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"Wer schon einmal Fahrrad gefahren ist, weiß, dass im Leben nichts flach ist." – René Fallet, franz. Schriftsteller (1927 – 1983) Mitten im Kriegssommer 1942 rief die deutsche Besatzungsmacht gemeinsam mit den französischen Kollaborateuren den "Circuit de France" ins Leben. Er war als eine Art Tour de France gedacht, die seit 1940 nicht mehr stattgefunden hatte. Vom 28. September bis zum 4. Oktober begaben sich 72 Fahrer aus Frankreich, Belgien und Italien in sechs Etappen auf die 1.650 Kilometer lange Strecke. In aller Eile entworfen, führte sie als Rundfahrt von Paris nach Paris, durch ein Frankreich, das durch die Demarkationslinie geteilt war. Den Fahrern fehlte es während dieser improvisierten "Tour de force" an allem: Material, Verpflegung und vor allem an Motivation. Einer von ihnen war Émile Idée, seinerzeit einer der besten französischen Radrennfahrer. Seine Geschichte und die der anderen Mitstreiter erzählt Étienne Bonamy auf berührende Weise. Er schildert ein Rennen, das zwischen Widerstand und Kollaboration, Schwarzmarkt und Erpressung, persönlichem und politischem Interesse, besetzter und freier Zone stattfand. Ein facettenreicher Roman, der die Politik dieser Epoche und die Rolle des Sports sowie der Presse in einem autoritären Regime einfängt. • Bewegender Roman des französischen Sportjournalisten Étienne Bonamy, der bei der Recherche zu seinem Buch den einzigen noch lebenden Teilnehmer des damaligen Rennens Émile Idée traf • Blick auf die faszinierende Verbindung zwischen Sport, Politik und Presse in einer von autoritären Regimen geprägten Epoche • Packendes Rennen des "Circuit de France" von 1942
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Seitenzahl: 248
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Étienne Bonamy
Zwischen Widerstand und Kollaboration
Aus dem Französischen von Sandra Wisniewski
DELIUS KLASING VERLAG
»Wer schon einmal Fahrrad gefahren ist,weiß, dass im Leben nichts flach ist.«René Fallet, franz. Schriftsteller (1927 – 1983)
1 Der Wunsch der BesatzerSamstag, 22. August 1942
2 Der große AufbruchSamstag, 12. September 1942
3 Die Plackerei beginnt1. Etappe: Paris – Le MansMontag, 28. September 1942
4 Von der Begeisterung getragen2. Etappe: Le Mans – PoitiersDienstag, 29. September 1942
5 Durch die freie Zone3. Etappe: Poitiers – Limoges – Clermont-FerrandMittwoch, 30. September 1942
6 Die große Erleichterung4. Etappe: Clermont-Ferrand – Saint-ÉtienneDonnerstag, 1. Oktober 1942
7 Premier Laval spendet BeifallRuhetag in Saint-Étienne, der Stadt des FahrradsFreitag, 2. Oktober 1942
8 Schnurstracks zurück in die besetzte Zone5. Etappe: Saint-Étienne – Lyon – DijonSamstag, 3. Oktober 1942
9 Schlussspurt im Prinzenpark und ab in die Versenkung6. Etappe: Dijon – ParisSonntag, 4. Oktober 1942
Epilog
Was wurde aus …?
Danksagung
Samstag, 22. August 1942
Vier Stufen auf einmal nehmend stürmte Günther Kezer die Metro-Station Opéra hoch, in der einen Hand die Zeitung, in der anderen seine schwarze, lederne Aktentasche. Oben angelangt, wandte er sich eilig nach rechts, in Richtung Café de la Paix mit seiner großen Terrasse, wo er einen freien Tisch erblickte, auf den er sich stürzte. Welch Glück, so in der Sonne. Er setzte sich, streckte die Beine aus, entfaltete die Ausgabe der Pariser Tageszeitung La France Socialiste, die er bei sich trug, und überflog nochmals die Titelseite. Ein zufriedenes Lächeln erschien auf dem Gesicht des deutschen Offiziers. In der unteren Hälfte stand in großen Lettern: »VERANSTALTET VON LA FRANCE SOCIALISTE, VOM 28. SEPTEMBER BIS 4. OKTOBER: DER CIRCUIT DE FRANCE«. Darunter hieß es:
»Vor einigen Wochen hatten wir unserer Hoffnung Ausdruck verliehen, das größte Radrennen seit 1939 organisieren zu können. Unser Anliegen war es, daran zu erinnern, dass es nur ein einziges Frankreich gibt. Wir werden unser Versprechen halten können: Am Montag, den 28. September, werden 72 Fahrer respektive sechs Mannschaften à zwölf Mann in Paris auf eine Rundfahrt gehen, die über die französischen Lande zurück nach Paris führt …«
Im Innenteil wurde das Projekt, das Major Kezer seit Mai begleitete, in einem gemeinschaftlich mit »La France Socialiste« gezeichneten Artikel endlich offiziell bestätigt. Dies war auch sein Erfolg. Er sog die Worte in sich auf, jedes einzelne davon.
