung von Publikationen. Der vorliegende Band ist eine Kooperation von _erinnern.at_ mit dem Land Tirol. Landesrätin Beate Palfrader und Benedikt Erhard von der Abteilung Kultur des Landes Tirol haben dankenswerterweise für die Finanzierung der Studie gesorgt.

Bisher waren es drei Bücher, die einen Überblick über den Nationalsozialismus in Tirol gegeben haben: Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918–1938, herausgegeben von Rolf Steininger, Klaus Eisterer und Thomas Albrich, das 1988 den Auftakt für die intensive Erforschung der NS-Diktatur bildete. 2002 konnten Rolf Steininger und Sabine Pitscheider den Sammelband Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit vorlegen, in dem zehn AutorInnen ein breites Spektrum von Themen zur nationalsozialistischen Herrschaft abdeckten. 2008 erschien mit Nationalsozialismus in Tirol und Südtirol. Opfer. Täter. Gegner von Horst Schreiber mit einem Beitrag von Gerald Steinacher und Philipp Trafojer zu Südtirol die bislang letzte Gesamtdarstellung.

Aus Anlass des 80. Jahrestages des Anschlusses Österreichs ans Deutsche Reich liegt nun ein Buch vor, in dem erstmals die Bezirke Tirols und die Landeshauptstadt im Mittelpunkt stehen.

Als Einstieg ins Thema stellt Horst Schreiber in komprimierter Form die Entwicklung der NSDAP von ihren Anfängen bis zur Machtübernahme dar.

Sabine Pitscheider dokumentiert die Aufstiegsphase der Partei im Bezirk Kitzbühel 1933/34. Im Herbst 1932 konnte sie sich in Landgemeinden verankern, während die Stadt Kitzbühel nicht nur im Bezirk, sondern neben Kufstein und Innsbruck tirolweit Mittelpunkt der NS-Bewegung war. Zum einen stand dies in Zusammenhang mit dem besonderen Anklang, den der Nationalsozialismus im Tourismus, in Hotel- und Gastgewerbe fand. Zum anderen war die Gamsstadt aus Prestigegründen Zentrum besonders intensiver NS-Aktivitäten angesichts des Weltrufs, den sie genoss. Sichtbarer Ausdruck dieser Entwicklung war das Bekenntnis von Bürgermeister Ernst Reisch zum Nationalsozialismus bereits im März 1933; auch sein Nachfolger Josef Herold betätigte sich in diesem Sinn. Der Landeshauptmann zeigte sich alarmiert, dass die NS-Bewegung im Bezirk Kitzbühel einen Aufschwung genommen hatte „wie in keinem anderen Verwaltungsgebiet“. Die Nationalsozialisten marschierten, verübten Schmieraktionen, brannten Hakenkreuze auf den Bergen ab, störten Versammlungen, provozierten den politischen Gegner, zettelten Schlägereien an und ließen Böller explodieren. Um den NS-Aktivitäten Einhalt zu gebieten, reagierten Regierung, Behörden und Exekutive mit Massenverhaftungen, Gefängnis- und Lagerstrafen sowie mit Ausbürgerungen durch Aberkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Eine größere Anzahl der Nationalsozialisten im Bezirk floh nach Deutschland, viele schlossen sich dort der Österreichischen Legion an, die zu gegebener Zeit in Tirol einmarschieren sollte. Was ihre Gegner im Falle einer Machtübernahme erwarten würde, kündigte ein Kitzbüheler Nazi einem Gendarmen der Gemeinde Kössen aus dem deutschen Exil an: „Wenn dann in Oesterreich zu errichtende Konzentrationslager mit Ihnen und vieler ihrer Kollegen, die als bornierte Nazifresser bekannt sind, gefüllt werden, darf Sie das nicht Wunder nehmen.“

Rainer Hofmann und Astrid Schuchter stellen die Racheaktionen ehemals illegaler Nationalsozialisten an Exponenten des gestürzten austrofaschistischen Regimes in Imst in den Mittelpunkt ihres Beitrags. Bereits am Abend des 11. März 1938 waren sie mit Beschimpfungen, Fußtritten, Faustschlägen und nächtlichen Überfällen gegen ihre politischen Gegner unter Beifall einer johlenden Menge vorgegangen. In einer neuerlichen Verhaftungswelle einige Tage später brachten die lokalen Nazis ihre Feinde in einem LKW mit offenem Verdeck nach Innsbruck, damit Parteigenossen und Schaulustige die Gelegenheit hatten, sie zu verspotten. Sie nutzten die Gunst der Stunde, um Angehörige der ehemaligen Elite zu erpressen und sich zu bereichern. Höhepunkt der Wochen der Anarchie waren organisierte Ausschreitungen Ende April 1938. Bei diesem „Volksfest der niederen Instinkte“ jagten Parteimitglieder unter aktiver Beteiligung von Volksgenossinnen und Volksgenossen in einem wohlinszenierten Spektakel acht 50- bis 60-jährige Staatsbeamte durch die Stadt Imst, um sie zu bespucken, zu verhöhnen, zu demütigen und zu schlagen. Während Nationalsozialisten ihre Schandtaten eines „gesunden Volksempfindens“ fotografisch festhielten, mussten die Opfer unter Tritten und Fausthieben Tafeln mit Aufschriften wie „Freikarte nach Dachau“, „Ich bin ein Schwein und gehöre nach Dachau“ oder „An den Galgen“ mit sich tragen.

Sabine Pitscheider setzt sich am Beispiel des Bezirks Innsbruck-Land mit der Neubestellung von Bürgermeistern nach dem Anschluss auseinander. Immerhin jeder fünfte Bürgermeister konnte im Amt bleiben, einige der abgesetzten wieder zurückkehren. Viele der von lokalen Funktionären der NSDAP eigenmächtig ernannten Bürgermeister bewährten sich nicht und wurden in den Wochen und Monaten nach der Volksabstimmung im April 1938 wieder abgelöst: weil sie inkompetent und querulantisch waren, in Konkurrenz zu anderen Nationalsozialisten standen, die Verwaltung wegen ihrer Rachsucht und Radikalität destabilisierten, in der Bevölkerung abgelehnt oder von anderen Interessengruppen und Familien bekämpft wurden. Das Inkrafttreten der Deutschen Gemeindeordnung, mit der die Bürgermeister definitiv gestellt wurden, nutzte das NS-Regime im Frühjahr 1939 für weitere Umbesetzungen. Die Gemeindeoberhäupter sollten bewährte Nationalsozialisten sein, über das nötige Fachwissen verfügen, Ansehen in der Bevölkerung haben und nicht zur traditionellen dörflichen Elite zählen. Die Erfordernisse einer funktionsfähigen Verwaltung vereitelten diese Pläne. In den meisten Gemeinden, sieht man von Städten und Marktgemeinden wie Hall und Telfs ab, mussten Partei und NS-Behörden Männer ernennen, die diesem Anforderungsprofil wenig entsprachen. Der typische Bürgermeister war erst nach dem Anschluss der Partei beigetreten, er saß bereits seit Längerem im Gemeinderat oder war schon vor dem Anschluss Bürgermeister gewesen. Im Dorf war er traditionell fest verankert und entstammte häufig der tonangebenden Berufsgruppe der Bauern. In Ermangelung fachlich und parteipolitisch kompetenter Kandidaten, aber auch aufgrund der Auswirkungen des Krieges, mussten die NS-Machthaber bei rund einem Drittel der Posten auf eine Personalunion von Bürgermeister und Ortsgruppenleiter zurückgreifen. Die Ortsgruppenleitungen mit tüchtigen Nazis zu besetzen, war noch schwieriger, weil es sich bei den verdienten Parteigenossen überwiegend um soziale Außenseiter mit geringer Akzeptanz in der Bevölkerung handelte. Daher nimmt es nicht Wunder, dass die Fluktuation bei den Ortsgruppenleitern besonders hoch war. Trotz weitaus größerer Stabilität in den Ämtern der Bürgermeister ab dem Frühjahr 1939 kam es immer wieder zu Abberufungen nach einem der häufigen Konflikte zwischen ihnen und der örtlichen Parteileitung.

Gisela Hormayr (Bezirk Kufstein), Richard Lipp (Bezirk Reutte) und Roman Spiss (Bezirk Landeck) schildern den Aufstieg des Nationalsozialismus bis zum Anschluss im März 1938, die Verhaftungswelle nach errungener Macht und die ersten Maßnahmen zur Sicherung der NS-Herrschaft. In der Innen- und Außenwahrnehmung galt Kufstein mit seiner Grenzlage als „kerndeutsche Stadt“. Die Ausgangslage für die Aktivitäten der nationalsozialistischen Bewegung war daher überaus günstig. Nicht nur Anfang der 1930er Jahre, auch nach dem Verbot der NSDAP im Juni 1933 bis zur Machtergreifung war der Bezirk Kufstein Drehscheibe für den Schmuggel von Propagandamaterial, Waffen, Sprengstoff und NS-Flüchtlingen, die mit Spezialaufträgen von Deutschland nach Tirol zurückkehrten. Behörden und Exekutive gelang es zwar immer wieder, Erfolge zu erzielen, doch insgesamt vermochten sie den Grenzschutz nicht so wirksam zu organisieren, wie dies nötig gewesen wäre. Spektaktuläre Sprengstoffanschläge nationalsozialistischer Attentäter verursachten wiederholt erhebliche Sachschäden. Die Terroristen demonstrierten mit ihrem rücksichtslosen Vorgehen, wie wenig ihnen Menschenleben wert waren. Dass die Zahl der Toten nicht in die Dutzende ging, ist lediglich auf die Inkompetenz der Verbrecher zurückzuführen. Statt wie geplant einen Zug zum Explodieren zu bringen, sprengte sich der Bombenleger selbst in die Luft. Dennoch verübten Nationalsozialisten 1933/34 mindestens fünf Morde im Raum Kufstein. Zwei Grenzschützer, ein Hilfspolizist, ein Zollwachebeamter und ein NS-Abtrünniger waren die Opfer.

