1987 - Jürgen Seifert - E-Book

1987 E-Book

Jürgen Seifert

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Beschreibung

Die Popmusik der späten Achtziger genießt bis heute nicht den allerbesten Ruf. In den Neunzigern ging es der Presse bloß darum, das vergangene Schreckensjahrzehnt mit seinem schrillen Zeitgeist schnellstmöglich aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Speziell die Jahre 1986 und 1987 wurden vehement Zielscheibe von Hohn und Spott, was im Nachhinein verständlich erscheint, sofern man die veränderten Hörgewohnheiten der Neunziger einbezieht. Jeder, der damals mit einem Ohr dem Radio lauschte, weiß genau, was gemeint ist, wenn heute von den Produktionssünden der Achtziger die Rede ist. Alles, was man später an den Achtzigern so verabscheute, der Hedonismus, die Oberflächlichkeit und der Narzissmus, wurde 1987 auf die Spitze getrieben. Und es sollte ein spektakuläres Musikjahr werden.

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Seitenzahl: 1321

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Im Studio des Grauens

Yuppies – die neuen Soul-Boys

1986: Ein Seuchenjahr geht zu Ende

Schwester Janet schlägt sie alle

Mit der Jeans in die Badewanne

Madonna, Tina, Lionel, Genesis und Queen: Eine geballte Ladung Superstars

Das Phänomen Chris de Burgh

Und immer wieder The Smiths

Howie und ich

Auf dem Plattenteller Herbst 1986

Dezember 1986: Hallo Popmusik

Teenie-Stars wider Willen

Da waren es bloss noch Drei

Kein Platz für eitle Dandys

The Final Countdown

Dauerwelle ist Pflicht

Hello Africa

Hit mit Pfiff

Ich mache nie die Rekrutenschule

Jeanny lebt!

Alte Deutsche Welle

Ist es hip, bieder zu sein?

One Hit Wonders – Teil 1

Sie fürchten weder Tod noch Teufel

Liebling der Presse

Cyndi und Billy

Elton John im Gegenwind

Frankie says no more!

Hol doch mal den Vorschlaghammer!

Junge Römer tanzen anders

Pop-Barock

Ein Handtuch für Gianna

Noch ein allerletzter Hit – Teil 1

Songs zum Weghören – Teil 1

Auf dem Plattenteller Dezember 1986

Januar 1987

Unterm Weihnachtsbaum

Am Tag als Thomas Anders starb

Saint Bob wird entzaubert

MTV – Cops

Wir wollen keine Teenie-Stars mehr sein

Family Business

Wir waren die Roboter (BaBa BaBa)

Offenkundig schwul

Konkurrenz für The Smiths?

One Hit Wonders – Teil zwei

Ein bisschen Spass muss sein

Debbie auf Solopfaden

August im Januar

Iggy der Wilde

Die geheimnisvolle Tür

Swiss Alpen-Rock

Midlife-Crisis

Auf dem Plattenteller Januar 1987

Februar 1987

Vom TV in die Charts

Was soll das?

Ist das Liebe?

C’est La Vie

Die Hit-Fabrik

Die Hometaping-Generation

Das lange Elend

Wer kennt Paul Weller?

Auf dem Plattenteller Februar 1987

März 1987

Der mit den Armen rudert

Die nächste Portion Pop-Soul

Die Alten können es besser, oder nicht?

1987 – The Year Rock ’n’ Roll broke

Familienbande

Nicht ohne mein Schulterpolster

Auf dem Plattenteller März 1987

April 1987

You’re the Voice (oh woah)

Von Schlangen und Kürbissen

Sind das jetzt die 60er?

Ich war mit den Stones im Bett

Bryan wird erwachsen, zum Teil wenigstens

Unordnung muss sein

Nicht rot, aber orange

Ich will ein Meisterwerk!

Over The Hills And Far Away

Im Zirkus der Synthesizer

Alles klar in Italia

Auf dem Plattenteller April 1987

Mai 1987

Nichts kann uns aufhalten

Katzenkiller

Das schlechte Gewissen der SUN

Singende Models

U2 – Band des Jahres

Der letzte Tango

Oh Yeah

Lass die Finger von Heroin

Fight For The Right To Paaarty!

Noch mehr Soul

Glass Spider

Bob Dylans schädlicher Einfluss

Auf dem Plattenteller Mai 1987

Juni 1987

Rote Lippen soll man küssen

Das Busenwunder – Episode 1

12 Points

Kein Risiko mit Whitney

Wer ist Cock Robin?

One Hit Wonders – Teil Drei

Drafis Rache

Sex, Suff und Rock ’n’ Roll

Zuerst nehmen wir Manhattan

Die Ersatz – U2

Auf dem Plattenteller Juni 1987

Jenseits des Mainstream

R.E.M. – Das Musterbeispiel

The Go-Betweens: Die verhinderten R.E.M.

Kritikerlieblinge: Hüsker Dü, Sonic Youth, The Replacements, Dinosaur Jr.

Die Drogenwracks

Die Leisetreter

Die Krawallmacher

Die Gescheiterten

Querköpfe

Sorgenkinder

In den Neunzigern werden wir Stars sein

Die Sensation

Die Country-Retter

Die Rückkehrer

Ein Schritt im Mainstream

Die Geburt von Gangster Rap

Sly and Robbie

Auf dem Plattenteller: Indie-Rock

Juli 1987

Die Mauer bröckelt

Der neue Bond

Jetzt schauspielert er auch noch

Who’s That Girl

Introducing the Hardline

Comebacks: Top oder Flop?

Bitte kein Jazz!

Zu dick im Geschäft

Schluss mit Fisch

Auf dem Plattenteller: Juli 1987

August 1987

La-La-La-La-La Bamba

Die Anti-Madonna

The Last Days of Disco

Französische Invasion

Dauerwelle Ü-40

Nur eine weitere Hair-Metal Band?

Der einarmige Drummer

Auf dem Plattenteller: August 1987

September 1987

Weshalb

Nothing’s Gonna Change My Love For You

DER Sommerhit ist

Helden von Gestern

Waters Vs. Gilmour

Cool und primitiv

Who’s Bad

Zum Gähnen

Das Busenwunder – Episode II

Tanzen mit Bierbauch

Ohrfeigen im Schlagzeug-Takt

Never Gonna Give You Up

Auf dem Plattenteller: September 1987

Oktober 1987

Musik für die Massen

Ende! Aus! Schluss!

Mainstream-Rock: das Ende naht

Heiliger Cliff

Bitte wieder mit Make-Up!

Bruce im Tunnel der Liebe

Wie die Supremes

Reif für die Insel

Endlich wieder Deutschrock

Vorbild: The Jackson 5

Swiss Music News

Ich bin nicht Bryan Adams

Zurück auf der Gewinnerstrasse

Auf dem Plattenteller: Oktober 1987

November 1987

23 und schon so erwachsen

Pump Up The Volume

Sting rettet den Regenwald

Amore Amore

Baby Boom

Smokey-Tribut im Smoking

Der Softie-Rapper

2 x 1/2

Die letzten Dinosaurier

Faith

Charakterschwäche

Auf dem Plattenteller: November 1987

Dezember 1987

Das letzte Kapitel über Thomas und Dieter

Newcomer des Monats

Solo für Zwei

Alles für den Remix

Die Outfit-Queen

The Time Of My Life

Tanz der Pinguine

A Night At The Opera

Finster wie die Nacht

Heaven Is A Place On Earth

Auf eine Zigarette mit Bryan

Die Schweigsamen

Jim Morrison für die Achtziger

Ist das Beethoven?

Auf dem Plattenteller: Dezember 1987

1988: Alles besser?

1987: ein Sündenfall?

Die 10 besten LPs 1986/87

Die 10 besten Singles 1987

Die schlechtesten LPs 1987

Einleitung

So viel gleich vorweg: Es gibt bedeutendere Jahre in der wechselvollen Geschichte der Popmusik als 1987 – ein Jahr, das nicht einmal in den so verhassten Achtzigern eine Schlüsselrolle einnimmt. An vorderster Stelle wurden die Ereignisse der Vergangenheit abgefeiert: Exakt 20 Jahre sind vorbeigezogen, seit die Beatles 1967 mit den Worten It Was 20 Years Ago Today ihre legendäre Scheibe Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band eröffneten, und dieser Meilenstein sollte ebenso gebührend gefeiert werden wie die zehn Jahre, die die Menschheit jetzt ohne Elvis leben musste. Doch bleiben wir lieber in der Gegenwart; was hatte das Jahr 1987 sonst noch zu bieten ausser schaler Nostalgie? Das frische Jahrzehnt war geprägt von der kühlen Wave-Ästhetik und der kritischen Auseinandersetzung mit einer zusehends technisierten Welt, ehe die Neue Deutsche Welle für die kommenden zwei Jahre die Journalisten der Boulevardblätter beflügelte. Die letzten beide Jahre des Jahrzehnts standen ganz unter dem Banner der Acid-House-Hysterie, die mit gelben Smileys und Ecstasy-Pillen die jungen Briten am Wochenende auf die Tanzfläche trieb. Aber dazwischen klafft ein irritierendes Nichts, ein Sammelsurium aus angepasstem Geschmack, gepflegtem Sound und einer gefälligen “Scheiss-drauf“-Einstellung, welche den Musikbetrieb in eine lähmende Monotonie lullten. Konnte das Jahr 1984 wenigstens noch mit seinen aufwändigen Sequencer-Sounds und einem glamourösen Image punkten, so war spätestens 1986 die Luft draussen, so wie 1976, als sich die Rock-Elite als saturierter und dekadenter Wohlstandsverein den Zorn vieler Musikfans auf sich zog. Die Rettung hiess damals Punk, welche den in Lethargie erstarrten Kulturbetrieb aus dem Dreck zog. Manch einer dürfte also 1986 ein Déjà-vu Erlebnis ereilt haben, aber dieses Mal schien weit und breit kein Erlöser in Sicht, der uns wachrüttelte mit einem plausiblen Vorschlag, dass Rockmusik immer noch vital und aufregend sein könnte. Aber dann ein Aufreger im Sommer 86: Fünf schillernde Space-Punks, die mit ihren absurden Kakadufrisuren aussahen, “als hätten sie den Kostümfundus von A Clockwork Orange, Blade Runner, Mad Max, Terminator mit verbundenen Augen geplündert“ (tip), planen mit viel Getöse unter dem Namen Sigue Sigue Sputnik dem Spektakel neuen Aufwind zu geben. Eine von Giorgio Moroder produzierte Single Love Missile F1-11 sorgt kurz für viel Rauschen im Blätterwald, ehe die Sputnik eine frontale Bruchlandung hinlegt: „Komische Frisuren allein bringen es nicht im Zeitalter der Compact Disc“, so die Kurzanalyse von Kolumnistin Julie Burchill.