»Zahlreiche Herausforderungen unterschiedlichster Art waren zu überwinden, um diesen Circuit de France auf die Beine zu stellen. Wie von uns vorhergesehen und bereits berichtet, waren die größten Schwierigkeiten nicht administrativer Natur. Die Behörden der Besatzungsmacht haben sich von ihrer allersportlichsten Seite gezeigt …«
»Von ihrer allersportlichsten Seite«, das hörte sich gut an in Kezers Ohren, denn genau so war es gewesen. Allersportlichst. Der Major legte die Zeitung beiseite und widmete sich der Getränkekarte, die auf dem Tischtuch lag, und bestellte ein Glas Weißwein von der Mosel, Jahrgang 1938. Der Tropfen stand bereits seit zwei Jahren auf der Karte, er war sein Stammgetränk, wenn er hierherkam. Er richtete sich auf und streckte sich. Die Terrasse des Cafés war gut besucht, unzählige hübsche Mädchen flanierten vorbei. Der Blick auf die Fassade des Opernhauses war, wie stets, überwältigend. Er erspähte Jean Leulliot, jenen Mann, mit dem er verabredet war – es handelte sich um den Autor des besagten Artikels. Er winkte ihn herbei; es würde ein gelungener Vormittag werden.
»Bonjour, Herr Major!«
Leulliot blieb vor dem Offizier stehen und zog einen Stuhl heran. Keine zehn Minuten hatte er zu Fuß vom Redaktionsbüro in dem großen Gebäude an der Rue de Gramont bis hierher gebraucht. Der leitende Redakteur des Sportteils von La France Socialiste legte eine Aktenmappe auf den Tisch, auf der in Großbuchstaben der verheißungsvolle Titel stand: DER CIRCUIT DE FRANCE.
»Voilà! Da ist es«, verkündete er stolz.
Es hörte sich an wie das Schlusswort zu einem großen Abenteuer, und die entspannte Atmosphäre im Café de la Paix tat das ihre. Der Journalist bestellte einen Enzianlikör und holte seine Unterlagen hervor. Vier Monate Vorbereitung und Wartezeit passten nunmehr auf einige wenige Seiten, auf denen sich nichts über die vielen Unwägbarkeiten und Probleme fand, die es zu lösen gegolten hatte. Deutlich wurde hingegen, wie ambitioniert das Vorhaben war: Es sollte das erste große Etappenrennen durch ganz Frankreich werden, seit die Tour de France nach ihrer letzten Ausgabe 1939 ausgesetzt worden war. Entgegen aller Widrigkeiten und Widerstände.
Leulliot hatte die Frankreich-Rundfahrt vor dem Krieg begleitet, im Radsportressort bei der Sportzeitung L’Auto gearbeitet und sich dort den Respekt der Tour-Organisatoren Jacques Goddet und Henri Desgrange erworben; er hatte die Legenden der Tour erschaffen, über ihre Dramen berichtet und schließlich im Begleitfahrzeug an der Seite von Renndirektor Goddet Platz genommen, nachdem ihm die Berichterstattung über die französische Mannschaft anvertraut worden war – zu diesem Zeitpunkt war er noch keine 30 Jahre alt und bereits auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Dann folgten die Besetzung Frankreichs durch die Deutschen im Juni 1940, Desgranges Tod einige Wochen später und die Weigerung Goddets, den Wettbewerb weiter zu organisieren. Mit der Tour war es fürs Erste vorbei; die letzte Ausgabe hatte im Juli 1939 der Belgier Sylvère Maes vor dem Franzosen René Vietto für sich entschieden. Das war vor drei Jahren gewesen, und Leulliots Leben hatte sich seither einschneidend verändert. Er hatte L’Auto den Rücken gekehrt und war seit deren Gründung im November 1941 für die kollaborationistische Tageszeitung La France Socialiste tätig.
Trotz der Aufteilung Frankreichs in zwei Zonen – die besetzte Zone im Norden und die »freie« Zone im Süden – hatten die deutschen Behörden bald auf die Wiederaufnahme der Tour gedrängt, um ihre Behauptung zu stützen, dass das Leben wieder seinen gewohnten Gang gehe. Jacques Goddet hatte diesen Vorschlag damals zurückgewiesen; dabei war seine Zeitung L’Auto bereits in den ersten Wochen der Besatzung unter die Kuratel des deutschen Pressetrusts Hibbelen gestellt worden, der einen Großteil der Hauptstadtpresse kontrollierte und unter Aufsicht von Otto Abetz stand, seines Zeichens deutscher Botschafter in Paris. L’Auto berichtete weiter über die französische Fußballmeisterschaft, Boxkämpfe und Leichtathletikwettbewerbe oder Radrennen; daneben war das Blatt Eigentümerin des Prinzenparkstadions und des Vélodrome d’Hiver, auch Vél d’Hiv genannt. Es lief alles rund für Goddet, aber auch im Frühjahr 1942 weigerte er sich weiter, die Tour de France neu aufleben zu lassen.
Am 3. Mai hatte sich Leulliot in seinem Büro in der Rue de Gramont befunden, als das Telefon klingelte.