„Unsere Devise für die Zukunft sei: Nicht Haß und Vergeltung, sondern Arbeit und Friede für ein einig deutsches Volk!“, betonte der Kreisleiter von Reutte, Karl Schretter, im März 1938. Richard Lipp zeigt, dass die gemäßigteren Kräfte in der NSDAP den Kürzeren zogen und innerhalb der Partei jeder bis hinauf zum Kreisleiter mit aller Härte verfolgt wurde, der von der politischen Linie von Gauleiter Franz Hofer abwich. Der Autor verdeutlicht, dass sich daher schon wenige Monate nach dem Anschluss die Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus in Reutte nicht von jener in den anderen Kreisen unterschied. Nachdrücklich veranschaulicht er dies am Schicksal der jüdischen Familien und an der „Arisierung“ des Metallwerks Plansee, des bedeutendsten Unternehmens im Außerfern. Nachdem sich die Clique um Franz Hofer durchgesetzt hatte, inszenierte sie im November 1938 einen Personenkult um den Gauleiter, der selbst für nationalsozialistische Verhältnisse grotesk war. Auf diese Weise sollte die schwere Krise der Partei nach den erbitterten Querelen um die Führung im Kreis Reutte überdeckt und ein Bild der Harmonie vermittelt werden.

„In Landeck gibt’s wohl keinen Arbeitslosen mit Familie, der das Kunststück zuwege bringt, seine vielköpfige Familie auch nur halbwegs mit der Arbeitslosenunterstützung zu ernähren. Und sogar um diese Unterstützung müssen die armen Familienväter tatsächlich bangen!“, war 1933 in der Volkszeitung zu lesen. Dem Zusammenhang von Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot einerseits sowie dem Erstarken der NS-Bewegung andererseits schenkt Roman Spiss ebenso seine Aufmerksamkeit wie der nationalsozialistischen Festkultur und der Stimmung in der Bevölkerung. In seinen Ausführungen verknüpft er objektive Daten mit Berichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Der propagandistischen Ästhetisierung des öffentlichen Raums nähert sich der Autor nicht nur textlich, sondern auch durch die Auswertung eines zeitgenössischen Farbfilms, dem er Standbilder entnommen hat.

In seinen Beiträgen zur Stadt Innsbruck analysiert Horst Schreiber die politische Kraft der Rede von der „Volksgemeinschaft“. Ihre Attraktivität beruhte auf der Praxis des Mitmachens, auf der Beschäftigungspolitik und Förderung einer Leistungsgemeinschaft, auf dem utopischen Entwurf einer herrlichen Zukunft sowie auf der Herstellung von Gemeinschaft durch Inklusion und Exklusion. Der Autor untersucht das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit, stellt aber fest, dass Dissonanzerfahrungen bis zum Krieg nur bei einer verschwindend kleinen Minderheit zu widerständigem Verhalten führten. Insgesamt war die Mobilisierungsfähigkeit des NS-Regimes beachtlich und seine soziale Integrationskraft aufgrund attraktiver Angebote, Aufstiegs- und Zukunftsversprechen (Arbeit, Wohnen, Urlaub, Auto, Konsum, gesellschaftliche Harmonie, Leistung statt Klassenherkunft) sowie durch die Teilhabe an einer Erlebnisgemeinschaft auf rassistischer Grundlage mit gemeinsamen Praktiken und Ritualen groß. Die Kehrseite der auf Reinheit gegründeten homogenen „Volksgemeinschaft“ der Gleichen war der Ausschluss der Anderen durch Gewalt und die Ermächtigung der Mitglieder der „Volksgemeinschaft“ zur Gewalt. Diffamierung, Stigmatisierung, Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung und schließlich Vernichtung stärkten die Wir-Gruppe, wirkten identitätsstiftend, förderten die Loyalität zur Diktatur und ermöglichten, oft unter dem Deckmantel der ideologischen Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus, eigene materielle Interessen zu verfolgen. Horst Schreiber untersucht diesen Zusammenhang am Beispiel der Exklusion von Menschen, die als „Asoziale“ mit abweichendem Sozialverhalten, Lebensstil und sexueller Orientierung kategorisiert wurden; nicht immer, aber meist handelte es sich um Randständige, die unteren Klassen angehörten und in Armut lebten – um Roma, Sinti, Jenische, Unangepasste, „Arbeitsscheue“, „Gewohnheitsverbrecher“ und BettlerInnen. Eine Querschnittsgruppe waren Homosexuelle, welche die NS-Behörden nicht nur als triebhaft abartig darstellten, sondern auch als Bedrohung für das angestrebte Bevölkerungswachstum ansahen. Ihre Verfolgung diente zudem als Vorwand im Kampf gegen die katholische Kirche, nicht zuletzt um einen Zugriff auf Klöster und Stifte zu haben.

Nirgends war das Wesen der „Volksgemeinschaft“ mit seiner Einteilung in kategorial Ungleiche, in Zugehörige und Nicht-Zugehörige so sichtbar wie in der antisemitischen Praxis der NS-Diktatur, die mehrheits- und zustimmungsfähig war. Wer Zeitungen las oder Radio hörte, war täglich mit der Judendiskriminierung konfrontiert. Wer durch Innsbruck schlenderte, seine Besorgungen machte, seinem Beruf nachging oder sich auf der Straße unterhielt, stieß ständig auf Aufforderungen zum Judenhass; sah im Stadtzentrum ein beschmiertes jüdisches Geschäft nach dem anderen; musste sich mit der Aufforderung zum Boykott des Einkaufens bei Jüdinnen und Juden auseinandersetzen; hörte das Brüllen judenfeindlicher Parolen Uniformierter, die in Massen auftraten. Die judenfeindliche Beteiligungsbereitschaft in der Bevölkerung und die „tätige Teilhabe“ an der Aneignung jüdischen Vermögens demonstrieren eine komplizenhafte Mitwirkung eines breiten gesellschaftlichen Spektrums an der NS-Machtausübung und dessen „repressive Toleranz“ gegenüber der Entrechtung der Jüdinnen und Juden Innsbrucks. Gewalt und besonders die Gewalt des antisemitischen Rassismus stifteten Gemeinschaft.

Welch verheerende Auswirkungen diese Gewalt hatte, muss vor allem aus der Perspektive der Opfer und ihrer Lebenswelt wahrgenommen werden. Michael Guggenberger schildert am Beispiel des Überfalls auf das betagte Ehepaar Popper nicht nur minutiös, wie die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 verlaufen ist. Er veranschaulicht weiters die Reaktionen von Laura und Julius Popper, ihre Verzweiflung und Vereinsamung inmitten einer entsolidarisierten Gemeinschaft, in der sie kurz zuvor noch angesehene Mitglieder waren. Der Autor macht sie trotz aller Ohnmacht auch als aktiv Handelnde sichtbar, die um ihr Überleben kämpften. Laura Popper erweist sich ungeachtet ihres fortgeschrittenen Alters als beherzte Frau, die nicht nur mutig alles in Bewegung setzte, um zu ihrem Ehemann zu gelangen, der in Gestapohaft saß. Bis zu seiner Entlassung organisierte sie auch die Auflassung ihres Haushalts als Vorbereitung für die Flucht aus Innsbruck. Michael Guggenberger legt die vielfältigen Verhaltensweisen der Akteure und Akteurinnen offen. Wir begegnen Tätern, die sich in ihrer Gewaltanwendung voneinander abheben, und unterschiedlich Beteiligten, die passiv bleiben, schweigen, Hilfe verweigern, stehlen, schadenfroh spotten oder sich am Leid der Betroffenen lustvoll ergötzen, vereinzelt aber auch kleine Zeichen menschlicher Anteilnahme zu erkennen geben. Nach den Ausschreitungen und Morden des 10. November 1938 hieß es für die jüdische Bevölkerung „nichts wie fort aus Innsbruck“.

Niko Hofinger hat mit dem Briefverkehr der jüdischen Familie Krieser aus Innsbruck ein einzigartiges Zeugnis des Lebens einer jüdischen Familie aus Innsbruck in den ersten eineinhalb Jahren der NS-Zeit erschlossen. Die Briefe vermitteln die Innensicht der Betroffenen auf die Auswirkungen der antisemitischen Politik und die Reaktionen der Umwelt auf den fortschreitenden Ausschluss der Familienmitglieder aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Die Leserinnen und Leser erfahren von den Alltagssorgen der Diskriminierten, von ihren Ängsten, Hoffnungen und Überlegungen, wie sie der sich stetig verschlechternden Lebenssituation begegnen sollen. „Was wir Ernerl machen werden wissen wir nicht; täglich werden hier die Juden, natürlich auch wir strengstens aufgefordert das Land zu verlassen. wohin? darum kümmert sich kein Mensch! Wohnungen soll man räumen, das Land soll man verlassen und man kann nirgends hinein; ahnst Du wie einem zu Mute sein kann?“, schreibt Fanny Krieser aus Innsbruck an ihre Tochter Erna in Florenz im September 1938.

Claudia Rauchegger-Fischer und Horst Schreiber präsentieren Männer und Frauen aus Schwaz oder mit Bezug zu diesem Bezirk, die vom Anschluss profitierten. Junge ehrgeizige Männer, die sich früh für den Nationalsozialismus engagierten, aber auch Unternehmer, die sich in der Zeit der Illegalität der NSDAP bewährten, machten in Partei, Verwaltung oder Wirtschaft Karriere. Nach 1945 mussten sie eine Zeitlang einen Bruch in ihrer Berufsbiographie in Kauf nehmen, dann konnten sie wieder hohe Positionen im Amt der Tiroler Landesregierung oder in Privatunternehmen erklimmen bzw. sich der materiellen Bereicherung aus der NS-Zeit erfreuen. Der begeisterte Nationalsozialist Walter Waizer, Ehrenbürger der Stadt Schwaz und Stiftungsmäzen, erfährt im Beitrag eine Ergänzung jenes bislang wenig beachteten Teils seines Lebenslaufes, der ihn als Günstling des NS-Regimes und von Gauleiter Franz Hofer ausweist.

Am Beispiel von Angehörigen der Generation des Bundes deutscher Mädel gehen die beiden AutorInnen der Frage nach, inwiefern der Nationalsozialismus jungen Frauen Aufstiegschancen offerierte und diese eine Erweiterung ihres weiblichen Handlungsspielraumes erlebten. Sie stützen sich auf Interviews, die Claudia Rauchegger-Fischer geführt hat und die eine Darstellung aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive ermöglichen. Die AutorInnen spannen den Bogen ihrer Analyse über die Jahre zwischen 1938 und 1945 bis in die Gegenwart. Auch im hohen Alter halten diese Frauen an der sie emotionalisierenden Idee der „Volksgemeinschaft“ als erweiterter Großfamilie ebenso fest wie an der für sie so identitätsprägenden Kraft der NS-Zeit, die als schön, erfüllend und emanzipatorisch in Erinnerung blieb. Sie verweigern sich einer Neuinterpretation dieses Lebensabschnitts, die Verlust von Sinn, Übernahme von Verantwortung und eine bewusste Konfrontation mit Scham, Schmerz und Trauer nach sich gezogen hätte. Eigentlich sehnen sie sich in die für sie gute alte Zeit zurück, haben sie „Heimweh nach Vergangenheit“.