Und was bemüssigt den Autor jetzt ausgerechnet über diese so ereignislose Ära ein Buch zu verfassen? Der Reiz liegt gerade in der kalkulierten Reizlosigkeit des musikalischen Angebots. Man ist ungläubig Zeuge von in die Jahre gekommenen Pop-Ikonen, die allesamt in einer schweren Sinnkrise stecken und blutjungen Newcomern, die ihr Heil einzig und allein im Popzirkus suchen, um als V.I.P. ein Teil des exklusiven Jet-Sets zu werden und mit den Millionen, die man mit Musik damals noch verdienen konnte, ein glamouröses und sorgenfreies Leben zu führen.

Und zweitens bin ich ein gebranntes Kind der mittleren Achtziger. Ausgerechnet im ausklingenden Jahr 1986 ergab ich mich widerstandslos in die offenen Arme der quietschbunten Popkultur, da ich zum Entschluss gekommen war, dass es jetzt auf der Vorstufe zum Teenager-Dasein Cooleres gibt, als wöchentlich alten Schlager-Fuzzis in Dieter Thomas Hecks „ZDF-Hitparade“ beim TED-Voting die Daumen zu drücken. Mit Jahrgang 1975 war ich im besten Alter, um mit der Popmusik von 1987 mein Herz zu teilen. Man wird nie einen Teenager finden, der das Angebot an Pop für seine Zielgruppe durch die Bank Scheisse findet. Bis mir ein Licht aufging und sich mir die Oberflächlichkeit des zweiten Teils der Dekade offenbarte, sollten noch einige Jahre vergehen. Der Hund liegt nicht begraben in einer Reihe schlecht produzierter Platten, sondern in einer aus Geldgier und Machthunger resultierten Fehlentwicklung. Anpassung statt Auflehnung, Sicherheit anstatt Risiko, Gleichheit anstatt Individualität, Hits anstatt Experimente, Schokoladenseite anstatt würzig und pikant. Und auch wenn ich mir heute manchmal verwundert die Augen reibe, in welch absurdes Affentheater wir damals hineingezogen wurden, welch klamaukiges Gebaren uns als pophistorische Wichtigkeit verkauft wurde, so steht das Jahr 1987 unbeirrt wie ein Fels in der Brandung, eine knallbunte, mit Smarties garnierte Geburtstagstorte, von der jeder mal naschen darf, aber von der niemand Bauchschmerzen bekommt. Alles was danach kam, war irgendwie schon vertraut; ein alter Schuh, den man schon viel zu lange ausgetragen hatte, und ich lernte, dass es keinen Grund gibt, gleich vom Stuhl zu fallen, bloss, weil Michael Jackson eine neue Platte in Aussicht stellt. Alle, die zehn Jahre früher geboren wurden, können das nur schwer nachvollziehen. Für euch bleibt 1987 (auch zu Recht) ein furchtbar selbstzufriedenes und hohles Pop-Jahr. Doch wie konnte es eigentlich soweit kommen?

1980 scheint die Welt noch in Ordnung. Die Postpunkjahre waren geprägt von unerschöpflicher Kreativität, bizarren Ideen und jugendlichem Elan. Doch schon drei Jahre später war die Energie wieder verpufft. Aus den mit vielen Vorschusslorbeeren beflügelten Newcomern waren etablierte Rockstars geworden, die in die ermüdende Routine des Mainstream-Alltags hineinschlitterten und pausenlos auf Chartplatzierungen guckten. Was sich ernüchternd breitmacht, ist die Erkenntnis, dass sich zehn Jahre nach Punk alles im Rock-Business wieder ums Geld und Konsumfreundlichkeit dreht. „Das eigentlich Deprimierende war 1985 jedoch weniger die Tyrannei des Neureichenpop, sondern der erbärmliche Zustand der alternativen Szene. Das kollektive Gefühl, einen Auftrag zu haben, das die verschiedenen Postpunk-Initiativen verbunden hatte, war verschwunden. Alles schien entsetzlich disparat“ resümiert Autor Simon Reynolds(1). In Deutschland war das nicht so offensichtlich, weil es keine eigentliche Pop-Tradition gibt und die Hitparade eigentlich immer saudumm war und jede Woche dasselbe klägliche Bild abgab. Während die Charts in Grossbritannien geprägt waren zwischen einem lebhaften Durcheinander zwischen Underground und formatiertem Mainstream, präsentierten sich die Deutschen Hitparaden als Abbild aus Spiessigkeit, bedauernswertem Musikgeschmack und kalkuliertem Pop. Unsere Popkultur war immer noch gebrandmarkt von einer Schlagervergangenheit, die den Briten weitestgehend fremd war. Während der New Wave in Grossbritannien die Charts mächtig auffrischte, dümpelte die Welle in Deutschland unbefleckt von der Öffentlichkeit irgendwo im Ruhrpott im Untergrund. Als dann die Industrie schlussendlich doch noch auf der Welle mitsurfte, war ihr werbewirksam vermarktetes Etikett „Neue Deutsche Welle“ nur noch ein neues Synonym für Schlager – etwas schriller und bunter zwar, aber eindeutig Schlager.

Meiner Ansicht nach gibt es drei Gründe, weshalb die Popmusik Mitte der Achtziger in eine handfeste künstlerische Krise schlitterte. Da ist zum einen der Synthesizer - unser allerliebstes Musikinstrument des Jahrzehnts (neben dem Saxophon wohlbemerkt). Der Synthie-Pop feierte in der Saison 81/82 für einen Wimpernschlag lang das kindlich Verspielte, flirtete mit dem Banalen ebenso wie mit der Avantgarde. Doch kaum war der Synthie-Pop der Kinderstube entwachsen, wollte er bloss noch Mittel zum Zweck sein für modische Extravaganzen. Was übrig blieb, waren die überkandidelten Selbstdarsteller – leichtgewichtig, narzisstisch, effekt- und kommerzverliebt. Die Form gewinnt über den Inhalt, der ästhetische Schein über künstlerische Ehrlichkeit. Gleichzeitig lief die technische Entwicklung ungebremst weiter. Der Fairlight CMI, der erste digitale Synthesizer mit Sampling-Technik, markiert bloss den Anfang, immer mehr Instrumente lassen sich auf der digitalen Datenbank abrufen und machen altgediente Sessionmusiker überflüssig. Mit dem Erscheinen von Yamahas digitalem DX7 im Jahr 1983 übernimmt der Synthesizer endgültig die Marschrichtung der Popmusik. Es war eine beklagenswerte Zeit für handgemachte Musik, die Mitte der Achtziger nicht nur bei den Fans, sondern auch bei den Studiobossen schwer aus der Mode kam. All jene, welche die mittleren Achtziger am eigenen Leib erfahren durften, wissen genau, was mit der „Sound- Ästhetik der mittleren Achtziger“ gemeint ist.