»Jean? Guten Tag, hier ist Daudet. Können Sie bei mir vorbeikommen?«
Daudet. Georges Daudet. Der Herausgeber von La France Socialiste, der Pierre Laval nahestand, dem Premierminister der Regierung Marschall Pétains. Daudet, der Otto Abetz nahestand. Daudet, der allem nahestand, das die Autorität der Besatzungsmacht symbolisierte. Doch an jenem Tag war er zur Abwechslung einmal in der Redaktion.
Fünf Minuten später klopfte der Leiter der Sportredaktion an die gepolsterte Tür des Chefbüros und trat ein. Chefredakteur René Château, ein ebenso eifriger Kollaborateur wie sein Vorgesetzter Daudet, saß hemdsärmlig mit einer Pobacke auf dem Heizkörper vor dem Fenster. Die beiden hatten verschwörerische Mienen aufgesetzt.
»Jean, ich habe vor drei Tagen mit Abetz zu Abend gegessen«, verkündete Daudet freiweg. »Die Deutschen haben mich erneut auf die Tour de France angesprochen. Das ist doch Ihr Thema. Sie hatten mir gesagt, dass man die Tour de France vielleicht neu auflegen könnte, weil Goddet immer noch kneift. Erinnern Sie sich?«
»Ja, aber …«, begann Leulliot.
»La France Socialiste könnte der Organisator sein wie L’Auto – das wäre doch denkbar, oder?«
Daudet spulte seine Argumente herunter.
Leulliot hatte Zweifel, er überlegte. Die Tour de France und der Radsport, das waren die zentralen Themen seines beruflichen Daseins. Sein Lebensinhalt. Das Gerücht um eine Wiederaufnahme riss nicht ab: Meist wurde im Frühling darüber geredet, doch bis zum Sommer war alles im Sande verlaufen …
»Nun ja, das braucht eine Menge Vorbereitung und Geld. Im Moment kann man nicht mehr alles machen wie früher. Und an welchem Termin? Es ist jetzt Mai …«
»In diesem Sommer natürlich!«, gab Daudet zurück. »Genau wie die Tour. Abetz hat mir versichert, dass er uns die nötigen Mittel zur Verfügung stellt. Es wird mit Colonel Pascot zu reden sein. Vichy wird uns unterstützen, und der Verband ebenfalls. Kommen Sie, wir müssen etwas Großes auf die Beine stellen, das ist gut für Frankreich. Alle werden kommen.«
»Das kann dann aber nicht die echte Tour de France sein. Die Namensrechte gehören L’Auto, und …«, protestierte Leulliot, der von dem Ansinnen ganz benommen war.
»Gut, dann werden wir einen anderen Namen finden«, fiel ihm Château ins Wort, der bis dahin geschwiegen hatte.
Die drei Männer hatten noch einige Minuten über das Thema gesprochen, bevor Daudet sich erhob, womit das Treffen beendet war.
Auf dem Rückweg in sein Büro eine Etage tiefer wäre Leulliot beinahe mit Constantin Brive und Noël Brisseau, zwei Journalisten der Sportredaktion, zusammengeprallt.
»Gibts Probleme?«, schnaubte Brisseau.
»Nein, gar nicht. Ich war gerade bei Daudet. Die Deutschen wollen diesen Sommer wieder eine Tour de France haben, und der Chef möchte, dass ich mich darum kümmere.«
Die beiden Männer schauten sich an, und Brive hielt Leulliot am Arm fest.
»Ehrlich? Ist das dein Ernst? Das musst du uns erklären …«
»Wir essen nachher zusammen bei René. Dann erzähle ich euch alles, oder sagen wir, soweit ich es verstanden habe.«
Mit diesen Worten war Leulliot um die Ecke verschwunden.
Zwei Stunden später, als sie das bretonische Bistro mit dem Namen Le Clairon verließen, dessen Rechnung immerhin ebenso mager und ungesalzen ausfiel wie seine Gerichte, waren die drei Männer hochmotiviert, aber – wenig verwunderlich – ohne den geringsten Plan, was zu tun war. Die Ereignisse sollten sich überschlagen.
Bis Mitte Mai hatte Leulliot bereits zweimal mit dem neuen Kommissar für Allgemeine Erziehung und Sport telefoniert, der in seinem Büro in Vichy bleiben musste. Colonel Joseph Pascot, den die Regierung Laval einen Monat zuvor eingesetzt hatte, zeigte sich von dem Projekt nicht über die Maßen begeistert. Der frühere Rugby-Nationalspieler hatte sich in den Kopf gesetzt, die Professionalisierung des Sports insgesamt zu bekämpfen. Neben dem Fußball hatte er auch den Radsport im Visier. Da kam ihm die Tour mit ihrem Rennzirkus gerade recht …
»Daudet hat mich bereits über den Wunsch der Deutschen in Kenntnis gesetzt«, hatte ihm Pascot am Telefon beschieden. »Wir verfügen nicht über die Mittel, um das zu finanzieren. Natürlich brauchen wir tatkräftige Menschen, wenn wir Frankreich wieder zu alter Größe bringen wollen, aber Sie werden es pragmatisch angehen müssen, Leulliot. Pragmatisch – haben wir uns verstanden?«
Diese erste Kontaktaufnahme hatte sich dem Journalisten ins Gedächtnis eingebrannt. Pascot, der bereits versuchte, im noch jungen französischen Radsportverband FFC aufzuräumen, würde sich dem Projekt nur unter Zwang anschließen. Doch wenn die Besatzungsmacht erst einmal Druck ausübte, würden seine Überzeugungen wie immer schwinden, und er würde am Ende seinen Beitrag leisten.