Martin Kofler thematisiert die Visual History des Bezirks Lienz zum Anschluss. Er stellt eine Lücke in der fotografischen Überlieferung der Geschehnisse in den eigentlichen Tagen des politischen Umbruchs fest, erst mit dem NS-Großaufmarsch vom 18. März 1938 wird die nationalsozialistische Machtübernahme in Osttirol fotografisch greifbar. Die maßgebliche NS-Zeitung, der Deutsche Osttiroler, bebilderte ihre Artikel selten und übernahm Fotos meist von auswärtigen Pressestellen. Dennoch sind visuelle Quellen zum Jahr 1938 in Osttirol vorhanden, die breiter gefächert sind, als man vermuten würde. Sie reichen von Bild-Postkarten für touristische Zwecke über die üblichen Porträt-Aufnahmen Uniformierter zu Fotos, die sich erst auf den zweiten Blick erschließen, und Aufnahmen propagandistischer Inszenierungen, die auch im ländlichen Raum eine beachtliche Dichte von Bilddokumenten angestoßen haben. Im Foto-Essay von Martin Kofler finden sich repräsentative Beispiele für das Bildgedächtnis zum Anschluss-Jahr in Osttirol.

Michael Guggenberger begibt sich auf Spurensuche nach öffentlichen und privaten Ereignissen in den Tälern und auf den Bergen Tirols, welche die Begeisterung für die nationalsozialistische Machtübernahme auf widersprüchliche, teils skurrile und absurde Weise demonstrieren. Irritiert lesen wir Zuschriften an die Bauernzeitung, die uns einen weitverbreiteten religiös geprägten Antisemitismus vor Augen führen. Wir staunen über die Faszination des „Führers“, die ein vierjähriger Bub in einem großbürgerlich-städtischen Milieu an den Tag legt. Die Eingabe eines Innsbruckers im Sommer 1938 aus Erwägungen des Naturschutzes gegen das Aufmalen von Hakenkreuzen, weil diese die Berge verschandeln würden, verwundert. Der Autor schließt mit der Geschichte des bekannten Osttiroler Bergsteigers, Weltreisenden, Radiovortragenden, Heimatdichters und Schriftstellers Hannes Schneeberger, der als erster eine Hakenkreuzfahne am Großglockner hisste und dafür von Adolf Hitler in Berlin geehrt wurde. Bis sich herausstellte, dass er manipuliert hatte. Wohin der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland führte, veranschaulicht sein Schicksal, das viele Tiroler mit ihm teilten: Im Februar 1943 erlitt Tausendsassa Schneeberger als Unteroffizier und Sonderführer im Kaukasus „den Heldentod für Führer und Reich“.

Horst Schreiber

Von den Anfängen der NSDAP zur Machtübernahme

Im Herbst wurde die erste Ortsgruppe der „Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei“ (DNSAP) in Innsbruck gegründet. Ende September 1920 trat Adolf Hitler das erste Mal in der Landeshauptstadt öffentlich auf. Während die deutschnationalen Innsbrucker Nachrichten sein Redetalent würdigten und sein Programm mit „national, sozial und antisemitisch“ beschrieben, mokierte sich die sozialdemokratische Volkszeitung über Hitler, der die spärlich erschienenen Besucherinnen und Besucher erst mit antisemitischen Tiraden aus der Reserve locken konnte, „so daß auch die glücklich Schlummernden erschrocken erwachten und ‚Hepp, hepp, Jud, Jud‘ brüllten. So sachlich der Redner begann, so unheimlich geistlos endete er. Aber das eine muß ihm auch der Neid lassen: Lungenkrank und asthmaleidend ist der gute Mann nicht. Der Überfluß an Lungenkraft kann aber trotzdem das Minus an geistiger Kraft nicht ersetzen.“1

1923 errang die DNSAP bei Wahlen zum Innsbrucker Gemeinderat ihr erstes Mandat, 1925 ihr zweites. Die Anzahl der erhaltenen Stimmen war allerdings von 2.039 auf 1.683 gesunken. Bis 1929 reduzierte sich der Anteil nationalsozialistischer Wählerinnen und Wähler wieder auf 479 Stimmen, die sich noch dazu auf zwei einander konkurrierende Listen aufteilten. 1926 spaltete sich die NS-Bewegung in das Lager der nach Deutschland orientierten „NSDAP-Hitlerbewegung“, die am 9. Oktober die Ortsgruppe Innsbruck gegründet hatte, und in jenes der österreichischen DNSAP.2 Aufgrund der lächerlich geringen Mitgliederzahlen von 112 eingeschriebenen Personen musste sich die NSDAP Tirol im Juni 1928 mit Vorarlberg und Salzburg zu einem „Westgau“ unter der Führung von Ing. Heinrich Suske aus Innsbruck zusammenschließen. Die Organisationsdichte ließ jedoch mit neun Ortsgruppen bzw. Zellen im Jahr 1929 weiterhin zu wünschen übrig. Außerhalb von Innsbruck und Kufstein konnte die Partei kaum Fuß fassen, die Streitigkeiten wollten kein Ende nehmen, auch nicht nach der Übernahme der Gauleitung durch Ing. Rudolf Riedl im August 1931. Innsbruck galt der Reichsparteileitung als „ein ganz übles Stänkernest“.3

Ab Ende 1931 erhielt die NSDAP angesichts der Weltwirtschaftskrise und horrend steigender Arbeitslosigkeit deutlich mehr Zulauf, sodass am 27. April 1932 Tirol-Vorarlberg wieder einen eigenen Gau mit 24 Ortsgruppen bilden konnte, davon 14 in Tirol. Das Zentrum der Partei war eindeutig Innsbruck. Den Behörden zufolge soll es in der Landeshauptstadt unter Einschluss von Hötting bereits rund 1.000 Parteimitglieder gegeben haben. Damit lag Innsbruck bei der Mitgliederstärke im österreichischen Vergleich der Bezirke an sechster Stelle, während der Gau Tirol-Vorarlberg den letzten Platz einnahm.4 Die neugewonnene Stärke der NSDAP äußerte sich in ihrer Bereitschaft, die Linke innerhalb und außerhalb von Innsbruck in ihren Zentren provokant herauszufordern. Die Folge waren gewaltsame Zusammenstöße mit Schwerverletzten und Toten. Blutiger Höhepunkt war die „Höttinger Saalschlacht“ am 27. Mai 1932 zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten auf der einen und Nationalsozialisten auf der anderen Seite. Bei diesem Konflikt kam mit Sylvester Fink österreichweit der erste Nationalsozialist ums Leben.5

Im November 1932 stieg der erst 30-jährige Innsbrucker Radiohändler Franz Hofer zum Gauleiter auf. Sein Alter weist auf die besondere Jugendlichkeit der NS-Bewegung hin. Sie vermochte immer mehr Arbeiter anzusprechen, die die Reihen der SA stärkten und im Straßenkampf wichtig waren. Es liefen nun aber auch zahlreiche Männer der Heimatwehr, einer katholisch-konservativ orientierten paramilitärische Organisation, die der Tiroler Volkspartei nahestand, zur NSDAP über, deren Ortsgruppenleiter vielfach aus dem Kreis der Bundes- und Landesangestellten stammten, auch Lehrer befanden sich unter ihnen. Allein zwischen Jänner und März 1933, also unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland, konnte die NSDAP im Gau Tirol-Vorarlberg 89 Ortsgruppen gründen. Ab Frühling 1933 nahm die Zahl der Ortsgruppen und Mitglieder eine geradezu stürmische Entwicklung, gerade auch in kleinen Ortschaften und in Gebieten, wo der Nationalsozialismus bis dahin noch völlig inexistent gewesen war. Auch wenn er nun am Land breiter aufgestellt war, die bäuerliche Bevölkerung blieb in der Partei weiterhin deutlich unterrepräsentiert. Zulauf erhielt die NSDAP besonders aus dem neuen und alten Mittelstand, speziell aus den Reihen der Freiberufler, Gastwirte und Hoteliers. Im März und Mai 1933 traten die Bürgermeister von Kitzbühel und Reutte, beide Hoteliers, der NSDAP bei. Kitzbühel entwickelte sich neben Innsbruck und Kufstein zur Hochburg der NS-Bewegung. In Imst stieg Oberregierungsrat Leo Kravogl, Bezirkshauptmann von Reutte 1925 bis 1933, zum Kreisleiter auf. Die Gemeinden Imst, Kramsach und Fügen verliehen Adolf Hitler die Ehrenbürgerschaft.6 Unter Hofers Führung erreichte die NSDAP den österreichweit spektakulärsten Erfolg in demokratischen Wahlen. Bei den Innsbrucker Gemeinderatsergänzungswahlen im April 1933 erhielt sie 41 % der abgegebenen gültigen Stimmen. 15.000 Wählerinnen und Wähler machten die Partei zur stärksten Fraktion. Eine Woche später fielen in Landeck knapp 38 % der abgegebenen gültigen Stimmen auf die NSDAP. Ihr war es in hohem Maß gelungen, die Jung- und NichtwählerInnen für sich zu mobilisieren, das deutschnationale bzw. großdeutsche Lager aufzusaugen und in beachtlichem Ausmaß ins Lager der Sozialdemokratie einzubrechen.7

In Österreich und mehr noch in Tirol war die nationalsozialistische Bewegung gespalten, ihre Funktionäre konkurrierten miteinander. Erst die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und die Machtübernahme Adolf Hitlers in Deutschland bewirkten den Aufschwung der NSDAP im Land. (Stadtarchiv Innsbruck)

Gauleiter Franz Hofer (Bildmitte) bei einer NS-Kundgebung in der Maria-Theresien-Straße am 7. Mai 1933, wenige Wochen nach dem ersten großen Sieg der Partei bei den Kommunalwahlen in Innsbruck (Stadtarchiv Innsbruck)

Ausflug der NSDAP Telfs (Archiv Stefan Dietrich). Außerhalb der Städte war es für die Hitler-Partei weitaus schwieriger, in Konkurrenz zum Pfarrer und zu den Dorfhonoratioren Fuß zu fassen. Viele ihrer Funktionäre waren Querulanten, randständig und ohne Grundbesitz. Erst nach dem Anschluss drang die NSDAP am Land tief ins katholisch-konservative Milieu ein.