Einen wichtigen Einfluss auf unser verändertes Konsumverhalten von Musik hatte MTV. Obwohl hier in Europa die meisten Musikfans in die Röhre guckten und Mark Knopfler bislang vergebens I want my MTV forderte, hatte der Sender und sein rundum-die-Uhr Videoclip-Programm einen markanten Einschnitt in die Art und Weise wie wir Musik konsumieren zur Folge. Wohlwissend, dass ohne Style kein Pop zu veranstalten ist, wurde das Video das wohl effizienteste Werkzeug in der Image-Gestaltung, schliesslich untermauert es die gewünschte Rolle, mit der sich der Star gerne identifizieren möchte und die jungen „Image Junkies“ machten davon rege Gebrauch. Ein genial konzipiertes Video wurde zur halben Miete für einen Hit. Ein mässig origineller Song mit geringem Hitpotential konnte locker wettgemacht werden mit schrillen Bildern, hellen Farben und viel Action, oder findet jemand, dass Cry (1985) von Godley & Creme ein besonders aussergewöhnlicher Song war? Die unaufdringliche Ballade unterschied sich kaum wesentlich vom grossen Rest der gesichtslosen Gebrauchsmusik, die Mitte der Achtziger tonangebend war. Der Song war im Grund auch piep egal; kollektives Staunen bereitete in erster Linie die technische Meisterleistung des mitgelieferten Videos, das mittels Überblendungs- und Bluebox-Effekten verschiedene Gesichter raffiniert verschmelzen liess, eine Technik, die sechs Jahre später in Michael Jacksons Black or White noch einmal aufgewärmt wurde. Das Video stand wie kein anderes Produkt für die Künstlichkeit des 80er-Jahre-Pops. Anfangs bloss als Marketingtool für junge, stylebewusste Künstler interessant, ist der Videoclip Mitte der Achtziger als verkaufsförderndes Werkzeug aus dem Pop-Alltag nicht mehr wegzudenken. Alle wollten an den grossen Jackpot, und das war die „Hot-Rotation“ von MTV. Wer es bis hierher schaffte, dem waren die Sterne zum Greifen nah und der Sturm auf die Top 10 der Single-Charts nicht mehr aus den Händen zu nehmen. Manche Clips wurden achtmal täglich gezeigt, bis auch der letzte Stubenhocker den Entschluss fasste, dass eine kleine Spritztour zum nächsten Plattenhändler eine lohnende Abwechslung bringt. Jetzt waren unsere Idole auch Videokünstler, die fleissig Preise für ihre kleinen Filmchen einsammelten. Musik schreiben musste man wie bis anhin zwar auch noch, doch die Gedanken kreisten dabei meistens um Marketing, Image und Mode. Tom Bailey muss wissen wovon er spricht, schliesslich waren er und seine Formation Thompson Twins in der Kategorie Styling federführend. „Ich dachte wie konnte es nur so weit kommen? Zu jener Zeit wurden die Videos zum effektivsten Argument Musik zu verkaufen, und ich merkte, dass ich mehr Zeit und Geld in Videos investierte, anstatt in die Musik. Ich verbrachte die meiste Zeit in Video- und Fotostudios und ein Vermögen um gut auszusehen“[2]. Man darf also mit Fug und Recht behaupten, dass MTV zumindest eine Mitschuld trägt an dem qualitativen Absturz Mitte der Achtziger. Und dann hätten wir da noch last but not least die Yuppies – der Stereotyp des jungen, karrierebewussten Mannes, der als Leitbild das Jahrzehnt geprägt hat und auch in diesem Buch immer mal wieder widerwillig Pate stehen muss, für unser Konsumverhalten und die Oberflächlichkeit der 80er-Kultur. Mitte der Dekade wird der Yuppie von der Industrie als relevante Zielgruppe erschlossen. Denn schliesslich hört der Yuppie auch Musik, ziemlich viel sogar, und die soll ganz entsprechend den todschicken Designer-Anzügen und der gepflegten Wet-Gel-Frisur ziemlich arschglatt sein. Das heisst, dreckige Gitarren sind schon mal Tabu. Es wurde zwar – soweit ich informiert bin – nie wissenschaftlich nachgewiesen, dass der Yuppie Schuld war, dass der Popmusik die Ecken und Kanten abgingen, aber er macht als Sündenbock für alles, was in der Kultur der 80er krumm lief, auch heute noch eine exzellente Figur. Und dann wäre da noch Live Aid – DAS musikalische Grossereignis im Sommer 1985 und das grösste Musikfestival, welches die Welt je gesehen hat, vor allem zu Hause vor der Kiste. Hier war alles rekordreif: 15 Stunden lang, in rund 60 Ländern übertragen. Mit dem Event wurde nicht nur Geld für die hungrigen Menschen in Afrika gesammelt, der Event förderte auch die Nachfrage nach dem, was schon bald abschätzig als Mainstream Rock bezeichnet wurde. Man konnte es deutlich spüren, die Luft war nach Live Aid irgendwie draussen, die Rock-Elite war auf den Geschmack gekommen und schrieb jetzt vor allem Songs, die in den grossen Stadien auch vor Live-Publikum funktionierten. Erfolgsproduzent Nile Rodgers zeigt sich über Live Aid auch irritiert und gibt zu Protokoll: „Es war das Mitreissendste, als Madonna sagte, ich mache heute keinen Scheiss. Ihr Set war eigentlich gleichgültig. Ich sitze hier mit der grössten Platte meiner Karriere (Like a Virgin), ein 20-Millionen-Seller, und diese Frau läuft über die Bühne und sagt diesen Satz, und du siehst, dass die Menge diesen neuen Typ des verletzbaren, freizügigen Dings liebt. Es ging nicht länger darum, düster und mysteriös zu sein; es ging jetzt darum, freimütig und offen zu sein“3. Live Aid zog eine ganze Reihe von ähnlichen Benefizveranstaltungen nach sich. Aus wilden Rockstars waren jetzt Gutmenschen geworden, die schicke Designer-Anzüge trugen und sich auf den Standpunkt beriefen, dass Geldverdienen höher zu gewichten sei, als ein zeitloses Kunstwerk zu erschaffen.

Heute besteht der popmusikalische Grundkonsens, dass 1986/1987 der Tiefpunkt erreicht war, was die Qualität am musikalischen Angebot betrifft. Eine ganze Generation etablierter Rockgrössen schlitterte Mitte der 80er in eine künstlerische Krise, verstehen die Welt nicht mehr und beginnen allmählich daran zu verzweifeln. Desillusioniert versuchen sie, mit den veränderten Hörgewohnheiten und den technischen Umwälzungen Schritt zu halten; ihnen gegenüber stand eine Generation von jungen, hübschen Hedonisten, die einfach nur reich werden wollten und eine ganze Armee von tätowierten und geföhnten Metal-Jüngern, denen nur der Sinn nach Party und Stripperinnen stand. Cindy Lauper – stilprägend für die Achtziger – gibt für die Misere auch den Managern die Schuld: „Ende der Achtzigerjahre war nicht der Künstler, sondern der A&R-Mann das grosse Genie. Die Konzernwelt hatte die Hand auf allem, weshalb die Musik den Bach runterging. Wenn man sich die Musik Anfang der Achtzigerjahre ansieht, so ist sie von Künstlern gemacht worden. Das gleiche galt für den Look“4. Sie sorgten mitunter dafür, dass Mitte der Achtziger jede Platte gleich klang, was den Plattenbossen entgegenkam, denn somit wird auch der Erfolg besser planbar. Und weil die Produzenten nicht die Finger lassen konnten von albernen Tricksereien im neuen High-Tech-Studio, darf man sich auch nicht wundern, dass viele CDs von 1986/87 nie mehr wiederveröffentlicht wurden; das will und kann heutzutage niemand mehr hören.

So viel vorweg, 1987 sollte ein spektakuläres und auch irgendwie schizophrenes Pop-Jahr werden. Den Studiobossen lief das Wasser im Mund zusammen, angesichts der Veröffentlichungen, die für 1987 vollmundig angekündigt waren. Fast alle überdimensionalen Superstars der Achtziger hatten ein neues Album an der Startrampe. Es waren Tage des Goldrausches. Dass fast alle heiss gehandelten Mega-Bands die Erwartungen grandios verfehlten, war geschenkt – es passt zu dem an künstlerischen Verfehlungen so üppig beschenkten Jahres. Allein ihre Präsenz reichte schon aus, um die Sehnsüchte einer begeisterungsfreudigen Masse zu befriedigen und liess in der Chefetage der Plattenmultis pausenlos die Champagnerkorken knallen.

Das gesamte Jahr schien einem Masterplan zu gleichen, den sich die Plattenbosse Anfang des Jahres zusammenkalkuliert hatten und der von Strategen am Reissbrett konzipiert wurde. Dass George Michaels Solokarriere kometenhaft abheben würde, damit konnte man rechnen. Dass Whitney Houston und Def Leppard mit dem Zählen ihrer Platin-Auszeichnungen nicht mehr nachkommen würden, hatten die Plattenbosse angesichts der bereits erprobten Erfolgsformel eingeplant, und dass eine starke Marke wie Pink Floyd auch ohne Roger Waters immer noch Millionenumsätze garantiert, das wusste auch die Band selbst. Dass man von U2 1987 nur noch in Superlativen spricht, das konnte man in diesem Ausmass zuvor zwar nicht ausmalen, doch die Iren waren vor der Veröffentlichung von The Joshua Tree beileibe kein unbeschriebenes Blatt mehr. Dass sie das Album zur grössten Band der Welt machen würde, war dann aber die vielleicht grösste Popsensation in einem Jahr, das an Sensationen eben nicht reich beschenkt war.

Überraschungen wie der ungläubig bestaunte Aufstieg von Newcomer Terence Trent D’Arby bleiben eine Ausnahme und dass Hollywood mit dem seichten Tanzfilm “Dirty Dancing“ in eine Goldgrube stechen würden, hätten nicht einmal die besten Kaffeesatzleser vorausgesagt. Die Plattenfirmen setzten ihr ganzes Marketinggeschick für die profitablen Major-Acts ein, derweil der Nachwuchs sträflich vernachlässigt wurde und mit plumpen Produktionen von der Stange ins Haifischbecken des Pop-Zirkus geworfen wurden. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich der ansonsten branchenübliche Ausschuss an schnell vergessenen One-Hit-Wondern 1987 im überschaubaren Rahmen hielt, zumal die oberen Charts-Positionen ausschliesslich von etablierten Acts blockiert waren, und es ist auch keine Überraschung, dass es weit und breit keinen Künstler gab, der 1987 den Startschuss legte für eine bahnbrechende Weltkarriere.

Viele 87er-Übeltäter haben sich später rigoros von ihren künstlerischen Verfehlungen distanziert. David Bowie suchte nach 1987 seine musikalischen Wurzeln im reinigenden Punk-Rock seiner neuen Band Tin Machine, Mick Jagger suchte Rat bei Rick Rubin, der ihn 1993 auf Wandering Spirit zurück zu bewährten R&B-Tugenden führte und Jon Anderson, Sänger von Yes, reaktivierte nach dem kommerziellen Fiasko mit Big Generator seine ehemaligen Yes-Mitstreiter Wakeman, Bruford und Howe um die Zeit um 20 Jahre zurückzudrehen, als man noch ausufernden, sinfonischen Progressive Rock spielte und ein Song schon mal die Dauer von 20 Minuten überschritt. Andere verdienstvolle Gruppen wie Supertramp schmissen die Flinte gleich ganz ins Korn.