Die Unterhaltung mit Otto Abetz in der deutschen Botschaft in der Rue de Lille einige Tage später war wesentlich herzlicher verlaufen. Der deutsche Diplomat hatte sich enthusiastisch gezeigt und sich als redegewandt und zielstrebig herausgestellt.
»Alle brauchen wieder eine Tour, Monsieur Leulliot. Das wird ein Fest.«
Abetz hatte ihm Günther Kezer vorgestellt, der das Bindeglied zwischen den Organisatoren und den deutschen Behörden sein sollte. Der Major der Wehrmacht war seit Januar beim Oberkommando der Deutschen in Paris stationiert und an die deutsche Botschaft abkommandiert, um sich dort um den Sport und die Beziehungen zum Generalkommissariat Allgemeine Erziehung und Sport betreffende Fragen zu kümmern. Es war eine Oase der Ruhe und des Friedens nach der schweren Verletzung, die er im August 1941 in der Schlacht um Kiew davongetragen hatte. Geblieben war ihm ein leichtes Hinken am rechten Bein, sodass er, der vor dem Krieg in Darmstadt auf bescheidenem Niveau Tennis gespielt hatte, den Sport nunmehr aus der Zuschauerperspektive verfolgte. In seiner neuen Funktion hatte der vierunddreißigjährige Kezer, der Französisch sprach und Frankreich liebte, Jean Borotra, der bis April Sportkommissar gewesen war, kennenlernen dürfen. Sogar ein Foto mit Borotra, einem der vier besten Tennisspieler seiner Zeit, gab es; das gerahmte Bild mit dem »springenden Basken« hing an prominenter Stelle hinter seinem Schreibtisch. Es war wunderbar gewesen! Dann hatte er Bekanntschaft mit dessen Nachfolger, Colonel Pascot, gemacht, was sich als weit weniger amüsant herausstellte, denn mit Rugby kannte Kezer sich überhaupt nicht aus. Und nun würde er sich also in den Radsport einarbeiten müssen. Diese Franzosen …
»Major Kezer hat hinsichtlich Ihrer Unterstützung freie Hand«, betonte der Botschafter. »Die Fahrer sind Ihre Sache, die Strecke ist Ihre Sache. Wir werden Ihnen die Aufgabe erleichtern.«
In den Tagen nach den ersten Treffen war auf unklaren Wegen an die Presse durchgesickert, dass eine neue Etappenrundfahrt quer durchs Land, sozusagen eine auf Abwege geratene Tour de France, stattfinden sollte. L’Auto hatte sogleich ironisch von einer »Farce« gesprochen, und einige andere Zeitungen, zumeist Provinzblätter, hatten ins gleiche Horn gestoßen. Es galt daher, den Worten Taten folgen zu lassen.
Am Dienstag, den 26. Mai, war Leulliot pünktlich zu seinem morgendlichen Termin am Pariser Sitz von Cycles Mercier in der Avenue de la Grande-Armée erschienen. Émile Mercier, der Gründer des Fahrradherstellers aus Saint-Étienne, und Pierre Pierrard, der Sportliche Leiter der Profimannschaft, hatten sich auf seine Bitte hin bereit erklärt, ihn zu empfangen.
»Ist das sinnvoll, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen? Was haben wir dabei zu gewinnen?«, wandte Mercier vorsichtig ein, nachdem Leulliot ihm sein Anliegen erklärt hatte.
Wenn er Émile Mercier überzeugen konnte, wäre sein Projekt aus dem Gröbsten heraus. Die anderen Mannschaften würden folgen, da war er sich sicher. Leulliot hatte seine Papiere auf dem Tisch des enormen Büros ausgebreitet. Durch die Fensterfront schien die Sonne auf eine Frankreichkarte, auf der mehr schlecht als recht eine vorläufige Streckenführung eingezeichnet war. Der künftige Renndirektor wies mit dem Finger darauf, während seine beiden Zuhörer gebannt darauf starrten.
»Die Rundfahrt startet und endet in Paris. Noch steht nichts endgültig fest, aber wir möchten durch die Bretagne und dann hinunter bis an die Pyrenäen fahren. Dort dann ein oder zwei große Bergetappen. Anschließend nach Marseille und wieder hinauf, über Lyon, Dijon und die Champagne zurück nach Paris.«
Mercier und Pierrard hatten sich mit zweifelnden Gesichtern aufgesetzt.
»Der geplante Termin ist im September. Zwölf Tage sollten genügen«, fuhr Leulliot fort.