NS-Terror und Verbot der Partei

Da aber die Regierung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im März 1933 das Parlament ausschaltete, im Mai alle Landtags- bzw. Gemeinderatswahlen aussetzte und nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 die Sozialdemokratie, den Parteienstaat und die Republik beseitigte, konnte die NSDAP nicht mehr auf legalem Weg an die Macht gelangen. NS-Terroraktionen, Großdemonstrationen und blutige Zusammenstöße mit der Heimatwehr erschütterten ab Frühjahr 1933 Tirol und ganz Österreich. Auf Versammlungen im Außerfern kündigte der Organisationsleiter der NSDAP, Franz Pisecky, an, alle „großen Lumpen“ hängen zu lassen und die kleinen ins KZ zu transportieren, sobald die Nazis an der Macht wären. Auf der Fahrt nach Höfen hätte er bereits einen geeigneten Platz zur Errichtung des KZ Nummer 1 in Tirol gesehen.8 Nach dem Attentat auf den Tiroler Heimatwehrführer Richard Steidle am 11. Juni 1933 besetzte die Heimatwehr das Braune Haus, Hauptquartier der NSDAP in der Müllerstraße, am nächsten Tag begann die vom Bundeskanzleramt befohlene Verhaftung aller höheren NS-Führer in Österreich. Die Massenfestnahmen trafen auch Ortsgruppenleiter und einfache Mitglieder. Die Fortsetzung terroristischer Anschläge in ganz Österreich bewegte die Bundesregierung am 19. Juni 1933 dazu, die NSDAP zu verbieten. Bis Oktober 1933 flohen rund 600 Tiroler Nationalsozialisten nach Deutschland. Viele von ihnen traten der Österreichischen Legion bei, die zum richtigen Zeitpunkt in Österreich einmarschieren sollte. Trotz der Verhaftungen erhielt die NSDAP weiterhin Zulauf. Gauleiter Hofer wurde Ende August 1933 auf spektakuläre Weise aus dem Gefangenenhaus des Innsbrucker Landesgerichts befreit. Von München aus gab er weiterhin Befehle für den Kampf in Tirol. Die illegale NSDAP setzte ihre Terror- und Propagandaaktivitäten fort. Zentrum der NS-Bewegung war die Universität, führende Aktivisten waren Burschenschaftler und Corpsstudenten. An Eisenbahnstrecken, Brücken, Elektromasten und in Bezirkshauptmannschaften legten die Nationalsozialisten Bomben oder warfen Granaten. Attentate, Mord- und Sprengstoffanschläge, „Papierbölleraktionen“, Hakenkreuzschmierereien, Flugblattaktionen und das Abbrennen von Hakenkreuzfahnen beherrschten bis zum Juli 1934 das äußere Erscheinungsbild Tirols. Kurzfristige „Ruhe“ trat während der Februarkämpfe ein. Die NSDAP verkündete für diese Zeit der Niederringung der Sozialdemokratie und Einführung der Diktatur durch die Regierung Dollfuß einen „Friedensschluss“.9

Am 25. Juli 1934 versuchten die Nationalsozialisten mit Gewalt, die Macht in Österreich an sich zu reißen. Dieser „Juli-Putsch“ scheiterte kläglich, kostete aber vielen Menschen das Leben, unter ihnen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und der Kommandant der städtischen Sicherheitswache von Innsbruck, Franz Hickl. Aus Rache erschoss daraufhin die Heimatwehr den Nationalsozialisten Josef Honomichl. Hickls Mörder, SS-Scharführer Friedrich Wurnig, wurde hingerichtet.10

Nun setzte eine weitere Flucht- und Verhaftungswelle ein, die NSDAP verlor ihre wichtigsten Kader und verschwand bis zum Juliabkommen 1936 aus dem öffentlichen Leben. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg entschloss sich zur Anpassung an Forderungen aus Deutschland, nachdem Italien als Garant der österreichischen Unabhängigkeit durch sein Bündnis mit Hitler verlorengegangen war. Österreich musste verurteilte NS-Aktivisten amnestieren und Nationalsozialisten in die politische Arbeit einbinden. Unter diesen Bedingungen gelang dem illegalen Gauleiter Edmund Christoph die Reorganisation der Partei, wenngleich sie ihre alte Durchschlagskraft nicht mehr erreichte. Die SA gewann bis 1937 eine ähnliche Stärke wie vor dem Parteiverbot. Ihr war es gelungen, junge Arbeiter, vielfach mit ehemals sozialdemokratischer Gesinnung, anzusprechen, die kaum Beschäftigung fanden, die Diktatur Schuschniggs hassten und von ihrer Partei enttäuscht Anschluss an eine dynamische und aktivistische Bewegung suchten, die Hoffnung gab, das austrofaschistische Regime zu stürzen. Der Druck der Exekutive auf NS-Aktivisten ließ nach, sie infiltrierten die staatlichen Institutionen, Justiz, Polizei und Gendarmerie. Die Integration von Nationalsozialisten und NS-Sympathisanten in die nach dem Juliabkommen neu errichteten Volkspolitischen Referate im Rahmen der Vaterländischen Front, der austrofaschistischen Einheitspartei, trieb die nationalsozialistische Unterwanderung von Staat und Gesellschaft rasch voran. Mit dieser Strategie setzte sich Gauleiter Christoph gegen den revolutionär gesinnten Flügel in der NS-Bewegung durch. Auch gegen Hofer, der als „Exponent des Berliner Zentralismus“ weiterhin versuchte, seinen Einfluss in Tirol geltend zu machen. Er stand Christophs Kurs einer „Machtübernahme auf evolutionärem Weg“ ablehnend gegenüber.11

Die Jahre 1933/34 erlebten eine groß angelegte Propaganda-Offensive der NSDAP. Sie verübte zahlreiche Anschläge und Terror-Attentate, die erheblichen Sachschaden zur Folge hatten und Menschenleben gefährdeten. Nicht nur politische Gegner und jüdische Familien dienten als Zielscheibe, auch Unbeteiligte waren betroffen. Ein Sprengkörper riss dem 17-jährigen Schüler Walter Lunger die rechte Hand ab. (Stadtarchiv Innsbruck)

Höhepunkt desTerrors war der gescheiterte Juli-Putsch 1934 und die Ermordung des diktatorisch regierenden Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß. Nach Massenverhaftungen und Massenflucht über die deutsche Grenze machten sich die im Land verbliebenen illegalen NS-Aktivisten erst wieder ab 1936 bemerkbar. Ihre Hauptstoßrichtung war die Unterwanderung des Staates, seiner Organisatio nen und Institutionen. (Stadtarchiv Innsbruck)

Ende 1937 befand sich Österreich in einer verzweifelten Lage. Die Befriedungspolitik der Regierung Schuschnigg hatte die NS-Bewegung gestärkt. Die Arbeitslosigkeit war überdurchschnittlich hoch, die Produktionskapazitäten der Unternehmen waren wenig ausgelastet, die Arbeiterschaft darbte, der Mittelstand war höchst unzufrieden und selbst in der Bauernschaft war die Stimmung äußerst schlecht, viele Betriebe waren überschuldet oder hatten bereits aufgeben müssen. Deutsche Konzerne und Finanzindustrie drängten auf eine Einbeziehung des österreichischen Wirtschaftspotenzials, ebenso Hermann Göring als Verantwortlicher des Vierjahresplans. Deutschland benötigte Arbeitskräfte, Soldaten, Produktionsstätten, Rohstoffe, Konsummöglichkeiten und Devisen, es war praktisch pleite. All dies war in Österreich im Überfluss vorhanden. Auch strategisch bot die geografische Lage des Landes Vorteile für den geplanten Krieg. Hitler hielt sich beide Optionen offen, sowohl den evolutionären Weg, die Unterwanderung Österreichs bis zur friedlichen Machtübernahme, als auch die militärische Lösung.

Aufstellung des Sturmkorps der Vaterländischen Front vor ihrem Führer Kurt Schuschnigg (Arbeiterkammer Wien). So wie sein Vorgänger Engelbert Dollfuß organisierte der aus Tirol stammende Bundeskanzler eine Diktatur nach dem Vorbild des faschistischen Italien, die das Land spaltete, den Staat international isolierte und Österreich 1938 widerstandslos dem Nationalsozialismus auslieferte.

„Den Schwarzen (…) und den Juden wird jetzt langsam schwül“

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich ist als dreifacher Prozess zu verstehen: als scheinlegale Machtergreifung von oben, als pseudorevolutionäre Machtergreifung von unten und als imperialistische Militärintervention von außen.