Wer erst 1986 anfing, Popmusik zu inhalieren, musste später viel Lehrgeld bezahlen. Meine Begeisterung sollte sich später jedenfalls als fatal erweisen und es sollten Jahre vergehen, bis ich realisierte, dass man für aufregende Musik keinen Sequencer braucht und ein klassisches Line-Up aus E-Gitarre, Bass und Schlagwerk viel vitaler und glaubwürdiger klingt. Aber es soll immer noch unverbesserliche Nostalgiker geben, die auf schmierige Keyboards und fette Maschinenrythmen stehen und das kühle und unscheinbar klinische des Klangs bevorzugen. Und obwohl ich heute weiser bin und meine Ohren die musikalischen Siebziger und Sechziger im Rückwärtsgang verköstigt haben, darf ich immer noch behaupten, dass 1987 ein grossartiges Popjahr war, herrlich dekadent und glamourös, masslos, schrill, exzentrisch und laut und bis zur Lächerlichkeit überproduziert, dass es zum Schreien komisch ist. Jeder Mensch findet, die Musik seiner goldenen Teenagerzeit sei die allerbeste, oder haben Sie schon einmal einen Dreizehnjährigen lamentieren hören, die Musik-Bibliothek seiner Eltern sei aber viel aufregender. Als Zwölfjähriger hat man schliesslich noch ein Anrecht darauf, doof zu sein.

„Für diejenigen, die sich am Geist des Punks festklammern, ist alles am neuen Pop abscheulich und entbehrt der von ihnen so geschätzten Glaubwürdigkeit. Der neue Pop ist nicht rebellisch. Er pflegt und hegt das Star-System. Er verschmilzt Kunst, Kommerz und Entertainment. Es ist mehr besorgt um Verkäufe und Tantiemen und die Stärke des Dollars als um alles andere. Und was die Sache noch schlimmer macht, er hat dabei nicht die geringsten Schuldgefühle. Es ist, kurz gesagt, als hätte es Punk nie gegeben“ (Dave Rimmer, Musikexpress)

Ich habe das vorliegende Buch chronologisch gegliedert, von Januar bis Dezember, vom ersten Nr.1-Hit des Jahres in Deutschland Walk Like An Egyptian der reizenden Bangles bis zum letzten Spitzenreiter der Saison, Rick Astleys Whenever You Need Somebody. Noch einmal werden alle wichtigen und weniger wichtigen Ereignisse aufgerollt, und – auch wenn das viele bestreiten werden – es gab auch eine Indie-Szene. Da wir, die mainstreamverköstigende Jugend, davon nichts wusste, werden alle Nischenprodukte, die ebenso gern einen Platz an der Sonne beansprucht hätten, aber trotzdem die Charts verfehlten, in einem separaten Kapitel abgefüttert.

Im Studio des Grauens

„Durch die Möglichkeit, vieles aus dem Computer als Sampler abzurufen, wird eine unglaubliche Experimentierfreude geschaffen. Die Versuchung mit immer neuen Apparaturen zu experimentieren und so ständig am Sound zu feilen, ist grösser denn je.“5 (Mack, Produzent von A Kind of Magic und Hot Space oder Bad Attitude von Meat Loaf)

Sie existieren tatsächlich, die Platten von 1986, die so produziert sind, dass sie das Jahr, in dem sie entstanden, perfekt verleugnen. London Hull O4, The Queen Is Dead oder Blood and Chocolate bilden die Ausnahme und sind der lebhafte Beweis, dass es möglich war, sich nicht bis auf die Knochen zu blamieren mit einer klinisch kalten Sound-Ästhetik aus Blech und Bläser, die nur noch aus Bits und Bytes bestand. Im Grunde ist es gar nicht so schwierig, den Hauptschuldigen für die künstlerische Misere der Mittleren Achtziger dingfest zu machen: Das Tonstudio von 1986 war schlichtweg nicht geeignet, ein ästhetisch über alle Zweifel erhabenes Endergebnis hervorzulocken, das auch locker den Test der Zeit besteht. Kein Wunder, denn schliesslich fand man 1986 kaum einen Mitarbeiter im Studio, der seine Nase nicht in kubanisches Juckpulver steckte. Eine Erfahrung, die auch Marius Müller-Westernhagen machen musste, wie er später im ROLLING STONE schilderte: „Damals war ich zum ersten Mal in England und die Crew hat mich auflaufen lassen. Die Engländer denken ja immer, sie haben die Popmusik erfunden, und im Studio war ziemlich viel weisses Zeug auf dem Tisch, da stand ich ziemlich naiv davor, mit Drogen hatte ich ja nie etwas zu tun, jedenfalls verlor ich komplett die Kontrolle über die Produktion“. Damit befand er sich in guter Gesellschaft, denn er war bei weitem nicht der einzige etablierte Künstler, der Mitte der Achtziger komplett die Übersicht über die Produktion verlor. Auch kein Wunder, angesichts des teuren High-Tech-Equipments, das neuerdings die engen Korridore des Tonstudios verstopfte: Yamaha FB-01 Ton-Generator, Yamaha QX21 Sequencer, Yamaha RX-15 Drum-Machine.

Die Zäsur erfolgte 1985, als immer mehr Künstler (oder ihr Management) den Synthesizer zum prägenden Stilmittel erklären. Die Songs mit Synthesizern auszuschmücken war 1986 beileibe keine Neuigkeit mehr. Seit dem Siegeszug von New Wave-Pop haben sich die synthetisch erzeugten Klangfarben zum dominierenden Musiktrend in der Branche manifestiert und das hatte auch seine Vorzüge. Wer kann sich Kim Wildes Cambodia ohne die melodietrunkenen Synthie-Fäden vorstellen? Oder wer möchte schon freiwillig auf die prägnante Basslinie in Sweet Dreams (Are Made Of This) von den Eurythmics verzichten? Richtig ärgerlich wurde es erst, als superschlaue Produzentenhirne auf die fatale Idee kamen, obendrein noch Schlagzeug, Bass und Gitarre von einer Maschine simulieren zu lassen oder am Mischpult so lange zu malträtieren, bis man ihnen sämtliche Lebensgeister ausgetrieben hatte, zugunsten eines chirurgisch präzisen, künstlichen Klangdesigns. Sogar die Akustikgitarren hallten 1986 sonderbar blechern. Mitte der Achtziger waren sämtliche Exponenten im Studio von allen guten Geistern verlassen und opferten jeden Ansatz von Wärme und Individualität zugunsten eines sterilen Einheitssounds, mit weitreichenden, fatalen Folgen: Die meisten Scheiben jener Zeit sind unwiederbringlich zerstört. Die technische Entwicklung ging so schnell vonstatten, dass selbst gestandene Toningenieuren die Luft wegblieb. Noise Gates, Filter und MIDI-Keyboards gehörten jetzt zum Alltag und man gelangte zur Überzeugung, dass Computer-Keyboards nicht weniger musikalisch und nicht maschineller sind, als jene, die aus Holz und Elfenbein gebaut sind. Herbie Hancock, seit seinem Hit Rockit ganz auf Technokurs, schwört auf die neuen Wunder der Technik, wie er dem Magazin BILLBOARD verriet: „Ich fand es unwiderstehlich, dass man verschiedene Sound abrufen konnte, die man noch nicht kannte. Zu jener Zeit, habe ich versucht, verschiedene Sounds mit einem elektrischen Piano zu kreieren und mit neuartigen Percussions zu spielen. Aber mit einem Synthesizer konntest du alle verschiedenen Sounds kriegen, die du wolltest, man konnte bequem alles machen. Es ging nicht länger darum, ein Instrument zu imitieren, der Synthesizer wurde schnell zu einem Werkzeug, neue Instrumente zu kreieren. Du kannst jeden erdenklichen Sound produzieren und die Möglichkeiten sind schier endlos“. Produzent Kashif, Mitte der Achtziger eine grosse Nummer unter den Produzenten und mitverantwortlich für den schmierigen R&B-Sound zahlreicher US-Künstler, schwört zwar ebenfalls auf klinischen Maschinen-Sound, wittert aber auch leise Gefahren: „Es gibt über eine Million verschiedener Sounds, die ein Synthesizer liefern kann, aber viele Leute gehen einfach ins Studio und versuchen den Sound zu imitieren, den sie im Radio hören, und das kann ein Problem werden. Ein Synthesizer macht das Leben zwar einfacher, weil man einen nicht-akustischen Song problemlos mit ein paar Synthesizern reproduzieren kann mit einem guten Sound, aber das bedeutet nicht, dass es gute Musik ist“6.

Von Fairlight und Emulatoren verstanden die meisten Musiker nichts, und so wurden bei der Plattenproduktion immer häufiger Programmierer und Computerfachmänner beigezogen. Die verdutzten Künstler staunten Bauklötze, was man dem High-Tech-Equipment alles entlocken konnte und liessen die Spezialisten nach Belieben schalten und walten. Jetzt waren im Studio ganz andere Fertigkeiten gefragt, als noch vor zehn Jahren. Um sich ein Bild davon zu machen, welche Klangerzeuger und sonstige Fertigkeiten gefragt waren, braucht man nur mal die Papphüllen der 1986 produzierten Schallplatten umzudrehen: Bass Synth, Guitar Synth, Percussion Programming, Synth Horns, DX7 Vibes, Oberheim Expander, Roland 808 Programming. Das digitale Versuchslabor liess in der Tat keinerlei Wünsche offen, sehr zum Leidwesen von Künstlern, die nach wie vor einem erdverbundenen, natürlichen Sound den Vorzug gegenüber einem Klangdesign aus porenreinem Plastik. Doch in der Regel befanden sich die kritischen Geister in der Minderheit gegenüber einem Kollektiv aus Technik-Befürwortern, die aus einer Mischung aus Naivität und Neugier die Techniker und Ingenieure ungestört mit bestem Zweckoptimismus machen liessen. „Wir haben auf dem Album mit Synclavier Horns gearbeitet, weil uns diese Sache interessierte und wir, also alle, die bei dem Album geholfen haben, unseren Horizont erweitern wollten. Nicht mehr und nicht weniger” bestätigt Al Jarreau (2017) in der ”MusikSzene”, der bislang vorderhand als Jazz-Sänger in Erscheinung trat und sich jetzt 1986 unter Mitwirkung von Produzent Nile Rodgers mit dem Album L Is For Lover in einen mustergültigen Soul-Pop-Sänger verwandelte.