»Und mit welchen Mannschaften?«, fragte Mercier.
»Da machen wir etwas Neues. Es wird Markenmannschaften geben wie zuvor, aber auch Nationalmannschaften wie bei der Tour. Ihre Fahrer wählen Sie selbst aus.«
Mercier überlegte, wie er reagieren sollte. Er war hin- und hergerissen.
»Was sagen denn die anderen dazu?«
»Alle haben Interesse. Es wird etwas Neues«, betonte Leulliot nochmals. »Eine große Rundfahrt, Monsieur Mercier, das ist etwas ganz anderes.«
»Wir müssen das besprechen. Ich bin nicht grundsätzlich dagegen, aber wer finanziert das? Ihre Zeitung? Und die Strecke scheint mir in zehn Tagen schwer zu bewältigen zu sein.«
»Zwölf«, korrigierte Leulliot.
»Zwölf Tage für die gesamte Rundfahrt? Im September und mit den erschwerten Reisebedingungen und den ganzen Einschränkungen – das dürfte schwierig werden, finden Sie nicht?«
So war es noch gute zwanzig Minuten weitergegangen. Pierrard hatte mit Namen, Bergpässen und Etappenprofilen um sich geworfen, Mercier über Verpflegung und Logistik gesprochen. Leulliot versprach, über all das nachzudenken – er habe für alles ein offenes Ohr. Beruhigt hatte er sich verabschiedet. Und im Handumdrehen war es Juni gewesen.
Circuit de France. Das war es!
Es hatte ein Name gefunden werden müssen, und in einer Redaktionskonferenz Anfang des Monats war wie durch ein Wunder dieser Vorschlag aufgekommen, einige Tage nach dem Besuch bei Mercier. Ein Name, der nicht mit der Tour von L’Auto kollidierte. Und auch wenn die Branchenkonkurrenten in ihren Klatschspalten nicht mit scharfer Kritik sparten: Leulliot würde nicht aufgeben.
»Ich habe mich mit Zwahlen getroffen«, erklärte er. »Man kann nicht sagen, dass ihm viel daran gelegen ist, uns zu helfen.«
Louis Zwahlen, der Präsident des kürzlich in FFC umbenannten französischen Radsportverbands, war früher selbst Radrennfahrer gewesen, doch er biss nicht an. Sie traten auf der Stelle.
»Ohne den Verband, die Kommissäre, die Zeitnehmer und das ganze Drumherum wird es kein Rennen geben«, bekannte Leulliot. »Die Mannschaften würden niemals mitmachen. Wir müssen uns reinhängen.«
Und La France Socialiste hatte sich reingehängt in ihr Projekt. Ende Juni begannen die Pläne für die Rundfahrt Gestalt anzunehmen.
Ein kurzer Aufenthalt von Colonel Pascot in Paris hatte Leulliot veranlasst, ihn gemeinsam mit Major Kezer zu einer Zusammenkunft in den Redaktionsräumen, in Anwesenheit von Georges Daudet, einzuladen. Als sich alle in einem kleinen Raum in der Rue de Gramont versammelt hatten, ergriff der Journalist das Wort.
»Vor einigen Wochen hatten Sie mich gebeten, ein Etappenrennen durch ganz Frankreich ähnlich der Tour de France auf die Beine zu stellen. Diese Rundfahrt wird stattfinden.«
Keine Reaktion.
Leulliot hatte seine Gespräche mit den Fahrern und den Sportlichen Leitern der einzelnen Equipes aufgezählt, an seine Expertise mit dem Wettbewerb erinnert, den bereits sehr vollen Terminkalender im Sommer rapportiert. Wenn jemand etwas fragte, hatte er eine Antwort parat gehabt. Auf alles, oder beinahe alles. Man lauschte seinen Ausführungen, er sprach hastig, sprühte vor Aufregung.
»Der Circuit de France, wie wir ihn nennen werden – da sind sich alle einig –, wird in der zweiten Septemberhälfte stattfinden. Geplant sind zehn Etappen in zehn Tagen.«
An die Wandtafel hatte er einen Kreis gezeichnet. Man konnte darin eine Karte mit einer groben Streckenführung von Punkt zu Punkt erkennen. Er wiederholte, was er bereits Émilie Mercier erläutert hatte.
»Der Circuit wird durch die besetzte und die unbesetzte Zone führen. Darin liegt die ganze Symbolik dieser ersten Ausgabe. Der Renntross des Circuit wird ganz Frankreich durchqueren!«
Dieses Mal ging ein Raunen durch den kleinen Kreis der Anwesenden.
»Sechs Markenmannschaften werden antreten: Mercier, Dilecta, Helyette, France-Sport, Alcyon und Génial Lucifer. Jeweils zwölf Fahrer, das macht ein Peloton aus 72 Teilnehmern. Jeder Sportliche Leiter wählt seine Fahrer selbst aus. Mit den Belgiern, den Holländern, den Spaniern und den Italienern werden die Besten dabei sein. Die Teilnahme steht allen offen.«
Leulliot übertrieb, bauschte auf, dachte sich Dinge aus. Als er seinen Vortrag beendet hatte, sagte keiner ein Wort.