Die entscheidende Phase der pseudorevolutionären Machtergreifung von oben leitete das Diktat Hitlers ein, vor dem Schuschnigg am 12. Februar 1938 beim Treffen auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden kapitulierte. Österreich musste von nun an seine Außen-, Wirtschafts-, Militär- und Pressepolitik mit Deutschland abstimmen. Schuschnigg nahm die „gemäßigten“ Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart und Guido Schmidt als Innen- und Außenminister in seine Regierung auf. Viele illegale Nazis erhielten Amnestie und Parteianhänger das Recht, sich weitgehend frei zu betätigen. Von hohem praktischen und symbolischen Wert für die NS-Bewegung war die Entlassung des Chefs des österreichischen Generalstabs Feldmarschall Alfred Jansa, eines erbitterten Gegners des Dritten Reiches, der Österreich militärisch auf einen Krieg mit Deutschland vorbereiten wollte. Das Signal, dass die Regierung im Ernstfall nicht zu einer militärischen Verteidigung Österreichs bereit war, wirkte sich wie das gesamte Abkommen von Berchtesgaden demoralisierend auf die Anhängerschaft des Schuschnigg-Regimes aus. Im Schreiben an ihre Cousine in Deutschland verdeutlicht die 17-jährige Lore K., wie sehr die Nationalsozialisten in Innsbruck nun Oberhand bekamen:

„Wir haben es gar nicht begreifen können, dass jetzt auf einmal alles anders werden sollte. Du kannst dir das vielleicht gar nicht vorstellen, weil du es gewohnt bist, dass jeder seine nationalsozialistische Gesinnung zeigen darf. Wenn du aber denkst, wenn einer oft wegen Flugblattverteilen oder auch nur, wenn man wusste, dass er für Hitler eingestellt war, monatelang eingesperrt oder in Wöllersdorf im Konzentrationslager war oder aus der Stellung oder Schule hinausgeflogen ist, kannst du das vielleicht eher verstehen. Man durfte nichts sagen, wenn es jemand hörte, und jetzt ist das auf einmal ganz anders. Jeder darf sich als Nationalsozialist bekennen, darf auf der Straße, in Schulen und Ämtern Gesinnungsgenossen mit dem Hitlergruß grüßen und das Hakenkreuz tragen. (...) Am Sonntag den 20. [Februar] war in Innsbruck ein großer Fackelzug (...) 8000 sind mitmarschiert, aber die Straßen waren ganz überfüllt von solchen, die nicht mitmarschiert sind, sondern nur zugeschaut haben. Alles war ein Sieg-Heil oder Heil-Hitler-Ruf. Die Polizei, die sonst immer gleich dreinschlägt, hat zugeschaut und gelacht. (...) Den Schwarzen, die in der letzten Zeit hochgekommen sind, und den Juden wird jetzt langsam schwül.“12

Am Festumzug zu Ehren des neu ernannten nationalsozialistischen Innenministers Arthur Seyß-Inquart nahmen nicht 8.000, sondern 3.000 Menschen teil, viele bereits in NS-Uniformen. Der Auftrieb für die Nationalsozialisten und ihre Sympathisantinnen war unverkennbar. In den folgenden drei Wochen demonstrierten sie in Umzügen und Märschen in allen Städten und zahlreichen Gemeinden am Land provokant ihre wiedergewonnene Stärke und ihr enorm gestiegenes Selbstbewusstsein.13 Der Bezirkshauptmann von Innsbruck beklagte: „Die Durchsetzung des Autoritätsgedankens (...) zeigt in der gegenwärtigen Situation ein wahrhaft jämmerliches Bild.“14 Die nationalsozialistischen Kundgebungen nahmen an Intensität zu, als Bundeskanzler Schuschnigg am 9. März im Innsbrucker Stadtsaal eine Volksbefragung für den 13. März ankündigte: „Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich.“ Die deutsche Regierung forderte bereits wenige Stunden später ihre Absage. Am 10. März arbeitete der Generalstabschef des deutschen Heeres Einmarschpläne für den 12. März in Österreich aus. Am 11. März um zwei Uhr in der Früh hatte das Oberkommando der Wehrmacht die Weisung für den Einmarsch unterschriftsreif vorbereitet, um 10 Uhr erhielt Bundeskanzler Schuschnigg von Seyß-Inquart einen Brief Hitlers mit dem Ultimatum ausgehändigt, die Volksbefragung unverzüglich abzusagen. Bereits kurz nach Mitternacht hatte die Österreichische Landesleitung der NSDAP die Weisung an die Gauleitungen erteilt, die Machtübernahme zu erzwingen, wenn die Volksbefragung abgehalten würde. Als die Nationalsozialisten am 10. und 11. März auf die Straßen strömten, rissen sie das Gesetz des Handelns an sich. Die Regierung in Wien zeigte sich unfähig zu einem koordinierten Vorgehen, die Tiroler Landesregierung blieb passiv, die wenigen Exponenten des austrofaschistischen „Ständestaates“, die wie der Tiroler Sicherheitsdirektor oder die Bezirkshauptmänner von Reutte und Schwaz Widerstand leisten wollten, blieben auf sich alleine gestellt. Den Befehl des Bezirkshauptmanns von Reutte, nötigenfalls mit Waffengewalt gegen eine immer massiver auftretende 800-köpfige Menschenmenge in der Bezirkshauptstadt vorzugehen, lehnte der verantwortliche Kommandant ab.15 Das politische System zeigte sich wie paralysiert, spätestens seit den frühen Morgenstunden des 11. März kann man infolge dieses Machtvakuums in Tirol, so wie im gesamten Bundesgebiet, von einer Art Doppelherrschaft sprechen.

Nationalsozialistische Demonstrationen am 11. März 1938 in der Maria-Theresien-Straße und in der Anichstraße mit dem Ziel, die Regierung zur Absage der Volksbefragung zu zwingen. (Fotos links und unten: Stadtarchiv Innsbruck. Foto rechts: Österreichische Nationalbibliothek)

Die Machtübernahme

Zentrum der NS-Demonstrationen in Tirol war Innsbruck, wo die Proteste bereits um 9 Uhr in der Früh in Form „lebhafter Bummel“ starteten.16 Als die NS-Umtriebe immer augenscheinlicher wurden, riegelte die Exekutive die Zugänge zum Landhaus ab und sperrte die Maria-Theresien-Straße. Vor der Annasäule und der Herzog-Friedrich-Straße baute sie je ein Maschinengewehr auf. Kurz vor Mittag durchbrachen zwei SA-Stürme und der SS-Studentensturm die Straßensperren. Dabei kam es zu Verletzten, ein SS-Mann wurde von einem Säbelhieb verwundet. Da sich die Polizei zurückzog, hatten die Nationalsozialisten die Hauptstraße Innsbrucks unter ihrer Kontrolle, sodass nun auch immer mehr Menschen aus der Bevölkerung, die bis dahin abgewartet hatten, die Reihen der NS-Formationen stärkten. Die Unentschlossenen stellten sich zunehmend auf die Seite der Demonstrierenden, die die Oberhand zu bekommen schienen. Gemeinsam wurde nun die Absetzung der Volksbefragung und des „Volksverräters“ Schuschnigg verlangt. Die Menge skandierte Kampfparolen, die auch auf mitgeführten Transparenten zu lesen waren: Alles für Österreich – Ohne Schuschnigg, Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer oder Diese Wahl – ein Skandal. Die Demonstrationen, die als inszenierte Aktionen begonnen hatten, bekamen eine Eigendynamik. Eine SA-Standarte und weitere SA- und SS-Stürme strömten in die Innenstadt. Die Gauleitung hatte sich mit Ausnahme von Gauleiter Christoph, der sich zu Besprechungen in Wien aufhielt, im ersten Stock des Gasthofs Alt-Innsprugg einquartiert. Aus einem Fenster wehte bereits eine Hakenkreuzfahne. Dort war auch ein Lautsprecher postiert, mit dessen Hilfe führende NS-Funktionäre die Menschenmenge über die neuesten Entwicklungen in Wien informierten. Gauleiter-Stellvertreter Egon Denz rief die NS-Formationen zu Propagandamärschen in der ganzen Stadt auf, nirgends stießen sie auf Widerstand. Die Maria-Theresien-Straße war bereits am frühen Nachmittag derart überfüllt, dass die Polizei räumen wollte, nach Protesten von Denz aber darauf verzichtete. Stattdessen konnten SA- und SS-Männer mit weißen Binden als Hilfspolizisten auftreten und für „Ruhe und Ordnung“ sorgen.

Auch NS-Sympathisantinnen nahmen zahlreich am Demonstrationszug teil. „Ein anständiger freier Mann“ sollte nicht an der Volksbefragung teilnehmen. Von Frauen war auf den Transparenten nicht die Rede, wohl aber von wirklicher Gleichberechtigung im Nationalsozialismus. (Stadtarchiv Innsbruck)

In Wien spitzten sich die Ereignisse inzwischen zu. Nachdem klargeworden war, dass weder Frankreich und England noch Italien zu mehr als zu verbaler Unterstützung bereit waren, informierte Kanzler Schuschnigg um 14 Uhr 3017 Bundespräsident Wilhelm Miklas über die Absage der Volksbefragung. Den Generalsekretär der Vaterländischen Front wies er an, die Kampagne zu stoppen. Um 15 Uhr erteilte Hitler die Weisung Nummer 1, Österreich militärisch zu besetzen. In hektischen Telefonaten forderte Hermann Göring von Berlin aus den Rücktritt Schuschniggs und die Ernennung von Arthur Seyß-Inquart zum neuen Bundeskanzler. Um 15 Uhr 30 willigte Schuschnigg ein. Der Bundespräsident war prinzipiell bereit, dessen Rücktritt zu akzeptieren, er weigerte sich aber, Seyß-Inquart zum Kanzler zu ernennen.18

Als Gauleiter Christoph gegen 14 Uhr in Innsbruck eintraf, hatte er keine ausgearbeiteten Pläne für die weitere Vorgangsweise mitgebracht, die Gauleitung improvisierte. Inzwischen waren die Häuser in der Maria-Theresien-Straße von Hakenkreuzfahnen übersät, die Innenstadt erscholl von Heil-Hitler-Rufen, dem Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. Gegen 16 Uhr marschierte eine riesige Menschenmenge durch die Straßen Innsbrucks. Angesichts dieser Lage war um diese Uhrzeit nach Berlin gemeldet worden, dass sich Innsbruck „in der Hand der Nationalsozialisten“ befände.

Auf Anweisung von Göring stellte der deutsche Militärattaché in Wien dem Bundespräsidenten um 17 Uhr 40 das Ultimatum, dass Seyß-Inquart bis 19 Uhr Bundeskanzler sein müsse. Präsident Wilhelm Miklas war über deutsche Truppenbewegungen an den österreichischen Grenzen informiert. Der deutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt wiederholte die Forderung gegenüber Miklas, verlängerte das Ultimatum aber bis 20 Uhr. Schuschnigg trat schließlich um 18 Uhr zurück, das Radio berichtete über die Absage der Volksbefragung. Der Bundespräsident lehnte jedoch weiterhin die Bestellung von Seyß-Inquart zum Kanzler ab und wollte ein „Widerstandskabinett“ bilden, das aber nicht zustande kam. Um 19 Uhr 47 verkündete Schuschnigg seinen Rücktritt und die Abdankung seines Kabinetts unter Bekanntgabe der Einmarschdrohung der Wehrmacht und des Verzichts auf militärischen Widerstand. Um 20 Uhr 20 verlautbarte Seyß-Inquart im Rundfunk seinen Verbleib als Innen- und Sicherheitsminister. Hitler unterschrieb um 20 Uhr 45 die Weisung Nummer 2 zum Einmarsch deutscher Truppen in Österreich bei Tagesanbruch. Um 22 Uhr stimmte der Bundespräsident der Ernennung von Seyß-Inquart zum Kanzler zu, das Radio machte dessen Ernennung um 23 Uhr 14 publik, um 23 Uhr 45 folgte die offizielle Betrauung von Seyß-Inquart zum Bundeskanzler.19

Der Tiroler Landeshauptmann verließ nach der Radiomeldung das Landhaus, Teile der Polizei waren übergelaufen und versahen ihren Dienst bereits mit der NS-Binde.