„Synthesizer und Sequenzer waren eine Versuchung des vergangenen Jahrzehnts. Eine Versuchung, der man kaum widerstehen konnte. Ich würde nicht sagen, dass wir damit nur Unsinn angestellt haben. Entwicklungsfähig ist die Auseinandersetzung mit modernen Hilfsmitteln für uns aber nicht mehr“. (ZZ Top-Drummer Frank Beard 1994 im Musikexpress)

Trotz der frischen Möglichkeiten der Synthesizer war es das Schlagzeug, das dem Sound unmissverständlich den Stempel aufdrückte und die 80er-Musik erst zu dem machte, was sie heute ist. Nachdem mit dem Synth Clavier, der Synth Guitar oder den Synth Horns nahezu jedes klassische Instrument digital aufgebrezelt wurde, ging es ab 1984 auch dem Schlagzeug an den Kragen. Immer mehr Musiker gelangen zur Überzeugung, dass eine Drum Machine nicht nur billiger zu erwerben ist als ein Sessiondrummer, sondern auch wesentlich zuverlässiger trommeln kann. Dem Sound von Drumcomputern wie der Linn LM1, dem Oberheim DMX, dem TR808, Roland TR505 oder dem Simmons SDS-5 gab es kein Entrinnen mehr. „Der einzige Grund einen Drummer anzuheuern, anstelle einer digitalen Drum-Machine zu verwenden, ist, dass die Bühne ohne ein Schlagzeug ein bisschen öde aussieht“ witzelt Journalist John Mendelssohn im CREEM und Jeff Philips, der Trommler von Chris de Burgh, bekräftigt: „Mann, wir haben 1987. Heute spielen junge Bands ganze Club-Konzerte mit Schlagzeugcomputern. Wenn ich mich dieser Entwicklung entziehe, stehe ich bald ohne Job da!“7. Wer aus Sturheit immer noch ein klassisches Drum-Kit benutzte, musste damit leben, dass der Toningenieur hinterher seinem zweifelhaften Ruf als Ingenieur alle Ehre machte. Denn „Gated digital reverb“ lautete das Zauberwort, was wortgetreu mit „angesteuerter digitaler Hall“ übersetzt werden kann. Es wurde zur Pflicht, am Computer das Aussteuerungssignal der Snare Drum mit einem „White Noise Generator“ zu überlagern, was einen schwachen Rauscheffekt erzeugte, der zusätzlich mit Echo und Hall so lange gesättigt wurde, bis das Schlagzeug im Endeffekt exakt so klang, wie dein Aufprall ins Planschbecken beim Sprung vom 10-Meter-Turm. Ich möchte gar nicht an all die Platten denken, die zum Opfer eines schmierigen Drum-Sounds wurden, ehe es ab Mitte 1988 langsam zu dämmern begann, wie beschissen das Endergebnis klang. Aber die Spitze des Eisbergs der Geschmacklosigkeiten waren eindeutig die von Dave Simmons entwickelten Simmons-Drums. Zu präsent sind immer noch die Bilder von der ZDF-Hitparade, wo der Drummer auf ein Set aus drei bis fünf sechseckigen Kochplatten einprügelte, die an einer Metallstange befestigt waren. Unter den Spielflächen (Pads) befanden sich piezoelektrische Überträger, kleine Sensoren, die den mechanischen Druck in elektrische Signale umwandelten. Diese wurden durch Synthesizer Module geschickt und in trommelähnliche Klänge verwandelt. Der kalte, metallische Klang hörte sich an, wie eine Keilerei in einem Bud Spencer-Film. Das Simmons-Kit SDS5 hat heute beinahe Kultcharakter, weil es sinnbildlich steht für die Plastik-Musik der Achtziger und sollte heutzutage aus nostalgischen Gründen nur noch im Musik-Museum zum Probehören verwendet werden.

„Ich spiele fast ausschliesslich elektronische Drums. Es ist bekannt, dass ich schon immer eng mit Simmons zusammengearbeitet habe. In letzter Zeit habe ich viel mit ihnen weiterentwickelt und verbessert. Das neue Equipment wird immer besser, immer ausgereifter, wie z. B. das neue SDX, das kommen wird. Ich habe auf der Messe in Anaheim Teile davon ausprobiert und war sehr beeindruckt. Das ist ein unglaubliches Kit. Die neuen Pads heissen Zone-Intelligent Pads und haben verschiedene Felder, auf denen man u.a. Sounds sowohl dynamisch als auch von der Klangfarbe unterschiedlich spielen kann. Mit dem Snare-Pad z. B. kann ich Rolls vom Rand her in die Mitte spielen, wie auf einer akustischen, und das mit allen unterschiedlichen Dynamikstufen und Soundveränderungen. Diese neue E-Drum Generation hat nun alle Dynamik-Möglichkeiten von akustischen Schlagzeugen zuzüglich sämtlicher elektronischen, wie z.B. Midi. Mit dem MTM kann ich u.a. Keyboard-Sounds antriggern, eben Midi to Synthesizer, so dass ich z. B. Klänge vom Marimba auf den Pads habe und zum Teil die Drums gar nicht mehr nach Drums klingen, sondern nach einem rhythmischen Keyboard…die neue Generation von E-Drums ist wirklich ein riesiges Stück vorangeschritten, obwohl ich glaube, dass die Entwicklung insgesamt erst am Anfang steht. Das hat mit Schlagzeugspielen im herkömmlichen Sinn nicht mehr viel gemein. Und das ist es, was mich an der Elektronik reizt“ (Bill Bruford, Fachblatt Musikmagazin 1986)

Und so fühlten sich gestandene Produzenten wieder wie in Disneyland, wo sie mit kindlicher Energie an den Reglern drehen und ausreizen, wie viel Soundeffekte ein Song ertragen kann – oftmals mit einem mitleidenserregenden Endergebnis. Die meisten Studios waren dem Götzen moderner Studiotechnologie auf den Leim gegangen und hatten das alte Equipment zum Recycling gegeben. Egal ob Lionel Richie mit einer schwülstigen Liebesballade seine weiblichen Fans um den Verstand singt oder Stevie Winwood alte Soul-Geister beschwören wollte – alles wurde dem Erdboden plattgemacht mit haargenau denselben Studiogimmicks. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass mindestens 90 Prozent der Platten die in der Ära 86/87 unters Mainstream-Volk gemischt wurden, von demselben Produzenten verbockt wurden, oder sie fanden allesamt den gleichen Lehrmeister, dem sie willenlos die Treue schworen. War die paranoide Story aus dem Horror-Klassiker “Die Körperfresser kommen“ tatsächlich bitterer Ernst geworden? Hatte ein ausserirdischer Parasit sich der Körper der Rock-Elite bemächtigt und in seelenlose Zombies verwandelt? Ein flüchtiger Blick aufs CD-Booklet verrät, dass es immer wieder die gleichen Produzenten waren, die nicht bloss schonungslos ihre Inkompetenz untermauerten, sondern immer wieder den ahnungslosen Musikern angedreht wurden, weil die Plattenbosse dann wenigstens wussten, was sie bekommen. Als überzeugte Wiederholungstäter gelten: Jimmy Iovine und Stewart Levine, die allesamt nur einen einzigen Sound im Repertoire hatten, den sie blindlings ihren Schützlingen aufzwangen. Nicht einmal die Sessionmusiker vermochten die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Ganz im Gegenteil, selbst arrivierte Studio-Cracks standen eher hilflos der Schlammlawine modernster Technologie gegenüber und fanden in der Zwischenzeit mehr Freude beim Koksen. Traurig, aber wahr: Ohne jegliches Feingefühl und ohne Gespür für ein ausgewogenes Klangbild geht jeder Musiker bis ans Limit der Schmerzgrenze. Der Typ am Saxophon trötet mit allem was seine Lunge hergibt, um im Duell mit den halben Dutzend Keyboards nicht den Kürzeren zu ziehen, der bemitleidenswerte Bassist klöppelt ungelenk seine Finger wund, derweil der Drumcomputer einem in voller Laustärke stoisch in die Magengrube schlägt. Ein gospelerprobter Backgroundchor hilft mit Leibeskräften dem nicht zu beneidenden Leadsänger vor dem Ertrinken in einem schmierigen Soundbrei, während der Toningenieur hinter der Mattscheibe sich ein Nickerchen gönnt. Produzent Reinhold Mack bestätigt 1986 im MUSIKEXPRESS, dass es schwieriger geworden ist, Studiomusiker zu finden, die ihr Handwerk noch beherrschen: „Man muss schon sehr lange suchen, wenn man in einem Studio Musiker zusammenbekommen möchte, die in der Lage sind, weite Teile eines Songs richtig live einzuspielen. Es gibt kaum Leute, die noch gewohnt sind, so perfekt zu spielen. Die wenigen sind hochbezahlte Profis. Im Übrigen ist mit den zunehmenden Möglichkeiten der Tonstudio-Elektronik das Niveau des Musizierens immer weiter gesunken. Das machen wir mit der Mischung perfekt!, ist so ungefähr die am weitesten verbreitete Einstellung“. Die Voraussetzungen für 1987, das Studio mit einem ästhetisch einwandfreien Produkt wieder zu verlassen, waren also denkbar schlecht, doch gross auf den Magen schien das niemandem zu stossen. Man nahm die synthetischen Konserven nicht nur billigend in Kauf, die überwiegende Mehrheit der Journalisten war voll des Lobes ab dem zeitgenössischen Update. Aber es greift zu kurz, die ganze Schuld nur den Synthesizern und den Produzenten in die Schuhe zu schieben. Dieter Meier, hauptberuflich die eine Hälfte von Yello, sieht auch die Musiker in der Pflicht, wie er im NEW MUSICAL EXPRESS erklärt: „In der Zwischenzeit sind die Musiker die engstirnigen Spiessbürger. Man darf nicht den Plattenfirmen die Schuld geben; die sind interessiert an neuen Dingen. Es sind die Musiker, die nicht gut genug sind es zu liefern“. Da muss ich sofort Einspruch erheben: an neuen Dingen war 1987 definitiv niemand interessiert.