Als Erster brach Colonel Pascot das Schweigen. »Wir werden Sie finanziell unterstützen, Treibstoff bereitstellen und die Präfekturen in Kenntnis setzen. Aber wir brauchen Zahlen. Sie werden verstehen, dass wir in dieser Zeit der Einschränkungen nicht unbegrenzt Geld ausgeben können.«
Georges Daudets Antwort kam postwendend. »Es geht uns darum, die Anstrengungen der Fahrer zu zeigen, nicht um kommerzielle Verschwendungssucht, wie es bei der Tour üblich war. Wir werden darauf achten, dass alle Teilnehmer ihr Bestes geben können, aber dabei die Realitäten im Auge behalten. Leulliot wird uns das Projekt fertig ausarbeiten, nicht wahr?«
Drei Monate blieben, um alles umzusetzen. Der reinste Irrsinn. Alle waren aufgestanden, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen.
Im Anschluss an die Präsentation hatten Daudet und Kezer Leulliot in dessen Büro begleitet.
»Die Spanienrundfahrt beginnt am 30. Juni. Dort können wir uns Ideen holen«, beeilte sich Leulliot anzufügen, der überlegte, selbst hinzufahren. »Keine Angst, wir arbeiten weiter an der Logistik. Ich denke, in einem Monat werden wir das Gesamtprogramm bekanntgeben können. Wir werden mit allem rechtzeitig fertig sein.«
Daudet hatte schweigend zugehört. Er hätte es gern gesehen, wenn sämtliche Vorbereitungen bereits abgeschlossen gewesen wären und er sich bei seinen deutschen Kontakten damit hätte brüsten können. Ohne ein weiteres Wort war er zu Colonel Pascot zurückgekehrt, um diesen zurückzubegleiten.
»Sehen wir uns dann nach Spanien?«, fragte Kezer noch, bevor er ebenfalls den Raum verließ.
»Selbstverständlich«, sagte Leulliot, der das Gefühl hatte, den Härtetest bestanden zu haben.
Dann war Brisseau aufgetaucht. Er rieb sich die Hände und war sichtlich zufrieden. »Diesmal haben wir sie. Oh, ich möchte ihr Gesicht sehen!«
Er ließ sich von seiner Begeisterung wegtragen und zählte in einem großen Durcheinander Fahrer und Sportdirektoren, Journalisten und Verbandsfunktionäre auf, die es in seinen Augen über die zurückliegenden Wochen klar an Begeisterung hatten fehlen lassen. Doch jetzt, da der Circuit de France beschlossene Sache war …
Die Spanienrundfahrt mit ihren 19 Etappen von Madrid nach Madrid, eine echte, große Tour durchs ganze Land, die von La France Socialiste ebenso wie von ihren Gegnern gern als Vorbild zitiert wurde, hatte den leitenden Redakteur des Sportteils auf Trab gehalten, ebenso wie die fast täglichen Nachrichten über Fahrer und französische Wettbewerbe. Mitte Juli stand dann die französische Bahnradmeisterschaft an, der Höhepunkt der Radsportsaison. Leulliot war nach Reims gefahren, um sich die Rennen anzusehen. René Viettos Etappensieg bei der Vuelta am 16. Juli in Vigo hatte er nicht miterlebt, ebenso wenig wie Louis Thiétards Triumph zwei Tage zuvor in La Coruña.
Am späten Vormittag des 16. Juli herrschte in der Redaktion in der Rue de Gramont ein emsiges Treiben, als ein Laufbursche, der gerade von der Druckerei in der Rue du Croissant zurückkehrte, hereingeplatzt kam. Er trug zwei dicke Umschläge bei sich und war sichtlich aufgeregt. Alle Augen richteten sich auf ihn.
»Habt ihr schon gehört? Die Polizei sperrt die Juden im Vél d’Hiv ein. Seit dem Morgen werden sie überall in Paris festgenommen und dort hingebracht. Leute aus der Druckerei haben angerufen. Sie haben jüdische Linotypesetzer und Korrektoren bei sich zu Hause verhaftet, mit der ganzen Familie.«
Brisseau war nähergekommen, ebenso einige andere Redakteure.
»Sie räumen auf«, konstatierte der Reporter, bevor er einen seiner »Kontaktleute« im Kommissariat des 15. Arrondissements anrief. Man hatte ihm die Meldung bestätigt. Seit den frühen Morgenstunden trieb die Pariser Polizei jüdische Familien in der Hauptstadt zusammen und brachte sie mit Bussen ins riesige Vélodrome d’Hiver in der Rue Nélaton.
»Das trifft sich gut, zurzeit finden sowieso keine Wettkämpfe statt«, wagte sich Brisseau ironisch vor.
Niemand ging darauf ein.
»Es ist schon wichtig, diese Leute zu kontrollieren. Die sind überall. Schaut euch nur Blum an, der fährt immer noch.«
»Du erzählst Unfug, Noël. Blum ist Elsässer und kein Jude«, rief jemand von hinten.