Entsprechend einer Anordnung der österreichischen Landesleitung der NSDAP wollte die Tiroler Gauleitung einen abendlichen Fackelzug abhalten, weshalb Christoph den Befehl an die Formationen ausgab, sich am Innrain zu sammeln. Als das Radio um 19 Uhr 47 den Rücktritt des Bundeskanzlers bekanntgab, kannte der Jubel kein Ende und die eigentliche Machtübernahme begann. Um 20 Uhr 30 traf der Befehl von Seyß-Inquart an die Gauleitung ein, die Macht an sich zu reißen. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich Gauleiter Christoph und sein Stellvertreter Denz am Innrain auf, um den geplanten Fackelzug wegen der Absage der Volksbefragung zu starten. Doch nun ging es um die Machtergreifung. Sie schlugen sich durch die Menschenmassen zum Landhaus durch, doch als sie dort gegen 21 Uhr ankamen, war es bereits besetzt. Nach der Rundfunkansprache Schuschniggs hatte der Führer der 8. SS-Standarte Erwin Fleiss, ohne weitere Befehle abzuwarten, die Machtübernahme mit seinem SS-Sturm im Landhaus durchgeführt und eine Hakenkreuzfahne von einer Dachluke aus entrollt. Gauleiter Christoph beauftragte die SS, die strategisch wichtigsten Punkte zu besetzen. Als kommissarischer Landeshauptmann berief er Egon Denz zum Bürgermeister von Innsbruck. Er wies die Kreisleiter an, die Bezirkshauptmannschaften zu übernehmen, und verkündete die personellen Besetzungen der neuen Landesregierung unter seiner Führung. Seine Antrittsrede, die er gegen 23 Uhr vom Landhaus aus begonnen hatte, schloss er mit den Worten: „Wir sind stolz und glücklich darüber, unserem geliebten Führer unser Heimatland Tirol als die schönste Perle, den Garten Deutschlands, zu Füßen legen zu können.“20

In den Abendstunden hatte sich der Protest gegen die Volksbefragung aufgrund der Passivität der Regierung und des militärischen Drucks von Deutschland in eine Machtübernahme von unten verwandelt. (Österreichische Nationalbibliothek)

Auch am Land verlief die Machtübernahme für die Nationalsozialisten reibungslos. Der Gendarmerieposten Zell am Ziller, der nach der Besetzung durch die SA um 22 Uhr 30 mithalf, die Frontmiliz des Schuschnigg-Regimes zu entwaffnen, berichtete: „Damit hatte sich der Umbruch in vollster Ruhe vollzogen. (...) Die Gendarmen, die in den letzten Jahren gegen die eigenen Leute gehetzt wurden, atmeten froh auf, weil sie nun wieder mit dem Volke mitleben dürfen und kein Mißbrauch dieser Institutionen gegen das Volk mehr zu befürchten ist.“ Der Posten Kaltenbach wusste zu melden: „Mangels eines Gegners brauchte die SA nicht herangezogen werden. Die bisher staatstreue Bevölkerung hat in der kritischen Zeit der Machtübernahme bewiesen, daß sie die jeweilige Obrigkeit anerkennt.“21

Wenn der politische Wandel auch widerstandslos durchgeführt werden konnte, so gehörte Gewalt von Anfang an zu den Herrschaftsmitteln des NS-Regimes. Der sofort einsetzende Terror war die Kehrseite des „friedlichen Übergangs“. Im Schatten des Jubels räumte die NS-Diktatur mit Hunderten ihrer Gegner auf. Viele von ihnen wurden verspottet, verhöhnt und verprügelt, Massenverhaftungen setzten ein. Zunächst handelten NS-Funktionäre auf eigene Faust, bis ein staatlich gelenkter, systematischer Terror diese anarchische Verhaftungswelle ablöste. Während der Großteil nach kurzer Zeit wieder freikam, hatten diejenigen, die engagiert gegen die Nationalsozialisten aufgetreten waren, mit härtesten Konsequenzen zu rechnen, bis hin zur Überstellung in ein Konzentrationslager. Bereits am 31. Mai und am 23. Juni 1938 gingen die ersten Transporte mit 63 Häftlingen unter Beschimpfungen und Schlägen von Innsbruck ab ins KZ Dachau; unter ihnen die Repräsentanten von Heimatwehr, Frontmiliz und Vaterländischer Front, der Tiroler Sicherheitsdirektor, der Innsbrucker Gefängnisdirektor und 21 Exekutivbeamte.22

Mustergau Tirol-Vorarlberg

Trotz der Machtübernahme der Nationalsozialisten marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein. Hitler gab den Einmarschbefehl aber erst um 20 Uhr 45 des 11. März, nachdem Schuschnigg klargestellt hatte, dass von österreichischer Seite kein militärischer Widerstand zu erwarten war. Nun hatte Hitler völlig freie Hand, seine Vorstellungen über die Zukunft Österreichs durchzusetzen. Am 13. März erfolgte der Anschluss Österreichs an Deutschland zunächst als Land („Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich“). In einer mit gewaltigem Aufwand betriebenen Propaganda ließ sich die NS-Diktatur in der Volksabstimmung vom 10. April 1938 den politischen Umbruch legitimieren. 218.647 Tirolerinnen und Tiroler, das waren 99,3 % der abgegebenen gültigen Stimmen, kreuzten ein Ja an auf die Frage:23 „Bist Du mit der am 13. März vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“

Ende Mai 1938 bestimmte Hitler die parteimäßige Einteilung der Bundesländer in Gaue. Osttirol kam schließlich zu Kärnten, Vorarlberg zu Tirol. Durch das „Gesetz über Gebietsveränderungen im Lande Österreich“ wurden die staatlichen Verwaltungsbezirke mit den Grenzen der Parteigaue übereingestimmt. Am 1. Mai 1939 trat das Ostmarkgesetz in Kraft. Österreich hörte auf, ein selbständiger Verwaltungskörper zu sein. Anstelle des Landes Österreich wurden sieben Reichsgaue geschaffen, die Mittelinstanz zwischen den obersten Reichsbehörden und der untersten Verwaltungsebene, den Landkreisen, waren. Die Befugnisse des Bundes gingen auf die Reichsgaue und die Berliner Zentralbehörden über. Als Inhaber staatlicher Hoheitsgewalt sicherte der Reichsstatthalter in Personalunion mit seinem Amt als Gauleiter eine feste Einheit zwischen Partei und Staat. Durch das Ostmarkgesetz wurden die Reichsstatthalter mit einer enormen Machtfülle ausgestattet, Gauleiter Hofer konnte sich für seinen Gau eine ganze Reihe von Kompetenzen des liquidierten Landes Österreich auf Kosten der ehemaligen Metropole Wien sichern. Dies alles stärkte das Selbstbewusstsein der Provinz mit ihrem traditionell ausgeprägten Länderpatriotismus. Als „Reichsstatthalter in Tirol und Vorarlberg“ konnte Franz Hofer wie ein Landesfürst regieren. Im Machtkampf gegen Edmund Christoph und die ehemals illegalen Nationalsozialisten hatte er sich durchsetzen können. Nach der Ablöse Christophs als Gauleiter im Mai 1938 besetzte Hofer die wichtigsten Parteifunktionen mit seinen Leuten, meist „Emigranten“, die nach dem Parteiverbot nach Deutschland geflohen waren. Die Illegalen mussten in die zweite Reihe zurücktreten.

Am 12. und 13. März 1938 marschierten Nationalsozialisten und NS-Anhängerinnen selbstbewusst vor der Triumphpforte oder nahmen in der Maria-Theresien-Straße Aufstellung. Auf dem Balkon des Landhauses begrüßten NS-Aktivisten den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Innsbruck. (Österreichische Nationalbibliothek)

Einmarsch einer Vorhut deutscher Truppen in Innsbruck (Österreichische Nationalbibliothek)

Flugblatt für die Volksabstimmung am 10. April 1938 (Stadtarchiv Innsbruck)

Deutsche Volkszeitung, 5.4.1938, 1

Schützen begrüßen Adolf Hitler bei seiner Ankunft in Innsbruck am 5.4.1938. (Stadtarchiv Innsbruck)

Die breite Förderung von Schießständen, Landesschießen, Schützenwesen und Brauchtumsvereinen trug wesentlich bei zur Beliebtheit von „Landesvater“ Franz Hofer. Der Nationalsozialismus trat als Hüter Tiroler Traditionen auf und präsentierte sich als heimatverwurzelte Kraft, die Volkskunst, Trachten und Laienspielgruppen hochhielt, Tiroler Eigenständigkeit betonte und die Bevölkerung in eine ständige Festlaune versetzte. Als Gauleiter, Reichsstatthalter und Oberschützenmeister werteten Franz Hofer und die NSDAP mit ihrer antimodernistischen Kulturpolitik die provinzielle Identität Tirols auf und stärkten so die soziale Integrationskraft der NS-Bewegung.