Yuppies – die neuen Soul-Boys

Böse Zungen behaupten ja, die Jahre 86/87 seien durch keinen charakteristischen Sound geprägt worden. Das ist natürlich dummes Gerede. Es gab sehr wohl einen Musikstil, zu dem sich alle Jungs und sämtliche Plattenbosse berufen fühlten: Soul – ausgerechnet Soul. Soul-Kenner Arnold Shaw wurde in seinem Buch “The world of Soul“ wie folgt zitiert: „Das Besondere an diesem Sound, auch wenn es nur um Liebe und Sex geht, ist Ausdruck der Lage der Schwarzen im Amerika von heute…Soul ist schwarz, ist Aufsässigkeit, Zorn, Wut. Soul ist kein Gefühl, es ist eine Überzeugung“. Und jene Überzeugung sollte nun also von adretten jungen Weissen in ihren Designerklamotten und einer Klangkonserve aus Synthies vermittelt werden? Diese Jungs glaubten doch tatsächlich, es genüge, den Unterkiefer zusammenzupressen und die Vokale zu dehnen, um sich in einen mustergültigen Soul-Crooner zu verwandeln. "Weiße können keinen Soul singen. Sie müssen stattdessen nervös hüsteln und hektisch japsen, wenn sie Emotionen zeigen wollen" spottete Talking Heads-Gitarrist Jerry Harrison, doch die Kommerzfürsten der Plattenindustrie witterten im Soul-Pop das grosse Geschäft und DEN Trend für die kommenden Monate, und so buhlte um 1987 eine ganze Generation von Nachwuchsstars um ein junges und unreifes Publikum, die bei Lionel Richie nur zögerten, weil er eben schwarz war.

„Pessimistische Schwarze fürchten, dass die Plattenfirmen überhaupt keine Musik mehr von Schwarzen aufnehmen lassen, wenn noch mehr Weisse wie Culture Club, Hall & Oates und Michael McDonald schwarze Stile und Techniken an sich reissen“ (Nelson George, Rocklexikon, S. 718)

Überall war zu lesen von gefühlvollem Gesang und leidenschaftlichen Stimmen – ausgerechnet 1987, wo Leidenschaft und Gefühl in der Popmusik aus den Charts schlichtweg inexistent schienen. In manchen Zirkeln war man tatsächlich der Überzeugung, dass diese weissen, schmächtigen Jungspunde mit ihrer cremig gefärbten Stimme per Neudefinition die legitimierten Nachfolger von Sam Cooke sein müssten. Man musste nur die Begriffe ein wenig anpassen. Anstatt den Begriff Soul zu verharmlosen, pflegte man jetzt vom “Plastic Soul“, “Blue eyed Soul“ oder treffend von „Designer-Soul“ zu sprechen, was im Endeffekt nur hiess, dass man eine Methode gefunden hatte, den Begriff „Plastik-Pop“ zu umschiffen, oder man passte den Begriff salopp an das zeitgenössische Lebensgefühl an, so wie Karin Aderhold, von Beruf Autorin im “Fachblatt Musikmagazin“: „So habe ich Soulmusik stets aufgefasst und für mich definiert; nicht so sehr als eine Mischung aus Gospel und schwarzem Rhythm and Blues, sondern vielmehr als eine positive, jedoch keineswegs simplifizierende Einstellung dem Leben gegenüber, eine optimistische Geisteshaltung“. Ein Journalist traf den Nagel auf den Kopf, als er schrieb: „schwarz, aber nicht zu inbrünstig, Soul, aber nicht zu heiss, Latin, aber nicht zu hektisch“. Schuld an der Banalisierung des Soul haben die Yuppies, die bekanntlich an allen Trivialisierungen des Jahrzehnts ihre Finger im Spiel haben. Unter der Präsidentschaft von Ronald Reagan blüht nach dem Pessimismus der späten Siebziger der Optimismus frisch auf. Ganz getreu dem Lebensmotto “du bist, was du hast“ drängen ab Mitte der Achtziger junge Menschen ins Rampenlicht, die sich Karriere, Pragmatismus, Vermögensbildung sowie Designerkleidung verschrieben hatten und denen man nachsagte, sie würden Champagner von Laurent-Perrier schlürfen, Weisswal-Kaviar verköstigen und aus Havanna eingeflogene Zigarren rauchen und wertefreien Pop hören, bloss um ihre leistungsstarke HiFi-Anlage zu testen. Randy Newman widmete ihnen 1988 sogar einen Song: It’s The Money That Matters – eine bitterböse Yuppiehymne, eine ironische Liebeserklärung an die momentan angesagten Werte Amerikas.

Eine der am weitesten verbreiteten Trugschlüsse ist die Vorstellung, dass die Yuppies ein typisches 80er-Phänomen gewesen sind, was nur so weit korrekt ist, dass die Unterhaltungsindustrie der Achtziger den Yuppie gezielt als Stereotyp vermarktete und nie war es stärker spürbar als 1987: Im Kino brillierte Michael Douglas als skrupelloser Finanzhai im Oliver Stone-Film “Wall Street“, Michael J.Fox versucht in der leidlich amüsanten Komödie “Das Geheimnis meines Erfolges“ im Dschungel New York reich zu werden und mimt in “Die grellen Lichter der Grossstadt“ einen kokainabhängigen Journalisten, der sich in den New Yorker Jet-Set stürzt. Die komplett missratene Verfilmung des Kultromans “Less Than Zero“ kommt ins Kino und Tom Wolfe veröffentlicht den Roman “Bonfire of the Vanities“, der zwischen 1984 und 1986 als Fortsetzungsgeschichte im amerikanischen ROLLING STONE-Magazin erschienen ist, und sich rund um Geld, Mord und Betrug im Leben des Wall Street-Brokers Sherman McCoy dreht. Die Krone setzte aber vier Jahre später Autor Bret Easton Ellis mit seiner beissenden Satire “American Psycho“ auf, die hauptsächlich 1987 spielt und mit dem fiktiven Wallstreet-Banker Patrick Bateman eine Hauptfigur präsentiert, die eine grotesk überzeichnete Karikatur des Yuppies darstellt. Für die Popkultur ist der Roman auch deshalb von Interesse, weil Bateman auch gern Musik hört (und sämtliche technischen Details seiner HiFi-Anlage kennt), was dazu führte, dass Whitney Houston, Huey Lewis & the News sowie vor allem Genesis, die allesamt von Easton Ellis ordentlich ihr Fett wegbekommen, auf immer und ewig mit der Yuppie-Kultur assoziiert werden.

„Du liest über die Exzesse der Rock ’n’ Roll-Stars der Siebziger, wie sie ihre Rolls Royces in den Swimmingpool gefahren haben. Das ist immer noch besser, als sie zu polieren, was der Sorte Yuppie-Pop-Ethos entspricht, den wir in den Achtzigern antreffen“ (Bono im Smash Hits, 1987)