Georges Blum, ein Helyett-Fahrer, war in Colmar geboren. Die Namensgleichheit mit Léon Blum, dem früheren Premierminister, der ebenfalls Elsässer, aber zugleich auch Jude war, hatte schon häufiger die Diskussion auf den Radrennfahrer gebracht. Und unter diesen Umständen …
»Juden haben im Sport nichts verloren«, fuhr Brisseau – in Einklang mit der redaktionellen Leitlinie seiner Zeitung – fort, während seine Kollegen untereinander flüsterten. »Da wird aussortiert werden müssen.«
Selbst in einer Zeitung wie dieser, die eng mit der Besatzungsmacht zusammenarbeitete, wollte niemand eine solche Debatte beginnen. Am Ende hatte Brisseau geschwiegen, und die Diskussion war abgeschweift.
»Wenn sie alle verhaften, werden sie auch die Sportler holen kommen«, nahm Martial, der junge Laufbursche, das Thema nach einer Weile wieder auf. »Und wenn sie das Vél d’Hiv in ein Gefängnis verwandeln, fallen vielleicht Wettbewerbe aus …«
»Ganz sicher nicht. Erzähl nicht so einen Blödsinn.«
Brisseau hatte zum Hörer gegriffen, um Leulliot anzurufen.
Am Nachmittag kamen immer mehr Nachrichten über die Verhaftungen herein, es fielen Namen von Frauen und Männern, die der eine oder andere vielleicht kennen konnte und die festgenommen worden seien. Jedes Mal, wenn er von der Druckerei zurückkehrte, hatte Martial neue Informationen im Gepäck und entfachte die Diskussion aufs Neue. Château hatte entschieden: Es würde keinen Artikel über die »Polizeioperation« geben. Für das Titelblatt des 17. Juli war die Schlagzeile »BOLSCHEWIKEN VOR DEM ZUSAMMENBRUCH« vorgesehen, die sich auf den Krieg an der Ostfront bei Stalingrad bezog.
Im Sportteil verlieh man in Bezug auf die am 29. Juli startende Tour de Suisse der Hoffnung Ausdruck, dass die »Franzosen in der Schweiz mit größeren Chancen als in Spanien« starten würden. Es war an der Zeit, wieder einmal über den Circuit de France zu sprechen. Wie Brisseau erwähnt hatte, fanden derzeit keine Rennen im Vél d’Hiv statt …
Nach dem Ende der Spanienrundfahrt hatte sich Leulliot für den 20. Juli mit Major Kezer verabredet. Dieses Mal trafen sich die beiden Männer am Sitz der Propagandastaffel, in der Avenue des Champs-Élysées 52.
»Hier sind Sie ja sozusagen zu Hause«, meinte der deutsche Offizier mit spöttischem Unterton.
Die Adresse war höheren Presseleuten wohlbekannt. La France Socialiste folgte ebenso wie L’Auto, Paris-Soir und die übrigen Zeitungen, die nicht verboten waren, den Weisungen der deutschen Behörden, die dort ihr Quartier aufgeschlagen hatten.
Sie hatten sich in einem Büro zusammengesetzt, und Leulliot erstattete Bericht. »Wir werden die Rundfahrt am Donnerstag, den 23. Juli, offiziell bekanntgeben. Ich habe das Einverständnis der Mannschaften, natürlich auch das Ihre, und endlich schenkt uns auch der Verband Gehör. Ihn mussten wir ein wenig anschubsen.«
»Leistet man dort immer noch Widerstand?«, amüsierte sich Kezer. »Hat General de Gaulle nicht gesagt, dass sich ganz Frankreich im Widerstand befinde?«
Er hatte schallend gelacht; Leulliot hatte gelächelt.
Der Journalist hatte seine Worte für die Titelseite des 23. Juli, auf welcher der Circuit de France angekündigt wurde, mit Bedacht gewählt: »Das erste Etappenrennen durchs ganze Land seit drei Jahren« hieß es da; die Rede war von »nationalem Wiederaufbau«, von »Leistungsbereitschaft« und von dem »gemeinsamen Bemühen, die Sportjugend zusammenzubringen«. Der Tonfall war patriotisch, der Artikel euphorisch und die Mitteilung offiziell: Der Startschuss für den Circuit de France würde am 28. September fallen, so viel stand immerhin fest.
Die anderen Zeitungen hatten tags darauf zurückhaltend über die Neuigkeit berichtet. L’Auto widmete der Nachricht ganze fünf Zeilen; Paris-Soir zeigte sich etwas großzügiger. Den Blättern der nicht besetzten Zone – mit Ausnahme von L’Effort aus Lyon, das kollaborationistisch gesinnt war und La France Socialiste nahestand – war die Ankündigung lediglich eine Randnotiz wert. Derweil hatte L’Auto gar einen Wettbewerb für seine Leserschaft ausgerufen: »Stellen Sie die französische Mannschaft für die Tour 1942 zusammen!« Es handelte sich natürlich um keine echte Auswahl, denn die Zeitung hatte ja auf ihre Rundfahrt verzichtet, auch wenn ihr Chef Jacques Goddet, der sich ungerührt gab, alarmiert war. Gleiches galt für Leulliot: Es war Ende Juli und es blieben zwei Monate, um alles vorzubereiten. Ein Albtraum.