Gauleiter Franz Hofer in seiner Funktion als Oberschützenmeister (Stadtarchiv Innsbruck)

Gauleiter Franz Hofer auf einem Wiesenfest in Volders (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Zeughaus)

Ein großes Aufgebot politischer Leiter, Schützen und Brauchtumsgruppen aus Tirol nahm am Nürnberger Parteitag 1938 teil. (Festausgabe als Teil der Innsbrucker Nachrichten, 13.9.1938)

Leibgurt für die Sonderausstellung Tiroler Volkskunst und Handwerk (Innsbrucker Nachrichten, 10.9.1938, 8)

Zu Kriegsbeginn war Tirol in sieben Kreise, 237 Ortsgruppen, 489 Zellen und 2.499 Blocks eingeteilt. Anfang 1942 wiesen die sieben Kreise 243 Ortsgruppen, 549 Zellen und 2.817 Blocks auf.24 Dieses breit ausgebaute Organisationsnetz der Partei war es auch, das die (Selbst-) Kontrolle der Bevölkerung sicherstellte. Die breite Zustimmung der Tirolerinnen und Tiroler zum Nationalsozialismus fand in der hohen Mitgliederdichte ihren Niederschlag. Gauleiter Hofer hatte den besonderen Ehrgeiz, Tirol-Vorarlberg als Mustergau des Reiches präsentieren zu können. Deshalb war er an möglichst vielen Eintritten in die NSDAP interessiert. Bis 1938 lag der Anteil der Parteimitglieder unter dem österreichischen Durchschnitt, nach dem Anschluss stürmten die Tirolerinnen und Tiroler die Partei. Im November 1938 waren in Tirol 7.893 Mitgliedschaften erfasst, Mitte 1939 41.763 und bis Mai 1943 stiegen sie im gesamten Gau Tirol-Vorarlberg auf 72.223. Im September 1946 waren in Tirol 45.863 Personen als ehemalige Nationalsozialisten registriert.25 Damit lag Tirol an der Spitze der österreichischen Gaue. Hier waren 14 % der Wohnbevölkerung und mehr als ein Fünftel der über 18-Jährigen Mitglied der NSDAP. Wenn man davon ausgeht, dass Frauen in der Partei unterrepräsentiert waren und weniger als ein Viertel der Mitglieder ausgemacht haben dürften,26 so lässt sich schätzen, dass rund ein Drittel der erwachsenen männlichen Bevölkerung Tirols in der NSDAP war oder einen Aufnahmeantrag gestellt hatte.

Sabine Pitscheider

„Trotz Verbot noch nicht tot“1—Nationalsozialistischer Terror im Bezirk Kitzbühel 1933/34

Viele Jahre war die NSDAP in Tirol eine kleine, zwar radikale, aber unbedeutende Partei mit geringer lokaler Verankerung. Ab dem Herbst 1931, nach internen Querelen und Machtkämpfen, erstarkte die NSDAP2 und dehnte ihre Propaganda erfolgreich auf die Tiroler Bezirke aus. Sie trat aggressiv auf, ignorierte gesetzliche Vorgaben, gewann Mitglieder und immer mehr Einfluss. Nach dem Verbot im Juni 1933 arbeitete sie in der Illegalität mit terroristischen Methoden weiter auf den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich hin.

„… die Nazi immer mehr Boden gewinnen …“3 – Aufschwung der NSDAP 1931–1933

Im Herbst 1931 startete die NSDAP-Gauleitung eine Propagandakampagne mit dem Ziel, in die Landgemeinden vorzustoßen. Durchaus mit einigem Erfolg, denn es gelang der NSDAP, sich auch im Bezirk Kitzbühel und seinen damals 22 Gemeinden (heute 20)4 zu verankern. Die Mehrheit der Kitzbühler Bevölkerung – 30.502 Menschen laut Volkszählung 1934 – lebte von der Land- und Forstwirtschaft mit seinen begleitenden Gewerben wie holzverarbeitende Betriebe, vom Handel und vom Fremdenverkehr. Kleinstädtischen Charakter wiesen die Gemeinden Kitzbühel-Stadt mit nur 4,26 % landwirtschaftlicher Bevölkerung und Hopfgarten-Markt mit 5,81 % auf.5 Die Wirtschaftskrise und die nachfolgenden Sparprogramme ließen auch in diesem Bezirk die Menschen verarmen und weckten Zweifel an der Lösungskompetenz der österreichischen Regierung.

Die Sicherheitsbehörden überwachten alle Parteien und somit auch die Propagandatätigkeit der NSDAP. Auf Befehl der NSDAP-Landesleitung in Linz Mitte Oktober 1931 seien von den örtlichen NS-Funktionären mindestens einmal in der Woche Versammlungen abzuhalten, ab Anfang November sollten die Gauleitungen Bauernversammlungen mit Parteirednern beschicken oder eigene einberufen.6

Die Taktik, gegnerische Versammlungen zu besuchen, die Redebeiträge mit Zwischenrufen zu stören und das Publikum zu provozieren, zeitigte Erfolge. Am 25. Oktober 1931 fand eine Versammlung des Bauernbundes im Gasthof Zur Post in Kössen statt, bei der es fast zu einer Schlägerei zwischen Anhängern der Heimatwehr (HW) und Bauern gekommen wäre. Die „Teilnahme randalierender Elemente und unnützer Schreier“ habe die Versammlung sehr gestört, berichtete der christlich-soziale Tiroler Anzeiger.7 Die Kitzbühler Gendarmerie meldete der Bezirkshauptmannschaft, anschließend an diese Versammlung habe sich eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet, die innerhalb eines halben Jahres auf 72 Mitglieder angewachsen sei. Unter diesen 72 seien 52 Bauern, geleitet werde die Ortsgruppe von einem Kleinbauern.8 Der Bauernbund in Kössen musste eine aus seiner Sicht weitere schwere Niederlage hinnehmen, denn der Obmann Franz Ronacher wechselte ins „Reich der Hitlerianer“. Im März 1932 musste der Bund bei einer Versammlung unter Störversuchen von NS-Anhängern eine neue Führung wählen.9

Andere Gemeinden des Bezirkes folgten: Schon im Februar 1931 soll sich in Fieberbrunn eine NSDAP-Ortsgruppe gegründet haben,10 im Mai 1931 folgte Hopfgarten, „eine der ältesten und kampferprobtesten Ortsgruppen des Kreises Kitzbühel“, wie es bei der Zehn-Jahres-Feier hieß.11 1932 folgten die Stadt Kitzbühel, St. Johann, Westendorf, Kirchberg, Waidring, Kirchdorf, im Frühjahr 1933 Brixen im Thale, Erpfendorf, Schwendt und Reith bei Kitzbühel.12

Die Einschätzung der Bundespolizeidirektion Wien vom Februar 1932, die NSDAP verzeichne in Tirol kaum Fortschritte und stoße auf „den Widerstand heimattreuer Kreise“13, war verfrüht. Denn die Tiroler Landespolizei stellte in ihrem Bericht für 1932 besorgt fest, dass die „politischen Leidenschaften“ durch „das starke Hervortreten der Nationalsozialisten erregt“ worden seien.14 Im Sommer und Herbst 1932 sei es der NSDAP gelungen, „unter der Landbevölkerung Tirols schon einen deutlichen Aufschwung [zu] verzeichnen“, veröffentlichte die Neuste Zeitung (Abendausgabe der NS-freundlichen Innsbrucker Nachrichten) im Mai 1933 einen vom Pressereferenten der Gauleitung verfassten Artikel.15

Die NSDAP setzte ihren Werbefeldzug fort und bot als Anreiz etwa vergünstigte Beiträge für Bauern. Bauern müssten keine Aufnahmegebühr zahlen und nur einen reduzierten Mitgliedsbeitrag, informierte der NSDAP Bezirksverband Kufstein-Kitzbühel im Jänner 1933 die Ortsgruppe Kössen.16

Genaue Angaben über die Mitgliederzahl fehlen, aber gerade in kleinen Gemeinden war die Existenz einer Ortsgruppe allein schon Propaganda genug, und stand womöglich ein angesehener Bürger an der Spitze, wertete es sie auf. Der erste Ortsgruppenleiter der im April 1932 gegründeten NSDAP-Ortsgruppe in St. Johann war etwa der örtliche Zahnarzt.17 Die Gendarmerie in St. Johann teilte im April 1933 mit, in der Ortsgruppe seien etwa 100 Mitglieder18 plus „mehrere Bauern, welche sich zur Partei bekennen, jedoch nicht eingeschriebene Mitglieder“ seien. Ortsgruppenleiter sei nun ein früherer Bankbeamter, jetzt Buchhalter. Informationen über die NSDAP und ihre Gliederungen scheinen noch nicht weit verbreitet gewesen zu sein, denn der Gendarm ging, wie nachfolgende Meldung zeigt, davon aus, dass alle Mitglieder eine Uniform trügen, und nicht nur die Männer der SA und SS.

„Adjustierung scheint noch mangelhaft zu sein, weil von den eingeschriebenen Mitgliedern noch ein Großteil keine Monturen haben dürfte, wenigstens sieht man noch immer einige in Civilkleidern gehen. Getragen wird braunes Hemd, Mütze, Leibriemen und Schulterriemen. Was ihre Bewaffnung anbelangt, konnte bisher nichts Stichhältiges erhoben werden; es ist jedoch mit Sicherheit anzunehmen, daß die Partei über jene Waffen verfügt, welche früher der Heimatwehrortsgruppe St. Johann zugeschoben worden sind.“19

Ob die Ortsgruppen nun über viele eingeschriebene Mitglieder verfügten oder nicht, sie entfalteten eine rege Tätigkeit, versammelten sich öffentlich, verteilten NS-Propagandamaterial und sie waren nachts aktiv. Der Bürgermeister von Kössen, Georg Kramer, wandte sich im Mai 1932 direkt an den Landeshauptmann um Hilfe:

„In unserer Gemeinde wird der Unfug getrieben, daß von National-Sozialisten bezw deren Beauftragten in der Nacht vom 14 auf 15 Mai 1932 also Pfingst-Sonntag in der Frühe an vielen Häusern, Städeln ect und letzten Sonntag auch sogar an fast unzugänglichen Felsen weit sichtbare Hackenkreuz teils mit Schablone teils sonst mit Kalk oder Farbe angemalen worden sind.“

In der folgenden Nacht sei die Gemeinde wieder mit Hakenkreuzen „verunstaltet“ worden. Am Pfingstsonntag selbst habe abends ein deutlich sichtbares Höhenfeuer in Form eines Hakenkreuzes gebrannt und es seien Böllerschüsse zu hören gewesen. Die Gendarmerie schreite trotz seiner Bitten nicht ein.20 Die Gendarmerie Kitzbühel erhob zahlreiche Einzelheiten: In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1932 hätten vier Nationalsozialisten an mehrere Häuser Hakenkreuze in roter und grüner Farbe gemalt, in der Nacht vom 11. auf den 12. Mai zwei NS-Anhänger, ebenso in der Nacht vom 14. auf den 15. Mai. Nach Anordnung von Nachtpatrouillen durch den Bürgermeister sei es zu keinen weiteren Schmierereien gekommen. Dafür brannte am Abend des 15. Mai mit Einverständnis des Besitzers ein Hakenkreuz-Höhenfeuer auf einer Alm am Unterberg.21

Meldungen solchen Inhalts langten aus allen Landesteilen Tirols ein, was auf eine gewisse Koordination einer zentralen Stelle hinweist. Diese Nachteinsätze mit den NS-Symbolen verschafften der NSDAP in den betroffenen Gemeinden einen hohen Grad an Aufmerksamkeit, beunruhigten die Bevölkerung, schüchterten die einen ein, zogen die anderen an. Ebenso einschüchternd oder anziehend dürften Märsche in Formation gewirkt haben. Im September 1932 marschierten etwa 42 teils uniformierte Männer der Kitzbühler SA am Abend durch die Stadt. Die Gendarmerie zeigte den örtlichen SA-Führer Johann Mathoi – nach 1938 SA-Führer in Tirol, Täter in der Pogromnacht und Ratsherr der Stadt Innsbruck – wegen einer nicht angemeldeten Demonstration an. Dieser reagierte mit den üblichen Ausflüchten, es habe sich nicht um einen Umzug gehandelt, sondern nur um ein „Hinmarschieren“ zum Wirt, weil „Gegner im Torbogen auf uns warten“ und er einen Zusammenstoß befürchtet habe.22 Schlägereien zwischen Anhängern verfeindeter Parteien standen zwar nicht an der Tagesordnung, passierten aber, legte man Wert auf Ruhe und Ordnung, zu häufig.