Die Yuppies waren zwar hochgradig oberflächlich, wollten aber auch in den intellektuellen Kreisen Zuspruch finden. Jazzmusik war ein wirksames Mittel, um sich elegant, klug und weltgewandt zu fühlen, schliesslich gilt Jazz als eine der anspruchsvollsten Musikstile überhaupt. Doch Genregrössen wie Duke Ellington, John Coltrane, Dizzy Gillespie oder Charlie “Bird“ Parker waren dann doch eine Schuhnummer zu gross für den musikalischen Verstand der Yuppies. Gab es denn keinen Jazz, der auf eingängigeren, poppigeren Melodiestrukturen aufgebaut ist? Exakt hier schlug die grosse Stunde der sinnlichen Stimme von Sade Adu, die mit ihrem erotischen Smooth-Jazz-Pop von Smooth Operator (1984) genau die richtige Stimmungsmusik für romantisch veranlagte Yuppies im Angebot hatte. Die Zeitschrift “MusikSzene“ meinte, dass Jazz-Revival sei „mit der Sucht nach Menschlichkeit in einer kalten übertechnisierten Welt“ zu erklären. Ich glaube immer noch, dass der Saxofon-behauchte Jazz-Pop von Sade nur deshalb von der Plattenindustrie zum Köder ausgeworfen wurde, um den jungen Yuppies, die sich abends in den schicken Nachtclubs auf Damensuche tummelten, einen prickelnden Soundtrack zu liefern, der sowohl sinnlich wie auch luxuriös war. Denn die Yuppies mit ihrer Vorliebe für sündhaft teuren Schnickschnack wurden schon bald zu den wichtigsten Klientelen beim Verkauf der neu lancierten Compact Disc (kurz CD), ganz zu schweigen von CD-Playern, der in den Luxus-Apartments mehr oder minder zur Standardausrüstung wurde. Viel interessanter als der musikalische Inhalt war den Yuppies eine makellose Tonqualität und die technischen Details der HiFi-Anlagen, die sie zwar nicht kapierten, aber im Freundeskreis Eindruck schinden konnten. Sade war nur die Initialzündung für eine ganze Reihe von Nachahmern, die dafür sorgten, dass der Jazz-Boom zum Soundtrack des Jahres 1985 ausgerufen wurde. In den Ohren der meisten Yuppies ist Jazz dann, wenn ein paar Ethnofarben präsent sind und ein Saxophon mit von der Partie ist. Und so wurde das Saxophon neben dem Synthesizer doch tatsächlich zum beliebtesten Instrument im Pop-Zirkus, sogar bei mir in der Schule wollte die halbe Klasse die Blockflöte an den Nagel hängen und stattdessen zum coolen Saxophon greifen. Wenn es jetzt noch einen Hit gibt, der ganz allein dem Saxophon gehört, dann hätten wir den ultimativen Yuppie-Song. Und da schwebte er auch schon im Sommer 1987 über unseren Köpfen vorbei, der Songbird von Kenny G, womit die Beweisführung wohl erbracht wäre, dass der Yuppie kein Mythos ist. Dabei war der Songbird eigentlich gar kein richtiger Saxophon-Song, zumal der “Erfinder“ des Smooth-Jazz hier ein Sopran-Saxophon einsetzte, das noch viel weichgespülter klingt als ein klassisches Saxophon. Legendär, wie sich Jazz-Gitarrist Pat Metheny in einem Interview über die Jazz-Fahrstuhlmusik seiner Generation ereiferte, und Kenny G die Schuld gibt, dass die Leute keinen Jazz mehr hören wollen: „Ich kann die Leute verstehen, die keinen Jazz mögen, weil du heute beim Stichwort Jazz an die schlimmste Musik auf Erden denkst, wie zum Beispiel Kenny G. Ich meine, es gibt nichts Dümmeres als das – seien wir ehrlich, das ist die dümmste Musik, die in der Geschichte der Menschheit jemals produziert wurde. Es kann keine schlimmere Musik geben. Und jetzt glauben die Leute, das sei Jazz. Das ist überhaupt kein Jazz“8. Das Statement warf so hohe Wellen, dass Richard Thompson sogleich einen Song darüber verfasste: I Agree With Pat Metheny. Ein Journalist schrieb einmal, dass es sich hier um Jazz handle für Leute, die keinen Jazz mögen, womit dann auch der Begriff “Yuppie-Jazz“ salonfähig gemacht wurde. In den Neunzigern entwickelte der Songbird dann ein bizarres Eigenleben im TV – ob beim Yogatraining, Esoterik-Sendungen und vor allem den dutzenden von Naturfilmen, die spät in der Nacht den schlaflosen Zeitgenossen zum Einschlafen verhelfen soll. Sogar im Pixar-Streifen “Cars“ fallen die Autos zu Kenny G’s Sopran-Saxophon in den Sekundenschlaf.

Doch der Jazz-Boom war nur eine kurze Episode. Schon bald geriet ein weiteres altverdientes Genre in die Mühlen der Kommerzindustrie, von dem ich eingangs eigentlich berichten wollte – dem Soul. Eine Schlüsselrolle bei der Banalisierung von Soulmusik ¨kommt zwei Protagonisten zu. Der eine ist ein junger, rothaariger Ex-Punker aus Manchester, der sich das Einmaleins der Soulmusik im Eilverfahren mit einer Handvoll Soul-Platten angeeignet hatte. Der Andere ist ein 38-jähriger Veteran im Musikbusiness, der schon fast zwanzig Jahre Bühnenerfahrung mitbringt. Der Rotschopf Mick Hucknall war nicht sonderlich attraktiv, als Songwriter ziemlich talentfrei, aber ausgestattet mit einer Hammerstimme, welche die hiesige Journalisten-Poesie zum Blühen brachte. Hucknalls Karriere verlief wie am Schnürchen; Seymour Stein, Boss von Sire Records offerierte der Band bereits einen Plattenvertrag, nachdem er ein Demo gehört hat. Dass ihre allererste Single Money’s Too Tight To Mention eine Coverversion der eher unbekannten Band Valentin Brothers von 1982 war, passt zum Werdegang dieser Band, die mit Ausnahme ihres Frontmanns von Platte zu Platte ausgewechselt wurde. Die blasse Eigenkomposition Holding Back The Years (US #1, GB#2) wurde dann förmlich aus den Regalen gerissen, als gäbe es keinen Morgen mehr. „Das ist Soul“, schwärmten die zu-spät-Geborenen, derweil der Fachmann Hucknalls Soul-Verständnis als “The Sound of Todays Yuppie Generation“ abstrafte. „Weisser Soul, grüner Soul, alles Unsinn, nenn‘ es wie du willst. Diese Musik war damals, als wir aufgewachsen sind, das, was am meisten im Radio lief. Logisch, dass sowas irgendwie prägt. Vielleicht hat Soul deshalb in unserer Musik ein gewisses Übergewicht“ gab Hucknall im “Fachblatt Musikmagazin“ zu Protokoll. Die zweifelhafte Ehre Popmusik unter dem Etikett Soul zu verscherbeln gebührt auch Steve Winwood. Winwood war bereits eine Legende in der US-Popindustrie: Spencer Davis Group, Traffic, Blind Faith hiessen in den Sechzigern seine Stationen. Seit einigen Jahren bewährte sich das Multitalent als Solist – mit durchzogenem Erfolg. Die letzte Single Valerie (US#70, GB#51) stiess auf wenig Resonanz und so entschied sich Winwood “den Umstand zu begrüssen, dass ich ein Entertainer bin“. Zu diesem Zweck tauschte er seinen vertrauten Platz hinter dem Keyboard zu Gunsten der Rolle eines Showmans, der auch um ein Tänzchen mit seinen Backgroundsängerinnen nicht verlegen war. Das passende Musikgenre hatte die Single Higher Love mit ihrer göttlichen Eingebung bereits im Songtitel propagiert und die Rechnung ging auf. Die Single erreichte im Sommer 1986 nicht nur den Spitzenplatz in den US-Charts, sondern wurde auch noch belohnt mit dem Grammy für die beste männliche Gesangsdarbietung und obendrein noch zur “Single des Jahres“ gekürt. Noch eine Nuance geschmeidiger an “weissen“ Soul-Manierismen bewegte sich Michael McDonald. Der ehemalige Sänger der Doobie Brothers klang immer so, als sei die Nase durch exzessive Koks-Zufuhr gerade komplett verstopft, deshalb hatte man den Eindruck, der Sänger sei immer etwas kurz bei Atem. „Ich habe Mühe, den Begriff Soul-Sänger zu akzeptieren“ sagt McDonald 1987 in der TIMES, „Ich denke, ich bin ein guter Sänger, aber manchmal, wenn ich alle diese brillanten schwarzen Sänger höre, dann ist das ziemlich demütigend. Für sehr lange Zeit sah ich mich eher in der Rolle des Piano Spielers/Sängers als in der Funktion eines Sängers per se.“ Mit der zeitgemäss produzierten High-Tech Single Sweet Freedom (US #7, GB#12) aus der Actionkomödie “Running Scared“ gelang dem 34-Jährigen, bereits merklich ergrauten Sänger nicht nur sein letzter Top Ten-Hit, die Nummer ist auch beispielhaft, wie man sich Soulmusik mit allermodernster Studiotechnologie 1986 ausmalte. Spätestens jetzt wussten die Plattenbosse (oder glaubten zu wissen), wie ein Sänger klingen muss, um in den Charts zu reüssieren. Und auch unter den jungen britischen Gesangstalenten entflammte Mitte 1986 das unstillbare Bedürfnis, so zu klingen, wie ein in den Jungbrunnen gestürzter Al Green und sie wurden von den Plattenfirmen mit offenen Armen aufgenommen. Natürlich wollte vordergründig niemand ein Teil des gelifteten Soul-Booms sein und bestanden vehement auf der Darstellung, eine eigenständige, konkurrenzlose Musik zu fabrizieren, an der sich der Rest der Branche noch die Zähne ausbeissen wird. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen: Masslose Selbstüberschätzung gehörte ebenfalls zu den Tugenden des Jahres 1987.

1986: Ein Seuchenjahr geht zu Ende

„Eigentlich war 1986 eine Zeit, in der alles entweder endgültig tot war (Disco und New Wave zum Beispiel) oder alles andere (Rave zum Beispiel) noch nicht geboren. 1986 war ein Death Valley für den guten Geschmack“ (Alexander Gorkow, ein Jahr – 1986, S. 9)

Wer charakterlich nicht gefestigt ist und Back In The High Life von Steve Winwood sein persönliches Lieblingsalbum nennt, der sollte an dieser Stelle vielleicht das Lesen einstellen, oder sich sonst nicht persönlich angegriffen fühlen, wenn ich hier anmerke, dass das Pop-Jahr 1986 für all jene, die nach einem Fünkchen Subversion lechzten, zum Erbrechen war. Wenn eine altmodische Disney Film-Schmonzette wie Somewhere Out There aus der Feder der beiden Brill Building-Grufties Barry Mann/Cynthia Weil einen Grammy für den “Song des Jahres“ bekommt, dann kann man sich bloss beschämt abwenden, unbeeindruckt von der Tatsache, dass die Academy musikalisch immer noch in der Kreidezeit lebte. Die Synthesizer hatten der Musik längst die Seele und die Leidenschaft ausgetrieben, und sie zu harmlosen Pop-Schlagern transformiert. Die rund zwei Millionen Radiohörer, deren musikalisches Spektrum mit der gelackten Oldies-Revue von SWR1 erschöpft wird, werden jetzt lautstark widersprechen; 1986 war doch ein super Jahrgang, mit Super-Hits, die heute noch übermütig im Ohr tanzen: Kyrie, A Kind Of Magic, Nikita, When The Going Gets Tough und seit The Final Countdown würde sein Herz sogar für Heavy Metal schlagen, schwärmte ein Hörer am Telefon. Ein Lügner, wer um die Vierzig ist und kein einziges nostalgisches Gefühl für diese Lieder hat. Und dann erst diese samtweichen Balladen wie The Lady In Red von Superstar Chris de Burgh – ganz grosses Kino, Rock Me Baby, Take My Breath Away und die sensationelle Whitney Houston, die mit Saving All My Love For You die Sinnlichkeit des Soul in die heimischen Stuben brachte. Alles Songs zwischen Suchtpotential und Nervfaktor.