In den ersten Augusttagen hatte Leulliot seine Bemühungen um den französischen Radsportverband noch verstärkt. Leulliot ließ nicht locker, doch der Verband blieb stur. Nach einem weiteren Anruf hatte Major Kezer erneut mit Colonel Pascot gesprochen, damit sich etwas änderte.
»Das kriegen wir schon hin«, hatte ihm der Sportkommissar versichert. »Ich regle das Problem mit dem Verband.«
César Banino war als Nachfolger Louis Zwahlens vorgesehen, und dieser war dabei, seine letzten Amtshandlungen vorzunehmen. Er hatte sich um den Circuit de France gekümmert und sein Einverständnis gegeben. Die Rundfahrt würde ihre Zeitnehmer, Funktionäre und Genehmigungen bekommen. Der Weg war frei. So schrieb es La France Socialiste an jenem 22. August.
Auf der Terrasse des Café de la Paix mussten der Major und der Sportjournalist nun sehen, wie es weitergehen sollte. Gegenüber ihren Lesern verzichtete La France Socialiste auf Erklärungen, doch von den Pyrenäen oder Marseille war nicht mehr die Rede. In der Zeitung war von einer »bergigen Strecke durch das Zentralmassiv« zu lesen; die Dauer wurde mit einer Woche angegeben. Die Frankreichrundfahrt würde viel kleiner ausfallen, aber wer würde daran Anstoß nehmen?
»Und wie werden Sie jetzt den ganzen Tross durch Frankreich bringen?«, hatte Kezer mit Nachdruck gefragt.
»Das Schwierigste war, das Einverständnis aller Seiten zu erhalten. Sechs Etappen und ein Ruhetag, insgesamt 1.650 Kilometer, das ist nicht bis ans Ende der Welt. Wir haben schon Kontakte geknüpft. In zwei Wochen ist das erledigt.«
Es war fast Ende August. Der Circuit de France sollte in wenigen Wochen beginnen. Es war utopisch.
Jean Leulliot verfügte über die Fähigkeit, seinen Gesprächspartnern gegenüber nichts von seinen Gefühlen nach außen dringen zu lassen. Günther Kezer verließ daher das Café de la Paix im Vertrauen darauf, dass der Journalist wusste, was er tat. Leulliot war hingegen alles andere als selbstgewiss in die Redaktion zurückgekehrt. Er zählte die Tage, die bis zum Startschuss noch blieben. Noch schlimmer: Man musste den ungeduldig werdenden Mannschaften die gesamte Logistik erläutern. Es ging um Unterkünfte, Autos, Material und so weiter. Die Liste wurde immer länger.
Zurück im Büro nahm er den Hörer seines Telefons ab und wählte eine Nummer.
»Hallo, ist dort Machurey? Hier ist Leulliot, guten Tag. Ich rufe Sie zurück, wie versprochen. Ja, wegen dieser Angelegenheit – geht das nach wie vor in Ordnung? Kommen Sie am Montag zur Zeitung, dann erkläre ich Ihnen alles.«
Er legte auf und warf einen Blick auf das aktuelle Rennprogramm. Idée, Louviot, Kint, Vanden Meerschaut, Lapébie, Vietto – sie fuhren überall mit, im Norden wie im Süden. Bisweilen absolvierten sie zwei Rennen pro Woche. In welcher Verfassung würden sie am 28. September antreten? Er beschloss, die Zeitung lieber wieder zusammenzufalten.
Am folgenden Montagmorgen erklomm Maurice Machurey die drei Etagen zur Redaktion, wo er nun vor dem Büro des leitenden Redakteurs stand. Im Gang roch es nach Bohnerwachs, die Dielen knackten ein wenig, und ein Stapel Zeitungen auf einem kleinen Schränkchen wartete nur darauf herunterzufallen. Er klopfte an die Tür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Ah, Maurice, der Mann der Stunde!« Leulliot erhob sich und kam um seinen Schreibtisch herum.
Machurey war offizieller Zeitnehmer der FFC und Dreh- und Angelpunkt in der Logistik der Tour de France. Nun sollte er dafür sorgen, dass der bevorstehende Circuit de France ein Erfolg wurde. Leulliot hatte ihn Anfang August angerufen und ihm die Verantwortung für die Logistik angetragen. Machurey hatte bereits vor dem Krieg mehrere Ausgaben der Tour de France begleitet und durfte daher durchaus als Spezialist gelten. Minuten, Sekunden, Ranglisten und Tabellen – das war sein Metier, sein Leistungsausweis. Leulliot jedoch wollte etwas völlig anderes von ihm: Er sollte auf Expedition durch Frankreich gehen, Straßen und Städte abklappern, um Unterkünfte und Gaststätten ausfindig zu machen, Kontakte mit den Präfekturen und Kommandanturen zu knüpfen, und nicht zuletzt, um freiwillige Helfer zu rekrutieren. Es war ein äußerst umfangreiches Unterfangen, das in zwei Wochen abgeschlossen sein musste.