Im Oktober 1932 versammelten sich NS-Anhänger zur Feier eines „Deutschen Tages“ in Kitzbühel. Die Feier begann am 15. Oktober abends mit einem Platzkonzert und einem Fackelzug, an dem 250 uniformierte Nationalsozialisten teilnahmen. Am 16. Oktober weckte eine SA-Kapelle um 7 Uhr morgens die Bevölkerung mit Musik. An Fahnenübergabe, Festzug und Heldenehrung am Kriegerdenkmal mit etwa 460 Uniformierten aus ganz Tirol (mit einer Abordnung aus dem Deutschen Reich) schloss sich eine Festversammlung an.23 Der spätere Kreisleiter Hans Hanak teilte der Gauleitung stolz mit:

„Kitzbühel ist heute außer Kufstein die beste Ortsgruppe des Bezirksverbandes24. (...) Wir müssen nur die Gelegenheit und Stimmung für uns ausnützen, um aus Kitzbühel eine Nazihochburg zu machen. Mit Rücksicht auf den Weltruf, den Kitzbühel genießt, wäre ein Nazierfolg in Kitzbühel von großer propagandistischer Bedeutung.“25

Die örtlichen NSDAP-Gruppen setzten ihre aggressive Propaganda, beflügelt vom Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler Ende Jänner 1933, noch ungehindert fort. Die politische Stimmung war mittlerweile so vergiftet, dass an sich harmlose Anlässe zu ernsthaften Auseinandersetzungen ausarten konnten. In der Nacht vom 19. auf den 20. März 1933 kam es in Fieberbrunn nach Wortgefechten zwischen HW-Männern und „Zivilisten anderer Gesinnung“ zu einer Schlägerei mit Verletzten.26 Am 28. März 1933 marschierte am Abend eine Gruppe von etwa 30 HW-Männern zu einer Marschübung von Kitzbühel entlang der Bundesstraße in Richtung Jochberg. Ein SA-Mann begleitete den Zug und spottete so lange, bis ihn die HW verhaftete. Ein Passant verständigte die SA im Parteiheim Seidlwirt, die ihrem Kollegen zu Hilfe eilte. Nur rechtzeitig eingetroffene Gendarmerie verhinderte eine Schlägerei.27 Die HW war erklärte Gegnerin der NSDAP, ihre Führer standen daher im Fokus von Beschimpfungen und Drohungen. Als die Almhütte des HW-Führers von Kitzbühel, des Rechtsanwaltes Otto Zimmeter, Ende März 1933 abbrannte, verdächtigte dieser die lokalen Nationalsozialisten. Er wandte sich direkt an den Tiroler HW-Führer Richard Steidle und bat um Hilfe:

„Ich persönlich bin felsenfest davon überzeugt, daß ein Kitzbüheler Angehöriger der sogenannten ‚Freiheitsbewegung‘ aus Rachsucht die Hütte angezündet hat; in dieser Ansicht werde ich vor allem dadurch bestärkt, daß Tags vorher ein Heimatwehraufmarsch in Uniform in meiner Anwesenheit durchgeführt wurde und es hiebei, wie das ja immer sein muß, zu Anpöbelungen und Stänkereien durch die Nazi gekommen ist, (...).“28

Wer den Brand gelegt hatte und ob es überhaupt Brandstiftung war, blieb ungeklärt, der Vorfall zeigt aber, welche Stimmung im Bezirk herrschte. Es kam durchaus vor, dass HW-Männer zur NSDAP übertraten, wie etwa der ehemalige Führer in St. Johann, der Bauer Josef Grander29.

Schon zuvor war der lokalen NSDAP ein großer propagandistischer Erfolg gelungen. Am 6. März 1933 bekannte sich der großdeutsche Bürgermeister von Kitzbühel, der Hotelier Ernst Reisch, bei einer öffentlichen Versammlung, bei der die NSDAP die Wahlen im Deutschen Reich und den Stimmenzuwachs für Hitler feierte, zum Nationalsozialismus. Wir „vergönnen den Braunhemden neidlos und aus ganzem Herzen diese neue Akquisition“, schrieb der Tiroler Anzeiger, bezweifelte aber, ob dies dem Fremdenverkehrsort Kitzbühel nütze. Da Antisemitismus die Triebfeder der NSDAP sei, dürfte sich dies auf das Hotel des Bürgermeisters auswirken:

„Man muß sich nur mit der nötigen Lebhaftigkeit das zerrissene, zwiespältige Herz des Herrn Ernst Reisch vorstellen, der einerseits während der Saisonen Tag und Nacht den jüdischen Damen die Hände küssen, gleichzeitig aber in den Chor der Rache: ‚Juda, verrecke!‘ pflichtgemäß einstimmen muß.“30

Wie viele NS-gesinnte Gemeinderäte in den Gemeindestuben des Bezirkes saßen, ist unbekannt und müsste noch erforscht werden.

Die Tiroler NSDAP folgte in ihrem „Festkalender“ den reichsdeutschen Vorgaben, weshalb die lokalen NSDAP-Ortsgruppen den Geburtstag Adolf Hitlers am 20. April 1933 feierten. Während die Ortsgruppe Kirchberg sich an die behördlichen Vorgaben hielt – am Vorabend Bergfeuer in Form von Hakenkreuzen, am Abend des Geburtstages selbst eine geschlossene Veranstaltung mit Reden und Musik31 – kam es in der Stadt Kitzbühel zu Unruhen. Am Vorabend brannten Bergfeuer in Form eines Hakenkreuzes, „von denen allerdings infolge Nebels und schlechter Witterung vom Tale aus nicht viel zu sehen war“. In der Nacht brachten Unbekannte am Turm der Katharinenkirche im Kitzbühler Zentrum eine Hakenkreuzflagge an. Am Vormittag des 20. April prügelte sich in der Innenstadt ein NS-Anhänger mit einem HW-Mann, bevor die Gendarmerie einschritt. Für den Abend hatte die NSDAP ein Platzkonzert unter freiem Himmel und einen „Familienabend“ im Casino-Reisch angemeldet. Die Bezirkshauptmannschaft verbot das Konzert, genehmigte aber den „Familienabend“ mit Einschränkung auf geladene Gäste.32 Die NSDAP ignorierte das Verbot, ihre Mitglieder versammelten sich am frühen Abend zu einem Fackelzug auf dem Hauptplatz, die SA-Musikkapelle begann zu spielen. Als trotz Aufforderung der Gendarmerie, sofort aufzuhören, keine Reaktion erfolgte, gingen zehn Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett gegen die „Ruhestörer“ vor.33 Rund um die Musikkapelle standen an die 150 SA-Männer, auf der gegenüberliegenden Straßenseite „sehr viele Neugierige aller Bevölkerungsschichten“. Die Gendarmerie verhaftete den SA-Führer Johann Mathoi, woraufhin einige SA-Männer „durch Gewaltanwendung den Abtransport ihres Führers zu verhindern“ versuchten. Während die Gendarmerie Mathoi abführte, spielte die Musikkapelle den Marsch fertig, was die NS-Anhänger mit „Heil Hitler!“-Rufen belohnten und aus der Bevölkerung „Pfui-Rufe“ zu vernehmen waren. Der anschließende „Familienabend“ verlief ruhig und dauerte bis 5 Uhr am nächsten Morgen.34 Der Vorfall zeigt die Taktik der NSDAP: Sie ignorierte zuerst behördliche Vorgaben, weigerte sich dann, diese zu befolgen und provozierte das Einschreiten der Gendarmerie. Pressemeldungen waren ihr damit sicher, zugleich führte sie mit ihrem Verhalten die Behörden geradezu vor.

Die Ortsgruppe Kirchberg feiert Adolf Hitlers Geburtstag am 20. April 1933. (Neueste Zeitung, 19.5.1933, 3)

Als knapp zwei Wochen später, am Sonntag den 7. Mai, sich an die 50 NS-Anhänger in Lederhose, weißem Hemd, schwarzer Krawatte und Schlagringen am Stadtplatz in Kitzbühel versammelten, kam es zu Schlägereien mit Gottesdienstbesuchern. Der SA-Führer Mathoi habe „Hitler“ gerufen, seine Anhänger hätten mit „Heil“ geantwortet, auf den Ruf „Dollfuß“ sei im Sprechchor die Antwort „verrecke“ erfolgt. Der Zwischenfall hatte ein Nachspiel. Ein Mann wandte sich direkt an Landesrat Hans Gamper und deponierte: „Wir fühlen uns in Kitzbühel schutzlos.“35 Der HW-Kommandant von Kitzbühel schrieb einen erbitterten Brief an die Landesleitung der HW in Innsbruck. Am Vormittag des 7. Mai seien etwa 45–50 NS-Mitglieder durch die Straßen Kitzbühels geschlendert, wobei der SA-Führer Mathoi immer wieder gerufen habe: „Deutschland erwache, Dollfuß verrecke, wer sind die Verräter? Die Heimatwehr.“ Die ungefähr 20 HW-Männer hätten mit „Pfui“ und „Heil Starhemberg“ geantwortet. Am Abend seien bei einer Schlägerei sechs Nationalsozialisten verletzt worden, um 20 Uhr wollten diese sich rächen und versuchten das HW-Lokal zu stürmen. Die HW vertraue den derzeit in Kitzbühel stationierten Gendarmen nicht,