Lassen wir das grau melierte Stammpublikum vom SWR weiter mit ihrer Narrenkappe auf dem Kopf in ihrer Nostalgie schwelgen. Überall verwöhnte Stars, die den Durchschnitt als Fortschritt verkauften und die Bühne zur Modenschau ihrer Eitelkeit missbrauchten. Dazu gesellte sich ein lustloser Nachwuchs, der es ihren Idolen gleichtat. Vielleicht mit Ausnahme von Prince wollte sich niemand mit musikalischem Neuland die Finger verbrennen und belieferte stattdessen ein saturiertes und zufriedenes Publikum mit detailgetreuen Kopien ihrer bereits erprobten Erfolgsformel. Sehen wir der Wahrheit ins Auge: Popmusik war 1986 eine keimfreie Wohlfühloase und ein Wallfahrtsort für müde Musiker, die die Rockmusik zum Zierrat degradierten. Wer jetzt immer noch trotzig zur Gruppe der 86er-Fans zählt, der bekommt sogar von der Wissenschaft die nackte Wahrheit serviert: Mit “The Evolution of Popular Music: USA 1960-2010“ wurde 2015 eine Studie publiziert, die wissenschaftlich belegen soll, dass die Musik der Achtziger – und ganz besonders 1986 – eintönig, unkreativ und langweilig war, berechnet von Forschern des London Imperial College in Zusammenarbeit mit der Queen Mary University. Diese gewagte Aussage lassen die renommierten Universitäten nicht unbegründet. Mit Regressions-Modellen wird visuell veranschaulicht, dass es in den mittleren Achtzigern die geringste musikalische Vielseitigkeit gegebenen hatte. Dabei gewichteten die Forscher bei ihrer Schlussfolgerung die verwendeten Instrumente, Akkordfolgen und Melodien. Diese seien eher kläglich und wenig vielfältig gewesen. Schuld für die musikalische Einöde sei der verbreitete Gebrauch von Drumcomputern und Synthesizern gewesen, welche dafür gesorgt hatten, dass die Vielseitigkeit und Verschiedenheit 1986 einen Tiefpunkt erreicht hat.

Es lebe die heilige Eintönigkeit. Wer sich 1986 als US-Band einen Plattenvertrag unter die Nägel reissen wollte, der wurde von der um stilistischen Vielseitigkeit bemühte Plattenfirma zurechtgewiesen, dass gepflegter Mainstream-Rock und danceorientierter R&B zur Disposition stehe, und die Kunst des Songwriting gefälligst den Profis der Plattenfirma zu überlassen sei. Im Falle einer dunklen Hautfarbe bekam man Can’t Slow Down von Lionel Richie geschenkt, mit der Aufforderung, doch bitteschön etwas Ebenbürtiges zu versuchen. Für britische Künstler sah es auch nicht rosiger aus. Wer sich einen Plattendeal ergattern wollte, wurde von der Chefetage sanft aber unerbittlich dahin gedrängt, kantengeschliffenen Soul-Pop zu machen, mit diesem Black-Feeling halt eben, egal ob man schwarz oder weiss war, und als Produzent wurde einem Stewart Levine vor die Nase gesetzt. Als Hörbeispiel musste man sich dann zum Schluss als Höchststrafe noch Holding Back The Years von Simply Red anhören, um jegliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Vor allem bei den Amis setzte sich die Überzeugung durch, dass man jeden Mainstream-Künstler in die R&B-Schiene drängen müsse und die Platten entsprechend “danceorientiert“ zu produzieren seien. Um nicht in der grausamen Eintönigkeit der Mainstream-Suppe aufzufallen, benutzten alle Studios den gleichen Computerchip, so war die Konkurrenz zumindest in qualitativen Ansprüchen auf gleicher Augenhöhe. „Heutzutage schreiben die Leute keine Songs mehr. Sie machen Sounds und wiederholen sich ständig. Das liegt daran, weil die Produzenten die Macht übernommen haben“ ereiferte sich Autor Nelson George9. Das schlitzohrige Musikbusiness hatte schon immer eine Schwäche für die breite Reproduktion bereits erfolgreich erprobter Klangdesigns. Für die Plattenbosse zählte letzten Endes nur der Profit. Wozu also ein profitables Modell wieder über den Haufen rühren, wenn die Fans dafür vor den Kassen Schlange stehen? Wozu auf Synthesizer, Drum-Machines und Emulatoren verzichten, wenn das Publikum verrückt danach ist? Der kommerzielle Erfolg von zu Tode produzierten Scheiben wie Picture Book weckte Begehrlichkeiten, derer sich selbst integre Musiker nicht länger erwehren konnten. Experimente und komplette Ignorierung zeitgemässer Strömungen ist Domäne von Exoten und Einzelgängern, ausserdem überlassen selbst altgediente Hasen das letzte Wort dem Plattenboss. Wenn der zur Überzeugung kommt, dass es furchtbar chic und sexy sei, auf der nächsten Platte da und dort ein paar Synthesizer unterzujubeln, dann leistet man seinen Vorgesetzten treuherzig Folge. Darum klangen alle Platten 1986 so, als ob sie in einer Neonröhre aufgenommen wurden. Überhaupt hatte sich die Bedeutung der Schallplatte Mitte der Dekade wieder merklich abgekühlt, vor allem wegen der zunehmenden Popularität von MTV, welche die Hit-Single noch stärker ins Rampenlicht rückten. Ohne Single-Hit keine Präsenz auf MTV und damit fehlende Promotion für das Album. Tom Bailey, der mit seinen modebewussten Thompson Twins bewusst auf die visuellen Reize setzte, weiss um die Wichtigkeit der Single: „Es gab damals die Faustregel, dass man vier Hit-Singles benötigte, um einem Album einen richtigen Knall zu verpassen und die Verkäufe zu maximieren. Man hat so lange Songs geschrieben, bis man mit Sicherheit vier oder fünf passende Kandidaten hatte, und dann hast du das Album mit anderem Material gestreckt, um es länger oder langsamer oder experimenteller zu machen“10. Und auch Matthew Sztumpf, Manager der Ska-Truppe Madness, zeigte sich im Q-Magazin irritiert ab der Notwendigkeit eines Single-Hits: „Die aktuelle Abhängigkeit von einer Single ist beängstigend. Plattenfirmen versuchen einen neuen Act mit einer Single zu promoten. Wenn sie einen Hit haben, versuchen sie ein Album aufzunehmen und wenn es dann schliesslich auf den Markt kommt, hat sie das Publikum schon wieder vergessen. Wenn heutzutage die Single nicht läuft, dann wird sich niemand die LP anhören. Es gibt erfolgsverwöhnte Bands, die einige Hits hatten und jetzt ihre vierte Platte aufnehmen. Wenn sie nicht am Radio gespielt werden, oder die erste Single floppt, dann kann die LP ohne ein Lebenszeichen versinken. Die Karriere ist innerhalb von vier Wochen im Eimer“. Im Normalfall genügten drei bis vier gute Songs, die man allesamt über die kommenden zwölf Monate als Single auf den Markt hieven konnte, um das Interesse an dem Künstler permanent aufrecht zu erhalten – damals in der digital-prähistorischen Zeit die einzige Möglichkeit, um in den Medien im Gespräch zu bleiben (neben einer Tournee). Und falls es einem Album an drei Hits mangelte, dann griff man in der Not auf eine Coverversion zurück, so wie es Status Quo in den Achtzigern fast immer praktizieren musste.

„Ich beziehe mich auf die neckischen, verdrehten, grimassierenden Haltung von Britrock, mit all seinen Pickeln auf der Wange, der Fassade, Ironie, Sauce, seine gedrungene, beschränkte, plumpe Sensibilität, die schrullige Laune der Housemartins, die in einer Zündholzschachtel leben sollten. Diese Selbstbezogenheit, diese rohen Diamanten-Knacker in Lederhosen, diese zynische Vorherrschaft von Ironie und Tuntigkeit, die grimassierenden und grunzenden und anschmiegenden Soulster, die sich vorstellen authentisch verantwortlich zu sein für die soularme schwarze Loch, das unsere Kultur ist“ (Melody Maker, 1987)

Der Vorwurf, dem Jahr 1986 hätte es an Trends oder eines unverkennbaren Sounds gemangelt, hält einer gründlichen Betrachtung nicht stand. Das aktuelle Tagesgeschehen beflügelte die Popstars Stellung zu beziehen, mal pointiert oder bierernst. Die latente Angst vor einem nuklearen Ernstfall war nicht neu, doch spätestens nach der verheerenden Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 musste jeder ein musikalisches Gedicht über Nuklearwaffen und Atompilze in seinem Repertoire haben. Ausserdem trat die Sorge vor der Immunschwäche AIDS 1986 endgültig ins öffentliche Bewusstsein, nachdem man jahrelang von der Krankheit zwar Notiz genommen, sie aber lediglich als Problem unter Schwulen abgetan hatte. Nun musste sich auch die Popkultur damit befassen, was man spätestens bei der Lektüre der einschlägigen Teenie-Presse bemerkte, da wurden die Interviews jetzt ganz zeitkritisch: „Welche drei Dinge würdest Du nach einem Nuklearkrieg am meisten vermissen?“ oder „Denkst Du während dem Sex an AIDS?“ wollte der Journalist von seinen genervten Interviewgästen wissen. Es war jeweils eine Zumutung, was die Teenie-Presse von den stressgeplagten Stars abverlangte, aber offenbar schien genau das die Zielgruppe zu interessieren.